Mit animalischer Gefährlichkeit schaut Xavier Sabata vom Cover seiner neuen CD bei APARTE auf den Betrachter (AP143). Seine Stimme aber tönt ganz und gar nicht wild oder roh – im Gegenteil: Nie klang der Counter weicher, gerundeter, sanfter. Das Programm trägt den Titel Catharsis, was die sittliche Läuterung des Zuschauers durch die Tragödie mit ihren auslösenden Emotionen von Mitleid oder Furcht meint. Es vereint zehn Arien verschiedener Barockkomponisten, die alle von durch Hybris und Nemesis verursachten Gemütsbewegungen bestimmt sind. Nicht wenige Opernhelden zeigen sich in übermütigem Stolz oder frevelhafter Selbsterhebung. Stets zieht das tragische Folgen, oft den Tod des Protagonisten, oder eine den Übermut strafende und ausgleichende Gerechtigkeit nach sich, was auf die griechische Göttin der Vergeltung zurückgeht. Gleich beim Rezitativ der ersten Nummer (aus Giuseppe Maria Orlandinis Adelaide von 1729) betört die Stimme mit schwebendem Klang, während sie in der folgenden Arie „Alza al ciel“ mit energisch formulierten Koloraturen für sich einnimmt. Everardo sieht darin den Fall des Tyrannen voraus, der gleich einem vom Blitz getroffenen Baum stürzt. Die Partie wurde für den Altkastraten Antonio Baldi geschrieben; später folgt noch die für den Star Senesino komponierte Rolle des Ottone mit dessen virtuoser Arie „Già mi sembra“, womit in einem Werk die Affekte von Hybris und Nemesis vereint sind. Die begleitende Armonia Atenea unter George Petrou macht mit Affekt betontem, farbenreichem Spiel sofort auf sich aufmerksam und behauptet sich neben dem bravourösen Solisten, der sich mit seinem stupenden Gesang in eine Reihe mit Fagioli und Cencic stellt, imponierend.
Francesco Bartolomeo Contis Griselda kam 1725 in Wien zur Premiere; das Libretto von Apostolo Zeno hatte zwei Jahre zuvor auch Pietro Torri für den Münchner Hof vertont. Darin wird die Wandlung des Königs Gualtiero von der Hybris zur Nemesis sehr deutlich gezeigt, denn der Herrscher will seine Gattin Griselda zugunsten einer jungen ausländischen Prinzessin verlassen, was die Arie „Vorresti col tuo pianto“ in Torris Version schildert. Die standhafte Liebe Griseldas bekehrt ihn jedoch am Ende, was „Cara sposa“ in Contis Vertonung beschreibt. Sabata weiß die gegensätzlichen Stimmungen sehr eindringlich zu kontrastieren, malt die Conti-Arie mit schmerzlicher Empfindung aus, während er bei Torri mit vibrierender Erregung und auftrumpfender Attacke spannende Akzente setzt.
Eine der berühmtesten Arien dieser Sammlung ist die ombra-Arie „Gelido in ogni vento“ aus Vivaldis Il Farnace, ursprünglich für einen Tenor in seiner verschollenen Oper Siroe konzipiert, dann aber wegen des Erfolges dieser Nummer für einen Altkastraten umgeschrieben. Farnace, der sich am vermeintlichen Tod seines Sohnes schuldig fühlt, sieht in dieser beklemmenden Arie dessen leblosen Schatten wie ein Gespenst vor sich – ein typisch kathartischer Moment, der in der Interpretation durch Sabata und die Armonia Atenea mit frostig klirrenden Akkorden schaudern macht. Extrem ausgereizt werden die dynamischen Gegensätze von fast unhörbaren bis zu wie Donnerschläge hereinbrechenden Tönen. Man hat dieses Stück unzählige Male gehört – so eindringlich und anschaulich in der geisterhaften Atmosphäre aber gewiss nicht.
Der Reigen der italienischen Komponisten wird ergänzt durch Attilio Ariosti mit seiner Oper Caio Mazio Coriolano, 1723 in London mit Senesino in der Titelrolle herausgekommen. Auch hier findet sich mit einer Gefängnisszene eine typisch kathartische Situation, wenn der Eingekerkerte in „Voi, d’un figlio tanto misero“ die Götter um Gerechtigkeit anruft. Der Counter berührt hier mit nicht nur mit seinem schmeichelnden Gesang, sondern auch dem gefühlstiefen Vortrag. Antonio Caldaras Temistocle von 1736 fußt auf einem Libretto von Metastasio als erste von über zwanzig weiteren Vertonungen. Der Titelheld, aus seiner Heimat Athen verbannt und beim persischen König Serse im Asyl, sieht einen Ausweg aus seinem Konflikt zwischen Dankbarkeit und Pflicht nur im Tod („Ah, frenate il pianto“). Diese existentielle Notlage vermittelt sich dem Hörer durch Sabatas Expressivität bezwingend. Ein Auszug aus der recht unbekannten Oper Il Valdemaro von Domenico Natale Sarro markiert den Schluss der Anthologie und nochmals einen virtuosen Glanzpunkt. Als (fiktiver) Sohn des Königs Ricimero ist Valdemaro mit der (ungeliebten) norwegischen Prinzessin Rosmonda verheiratet, an die er seine spöttische Arie „Quando onor favella“ richtet.
Vorher gab es mit Händel und Hasse auch Beispiele von populären Barockkomponisten. Händels Admeto hatte 1727 in London mit Senesino in der Titelrolle Premiere, der für die Eingangsszene („Chiudetivi miei lumi“) mit ihrer dramatischen Instrumentaleinleitung besonders bejubelt wurde. Sie schildert die Situation des sterbenskranken Königs Admeto, der von schrecklichen Visionen und Albträumen heimgesucht wird. Hier können der Sänger und das Ensemble wiederum mit einem atmosphärischen Tongemälde aufwarten.
Zeugnisse von Hybris und Nemesis finden sich auch im Alten und Neuen Testament. Hasses Oratorium La conversione di Sant’Agostino – 170 in Dresden uraufgeführt und damit das „jüngste“ Beispiel der Auswahl – geht zurück auf Aurelius Augustinus’ Bekenntnisse. Die Arie „Or mi pento“ formuliert den Entschluss des Protagonisten, aller irdischen Freuden zu entsagen und sich total Gottes Willen zu unterwerfen. Innerer Aufruhr und Seelenfrieden werden vom Komponisten wie vom Interpreten sehr eindringlich geschildert. Xavier Sabata ist mit dieser CD ein großer Wurf gelungen – auch konzeptionell. Die Fotos des Sängers im Booklet mit Kopf und Händen unter der Dusche verweisen zwar auf die reinigende Kraft des Wassers, scheinen mir aber eine zu banale Illustration für das große Thema. Bernd Hoppe