Frühes im Studio

 

Wer Bellinis Erstling Adelson e Salvini von 1825 hören will, musste bislang auf die zweiaktige Fassung einer Live-Aufnahme von 1992 aus dem Teatro Bellini Catania zurückgreifen (oder auf die noch ältere von 1985 mit dem Drottningholms Barockensemble). Nun legt Opera Rara eine Neueinspielung vor, die in den Londoner  BBC Maida Vale Studios im Mai 2016 in Verbindung mit einer konzertanten Aufführung im Barbican Center am 11. 5. 2016 entstand und auf die Version in drei Akten zurückgreift (ORC56, 3 CD).

Bellini hatte 1819 mit dem Studium am Königlichen Konservatorium in Neapel begonnen (u.a. bei Zingarelli, dem Direktor des Institutes) und 1824 sein Examen abgelegt. Er bekam die Chance, eine komplette Oper zu schreiben – Adelson e Salvini mit dem Libretto von Andrea Leone Tottola, das vor ihm bereits Valentino Fioravanti vertont hatte und das 1816 in Neapel mit Giovanni Battista Rubini, Bellinis späterem Lieblingstenor, herauskam.

Die Geschichte der beiden Freunde Salvini und Adelson, dessen Verlobte Nelly vor Beginn der Handlung von seinem Feind Lord Struley entführt wurde, dann aber zurückkehrt und auch von Salvini begehrt wird, spielt in Irland und behandelt den Konflikt zwischen der Loyalität gegenüber dem Freund und der Leidenschaft für die Geliebte. Das ergibt turbulente Verwicklungen, gipfelnd in Salvinis Selbstmordversuch, den Adelson verhindert, und dem Anschlag auf Nelly als Folge seiner Sinnesverwirrung. Nelly aber ist unverletzt und kann mit Adelson, der Salvini verzeiht und ihn zurück schickt nach Italien, Hochzeit feiern.

Die Musik dieser Opera semiseria steht ganz in der Tradition Rossinis – jenes Komponisten, der mit seinen Werken in dieser Zeit das Teatro San Carlo in Neapel dominierte. Mit Salvinis Diener Bonifacio hat Bellini seinen einzigen echten Buffo-Charakter geschaffen, der an entsprechende Figuren aus Rossinis Barbiere und der Cenerentola erinnert. Die Einteilung in Gesangsnummern und gesprochene Dialoge spiegelt wiederum den Einfluss der opéra comique wider (stand Neapel von 1806 bis 181 doch unter französischer Herrschaft).

Für die Besetzung waren drei männliche Altisten, ein Tenor und vier Baritone bzw. Bässe vorgesehen. Die zentrale Partie der Nelly, Adelsons Verlobte und auch von Salvini geliebt, übernahm der 14jährige Giacinto Marras, der später eine erfolgreiche Karriere in ganz Europa machen sollte. In der Neuaufnahme gibt es natürlich keine Travestie-Besetzung, hier singt Daniela Barcellona, deren Timbre bekanntermaßen nicht jedermanns Geschmack ist (auch meiner nicht), aber als Nelly gelingt ihr ein sehr kultivierter Vortrag. Die Auftrittsromanze „Dopo l’oscuro nembo“ (später Giuliettas „Oh quante volte“ aus den Capuleti von 1830) singt sie mit schlanker Tongebung, kontrolliertem Vibrato und geschmackvoll verziertem Da capo. Nur im Finale des Werkes stellt sich in der Höhe wieder der maskulin-strenge Ton ein.

Der erste der beiden Titelhelden, der sich im Finale des 1. Aktes mit einem kantablen Thema einführt, ist Simone Alberghini mit einem Bassbariton von schöner Farbe. Seine Stimme ist leichtfüßig genug, um die flinken Nummern seiner Partie, so das muntere Duett mit Salvini im 2. Akt oder das gleichfalls lebhafte mit Bonifacio zu Beginn des letzten Aufzugs, mühelos zu absolvieren.

Schon in diesem Frühwerk gibt es mit dem Salvini eine heikle Tenorpartie in exponierter Terssitura, die bereits den Arturo der Puritani vorwegnimmt. Dafür besitzt Enea Scala die passende Stimme mit sinnlich-jugendlichem Klang und schwärmerischer Emphase. Ihm fällt die letzte Arie der Oper zu, in der in der er seine ewige Liebe zu Nelly beteuert und in der auch der Opera Rara Chorus (Eamonn Dougan) mitwirkt. Es ist ein schmachtendes, reich ornamentiertes Solo, in welchem der junge Sänger seine hohe Kunstfertigkeit demonstriert. Salvinis  Diener Bonifacio lässt mit seinem munteren Geplapper an Rossinis buffoneske Charaktere denken, und Maurizio Muraro ist mit seinem eloquenten Bass dafür der ideale Interpret. Souverän meistert er das zungenbrecherische Tempo seiner Kavatine „Bonifacio Voccafrola?“, das sich in einem typisch rossinianischen accelerando immer mehr steigert. Nicht weniger Gewandtheit verlangt seine Arie im 2. Akt „Taci, attendi“, und auch hier erweist sich Muraro als Meister.  Als Colonel Struley, Adelsons Feind, lässt Rodion Pogossov einen virilen Bassbariton mit grimmigem Ausdruck hören, der dennoch auch eine vollendete Kantilene zu formulieren versteht. Mit seinem Freund Geronio eröffnet er den 2. Akt mit einem Duett, in welchem David Soar mit seinem Bass die Besetzung solide ergänzt.

Zu Lord Adelsons Personal gehören noch die junge Bedienstete Fanny (Kathryn Rudge mit feinem Sopran in der melancholischen Introduzione) und die Gouvernante Madama Rivers (Leah-Marian Jones gebührend resolut).

Die Sinfonia nimmt die zum Pirata vorweg und stellt eines jener dramatisch bewegten Motive vor, wie man es später auch in der Norma vernimmt. Und Bellini leitet mit diesem Thema auch das ausgedehnte Finale 1 seines Erstlings ein. Dessen Bausteine sind ein erregter Dialog zwischen Nelly und Salvini, während Bonifacio gemäß seiner buffonesken Anlage den Charakter der Szene zum Heiteren verändert. Fanny, Geronio und Madama Rivers stoßen hinzu und machen das Ganze zu einem wirbelnden Ensemble, dessen Schlussteil „Di piacer la voce“ fast ein Zitat aus der Cenerentola darstellt. Daniele Rustioni findet mit dem BBC Symphony Orchestra die richtige Balance zwischen den elegischen und quirligen Teilen der Komposition, sorgt in den drei Finali für wirkungsvolle Steigerungen und ist den Solisten jederzeit ein einfühlsamer Begleiter.

Die von Opera Rara verwendete kritische Edition der Casa Ricordi berücksichtigt den aktuellen Stand der Erkenntnisse, ist Bellinis Autograph doch nur unvollständig erhalten. Die vier Nummern des Anhangs stellen jene Revisionen und Zusätze vor, welche Bellini 1828 für eine geplante Wiederaufführung seines Werkes, das nach Bianca e Fernando (1826) und vor allem Il pirata (1827) in Vergessenheit geraten war, vorgenommen hatte. Da gibt es eine kürzere Variante von Nelly Arie „Dopo l’oscuro nembo“ und ein verändertes Duett von Salvini und Bonifacio, in welchem der Tenor Töne in der Extremlage zu bewältigen hat, welche schon auf die Puritani verweisen. Überhaupt kann sich Scala in den Tracks des Anhangs erst richtig profilieren, denn auch in einer Version des ersten Finales, kann man ihn in dieser Region hören, während Barcellona hier wieder mit ihren Verzerrungen in der Höhe aufwartet.

Die Ausstattung der Opera Rara-Ausgaben gibt sich inzwischen bescheidener – ein schlichter Schuber statt einer schmucken Konfektschachtel und weniger historische Abbildungen mit den berühmten Interpreten jener Zeit. Aber der Sammler freut sich über jede Neuveröffentlichung aus dem vergessenen Repertoire des 19. Jahrhunderts, was die Firma zu weiteren Taten ermuntern sollte. Bernd Hoppe