Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Die „Müllerin“ aus der Wigmore Hall

Wolfgang Holzmair ist ein gern gesehener Gast in der Londoner Wigmore Hall. Der Saal hat einen ausgezeichneten Ruf. Der österreichische Bariton auch. Viele Musiker schwören darauf, dass Kammermusik und Lieder nirgendwo auf der Welt besser klingen als in dieser Halle, die 1901 von der Berliner Pianoforte-Fabrik Bechstein errichtet wurde. Eine eigene CD-Reihe mit Aufnahmen aus der Wigmore Hall legt dafür akustische Beweise vor. Jetzt ist der von der BBC besorgte Mitschnitt von Franz Schuberts Die schöne Müllerin erschienen (WHLive 0072). Er gleicht einer akustischen Offenbarung. Als ich die CD auflegte, wähnte ich mich nicht an den Lautsprechern, sondern mitten im Saal. Es schwingt. Würde zehn Reihen weiter ein Taschentuch zu Boden fallen, man würde es spüren. So plastisch und unaufdringlich zugleich ist die Musik eingefangen. Dabei ist die Aufnahme gut zwanzig Jahre alt, was ihr nicht anzumerken ist. Im Gegenteil. Ich hätte Wetten darauf angeschlossen, dass sie eben erst entstand.

Mir kommt es so vor, als ob Holzmair die Positionen wechselt im Verlauf des Zyklus. Mal ist er selbst Müllerbursche, mal gibt er den Erzähler, dem die Geschichte dieses unglücklichen jungen Mannes allenfalls nahe geht. Mit derlei Wechselspiel kommt Dynamik und Dramatik in den Vortrag. Die Grundhaltung seiner Interpretation bleibt dennoch schlicht und natürlich. Vertieft wird dieser Eindruck dadurch, dass Holzmair so genau mit dem Text umgeht. Er hat nicht nur Respekt vor den Noten, sondern auch vor dem Werk des Dichters Wilhelm Müller. Er verschenkt nicht einen Buchstaben, nicht ein Interpunktionszeichen. Selten ist das so zu hören. Das Konzert, bei dem Geoffrey Parsons am Flügel sitzt, fand am 4. November 1994 statt. Parsons ist nur drei Monate später in London gestorben. Ist es ein Zufall, dass als Zugaben Schuberts Wandrers Nachtlied II und I – und zwar in dieser entgegengesetzten Abfolge – erklangen? Es sind Lieder des Abschieds. „Was soll all der Schmerz und Lust? / Süßer Friede! / Komm, ach komm in meine Brust!“ Das Konzert ist Parsons‘ Schwanengesang.

1-Boesch - SchwanengesangDer Musikmarkt überrascht seit Monaten immer wieder mit neuen Liedproduktionen. Nicht alle Neuerscheinungen sind spektakulär. Florian Boesch, der österreichische Bariton Jahrgang 1971, setzt beim Label Onyx seine Annäherung an Franz Schubert mit Schwanengesang fort (4131). Winterreise und Die schöne Müllerin liegen bereits vor. Bei allen Aufnahmen begleitet Malcolm Martineau. Boesch bleibt im Großen und Ganzen traditionell. Bei genauem Hinhören stellen sich seine Eigenwilligkeit und Individualität ein, womit er sich gegen die starke Konkurrenz wohltuend behauptet. Boesch ist ungemein zurückhaltend und diskret – wenn nicht gar introvertiert in der Darstellung. Er singt diese Lieder mehr nach innen denn nach außen. Er verschießt kein gestalterisches Pulver, kann im Forte dadurch viel besser disponieren. Nichts wirkt überzogen oder überanstrengt. Manche Lieder sind wie gehaucht. Im Klavierpart verbreitet der Pianist jene Unruhe, wie die für viele Lieder Schuberts typisch ist.

1-Holzmair - SchwanengesangWolfgang Holzmair hat sich ebenfalls den Schwanengesang vorgenommen. Seine CD ist bei Preiser Records (PR 90828) herausgekommen. Die Auswahl und Anordnung der Lieder unterscheidet sich etwas im Vergleich mit Boesch. Schließlich ist der Zyklus ja nicht von Schubert selbst, sondern postum zusammengefasst worden. Veränderungen sind also nicht das Problem. Holzmair beginnt mit der Taubenpost, die in manchen Aufnahmen am Schluss steht und bei Boesch fehlt. Diese Post ist nicht die schnellste. Holzmair nimmt sich auffallend viel Zeit. Dietrich Fischer-Dieskau kommt mit einer halben Minute weniger aus. Holzmair lässt die Taube nicht fliegen, sondern sinnt der Botschaft nach, mit der diese symbolhafte Tier „bis zu der Liebsten Haus“ unterwegs ist. Das Lied wird zur programmatischen Einleitung bestimmt, eine kluge Wahl, die der Sänger auch im Booklet genau begründet. Es sei undenkbar, die Taubenpost an den erschütternden Monolog des Doppelgängers quasi anzuhängen. Andere Interpreten hätten andere Lösungen gefunden, die alle ihre Berechtigung haben mögen. Für ihn, Holzmair, spreche für die Taubenpost zum Auftakt freilich auch, dass sie das Publikum sofort in den Schubert-Ton einstimme und dass sie eines von Schuberts Allzeitthemen, die Sehnsucht, zum Inhalt habe. Das leuchtet ein, so kommt es auch gesanglich rüber.

1-CD - Schoene Magelone (Edelmann)Fischer-Dieskau! Niemand, der sich mit Liedern beschäftigt, kommt um diesen Namen herum. Kein Sänger, kein Kritiker, kein Sammler, kein Musikfreund. Das Werk der nächsten Neuerscheinung – Die schöne Magelone von Johannes Brahms – ist eng mit seinem Wirken verbunden. Fischer-Dieskau hat allein schon mindestens vier Aufnahmen hinterlassen. Andere Sänger waren nicht ganz so tüchtig. Immerhin sind derzeit mehr als zehn Einspielungen auf dem Markt. Wer sich diesem Wettbewerb stellen und nicht unbeachtet bleiben will, muss etwas ganz Besonderes bieten. Paul Armin Edelmann, jüngster Sohn des berühmten Heldenbaritons Otto Edelmann, die renommierte Schauspielerin Julia Stemberger und der englische liederprobte Pianist Charles Spencer unternehmen diesen Versuch beim Label Capriccio auf drei CDs (C5225). Drei CDs? Die fünfzehn Lieder werden zweimal geboten, einmal als Werkgruppe allein, schließlich eingebettet in die Prosatexte von Ludwig Tieck als Wundersame Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter von Provence mit Liedern op. 33 von Johannes Brahms. Geschafft und nicht vertippt. Der Titel hat es in sich, die Geschichte auch. Für sich genommen bleiben die Lieder viel unzugänglicher als in der originalen textlichen Verortung. Dann erst wird eine Geschichte daraus, die als eine der literarischen Ursprünge der deutschen Romantik gilt. Im Vergleich beider Versionen kommt der Liederzyklus viel deutlicher und packender herüber.

Edelmann, der an seiner prominenten Herkunft auch zu tragen hat, geht sehr eigenständige Wege. Er hat sich seinen eigenes Markenzeichen geschaffen und ist längst nicht mehr nur der Sohn von Otto, bei dem er auch Unterricht genommen hat. Als Kind war er Mitglied der Wiener Sängerknaben und studierte später an der Musikhochschule in Wien. Sein Bariton hat einen schönen ebenmäßigen Fluss. Damit bringt er vorzügliche Voraussetzungen für Liedgesang mit. Noch schöner wäre es allerdings, würde auch jedes Wort zu verstehen sein. Daran hapert es gelegentlich. Die Stemberger interpretiert die Texte leicht, klar und schlicht. Sie nimmt ihnen die Schwere und Umständlichkeit. Dadurch wirken sie sehr zeitgemäß. Es ist eine Freude, ihr zuzuhören.

1-CD RöschmannPortraits: Diesen Titel hat Dorothea Röschmann ihrer CD bei Sony gegeben (88883785852). Nicht ohne Grund, wie sie im Booklet selbst erklärt. Bei Besuchen der berühmten National Portrait Gallery in London habe sie sich von vielen Bildern magisch angezogen gefühlt, Bildern, die sie auf die Idee brachten, Frauenporträts in Liedern von Franz Schubert, Robert Schumann, Richard Strauss und Hugo Wolf nachzuspüren. Solche Konzepte sind nur dann packend, wenn sie in der Realisierung stimmig aufgelöst werden. Das ist hier der Fall. Es lohnt sich, die CD hintereinender zu hören. Die Röschmann steht mit ihrem Können dafür ein, dass keine Langeweile aufkommt. Ihr Sopran klingt kostbarer denn je. Eine innere Erregung, gar ein ganz leichtes Beben halten die Spannung aufrecht. Sie dürfte an jedem einzelnen Titel sehr intensiv gearbeitet haben. Nichts bleibt dem Zufall überlassen. In diesen Liedern ist ja kein Mangel an Wörtern und Begriffen, die heutzutage niemand mehr verwendet – wie das schimmernde Gemach in Kennst du das Land nach Goethe. Es ist, als würde uns Dorothea Röschmann von diesem Reichtum der Sprache der Dichter, den sie auskostet, etwas zurückgeben. So stelle ich mir Liedgesang 2014 vor.

Überhaupt ist es eine glückliche Wahl, die Mignon-Lieder von Wolf und Schubert kontrastierend in das Programm aufzunehmen. Das gilt auch für das von Benjamin Britten sehr diskret und stilvoll vollendete Lied Gretchens Bitte, das Schubert als Fragment hinterließ. Im Deutsch-Werkverzeichnis wird es allerdings unter dem Titel Gretchen im Zwinger geführt. Während Strauss mit gängigen Werken wie Morgen, Schlechtes Wetter oder Befreit vertreten ist, fiel bei Schumann eingedenk des Museumserlebnisses die Wahl auf den kleinen Zyklus Gedichte der Maria Stuart. Es sind die fünf letzten Lieder dieses Komponisten. Wie Fischer-Dieskau, der sich auch als Liederforscher betätigte, sehr treffend herausgefunden hat, zeigt sich die Musik ganz wortgebunden und scheint die einfache Melodienführung elisabethanischen Songs nachzuahmen.

1-Gerhaher - SchubertMit einer weiteren CD bei Sony (88883712172) führt Christian Gerhaher seine Auseinandersetzung mit dem Liedschaffen von Franz Schubert fort. Er hat bereits einige Aufnahmen vorzuweisen, die von der Kritik einhellig gelobt wurden und auch – was das Wichtigste ist – beim Publikum gut ankommen. Der Bariton setzt Schubert regelmäßig auf die Programme seiner Liederabende. Nach Die schöne Müllerin, Winterreise, Schwanengesang, einer mit Abendlieder verkaufsfördernd betitelten CD und Aufnahmen einzelner Titel in anderen Zusammenstellungen nun eine Auswahl von 24 Liedern, bei denen er wiederum von Gerold Huber am Klavier begleitet wird. Sie sind bereits Mitte 2012 als Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk eingespielt worden. Darunter sind Werke, die in keiner Diskographie der berühmten Liedinterpreten fehlen – Hoffnung, Abschied, Der Zwerg, Wehmut, Der Strom, Lied eines Schiffers an die Dioskuren. Vergleiche können also nach Lust und Laune angestellt werden. Für mich schneidet Gerhaher dabei bestens ab. Er ist längst in die höchste Liga aufgestiegen. Keiner seiner Vorgänger auf diesem Gebiet sitzt ihm mehr im Nacken. Als Hochschullehrer gibt er inzwischen selbst sein Können an jüngere Generationen weiter. Mir gefällt seine Natürlichkeit. Mit seiner Stimme gibt er vielen Liedern ihre Schlichtheit zurück. Er macht keine Dramen daraus, schlüpft in keine Rollen. Besonders deutlich wird das an der schaurigen Ballade vom Zwerg auf einen Text von Matthäus von Collin, die mit großer Zurückhaltung vorgetragen wird wodurch die Geschichte viel glaubhafter wird, als wenn sich der Sänger oder die Sängerin abwechselnd in die handelnden Figuren – Zwerg und Königin – schlüpfen.

1-Persicke - WesendonckNoch einmal die WesendonckLieder von Richard Wagner? Ja, noch einmal, diesmal mit Katharina Persicke. Sie bilden das Finale einer CD made in Netherlands beim Label Coviello Classics (COV 91419). Eröffnet wird das Programm mit den Sieben frühen Liedern von Alban Berg, auf die Proses Lyriques von Claude Debussy folgen. Der Berg ist geglückt. Die junge Sängerin bringt mit ihrem gut geführten und sehr sicher sitzenden lyrischen Sopran eine impressionistische Note hinein. Leicht, wie gehaucht klingt es. Mit dieser Fähigkeit kann sie auch bei Debussy punkten. In den Wesendonck-Liedern gelingen die getragenen, in sich gekehrten Passagen am besten. Muss die Stimme in dramatische Bezirke vorstoßen, reichen ihre natürlichen Ressourcen nicht aus. Sie muss forcierend nachlegen. Deshalb hätte ich ihr zu diesem Zyklus noch nicht geraten. Von Katharina Persicke, die von Pauliina Tukiainen begleitet wird, dürfte in nächster Zeit noch viel zu hören sein. Nach dem Gesangsstudium an den Hochschulen in Dresden und Freiburg erarbeitete sie sich in verschiedenen Opernhäusern mehrere Partien von Mozart, darunter Pamina, Zerlina und Figaro-Gräfin. Meisterkurse belegte sie bei Dietrich Fischer-Dieskau, seiner Frau Julia Varady,

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bei Peter Schreier und Catherine Malfitano.

1-Flaig - WolfAn Hugo Wolfs Liedern versucht sich der Bassbariton Markus Flaig mit seinem Begleiter Jörg Schweinbenz. Sie durften dafür einen in Tübingen aufbewahrten Bechstein-Flügel von 1893 benutzen, den der Komponist selbst gespielt und in einem Brief an die Freundin Melanie Köchert gerühmt hatte. Dieses kostbare Instrument schafft Authentizität. Ihre CD hat das Label Spektral herausgegeben (SRL4-13117). Sechs Danksagungen im Booklet sprechen für ein Projekt, das den beiden jungen Künstlern nicht in den Schoss gefallen zu sein scheint. Es ist ein Produkt der Hingabe, das Respekt und Wohlwollen verdient. Flaig ist noch relativ jung. Ein Geburtsjahr findet sich wie bei Emanuel-Marial nicht, weder im Booklet, noch auf seiner Homepage. Wikipedia gibt 1971 an. Jüngere Sänger scheinen heutzutage zurückhaltend zu sein mit der Preisgabe von derlei persönlichen Daten. Flaig kam über Umwege zum Gesang, hatte zunächst Schul- und Kirchenmusik studiert. 2004 war er Preisträger beim Internationalen Bach-Wettbewerb in Leipzig. Wolf ist schwere Kost. Da hat schon mancher versungen und vertan. Nein, Flaig passiert das nicht. Vor einer Glanzleistung ist er noch weit entfernt. Auf jeden Fall muss er an der Sprache arbeiten. Er ist nicht gut genug zu verstehen für einen Muttersprachler. Gerade bei Wolf, der so viel Wert legte auf seine dichterischen Quellen, muss jedes Wort, jeder Buchstabe deutlich werden. Von Farbe, wie sie die legendären Interpreten seiner Lieder in endlosen Schattierungen aufgetragen haben, noch gar nicht zu reden. Dieser Farbenreichtum fehlt. Mit einer Lesung aus Briefen von Wolf beschließt der Sänger seine CD. Das ist eine gute Idee, zumal er mit seiner sympathischen Sprechstimme auch Talent zu derlei Vortrag hat. In den Texten sind die strengen Anforderungen formuliert, die Wolf an die Kunst ganz allgemein stellte. Selten werden sie im musikalischen Teil der Neuerscheinung erfüllt.

1-Trekel - StraussMit einem Experiment soll mein Exkurs durch neue Lieder-CDs zu Ende gehen. Begleitet von Oliver Pohl wagt sich der Bariton Roman Trekel auf sehr glattes Eis und macht dabei gar keine gute Figur. Warum nur muss er sich auch ausgerechnet auf die Vier letzten Lieder von Richard Strauss werfen? Hätten die Wesendonck-Lieder, deren sich neuerdings immer mehr Sänger frech bemächtigen, nicht genügt? Die sind schon nicht nachzuvollziehen aus Männermund und Männerseele, weil sie diesen ganz konkreten historischen Kontext haben, aus dem sich nicht einfach lösen lassen. Die Strauss-Lieder aber gehen gar nicht, stimmlich nicht. Trekel gurgelt sich schon gleich durch den Beginn. Er rutscht deutlich unter sein eigenes Niveau, weil die Lieder nicht singbar sind für einen Bariton. Strauss würde sich im Grabe umdrehen. Dabei hebt die CD, die vom Oehms auf den Markt gebracht wurde (OC 1811) so fulminant an mit Heimliche Aufforderung. Wäre er doch bei solchen Liedern geblieben. Das Schaffen von Strauss ist so reich für Baritone von der samtigen Sporte, wie er Trekel eigen ist.

Rüdiger Winter

Diana Damrau shokaSchmetterlinge flattern durch die Luft, Grashalme wiegen sich im Wind, Kinder singen, eine Geisha tippelt herein, so mag sich manch einer das Land der aufgehenden Sonne oder das Land des Lächelns vorstellen.Das ist aber auch der spontane Eindruck, der sich beim Lied über die sieben Babys oder dem Lied über den Frühlingsanfang einstellt: sie alle sind das, was man in Japan „Shokda“ nennt, Schul-Hymnen aus dem ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert nach bekannten japanischen Gedichten und übergossen mit einer Musik im gefälligen, westlichen Stil. Auf solche Lieder stieß Kent Nagano, als seine dreijährige Tochter mit ihrer Mutter diese Melodien sang, was dazu führte, dass sich der Dirigent, dessen Familie seit dem späten 19. Jahrhundert in Amerika lebt, erstmals mit diesen Texten und Melodien und offenbar tief verwurzelten Traditionen auseinandersetzte. Daraus entstand ein Konzertprojekt und schließlich die prominent bestückte Kontinent übergreife Einspielung Shoka, die das im März 2010 aufgenommene Orchestre Symphonique de Montréal mit Diana Damrau, die im folgenden Juni in Germering ins Studio ging, zusammenbrachte (Analekta AN 2 9130). Damrau singt das leicht und frisch und in der dreisprachigen Textbeilage lässt sich ihr Japanisch gut verfolgen. Die leicht zugänglichen und kuscheligen Gesänge bereiten möglicherweise auch Kindern und ihren Eltern im Westen Freude, die nicht mit fernöstlichen Traditionen vertraut sind. Schön, wenn Damrau demnächst einen Spaziergang durch Lehàrs Land des Lächelns machen würde.

Janina Baechle capriccioDie Hamburgerin Janina Baechle, die zwischen 2004 und 2010 dem Ensemble der Wiener Staatsoper angehörte, wurde einst durch ihr Ortrud-Einspringen für Agnes Baltsa schlagartig bekannt; dramatische Partien von Wagner und Verdi bilden seither den Kern ihres Repertoires, auf dem Konzertpodium scheint Brahms, neben Mahler, gut zu ihrer geschmeidigen, warmen und vollen Stimme zu passen. Zusammen mit ihrem Pianisten Markus Hadulla wählt Baechle für ihre soeben erschienene Brahms-Einspielung einen ihrem Temperament entsprechenden durchaus dramatischen, packenden und direkten Zugang (Capriccio C5216). Der Höll-Schüler und Karlsruher und Berliner Hochschullehrer begleitet am originalen Brahms-Flügel aus dem Brahms-Museum im österreichischen Mürzzuschlag mit brillanter Verve und aufwühlender Dramatik. Baechle singt die Auswahl, darunter die 9 Lieder op. 32, die fünf Lieder der Ophelia und die vier ernsten Gesänge, mit einer unverstellten und frischen Direktheit, auch schon mit einigen kleinen Sprüngen und Grauzonen an den Rändern der Stimme, guter, textdeutlicher, aber etwas beiläufiger Diktion. In langsamen Liedern, wie „So stehn wir, ich und meine Weide“ und „Es träumte mir“, merkt man, wie gut sie und Hadulla zusammen musizieren und harmonieren.

The Dream of Gerontius ChandosEine große Geschichte, die Geschichte eines sterbenden Menschen und den Kampf seiner Seele, schildert Edward Elgar („This is the best of me“) in seinem im Jahr 1900 unter Hans Richter in Birmingham uraufgeführten und trotz des damaligen Fiaskos seither in England nie von den Konzertpodien verschwunden Oratorium The Dream of Gerontius. The Dream of Gerontius gehörte selbstverständlich zu den Chor-Werken, denen sich Sir Andrew Davis im Frühjahr diesen Jahres im Umfeld seines 70. Geburtstages bei Aufführungen und Aufnahmen mit dem BBC Symphony Orchestra widmete (Chandos CHSA 5140/2). Davis ist Conductor Laureate des Orchesters, nachdem er dort die zweitlängste Periode – neben dem Orchestergründer Adrian Boult – als Chefdirigent amtierte. In die Fußstapfen von Boult, der eine berühmte Fernsehaufführung des Oratoriums realisierte, trat Davis auch mit dieser Wahl. Man kann nur staunen, dass der Dream hierzulande so wenig bekannt ist. Davis wirft seine ganze Erfahrung als Operndirigent (Chicago) in den Ring und realisierte eine bezwingende, dramatisch aufwühlende, orchestral fein modulierte und in den Chorpassagen – BBC Symphony Orchestra – klare Aufführung. Mit einer intensiven, heldentenoralen Darstellung des Gerontius brennt sich Stuart Skelton (Gerontius) ins Zentrum der Aufführung. Manchmal schneidend im Ton, lodernd im Klang, dabei männlich zupackend, großvolumig, immer mitreißend, die strapaziösen tristanschen Dimensionen und Visionen mühelos meisternd. Allerdings: alles andere als ein Sterbender. Die vor allem in den vorgeschalteten Sea Pictures strahlende, als Engel im Oratorium zwar majestätische, aber allgemeine Sarah Connolly und der schwarz-kernige David Soar als Priester fallen daneben kaum ab.

Bernard Kruysen debussyBesondere Aufmerksamkeit auf den vom Institut National de L‘ Audiovisuel veröffentlichten Liedern Debussys, die der französische Rundfunk zwischen 1962 und 1965 mit dem niederländischen Bariton Bernard Kruysen (1933-2000) aufnahm, dürften die fünf von Francis Poulenc wenige Monate vor seinem Tod bei Festival de Menton 1962 begleiteten Titel (IMV 010) finden, wobei Pianist Jean-Charles Richard in den restlichen Aufnahmen keineswegs abfällt. Kruysen singt mit einem offenbar von Natur aus gut sitzenden, herb dunklen Bariton, eloquenter Natürlichkeit und feiner Diktion – er wuchs in der Provence auf. Was Kruysen im informativen Beiheft über Pierre Bernac sagt, dieser habe nämlich weder eine große noch eine schöne Stimme gehabt, gilt auch für Kruysen selbst. Hat man sich erst einmal an das grobkörnige Timbre gewöhnt, merkt man, dass sein Singen nicht unraffiniert und keineswegs so grobschlächtig und plump ist, wie es nicht nur im Vergleich mit dem 15 Jahre älteren Gerard Souzay zunächst erscheint. Die Einfachheit und funkelnde Wortklarheit haben ihren Reiz.

corinne winters songs of spainUnd zum Schluss nach Spanien. Die amerikanische Sopranistin Corinne Winters, eine Mimi, Violetta, Micaela, kommt mit Songs of Spain (GPRrecords GPR 70013) in den unterschiedlichen Dialekten der iberischen Halbinsel. Die Lieder u. a. von Toldrà, Turina, Lavilla, Nin und Montsalvatge singt sie mit überschäumendem Temperament, mal leicht rauchigem, mal dunkel sinnlichem Sopran. Winters verkrallt sich in diese Lieder, setzt brustige, nie ordinäre Töne bei „Aldapeko Mariya“ ein, singt Turinas „Se con mis deseos“ mit brillant guter Höhe und gestaltet – unterstützt von dem stilistisch versierten, atmosphärisch zaubernden Pianisten Steven Blier und dem Gitarristen Oren Fader sowie der israelischen Mezzosopranistin Maya Lahyani im rossinihaften „Si la mar fuera de tinta“ von José Melchor Gomis – einen nicht uncharmanten Spanien-Ausflug.

Vocal Cycles and Romances by Russian Composers Gerzmava2010 gab die abchasisch-russische Sopranistin Hibla Gerzmava als Antonia ihr Debüt an der Met, an die sie als Mimi und Liù zurückkehrte. Mimi sang sie anschließend in München und in Rom, an Covent Garden war sie Donna Anna und Amelia Grimaldi, Vitellia und Donna Anna sang sie in Wien, an ihrem Stammhaus, dem Stanislawski und Nemirowitsch-Dantschenko Theater in Moskau, dessen Ensemble sie seit 1995 angehört, tritt sie außerdem noch als Adina, Violetta und Schwanenprinzessin in Zar Saltan auf. Nach zwei CDs mit Arien von Mozart, Donizetti, Bellini und Verdi unter Marco Armiliato sowie Arien von Bellini, Rossini, Donizetti, Mozart und Verdi unter Vladimir Spivakov veröffentlicht Melodia jetzt Vocal Cycles and Romances by Russian Composers (MEL CD 10 02289), wofür Gerzmava und ihre Begleiterin Ekatarina Ganelia Lieder von Tschaikowsky und Rachmaninov, Prokofjews Fünf Gedichte nach Anna Achmatowa op. 27 und das Madrigal für Sopran und Klavier op. 7 von Nikolai Mjaskowski aussuchten; einige Titel hatte sich vor fünfzig Jahren auch Galina Wischnewskaja für ihre maßstäbliche Aufnahme mit Mstislav Rostropowitsch ausgewählt. Gerzmava ist eine sensible und geschmackvolle Interpretin, ihr dunkel leuchtender, technisch gut gerüsteter Sopran wirkt manchmal schon ein wenig angekratzt, der Klang ist hart, die intime Form schmeichelt ihr nicht durchweg, doch sie verfügt beispielsweise in Tschaikowskys Serenade Où vas-tu, souffle d‘ aurore über eine gewisse Eleganz, auch über die Färbungen, die wir mit russischer Melancholie verbinden und mit denen sie den Hörer ebenso umgarnt wie mit sauberen Höhen, hingegen würde man in Der Kuckuck aufgrund ihres Repertoires eine leichtere Wendigkeit erwarten.

Rolf Fath

kollo acantaPS.: Und dann gibt´s noch die geschmackliche Überraschung des Monats: René Kollo singt Lieder von Udo Jürgens („Musik war meine erste Liebe“). Diese kleine akustische Fragwürdigkeit hat Membran/Acanta aus dem Keller der Ariola-Eurodisc geholt. Es finden sich ein Foto beider vertrauter Herren aus ihrer großen Zeit (die Siebziger?) und dann René (dto.) vorne als Künstler vor einem weißen Flügel abgebildet (ach ja, das hatte man damlas so zu Hause rumstehen). Um dem Ganzen gewisse kitschige Seriosität zu verleihen. Warum?, fragt sich der Betrachter – dann hör ich doch den Jürgens selbst alle Mal lieber, der singt doch immer noch. Aber es bestätigt sich für mich, was ich immer schon über Kollo dachte: Er war der ideale Operettentenor, und der Schmalz von Jürgens Songs läuft gut durch seine schon damals recht trockene Kehle. Wo hier doch so viel von Einsamkeit, Erster Liebe und Fort-Gehen die Rede ist, gefühlvoll unterlegt von den Orchestern Werner Becker und Stefan Klinkhammer sowie einer „Rhythmusgruppe“ (so hieß das damals!). Jaja, Geschmack ist doch ein seltsames Ding… (233925). G. H.

Müdigkeit im Försterhaus

Dieser Freischütz von Carl Maria von Weber ist oft aufgelegt worden. Es gibt ihn in mindestens drei verschiedenen CD-Ausgaben der Deutschen Grammophon, wo er 1959 eingespielt wurde. Sogar ein Querschnitt kommt hinzu. Nun hat sich das Label Urania Records die Einspielung gegriffen mit dem deutlichen Hinweis auf die Urheberschaft der Produktion (WS 121.234). Das ist fair. In diesem Falle aber wirkt es ein bisschen so, als wolle man damit nichts zu tun haben. Die anderen waren es, nicht wir! Nachzuvollziehen wäre es. Denn die Produktion hat auch mit den Jahren nicht gewonnen und keine Patina angesetzt. Sie ist problematisch geblieben. Zumal sie seit jeher in harter Konkurrenz steht gegen die von Joseph Keilberth betreute EMI-Aufnahme. Diese entstand nur ein Jahr zuvor. Ein Geschwisterpaar, zwischen dem keine Liebe aufkommt, weil der ältere Teil von beiden immer vorgezogen wurde wie ein Erstgeborener. Das ist so, seit sie gemeinsam auf dem Markt sind. Nun sind die Sympathien völlig zu Recht so unterschiedliche verteilt.

Jochums Aufnahme findet nicht richtig zusammen. Trotz schöner Momente in den sinfonischen Passagen zerfällt sie in Einzelteile. Es will keine rechte Stimmung aufkommen, obwohl die Dialoge lebensechter und natürlicher gesprochen werden als bei der EMI. Irmgard Seefried kommt zu spät als Agathe. Der einstige Samt dieser Stimme hat viel Glanz verloren und wirkt gelegentlich belegt in der Höhe. Auch Rita Streich als Ännchen ist nicht mehr taufrisch und versucht, Jugendlichkeit durch eine gewisse Aufgeräumtheit herzustellen. Die Idee, den Max mit einem lyrischen Tenor zu besetzten, ist verführerisch. Mehr nicht. In diesem Fall scheitert sie an Richard Holm, der besser bei Jaquino oder David geblieben wäre. Holms Stimme reicht nicht für die dramatischen Teile der Partie, er stemmt sie wie Hanteln im Sportstudio. Schaden nimmt die Diktion. Wörter verwischen. Im Terzett im nächtlichen Försterhaus klingt er nur noch müde. Dabei steht ihm noch der Marsch in die Wolfsschlucht bevor, in der es auffallend sachlich zugeht, als scheine die Sonne und nicht der Mond, dessen Milch dem Libretto nach eigentlich aufs Kraut fallen soll. Für Gestaltung bleibt Holm nicht viel übrig. Aus dem lyrischen wird gelegentlich ein Charaktertenor.

Gegen den Profi Kurt Böhme, der den Kaspar schon 1944 bei Karl Elmendorff in Dresden gesungen hat, kann er nichts ausrichten. Warum also diese von vornherein unglückliche Paarung der beiden Jägerburschen? Die Besetzung der übrigen Partien mit Eberhard Wächter (Ottokar), Albrecht Peter (Kuno) und Paul Kuen (Kilian) sind noch das Beste an der ganzen Produktion. Es singt der Chor und es spielt das Sinfonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks.

Rüdiger Winter

Reiner Süss

 

Der Bassbariton Rainer Süß ist tot. Er starb bereits am 29. Januar 2015 im Alter von 84 Jahren in einem Pflegeheim, wie erst jetzt bekannt wurde. Süß stammte aus Chemnitz, war Mitglied des Thomanerchors und ließ sich später als Solist ausbilden. Sein erstes Engagement führte ihn nach Bernburg. Darauf folgte das Landestheater Halle. 1959 wurde er an die Deutsche Staatsoper in Berlin verpflichtet, wo er bereits im Jahr darauf in der Neuinszenierung des Rosenkavalier von Richard Strauss den Ochs übernahm. Die 28 Jahre ältere Clara Ebers als Marschallin hätte seine Mutter sein können. In der Rolle des Octavian trat Ludmila Dvorakova aus Prag ihre erfolgreiche Karriere an diesem Haus an. Der Ochs führte Süß im Jahr 1967 sogar ein einziges Mal an die Wiener Staatsoper. In Berlin trat er in unterschiedlichsten Partien in Erscheinung, wozu auch Leporello, Osmin, Kezal, Falstaff in den Lustigen Weibern von Windsor und der Bartolo in der legendären Inszenierung des Barbier von Sevilla von Ruth Berghaus gehörte. In Uraufführungen von Opern von Paul Dessau hinterließ er vor allem als Puntila neben seinem Knecht Matti von Kurt Rehm starken Eindruck. Ich schätzte ihn in solchen Rollen mehr als im komischen Fach, das er gern mit eigenen Einlagen und Übertreibungen versah, was nicht jedermanns (und mein) Geschmack war.

Süß polarisierte, weil er sich zunehmend auch in Unterhaltungsshows betätigte. Seine eigenen Sendung „Da liegt Musike drin“ aus dem Haus der heiteren Muse in Leipzig, die auch im DDR-Fernsehen lief, machte ihm bei einem breiten Publikum bekannt, das mit Opern von Dessau nicht so viel anzufangen wusste. Süß wurde weniger wegen seines Timbres als durch seine Vielseitigkeit und Umtriebigkeit geschätzt. Mir sagte die nasale Stimme nie zu. Jürgen Kesting erwähnt ihn auch in der neuen Auflage seines Standardwerkes „Die großen Sänger“ in nunmehr vier dicken Bänden auf zweieinhalbtausend Seiten mit keinem Wort. Im ostdeutschen Fernsehen war er noch im hohen Alter hin und wieder zu sehen, sogar in einem „Polizeiruf“ aus Halle, wo er sich als Kammersänger selbst spielt.

Reiner Süß hat viele Schallplatten hinterlassen. Dazu gehört auch der Puntila von 1966. Im Eterna-Radamisto ist er der Farasmene, im berühmten Tannhäuser der EMI mit Elisabeth Grümmer und Hans Hopf der Reinmar von Zweter. Bei Sony Music / Hansa Amiga (97 66304-2) wurden unter dem Titel „Dunkelrote Rosen“ (siehe oben) seine – wie es heißt – größten Erfolge zusammengestellt. Das Programm besteht aus Unterhaltungsliedern, Opern sind nicht darunter. Nach dem Fall der Mauer betätigte sich Süß, der in der DDR mit hohen Auszeichnungen geehrt wurde, auch politisch, trat in die SPD ein, saß zunächst für diese Partei in der Ost-Berliner Stadtverordneten-Versammlung, später sogar im Abgeordnetenhaus. Seine Erinnerungen „Da lag Musike drin“ erschienen 2010. Rüdiger Winter

News aus Camelot

Harrison Birtwistle, heute der Doyen der britischen Komponisten, trat mit einigen erfolgreichen Bühnenwerken hervor, seine Oper Gawain wurde zuletzt auch bei den Salzburger Festspielen 2013 erfolgreich aufgeführt. Birtwistles Stil ist schwer einzuordnen. In seinen frühen Werken gibt es deutliche Anklänge an Strawinsky und Messiaen. Inzwischen hat er aber längst zu einer eigenständigen musikalischen Sprache gefunden, die durchaus ansprechend ist. Das Auftragswerk der Covent Garden Opera in London basiert auf einer mittelenglischen Sage und spielt im ritterlichen Milieu. Viel Mythologisches ist hier verarbeitet, der Librettist David Harsent hat dem Komponisten einen reichlich komplexen Text geschaffen. Im Jahr 1991 erlebte Gawain am Royal Opera House seine Uraufführung, trotz des relativ großen Publikumserfolges überarbeitete der Komponist das Werk, 1994 hatte die revidierte Fassung erneut in Covent Garden ihre Premiere.

Diese Aufführung ist nun bei NMC Recordings, auf dem eigenen Label des Opernhauses als Mitschnitt erschienen (NMC D200). Unter dem Dirigenten Elgar Howarth ist eine stimmlich hochkarätige Besetzung aufgeboten. Der Bariton Francois Le Roux als Gawain, der Bass John Tomlinson in der Rolle des grünen Ritters, dem Gegenspieler Gawains, führen das vokal sehr ausgewogene Ensemble an, wozu auch die Sopranistin Marie Angel und die Mezzosopranistin Anne Howells gehören. Ein wenig enervierend ist der permanent erregte, hohe Ton dieser Musik. Hier klingt jeder Satz bedeutungsschwanger, darunter leidet die Dramaturgie, denn pausenlose Aufgeregtheit lässt den Zuhörer schnell ermüden und stumpft ab.

Die Ausstattung dieses Doppel-Albums lässt keinen Wunsch offen. Das komplette Libretto ist abgedruckt, auch eine übersichtliche Inhaltsangabe und eine biographische Notiz über den Komponisten finden sich darin, sowie Fotos der Produktion. Das Werk, das wahrscheinlich auf Dauer keine große Popularität erlangen dürfte, ist hier zumindest optimal dokumentiert.

Peter Sommeregger

Die Zürcher Liaison

Dreißig mal dreißig Zentimeter, weiße Schrift auf rotbraunem Karton. Sehr fein und repräsentativ. Ein raumgreifendes Format, das sich schwer unterbringen lässt. Das ideale Geschenk also für einen Wagnerfreund. Der kann sich freuen. Ich hätte mich gefreut. Zumal mir nicht in Erinnerung ist, dass es so etwas schon einmal gab – das Hörspiel It must be so und das Hörbuch Eine Liaison in Zürich. Beide Produktionen entstanden bereits zum 200. Geburtstag Richard Wagners im Jahre 2013. Jetzt finden sie sich zusammengefügt in eben dieser gediegenen Box, die bei der Crossmedia AG Zürich (harmonia mundi) erschienen ist. (ISBN 978-3-9524329-0-7). Wagner in Zürich – das ist eine weitläufige Geschichte, in der nicht nur Mathilde Wesendonck eine Hauptrolle spielt, sondern auch ihr Gatte Otto, der den heimatlosen Komponisten großzügig unterstützte. Wesendonck wurde am 16. März 1815 – wie seine Frau und übrigens auch der Dirigent Hans Knappertsbusch – in Elberfeld, heute eine Stadtteil von Wuppertal, geboren. 2015 jährt sich sein Geburtstag zum 200. Mal.

1-Wagner - Liaison in ZürichZeit muss man mitbringen für das gewaltige Geschenk. Es soll ja nicht einfach abgelegt werden und das Schicksal mancher Bildbände über Rembrandt oder die Karpaten teilen, die nur geblättert ungelesen im Regal verschwinden. Die sieben CDs wollen gehört sein. Nebenbei wie mit der Kleinen Nachtmusik geht das nicht. Man muss sich schon hinsetzen, genau zuhören können, sich einlassen, vielleicht auch dieses und jenes Nachschlagewerk in Reichweite haben. Ich fühlte mich ein bisschen in die Zeit zurückversetzt, als es noch kein Fernsehen gab und die ganze Familie sich am Abend vor dem Radioapparat einfand. Und man muss auch etwas Bescheid wissen. Es fliegen einem in dem umfänglichen Hörspiel von Jens Neubert, der auch die Regie führt, Namen der bedeutenden und weniger bedeutenden Menschen aus Wagners Umkreis nur so um die Ohren. Nicht immer ist auf Anhieb zu erkennen, wer nun wer ist.

Richard Wagner ist noch immer allgegenwärtig - als Büste im Park - Foto: Winter

Wagner ist als Büste im Park noch immer allgegenwärtig/ Foto: Winter

Wagner wird von André Eisermann gesprochen. Der ist gut herauszuhören. So sehr ich Eisermann schätze, mit seiner Besetzung wurde eine Chance vertan. Wagner sprach bekanntlich ein derbes Sächsisch. Oft ist das beschrieben worden, sehr genau von Alfred Pringsheim, dem Kunstmäzen, Mathematiker, Förderer der Bayreuther Festspiele und Schwiegervater von Thomas Mann. Pringsheim war selbst Gast in Wahnfried und hat die Diktion Wagners in seinem Tagebuch vortrefflich reflektiert. Warum also muss Wagner bühnenreifes Hochdeutsch reden in einem Hörspiel über sein Zürcher Exil, das sich sehr wohl bei Dialekten, bellenden Hunden oder schreienden Papageien bedient, um Kolorit in das dramatische Geschehen zu bringen. Verstörend wirkt auf mich die in der gesamten Produktion sehr umtriebige Katharina Thalbach als Erzählerin, die sich zudem auch noch in der Ich-Form als Wagner betätigen muss. Damit sich die Hörer besser zurechtzufinden, sind alle 104 Szenen, die jeweils einen eigenen Track haben, mit den in ihnen auftretenden Personen im Begleitbuch aufgelistet. Ruck, zuck ist nachgeblättert. Na klar doch, das war ja der Herwegh und nicht der Liszt. Musik gibt es auch. Mehr zur Untermalung von Proben, mit Chor und ohne Chor, mal am Klavier in einer Gesellschaft, die hörbar zu Tische sitzt und mit schweren Bestecken klappert, mal dröhnt irgendetwas von irgendwoher vor sich hin, nicht immer im richtigen biographischen Zusammenhang. Unerschöpflich ist das Arsenal von Geräuschen aus der Konserve. Aber auch irritierend, weil nur akustische Deko.

Der Blick aus der Villa in den weitläufigen Park - Foto: Winter

Der Blick aus dem Obergeschoss der Villa Wesendonck in den Park/ Foto: Winter

Der Autor gibt vor, mit seinem Hörspiel, dessen Titel „It must be so“ sich etwas unvorhergesehen bei Bernsteins Candide bedient, „die wahre Geschichte über Richard Wagner und Mathilde Wesendonck in Zürich“ erzählen zu wollen. Naja. „Die wahre Geschichte über…“ – das erinnert ein an Überschriften in Boulevardzeitungen. Was ist schon wahr? Als ob bisher etwas unwahr gewesen wäre in der ziemlich gut erforschten und mit Dokumenten belegten Beziehungen zwischen Wagner und der ebenso feinsinnigen wie steinreichen Kaufmannsgattin mit den weitreichenden musikalischen und gesellschaftlichen Folgen. Der wichtigste Schauplatz der „wahren Geschichte“ ist die berühmte Villa Wesendonck in Zürich, Gablerstraße 15, Wohnsitz der Familie zwischen 1856 und 1871. Heute herbergt sie Teile der Sammlung des Museums Rietberg. In den gediegenen historischen Räumen, die sich weitgehend im originalen Zustand befinden, erinnert nichts an die Erbauer. Heilige Figuren aus dem Himalaya oder schweizerische Masken bevölkern Säle, Treppenhäuser und Salons. Sie sind das Letzte, worauf man bei der Spurensuche nach Wagner und Mathilde käme. Unverstellt ist die Aussicht in den Park, der ahnen lässt, was sich seinerzeit hier zutrug. Ja, der öffentliche Park mit dem ständig wechselnden Ansichtskartenblick auf die Villa ist es, was den Besuch lohnt und innere Bewegung aufkommen lässt. Dort findet sich auch das anrührende Grabmal für Klein-Guido, den Sohn der Wesendoncks, der nur drei Jahre alt wurde.

Guido, der Sohn der Wesendoncks, ist in dieser Gruft im Park bestattet - Foto: Winter

Guido, der Sohn der Wesendoncks, ist in dieser Gruft im Park bestattet /Foto: Winter

Das großzügig ausgestattet Begleitbuch des Hörspiels nennt auch andere Adressen der näheren und weiteren Umgebung, die mit Wagner und den Wesendoncks in Verbindung zu bringen sind – bis hin zum Gotthard und dem Berner Oberland. Wagner war ein strammer Wanderer. Ein Satz macht mich dann aber doch stutzig: „Die Alpen erleben, heißt Richard Wagner entdecken.“ Das war mir noch gar nicht bewusst. Jetzt wird es unverstellte Werbung, Hochglanzbroschüre eines Reiseveranstalters. Und siehe da, die Adresse aus dem App Store folgt auf dem Fuß – Richard Wagner in Switzerland. Der Meister auf dem iPhone, immer dabei, immer griffbereit, das neueste Modell gleich abgebildet. Ist das des Pudels Kern? Vielleicht. Wäre das so schlimm? Nein. Mir ist alles Recht, wenn nur Wagner und sein Werk unter die Leute kommt. Ob es auf diese Weise nachhaltig gelingt, darf bezweifelt werden. Es ist ein Versuch. Ein kommerzieller.

In der Wesendonck-Villa gibt es heute Marken statt Devotionalen zu sehen Foto: Winter

In der Villa gibt es heute Masken statt Wagner-Devotionalien zu sehen/ Foto: Winter

Zunächst wartet aber noch das anstrengende Hörbuch auf den entdeckungsfreudigen Wagner-Freund, der sich gerade eben die passende App heruntergezogen hat. Es ist mit einem noch umfangreicheren Buch versehen als als Hörspiel und es locken wieder schöne Bilder, reichlich Lesestoff, Dokumente, Betrachtungen und eine Widmungstext für den Chefdirigenten der Sächsischen Staatskapelle Dresden, Christian Thielemann. Drei CDs sind reserviert für Briefe Wagners an seine erste Frau Minna (gelesen von Chris Pichler), an Mathilde (Regula Mühlemann), sowie an Freunde (nochmals Katharina Thalbach!). Warum ausschließlich Frauen Briefe vortragen, die ein Mann geschrieben hat, erschließt sich mir nicht, denn die Geschlechterrolle ist in eben diesen Dokumenten ja nicht nebensächlich. Mit solcher Besetzung geht Wirkung verloren. Und wie das mit Briefsammlungen so ist, sie bräuchten eigentlich dringend einen Apparat, der Anlässe, Umstände, Hintergründe, Personen etc. erklärt.

Der stille Gast weiß die Atmosphäre im weitläufigen Park zu genießen - Foto: Winter

Der stille Gast weiß die Atmosphäre im weitläufigen Park zu genießen/ Foto: Winter

Einer Wohltat gleich ist die vierte CD der Hörbuch-Ausgabe endlich ganz Musik. Elisabeth Kulman trägt die Wesendonck-Lieder vor. Nicht sehr entrückt, nicht ganz verständlich, mitunter etwas zerfasert, was auch auf schwierige

akustische Bedingungen bei der Aufnahme hindeutet. Der Begleiter Eduard Kutrowatz sitzt an Wagners Érard-Flügel aus Paris im Museum Luzern. Die Lieder klingen trocken und eng. Es fehlt an Raum. Ich habe dennoch sehr gern zugehört, weil sich am Ende doch noch so etwas wie eine erlösende Wirkung einstellt nach der Strapaze mit gesprochenem Wort. Bei alledem kein Vergleich mit Kirsten Flagstad, die an irgendeiner Stelle mit dem Lied Im Treibhaus in der Orchesterfassung unter Knappertsbusch eingespielt wird. Ärgerlich wie peinlich, dass in einer so aufwändigen Edition, die eine „wahre Geschichte“ erzählen will, der Name einer der ruhmreisten Wagner-Sängerinnen falsch wiedergegeben wird. Die Flagstad schreibt sich nämlich am Ende ohne „t“!

Rüdiger Winter

Das Bild oben zeigt die Villa Wesendonck in Zürich, Gablerstraße 15, vom Park aus./ Foto: Winter

 

From the British isles

Der britische Komponist Arthur Sullivan, im angelsächsischen Raum hoch gepriesen und viel gespielt, konnte in Deutschland im Repertoire nie wirklich dauerhaft Fuß fassen. Diese CD (Dutton CDLX 7310) nimmt sich zweier seiner frühen Werke an, entstanden, noch bevor seine fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Librettisten Gilbert begann und das Markenzeichen Gilbert und Sullivan aufkam. Die dramatische Kantate On Shore and Sea war ein Auftragswerk für die Eröffnung der Royal Albert Hall in London im Mai 1871. Komponisten mehrerer Länder wurden um einen Beitrag gebeten, es scheint befremdlich, dass Sullivan keinen britischen Stoff, bzw. Schauplatz wählte, sondern eine Seefahrer-Romanze, mit orientalischen Stilelementen. Trotzdem wurde die Aufführung für ihn zu einem persönlichen Erfolg. Die Musik ist von einer operettenhaften Leichtigkeit, melodiös und durchaus anmutig, allerdings auch eher simpel in ihren musikalischen Einfällen. Ein gefälliges Werk, das gute Laune verbreitet, aber selbst in England nur höchst selten aufgeführt wird.

Die so genannte Masque Kenilworth, eine Art Singspiel mit Tänzen des erst 22-jährigen Sullivan war ebenfalls ein Auftragswerk, damals für das Birmingham Music Festival von 1864, bei dem es auch seine Uraufführung erlebte. Die Handlung nimmt Bezug auf den historischen Besuch von Elizabeth I. auf Schloss Kenilworth, ein Stoff, der auch Donizetti zu einer Oper inspirierte. Einige Nummern aus diesem Werk brachten es zeitweise zu einiger Popularität, inzwischen sind aber auch sie weitgehend vergessen. Als 1964 bei einem Brand fast das gesamte Orchestermaterial zerstört wurde, konnte man dieses aus dem Originalmanuskript Sullivans rekonstruieren.

Da es sich um die bisher ersten Aufnahmen der beiden Werke handelt, sind sie für die Sullivan-Diskographie natürlich von Bedeutung. Die Victorian Opera Northwest unter dem unverwüstlichen Richard Bonynge musiziert mit sehr viel Engagement und Spielfreude, auch der Chor der „John Powell Singers“ und die Solisten Saly Silver, Nico Darmanin, Louise Winter und Donald Maxwell tragen mit frischen, unverbrauchten Stimmen zum Gelingen dieser Einspielung bei. Dauerhaft im Repertoire werden sich die Werke aber wohl nicht halten können.

CD - Cecil ColesMusic from Behind the Lines: Diese im Zusammenhang mit dem Weltkriegsgedenken 2014 wieder aufgelegte CD von 2001 setzt dem 1918 im Alter von nicht ganz dreißig Jahren gefallenen Komponisten Cecil Coles ein spätes Denkmal. Der gebürtige Schotte erhielt seine musikalische Ausbildung in Edinburgh und London. Anschließend setzte er seine Studien in Stuttgart fort, wo er zeitweilig als musikalischer Assistent an der dortigen Hofoper beschäftigt war. Bei Ausbruch des ersten Weltkriegs kehrte er 1914 gezwungenermaßen nach England zurück und wurde zum Militär eingezogen. Im Norden Frankreichs ereilte ihn schließlich der Tod auf dem Schlachtfeld. Unmittelbar davor hatte er noch an seiner Komposition Behind the Lines gearbeitet, deren Originalmanuskript angeblich deutliche Spuren von Granatsplittern trägt. Coles‘ Kompositionen sind teilweise bis heute nicht im Druck erschienen und haben dementsprechend keine große Verbreitung gefunden. Der Tochter des Komponisten ist es zu danken, dass seine Manuskripte gesammelt wurden, und so das Aufführungsmaterial für diese CD (hyperion CDH 55464) zur Verfügung stand.

Wir hören eine durchgehend ansprechende, dem Ohr freundliche Musik, noch stark den Vorbildern Mendelssohn, Bruckner und Brahms verpflichtet. Die ersten Stücke auf der CD, eine Ouvertüre zu einem Shakespeare-Drama und eine Konzertszene für Bariton entstanden noch in der Schul- bzw. Studienzeit des Komponisten und sind ein Zeugnis großen Talents. Die späteren vier Lieder nach Verlaine, die Suite From the Scottish Highlands und das Torso gebliebene Stück Behind the Lines tragen schon eine eigene Handschrift und lassen es bedauern, dass auch dieses große Talent dem

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Irrsinn des Krieges geopfert wurde.

Das BBC Scottish Symphony Orchestra unter Martyn Brabbins spielt mit größter Hingabe, die Solisten Sarah Fox (Sopran) und Paul Whelan (Bariton) lassen stimmlich keine Wünsche offen und tragen nicht unwesentlich zum Gelingen dieser Liebesgabe an einen früh Vollendeten bei.

Peter Sommeregger

Marienleben in Bad Ischl

Paul Hindemiths Zyklus Das Marienleben nach Texten von Rainer Maria Rilke begegnet man heute relativ selten in den Konzertsälen. Das mag sicher auch daran liegen, dass die gemäßigte Moderne, zu deren Vertretern man Hindemith zählen muss, aktuell ein wenig aus dem Fokus geriet. Darüber hinaus ist dieser fünfzehn Lieder umfassende Zyklus mit einer Aufführungsdauer von über einer Stunde für Interpreten und Publikum gleichermaßen eine Herausforderung. Die vorliegende Einspielung (cpo 77 817-2) ist am Rande des Lehár-Festivals in Bad Ischl 2014 entstanden und mit dessen Logo ausgestattet. Es fällt zwar nicht leicht, zwischen Lehár und Hindemith eine Verbindung herzustellen, zumindest aber waren die beiden Komponisten Zeitgenossen. Die Sopranistin Maya Boog und der Intendant des Festivals, Michael Lakner, am Flügel, knien sich mit hörbarem Engagement in dieses doch eher spröde und auch gesanglich sehr anspruchsvolle Werk.

Boog beginnt ein wenig flackernd, mit deutlicher Trübung der Intonation, vermag sich aber im weiteren Verlauf erfreulich zu steigern und lässt zumal im Forte eindrucksvolle Töne hören. Mir will es scheinen, als wäre die Sängerin bei den ersten Liedern nicht richtig eingesungen gewesen, was sich bei den über drei Tage hingezogenen Aufnahmen doch leicht hätte korrigieren lassen können. Schade, so bleibt ein recht zwiespältiger Eindruck haften.

1-Reintaler-Lieder (cpo)Der Erfurter Komponist Carl Martin Reinthaler, dessen musikalisches Wirken in Bremen bis 1893 seinen zentralen Ort hatte, ist trotz seiner einst erfolgreichen Opern, Oratorien, Symphonien und zahlreichen Liedern heute nur noch wenigen Spezialisten bekannt. Die vorliegende CD (cpo 777 570-2) mit einer Auswahl von 26 Liedern, die teilweise in Zyklen zusammengefasst sind, ist aber durchaus lohnend, es handelt sich durchwegs um ansprechende Stücke. Der ambitionierte Bariton Peter Schöne, der über eine für sein Stimmfach bemerkenswerte Höhe verfügt, versucht gemeinsam mit dem Pianisten Günther Albers diese Musik wieder in die Gegenwart zurückzuholen. Ob dies dauerhaft möglich ist, muss bezweifelt werden, fehlt es Reinthalers Musik doch bei aller Gefälligkeit an einer unverwechselbaren Charakteristik. Trotzdem muss man solchen Wiederbelebungsversuchen Respekt zollen, sie sind allemal eine Bereicherung des Repertoires. Hingewiesen sei hier auch auf das bemerkenswerte Online-Projekt Peter Schönes. Unter www.Schubertlied.de ist eine komplette Einspielung aller Schubert-Lieder im Entstehen. Weit über dreihundert Lieder sind bereits aufgenommen und online gestellt. Man darf auf die Weiterentwicklung des Projekts gespannt sein!

Bridge-Lieder (Hyperion)Der englische Komponist Frank Bridge (1879-1941) ist auf dem Kontinent nicht annähernd so populär wie in seiner britischen Heimat. Sein Werk besteht hauptsächlich aus Kammermusik und einigen Tondichtungen für großes Orchester. Große Teile von Bridges Liedschaffen versammelt ein Doppel-CD-Album, das bereits in den 1990er Jahren entstanden ist und nun seine Wiederveröffentlichung erlebt. Es wurden ausgezeichnete britische Liedersänger aufgeboten: die Soprane Janice Watson, Louise Winter, der Tenor Jamie MacDougall und der Bariton Gerald Finley, begleitet von dem Pianisten Roger Vignoles und dem Geiger Roger Chase. Die insgesamt 45 Lieder auf Texte verschiedener englischer Lyriker wie Keats, Tennywon und Shelley entbehren leider nicht einer gewissen Gleichförmigkeit. Für das an Richard Strauss gewöhnte Ohr klingen sie über weite Strecken doch eher enttäuschend, man vermisst eingängige Melodien. Am ehesten können noch jene gefallen, die im volkstümlichen Ton gehalten sind. Für Liebhaber des Komponisten sicher ein Muss, für den Ersthörer aber doch eher gewöhnungsbedürftig. Erschienen ist das Album mit dem Titel „The Songs of Frank Bridge“ bei beim Label hyperion (CDA 67181/2).

Peter Sommeregger

 

Waldemar Kmett

 

Es ist noch nicht lange her, dass an dieser Stelle Mahlers Lied von der Erde unter Carlos Kleiber aus Wien mit Waldemar Kmentt in der Tenorpartie besprochen wurde. Ich hatte mir den Mitschnitt aus Wien auch angehört.

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Und es kam mir ein wenig so vor, als würde die Aufführungen gerade jetzt stattfinden. Wie eine aktuelle Radioübertragung. Es war da keine historische Distanz zu spüren, in der man sich gern genussreich verliert, weil sie einem nichts anhaben kann. Dieser Mitschnitt aber packte mich an, ließ mich nicht los, obwohl er fast fünfzig Jahre alt ist. Er war in der Gegenwart angekommen. So etwas können Sänger und Dirigenten zustande bringen. Es gehört zu den Wundern der Kunst.

Diese CD dürfte die bislang letzte offizielle Aufnahme in der sehr umfangreichen Diskographie von Kmentt gewesen sein. Am 21. Januar 2015 ist er in seiner Heimatstadt Wien gestorben. Er wurde 85 Jahre alt. „Mit ihm ist gewissermaßen der Doyen des Sängerensembles der Wiener Staatsoper, ein Familienmitglied von uns gegangen“, sagte Direktor Dominique Meyer. Tatsächlich hatte er, der auch in aller Welt gastierte, dem Haus am Ring mehr als dreieinhalb Jahrzehnte angehört. Im Laufe dieser Zeit sang er 79 Partien in 1480 Vorstellungen. Diese unglaublich große Ziffer kommt auch dadurch zustande, dass Kmentt mit den Jahren nicht selten bis zu vier verschiedene Rollen in ein und demselben Werk sang. Sie wurden immer kleiner. Aus Tamino wurde der Erste Priester, aus Eisenstein Dr. Blind, aus Bacchus der Haushofmeister – um nur wenige Beispiele zu nennen. Kmentt war kein Star, er war ein Diener der Musik. Und diese Rolle, die die Hauptrolle seines langen Lebens gewesen ist, spielte er fast bis zum Schluss.

Diese DC von ORFEO dokumentiert wichtige Rollen von Waldemar Kmentt an der Wiener Staatsoper.

Diese DC von ORFEO dokumentiert wichtige Rollen von Waldemar Kmentt an der Wiener Staatsoper.

Seine Schallplattenaufnahmen sind Legende. Nicht alle entstanden im Studio. Viele Werke gelangten als Mitschnitte auf Tonträger, nicht immer ganz offiziell. Die Vielseitigkeit dieses lyrischen Tenors, die sich im Aufführungsverzeichnis seines Stammhauses ablesen lässt, ist im akustischen Nachlass noch größer. Es kommen Lieder, Oratorien, Operetten und Opern von Joseph Haydn, Manuell de Falla, Hermann Goetz, Werner Egk und Giuseppe Verdi hinzu. Als Herzog und Manrico war er lediglich an der Volksoper, wo die internationale Konkurrenz in diesem Fach nicht so übermächtig war, zu hören, wie einschlägige Tondokumente belegen. Ein ganz besonderer Fall ist auch Wagner. Mit dem Stolzing in den Meistersingern von Nürnberg, den er von 1968 bis 1970 sogar bei den Bayreuther Festspielen sang, ging er an Grenzen. Als Froh im Rheingold bei der Decca unter Solti ist er ein Ereignis. Wenn Froh nach dem schweren Gewitter der Regenbogenbrücke den Weg zur Burg Walhall weist, ist es, als könne er den Glanz und den Zauber des phantastischen Ereignisses selbst nicht fassen. In dieser schlichten Liedhaftigkeit ist die Szene für mich einer der anrührendsten Momente im ganzen Ring des Nibelungen. Für diese kleine Rolle einen lyrischen Tenor der Spitzenklasse zu besetzen, ist so klug wie konsequent. Leider wird das nicht immer so gehandhabt. Hier und in der Person von Kmentt kommen sich Wagner und Mozart, der seine eigentliche Domäne gewesen ist, nahe.

kmentt preiserEr gehörte zum sagenumwobenen Mozartensemble der Wiener Staatsoper, das in den 1950er Jahren den nachhaltigen Versuch unternahm, Opern dieses Komponisten in mustergültigen Aufführungen zustande zu bringen. Und zwar so, dass das Ensemble triumphiert, nicht der einzelner Sänger. Dafür bringt Kmentt mit seinem ehr unauffälligen Timbre beste Voraussetzungen mit. Unauffällig im Sinne von sich nicht vordrängeln, in der Zurückhaltung den Kollegen gegenüber, im Versuch, so genau auf den Noten zu bleiben, dass die Stimme zum Transporteur des musikalischen Gedankens wird und nicht zum Mittel von Selbstdarstellung. Seinen stimmlichen Reichtum trägt Waldemar Kmentt nicht als juwelenbesetzten Orden auf der Brust, er trägt ihn im Herzen. Ich bin ihn dankbar. Rüdiger Winter

 

Dazu wie stets ein Auszug aus Wikipedia: Waldemar Kmentt (* 2. Februar 1929 in Wien; † 21. Jänner 2015 ebenda) war ein österreichischer Tenor, der besonders als Opern-Interpret bekannt geworden ist. Waldemar Kmentt maturierte im Jahr 1947 gemeinsam mit seinen Schulkollegen Eberhard Waechter und Fritz Uhl. Ursprünglich wollte er Pianist werden, ab 1949 studierte er Gesang an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Wien, unter anderem bei Elisabeth Radó, Adolf Vogel und Hans Duhan. Schon im Alter von 21 Jahren wurde er eingeladen, die Tenorpartie in Beethovens Neunter Symphonie unter der musikalischen Leitung von Karl Böhm zu singen. Ab 1951 war er Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper, deren Mitglied er über 35 Jahre blieb. Sein Debüt gab er am 26. Juni 1951 als Prinz in Die Liebe zu den drei Orangen von Sergei Sergejewitsch Prokofjew. Nachdem das Operngebäude im März 1945 bei Bombenangriffen zerstört wurde, wich man bis zur Wiedereröffnung im Jahr 1955 unter anderem in die Volksoper aus, die offizielle Bezeichnung war damals Staatsoper in der Volksoper. Insgesamt verkörperte er am Haus am Ring 79 Rollen in 1480 Vorstellungen, zuletzt trat er dort am 25. November 2005 als Haushofmeister in Ariadne auf Naxos auf. Als junger lyrischer Tenor war er Mitglied des Wiener Mozartensembles. Das Repertoire seiner langen Karriere umfasst mehr als 80 Opern- und Operettenrollen vom lyrischen, jugendlich heldischen bis zum Charakterfach. Er hat an allen großen Opernhäusern sowohl in Europa als auch in Japan und Amerika gesungen. Bei den Salzburger Festspielen war er viele Jahre als Gast zu sehen. Auch trat er bei den Festivals von Bayreuth, Edinburgh und Aix-en-Provence auf. Als Konzertsänger wirkte er unter Herbert von Karajan, Otto Klemperer, Carlos Kleiber, Karl Richter, Karl Böhm, Eugen Jochum, Sergiu Celibidache und Leonard Bernstein. Kmentt leitete von 1978 bis 1995 das Opernstudio am Konservatorium der Stadt Wien, aus welchem viele heute namhafte Sänger hervorgingen, wie z. B. Wolfgang Bankl, Malin Hartelius oder Mehrzad Montazeri. Im Alter von 72 Jahren feierte er sein Met-Debüt mit der Rolle des Haushofmeisters in Ariadne auf Naxos. Danach stand er einige Jahre in kleineren Operncharakterrollen an der Volksoper Wien auf der Bühne. Kmentt starb im Jänner 2015 im Alter von 85 Jahren in seiner Geburtsstadt Wien.

Das Foto oben zeigt Waldemar Kmentt bei einer Talk-Show in 3Sat.

 

Hochspannung in Luzern

Wilhelm Furtwängler hat sich zeitlebens mit Beethovens Neunter auseinander gesetzt. Er hat das Werk nach Recherchen des Musikpublizisten Herbert Haffner, der eine umfangreiche Biografie über den Dirigenten verfasste, einhundertdrei Mal aufgeführt. Nach bisherigem Stand haben sich dreizehn Aufnahmen erhalten, zwölf sind im Laufe der Jahre zugänglich gewesen, ein Mitschnitt von 1949 aus der Mailänder Scala befindet sich angeblich in Privatbesitz. Welche ist die ergreifendste, gelungenste, gar beste? Darüber ließe sich trefflich streiten. Und es wird auch immer noch gestritten. Fest hingegen steht nur eines: Der Mitschnitt vom 22. August 1954 aus dem Kunsthaus Luzern ist der letzte. Zunächst war er beim Label Tahra in sehr angemessener Klangqualität zu haben. Jetzt hat sich Audite noch einmal die Originalbänder des Rundfunks vorgenommen und ein Remastering auf den Markt gebracht, das diesen Namen auch verdient (95.641). SRF (Schweizer Radio und Fernsehen) hat die Konzerte des traditionsreichen Lucerne Festival, das 1938 mit dem von Arturo Toscanini geleiteten „Concert de Gala“ begann, übertragen. Daraus hat das Label Audite seine eigene Reihe mit – wie es im Booklet heißt – „herausragenden Konzertmitschnitten“ entwickelt. Man darf also gespannt sein, was als nächstes folgt.

Furtwängler hatte die Sinfonie 1954 zweimal aufgeführt. Das erste Konzert fand am 21. August statt. Es spielt das von EMI-Chefproduzent Walter Legge ursprünglich als reines Schallplattenochester gegründete Philharmonia Orchestra London, es singt der Festivalchor Lucerne. Die Solisten sind Elisabeth Schwarzkopf (Sopran), Elsa Cavelti (Alt), Ernst Haefliger (Tenor) und Otto Edelmann (Bass). Ein Vierteljahr nach dem Gastspiel, nämlich am 30. November, ist Furtwängler gestorben. Von zunehmender Schwerhörigkeit geplagt, vom schwierigen Neubeginn nach dem Ende des Nationalsozialismus mit dem zähen Entnazifizierungsverfahren zermürbt, soll ihn der Lebenswille verlassen haben.

Es ist darüber spekuliert worden, ob das nahe Ende in dem Konzert gar schon anklingt. Im Nachhinein weiß man es immer besser. So verführerisch derlei Gedankenspiele sind, ich halte davon nichts. Dafür gibt es zu viele Übereinstimmungen mit vorangegangenen Aufnahmen. Etwa mit der Aufführung der Sinfonie bei der Eröffnung der ersten Bayreuther Festspiele nach dem Krieg am 29. Juli 1951. Der Mitschnitt ist offiziell bei der EMI herausgekommen und immer wieder neu aufgelegt worden. Die Schwarzkopf und Edelmann waren auch schon dabei. Der unbestimmte, zögernde, ja nervöse Beginn, wie ihn nur Furtwängler hinbekam, das breite Zeitmaß, das hintergründige Scherzo mit den harten, erbarmungslosen Pauken, das hingebungsvolle Adagio, in dessen Verlauf die Zeit stehen zu bleiben scheint, der Mut zu Pausen, in denen sich die Spannung bis zur Unerträglichkeit aufbaut, die Wucht des Finales mit dem rasenden Einstieg, den peitschenden Becken, dem Drängen, der beängstigenden Eile zum Schuss hin. Das exklusive Solistenquartett, aus dem sich die einzelnen, sehr individuellen Stimmen deutlich herausheben und der Chor stehen genau so unter Furtwänglers Bann. Sie sind wie angesteckt. Mehr geht nicht. Ist der letzte Ton verklungen, ist es auch wie eine Erlösung. Länger hält man Furtwänglers Hochspannung nicht aus.

Rüdiger Winter

 

Auch 2015: Strauss geht immer

Das Richard-Strauss-Jahr ist Geschichte. Gedacht wurde 2014 seines 150. Geburtstages. Strauss kam am 11. Juni 1864 in München zur Welt. 2014 hatten aber auch Gluck, der Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel (300. Geburtstag) und Rameau (250. Todestag) wenig gefeierte Jubiläen. Da gab es kein besonders großes Aufhebens. Die Feierlaune hielt sich in Grenzen. Stehen runde Jahrestage ins Haus, werden meist jene am meisten gefeiert, die es gar nicht nötig hätten. Strauss ist so einer. Denn es ist eigentlich immer Strauss-Jahr. Nicht nur in Deutschland. Seine Opern, Tondichtungen und Lieder werden ständig und überall aufgeführt, meistens dieselben. Sie sind Renner, mit denen sich Opernhäuser und Konzertsäle locker füllen lassen. Strauss geht immer. Er ist eine sichere Bank für Regisseure, Dirigenten und Sänger. Nach einem Jubiläum ist vor einem Jubiläum. Gewiss werden gelegentlich runder Geburts- oder Todestage auch Zeichen gesetzt, die Aufmerksamkeit verdienen: Rosenkavalierohne Striche im Sommer in Salzburg, an gleicher Stelle zu Ostern die Arabellamit einem zusätzlichen Vers für die Fiakermilli, Schlagobersin München, die selten anzutreffende Feuersnotin Dresden, ein neues Intermezzo und sämtliche Lieder mit Klavierbegleitung auf CD. Das sind für mich Highlights gewesen – und nicht die dreißigste Salomein Wer-weiß-wo.

1-Buch - Strauss, der PatriarchDoch vergessen wir die Bücher nicht. Es gab interessanten Zuwachs und neue Auflagen alter Titel, verteilt über das Jahr. Eine kompakte Edition aller Texte, die Strauss vertont hat, ist nicht darunter. Sie wäre so nötig wie überfällig. Bücher sind besonders haltbar, womöglich haltbarer noch als CDs, auf jeden Fall haltbarer als jede Inszenierung. Sie bleiben lange bei uns. Zeitlosigkeit schwebt über dem neuen Buch Der Patriarch von – jetzt nicht wundern – Arthaus, dem auf Filme spezialisierten Label. Dort waren bereits die wichtigsten Opern auf DVD und die Dokumentation Richard Strauss and his Heroines herausgekommen. Nun also ein Buch mit DVD – oder eine DVD mit Buch? Für eine Reihenfolge kann ich mich nicht entscheiden. Wer sich in die Neuerscheinung mit dem Untertitel Richard Strauss und die Seinen versenkt, fühlt sich von der Pracht der Fotos wie erschlagen. Ich habe Stunden damit zugebracht, konnte mich nicht satt sehen. Vieles ist neu. Das Familienarchiv ist weit geöffnet worden. Strauss in allen Lebenslagen – mit Angehörigen, mit Weggefährten, Künstlern, Sängern und mit Goebbels am Kamin, beim Skat, im Badeanzug, auf dem Eis, im Schnee, auf der Akropolis, unter ägyptischen Palmen. Immer Herr. Selbst Schnappschüsse zeigen ihn mit Haltung. Kein Foto geht daneben. Er sticht immer heraus, egal welchen Alters er ist. Strauss, der Gentleman, der sich offenbar nie gehen ließ und immer die Form wahrte. Sein Kleiderschrank muss beträchtliche Dimensionen besessen haben. Der Mann hatte Geschmack, von frühester Jugend an. Selbst bei der Bergwanderung oder auf dem Pferd ist er in feinsten Zwirn gewandet. Fast immer die selbstgebundene Fliege, nie ohne Weste, am Schreibtisch in der eleganten Hausjacke, die völlig aus der Mode gekommen ist.

Familie Strauss mit dem Schauspieler Emil Tschirch (l.) vor einem Umkleidewagen auf Sylt.

Familie Strauss mit dem Schauspieler Emil Tschirch (l.) vor einem Umkleidewagen in Westerland auf Sylt. Foto: © Richard-Strauss-Familienarchiv/Arthaus

Es wird offenbar, dass es Zusammenhänge gibt zwischen Strauss in seiner äußeren Erscheinung und Strauss als Komponist. Der Bürger als Künstler. Zumindest aber hätte das Thema ein eigenes Kapitel abgeben können. Nun will diese Neuerscheinung nicht nur Bilderbuch sein. Der Inhalt, an dem mehrere Autoren Anteil haben, holt weit aus, bleibt am Buch-Titel nicht sklavisch hängen. Thomas Voigt steuert ausführliche Betrachtungen zu Sängerinnen von Strauss-Partien bei. Frau Pauline, der „Geliebten und Muse“ des Komponisten wird mit Briefen sowie mit Erinnerungen von Gabriele Strauss, der Tochter von Hans Hotter, die den älteren Enkel Richard geheiratet hatte, gedacht. Darin geht es natürlich auch um den handfesten Ehekrach, der Strauss als Vorlage für seine Oper Intermezzo diente. Mit Themen wie „Strauss und das liebe Geld“ oder „Strauss und die Macht“ werden auch jene Seiten seines Lebens gestreift, die ihm Kritik bis völliges Unverständnis einbrachten.

Das Buch und der Film von Marieke Schroeder und Barbara Wunderlich sind inhaltlich eng miteinander verknüpft. Es ist gewiss mehr als fünfzehn Jahre her, dass ich auf einer Reise in den Süden Station in Garmisch machte und entschlossen an der Haustür der Villa Strauss klingelte. Ich wollte hinein. Mir wurde freundlich aufgetan und bedeutet, dass mein Begehren der Familie vorgetragen würde. Ich solle am nächsten Vormittag wiederkommen. So geschah es, und ich wurde eingelassen. Die mit Kunstwerken vollgestopfte Diele, die Treppe nach oben, das Arbeitszimmer mit dem geschwungenen Schreibtisch, der eigens für diesen Raum angefertigte Flügel, das Esszimmer – Behaglichkeit vom Allerfeinsten. Es war ein erbebendes Gefühl, alles, was ich von Fotos kannte, nun im Original vor mir zu sehen. In der oberen Etage das Sterbezimmer, einfach wie die meisten Sterbezimmer großer Geister. Wer durch dieses Haus geht, der kommt Strauss sehr nahe. So will es auch der Arthaus-Film. Gabriele Strauss bittet nun persönlich die Zuschauer herein. Inge Borkh und Brigitte Fassbaender sind schon da. Man kennt sich. Plaudert bei Kaffee und Gebäck wissend über den Meister. Beide Sängerinnen haben mit ihren Strauss-Partien Operngeschichte geschrieben, die Borkh als Elektra, Salome und Färbersfrau, die Fassbaender als Octavian, Klytämnestra, Herodias und Clairon. Die Führung durch die Räume ist sehr persönlich gehalten, selbst Schränke mit der wohl sortierten Tischwäsche tun sich auf. Mit verschieden Gesprächspartnern werden Themen, die auch gedruckt schon abgehandelte wurden, wieder aufgenommen. Die 52 Minuten vergehen wie im Flug.

Rüdiger Winter

Der Patriarch – Richard Strauss und die Seinen, mehrere Autoren, Arthaus Musik, 128 Seiten, sehr viele Fotos, inklusive DVD, ISBN 978-3-86923-200-3.

 

strauzssDer Dokumentarfilm RICHARD STRAUSS AND HIS HEROINES erhält einen der begehrten International Classical Music Awards (ICMA) 2015 in der Kategorie „DVD Documentaries“.  Dazu die Firma Arthaus: RICHARD STRAUSS AND HIS HEROINES folgt der Spur der   unvergesslichen Strauss’schen Heroinnen. Regisseur Thomas von Steinaecker nähert sich mit Interviews großer Strauss-Sängerinnen an das Frauenbild und die feminine Seite des Jahrhundert-Komponisten. Wie keinem anderem gelang es  Richard Strauss, feinste weibliche Gefühle in Musik zu übersetzen. Davon berichten Brigitte Fassbaender, Renée Fleming, Dame Gwyneth Jones und Christa Ludwig. Gleichzeitig erzählt der Film die Geschichte von der bewegten und bewegenden Liebe zu Pauline, der wichtigsten Frau in Richard Strauss’ Universum und treue Gefährtin in 55 Jahren Ehe. Die ICMA werden seit 2011 verliehen und sind der einzige internationale und unabhängige Musikpreis. Die Jury setzt sich aktuell zusammen aus 16 Musikkritikern der wichtigste Musikmagazine, Radiosender und Online-Dienste. Für die ICMA 2015 waren 248 Produktionen von 85 Labels nominiert. Neben den 15 CD- und DVD-Kategorien wurden acht Special Awards ausgelobt. Die Preisverleihung findet am 28. März 2015 mit einem Gala-Konzert des Bilkent Symphony Orchestra  in Ankara statt.. 

Buch - Strauss und WienOrtwechsel. Die Bahn braucht um die sechs Stunden von Garmisch nach Wien. Mit dem Auto geht es auch nicht viel schneller. Zu Straussens Zeiten dürfte die Fahrt länger gedauert haben. Er musste sie sehr oft zurücklegen. Des Kaisers Hauptstadt also, wo Rosenkavalier und Arabella spielen, wo 1916 die zweite und endgültige Fassung der Ariadne auf Naxos, 1919 Die Frau ohne Schatten und 1924 das Ballett Schlagobers uraufgeführt wurden. Das Buch Durch die Hand der Schönheit widmet sich der segensreichen Liaison des Komponisten mit der Stadt. Geschrieben hat es Christoph Wagner-Trenkwitz (auf dem Buchumschlag zu sehen), der österreichische Dramaturg und Musikwissenschaftler, der gelegentlich auch als Moderator auftritt. Ein Mann mit Theatererfahrung und feinem Gespür für die Bühne, einer, der sich auskennt in Wien. Davon lebt das Buch, das schon im Titel mit einem Zitat von Arabellas Mutter Adelaide die Nähe zu Oper sucht. Es ist flott geschrieben, überquellend von Fakten, Ereignissen, Zitaten und Zeitzeugenberichten. Für Spekulationen ist kein Platz. Meine Erkenntnis aus der Lektüre: Strauss und Wien, das ist am Ende doch die Quintessenz der Verwurzelung des Künstlers, obwohl wesentlich mehr Opern aus seiner Feder, nämlich neun, in Dresden erstmals auf die Bühne kamen, obwohl er so viele Jahre im geliebten Garmisch zubrachte, wo er auch starb. In Wien leitete Strauss von 1919 bis 1924 gemeinsam mit Franz Schalk die Hofoper. Er setzte neue Maßstäbe für die Spielplangestaltung, eigene Werke kamen dabei nicht zu kurz, seine Säulenheiligen Wagner und Mozart auch nicht. Deren Werke leitete er oft selbst. In den von Strauss dirigierten Konzertprogrammen fehlte ganz selten ein Stück von ihm. Mancher Abend bestand ausschließlich aus Strauss. Der hatte offenbar kein Problem damit, auf diese Weise auch das eigene Konto, das durch den verloren Weltkrieg leer geräumt war, schnell wieder aufzufüllen. Auf der Habenseite seines Wiener Wirkens steht auch die Rückgewinnung des traditionsreichen Redoutensaal in der Hofburg für Opern- und Konzertaufführungen. Er hatte sich sehr stark dafür gemacht. Auch nach seiner Abdankung als Operndirektor blieb Strauss Wien fast bis zum Ende des Nationalsozialismus verbunden, erwarb eine Villa, die er faktisch mit Originalpartituren bezahlte.

Ein Blick in das "Strauss-Schlössl" in der Wiener Jacquingasse, das der Komponist mit Originalpartituren bezahlte.

Ein Blick in das komfortable „Strauss-Schlössl“ in der Wiener Jacquingasse, das der Komponist mit wertvollen Originalpartituren bezahlte. Foto: © Richard-Strauss-Familienarchiv/Arthaus

In Wien suchte Strauss aber auch die Nähe zu Gauleiter und Reichsstatthalter Baldur von Schirach, der 1946 in den Nürnberger Prozessen als Kriegsverbrecher zu zwanzig Jahren Haft verurteilt wurde. Obwohl als ausgewiesener Antisemit für die Deportation Zehntausender österreichischer Juden in die Vernichtungslager verantwortlich, breitete er seine schützende Hand über die Schwiegertochter von Strauss, Alice, eine Tochter des jüdischen Industriellen Emanuel von Grab. Nicht aus Menschenliebe, wie es Strauss missverstanden haben mochte, denn er zeigte sich überschwänglich dankbar. Schirach wollte einzig mit der Anwesenheit des bedeutendsten lebenden deutschen Komponisten in „seiner“ Stadt propagandistisch punkten und zeigte sich aus Berechnung gütig. Wagner-Trenkwitz erspart seinen Lesern die harten Fakten nicht. Wer Strauss gerecht werden will, muss ihn einerseits in seiner Not zeigen, der Frau des Sohnes und den Enkeln durch einen Teufelspakt zur Seite stehen zu müssen, andererseits in seiner opportunistischen Schwäche, unter der nationalsozialistischen Herrschaft auch auf eigene Rechnung Kasse zu machen.

Seinen praktischen Nutzen als Nachschlagewerk gewinnt das Buch durch diverse Anhänge und die auch grafisch abgesetzten Dokumentationen der Wiener Aufführungen der Opern von Strauss, die dem Buch ein stabiles Gerüst geben. Es wurden Daten, Besetzungen und allerlei Hintergründe bis hinein in die Gegenwart angehäuft. Dadurch gewinnt es an Aktualität. Ich habe mich besonders gern und ausdauernd bei diesen Abschnitten aufgehalten. Sie vermitteln den außerordentlichen hohen Standard, der in Wien von Anfang an den Werken von Strauss zuteil wurde, bis zu den kleinsten Rollen. Zum Glück hat einiges davon auf Tonträgern überdauert.

Rüdiger Winter

Christoph Wagner-Trenkwitz. Durch die Hand der Schönheit – Richard Strauss und Wien, Verlag Kremayr & Scheriau Wien, 304 Seiten, zahlreiche Fotos, ISBN978-3-218-00911-9

 

Buch Strauss Wiener TheatermuseumDas Wiener Theatermuseum, schon oft für seine opulenten Ausstellungen gerühmt, hat den 150. Geburtstag von Richard Strauss natürlich nicht verstreichen lassen, ohne dem der Stadt so stark verbundenen Komponisten eine grandiose Würdigung zu Teil werden zu lassen. Noch schöner, dass diese temporäre Retrospektive ihren Niederschlag in einem üppig gestalteten Katalog gefunden hat, der die Strauss-Literatur im Jubiläumsjahr nicht unwesentlich bereichert. Nun kann das Museum auf einen reichen Bestand an Material über Strauss und seine Tätigkeit in Wien zurückgreifen, damit allein wollte man sich aber wohl nicht begnügen. Auch das Archiv der Wiener Philharmoniker konnte einiges an Material beisteuern, vor allem aber das Richard-Strauss-Archiv in Garmisch stellte umfangreiche Exponate zur Verfügung.

Entstanden ist keineswegs nur ein hoch interessanter Bildband, vielmehr finden sich auf den reichlich zweihundert Seiten auch sehr lesenswerte Wortbeiträge. Laurenz Lütteken schreibt über Strauss und das 20. Jahrhundert, Jürgen May gibt einen Einblick in die Komponier-Werkstatt, die zeitweilige Wiener Operndirektion von Strauss wird von Andreas und Oliver Lang gewürdigt, von Thomas Leibnitz Wien als atmosphärischer und dramaturgischer Faktor in den Opern von Strauss untersucht. Im Beitrag „Die Bühne als Raum-Bild“ beschreibt Alexandra Steiner-Strauss die Ausstattungen Alfred Rollers für Strauss-Opern. Des Weiteren wird untersucht, welche Rollen Strauss-Librettisten gespielt haben und wie sich Strauss im Dritten Reich verhalten hat. Briefe und Werkautographen aus der Handschriften-Sammlung des Theatermuseums, eine Biographie in Stichworten und Bildern und ein Interview mit der Sängerin Brigitte Fassbaender bereichern den sehr liebevoll und edel mit Fadenheftung gestalteten Band. Besonders prächtig werden die Bühnenbild-und Kostümentwürfe Rollers wiedergegeben, Abbilder einer opulenten Theaterästhetik, die in der Gegenwart mehr und mehr verloren geht. Wie werden wohl einst die zeitgenössischen Dekorationen in einem Buch über Strauss‘ 200. Geburtstag aussehen?

Peter Sommeregger

Christiane Mühlegger-Henhapel und Alexandra Steiner-Strauss: Richard Strauss und die Oper – „Trägt die Sprache schon Gesang in sich…“, Residenz-Verlag, 176 Seiten, zahlreiche Fotos, ISBN 978-3701733354

 

1-Buch - Strauss - Ender„Die Leute bitten um Kritik, aber sie wollen nur gelobt werden.” Dieser Aphorismus des englischen Erzählers William Somerset Maugham findet sich auf der Internetseite des österreichischen Musikwissenschaftlers Daniel Ender, der eines der interessantesten – wenn nicht gar das interessanteste Buch – zum Richard-Strauss-Jahr 2014 vorgelegt hat. Sein Titel: Richard Strauss – Meister der Inszenierung. Damit hat der Autor zumindest aus meiner Sicht gleich am Anfang sein Lob weg. Es ist verdient. Warum? Ender, um die vierzig, hat nach der Matura 1993 am Musikgymnasium Feldkirch zunächst Klavier und Orgel studiert, später Musikwissenschaft, Philosophie, Germanistik und Sprachwissenschaft an der Universität in Wien. Nach der Promotion war er Lehrbeauftragter an diversen Universitäten, wirkte als freier Autor und ist seit 2011 Chefredakteur der Österreichischen Musikzeitschrift. Ein Mann vom Fach, der neue Fragen stellt, sich Strauss zwar mit Respekt nähert, doch nicht in Ehrfurcht erstarrt. Er bohrt tief hinein in dieses lange Komponistenleben, das zwar von zwei verheerenden Weltkriegen betroffen, aber nicht eigentlich in seinen Grundfesten erschüttert wurde.

Nach eigenem Bekunden wollte Ender „keine klassische Biographie“ schreiben, obwohl er genau den einzelnen Lebensstationen folgt. Diese ist auch 75 Jahre nach dem Tod von Strauss noch nicht zu realisieren. Zu unübersichtlich und unerforscht ist die Quellenlage, Strauss widerspricht sich oft selbst, legt absichtlich falsche Spuren, stellt Sachverhalte und Ereignisse nach den unterschiedlichsten Seiten hin genau so unterschiedlich dar. All das will erforscht werden. Briefe, die in die Zehntausende gehen, sind noch nicht vollständig zugänglich. Sie stellen aber die wichtigsten Selbstzeugnisse dar. Strauss war ein äußerst tüchtiger Briefeschreiber. Es liegt also in der Natur der Sache, dass sich in die bisherigen biographischen Annäherungen Fehler, Unstimmigkeiten und Ungenauigkeiten eingeschlichen haben. Sie werden gern fortgeschrieben und verbreiten sich gerade durch das Internet gleich einer Kettenreaktion. Was einmal unterwegs ist, lässt sich nicht so leicht zurückholen.

Strauss´ Werk selbst ist mitnichten bis in alle Einzelheiten für den allgemeinen Gebrauch erschlossen. Rätsel geben nach wie vor einzelne Fassungen von Opern auf, darunter der 1940 in Weimar neu belebte Guntram. Schallplattenproduktionen sind oft über Unterschiede einfach hinweg gegangen. Booklets werden immer dürftiger. Nachdem erst vor wenigen Wochen vom Label Two Pianists die vermeintlich kompletten Klavierlieder auf CD vorgelegt wurden, einschließlich jener Titel mit Ergebenheitsaderessen an Machthabende des Dritten Reiches, überrascht Ender mit noch einem unappetitlichen Opus für den Generalgouverneur im besetzen Polen, Hans Frank, von 1943. Den Text dazu hatte Strauss selbst verfasst. Im Werkverzeichnis von Franz Trenner (W. Ludwig Verlag), zur weiterführenden Beschäftigung sehr zu empfehlen, wird zumindest der Anfang des Liedes zitiert: „Wer tritt herein so fesch und schlank? Es ist der Freund Minister Frank …“ Frank, ein Kriegsverbrecher der allerschlimmsten Sorte, wurde 1946 in Nürnberg hingerichtet. Offenbar hatte er Strauss vor der Einquartierung von notleidenden Menschen in seiner Garmischer Villa bewahrt, die durch Bombardierungen obdachlos geworden waren. Ender erspart seinen Lesern und Richard Strauss selbst nichts.

Der Autor Daniel Ender. Das Foto entnahmen wir dem Schutzumschlag seines Buches

Der Autor Daniel Ender. Das Foto entnahmen wir dem Schutzumschlag seines Buches

Und doch gewinnt das Kapitel über den Nationalsozialismus kein überproportionales Gewicht. Es wird als Teil des Lebenslaufes verstanden und dargestellt – nicht reißerisch, aber so kritisch wie nötig. Gleich nach Kriegsende gab es Bestrebungen, die Verstrickungen des Komponisten zu glätten oder gar zu tilgen. Sie sind gescheitert, haben im Jahr seines 150. Geburtstages keine Chance mehr. Obwohl Strauss nach dem berühmten, von der Gestapo abgefangenen despektierlichen Brief an Stefan Zweig, den jüdischen Dichter und Librettisten der Schweigsamen Frau, schließlich in Ungnade fiel bei den braunen Machthabern, war er deshalb ebenso wenig Gegner des Regimes wie er kein Nazi war. Für ihm blieben seine Bedürfnisse und die möglichst einträglichen Aufführungen eigener Werke Richtschnur seines Verhaltens. Er sorgte sich um seinen Nachruhm. Dabei scheute Strauss nicht davor zurück, Werke von Verdi oder Gounod zu denunzieren, nur um sich gehörig in den Vordergrund zu schieben in der Nachfolge von Mozart, Beethoven und Wagner. Dabei hatte er das gar nicht nötig. Er war schon zu Lebzeiten ein Klassiker. Und Hitler selbst wird es nicht gern gehört haben, wenn Strauss an Operetten mit Ausnahme der Fledermaus kein gutes Haar ließ. Hitler liebte Operetten und den von Strauss gehassten Franz Lehár.

Ender arbeitet detailreich. Er beruft sich auf sehr viele Quellen und einen Großteil der bislang vorliegenden Strauss-Literatur, deren Verzeichnis im Anhang beträchtlich ist. Niemals verfällt er ins Anekdotische. Oberste Priorität haben Fakten und Zitate. Sein Stil ist klar und elegant. Es macht Spaß, dieses Buch zu lesen. Nur an ganz wenigen Stellen geht der Zeigefinger in Anschlag, wenn Ender seinen Lesern in Klammern gesetzt die Bedeutung solcher etwas aus der Mode gekommenen Worte wie Ukas oder Widerspiel erklären zu müssen meint. Am Schluss bringt er die Rede auf den Film Richard Strauss – ein Leben für die Musik, der 1949 gedreht wurde. Ausschnitte geistern seit Jahren durch die verschiedensten Dokumentationen, die im Fernsehen gezeigt wurden. Ender zählt auf, was in dem Film alles zu sehen ist. Und er zitiert den Sprecher mit den pathetischen Worten: „Unbeirrt von Krisen und Schlagworten ist Richard Strauss seinen Weg gegangen. Als versöhnende Friedensbotschaft klingt seine Musik über die Kontinente und wird im Bewusstsein vieler kommender Generationen fortleben“ – um aus eben diesen Schlagworten den hintergründigen Schluss seines Buches abzuleiten: „Im großen Welttheater war Richard Strauss eine Figur, die es verstand, noch in der ernstesten Lage mit einer Mischung aus emotionaler Dramatik und souveräner Distanz von sich reden zu machen. Die Inszenierung war dabei zumindest ebenso meisterhaft wie das Stück.“

So schön, so gut. Der Autor übersieht, dass der Film in ganzer Länge heute unbekannt ist. Meine Bemühungen, seiner habhaft zu werden, waren bisher nicht von Erfolg gekrönt. Ich würde ihn endlich lieber selbst sehen, statt ihn erzählt oder häppchenweise vorgesetzt zu bekommen. Es wäre wirklich an der Zeit, den Dokumentarstreifen in voller Länge auf DVD zugänglich zu machen. Sonst bleibt es beim „Herrschaftswissen“. So kommt zum dicken Lob für die Neuerscheinung nun doch ein kritischer Einwand hinzu. Die noch so ausführlichste Beschreibung ist zwar gut überlegt, doch letztlich kein Ersatz des Originals.

Meister der Inszenierung! Mir scheint, Daniel Ender hat mit der Wahl dieses Untertitels seines Buches das Wesen des Lebenslaufes von Strauss genau erfasst. Insofern kann es ein Grundstock der noch zu schreibenden großen Biographie sein, die bei diesem Autor in guten Händen läge. Jung genug für diese große Aufgabe ist er ja.

Rüdiger Winter

Daniel Ender: Richard Strauss – Meister der Inszenierung, Böhlau Verlag Wien, Köln, Weimar, 349 Seiten, 27 Abbildungen, ISBN 978-3-205-79550-6

P.S. Wie Daniel Ender inzwischen dankenswerter Weise mitteilte, wird die Dokumentation, die nur wenige Minuten dauert, auch im Bundesfilmarchiv Berlin aufbewahrt: http://www.bundesarchiv.de/benutzungsmedien/filme

 

Buch - Strauss-HandbuchWer bei der Salzburger Arabella, Ostern 2014, genau hingehört hat, dem ist nicht entgangen, dass sich die Fiakermilli im zweiten Aufzug irgendwie anders anhörte. Sie hatte auch mehr zu singen als sonst. Wie das? In den einschlägigen Kritiken, die ich gelesen habe, fiel dieser Umstand nicht auf. Ein neues Buch gibt Aufschluss. Es handelt sich um das Richard Strauss Handbuch, pünktlich zum 150. Geburtstag des Komponisten auf den Markt gelangt. Auf Seite 232 ist nachzulesen: „Auf Wunsch des Dirigenten Clemens Krauss erweiterte Strauss im Juli 1942 für eine Neuinszenierung bei den Salzburger Festspielen das Lied der Fiakermilli … um eine achtzeilige Strophe, zu der Rudolf Hartmann den Text lieferte … “ Dieser Zusatz fehle aber in allen Ausgaben – was angesichts des genialen Librettos von Hugo von Hofmannsthal nur zu verständlich ist. Offenbar blieb Strauss doch beim Original. Ist das der Grund dafür, dass die im gleichen Jahr – nämlich 1942 – in Salzburg entstandene Aufnahme, die bei verschiedenen Labels erschienen ist, ebenfalls auf den Zusatz verzichtet? Im Buch führt Ulrich Konrad, Autor des entsprechenden Kapitels, das von Krauss dirigierte Tondokument zwar unter den diskographischen Hinweisen, eine Begründung für die Weglassung liefert er nicht. Dass sich im Strauss-Jahr 2014 Regisseurin Florentine Klepper und Dirigent Christian Thielemann in Salzburg zu der Erweiterung, die allerdings musikalisch nicht sehr viel hermacht, entschlossen haben, ist sehr löblich. So stellt man sich Festivalarbeit vor.

Das Handbuch ist voller solcher interessanter Details, die Fassungen betreffend. Manchmal gibt es sich auch einsilbig. So ist beispielsweise der große Strich in Elektra nicht thematisiert. Im Original hat Elektra in der Auseinandersetzung mit Klytämnestra zum Schluss hin gute dreißig Zeilen mehr Text und Musik. Komplette Aufführungen scheiterten oft daran, dass sich Sängerinnen – wie beispielsweise Inge Borkh – diese enorme zusätzliche Leistung nicht zutrauten. Birgit Nilsson traute sich unter Studiobedingungen mit Georg Solti am Pult bei der Decca. Beim Hinweis auf die Einspielung hätte dieser wichtige Zusatz einem Handbuch wie diesem gut gestanden. Es wäre auch dringend erforderlich gewesen, in der knapp gehaltenen Diskographie zur Frau ohne Schatten die Wiener Produktion von 1955 unter Karl Böhm zu nennen, die bis heute künstlerisch nicht überboten werden konnte. Vergeblich sucht man auch die erste komplette Einspielung, die Wolfgang Sawallisch seinerzeit für die EMI leitete und die bei ihrem ersten Erscheinen 1987 großes Aufsehen erregte. Apropos EMI. So sinnvoll diskographische Tipps im Grunde sind, viele waren bei Erscheinen des Buches bereits hinfällig. EMI, die Maßstäbe setzte bei Strauss-Produktionen, gibt es nicht mehr, und damit sind auch die Bestellnummern verfallen. Pech gehabt.

Richard Strauss mit Michael Bohnen bei den Dreharbeiten zum Rosenkavalier-Stummfilm, der kein Erfolg wurde. Foto: © Richard-Strauss-Familienarchiv/Arthaus

Richard Strauss mit Michael Bohnen bei den Dreharbeiten zum „Rosenkavalier“-Stummfilm, der kein Erfolg wurde. Foto: © Richard-Strauss-Familienarchiv/Arthaus

Im Großen und Ganzen aber reflektiert dieses Buch den aktuellen Stand der Forschung und der praktischen Beschäftigung mit Strauss – auch in seinem kulturpolitischen Wirken, das sich umfangreich dargestellt findet. Ein willkommenes Angebot ist der weiterführende Literaturapparat zu einzelnen Werken und Werkgruppen, der dem praktischen Handbuch wissenschaftlichen Standard verleiht. Entsprechend der Gewichtung im Gesamtwerk bilden die Opern die größte Abteilung mit Inhaltsangabe, Orchesterbesetzung, Entstehungsgeschichte, Kommentar. In den Beschreibungen der Wirkung der Opern führen Verknappungen auch zu Verzerrungen. So ist von „wichtigen Inszenierungen“ die Rede, die in ihrer Wichtigkeit aber nicht erklärt werden, schon aus Platzgründen dürfte das nicht möglich gewesen sein. Auch über die Nennung der „allerbesten Sänger“ ließe sich streiten. Da fehlen zu viele Namen, und nicht alle, die genannt werden, haben das verdient in einem Buch, das für lange Zeit verbindlich sein will. Dicht gedrängte Materialfülle ohne Ende breiten die beiden Kapitel über das Liedschaffen aus, das mit etwa zweihundert Titeln nicht eben klein ist. Autoren sind Elisabeth Schmierer und Christian Thomas Leitmeir. Sie arbeiten die Unterschiede zwischen Klavierliedern und Orchesterliedern genau heraus, ordnen das Liedschaffen in das Gesamtschaffen ein, heben auf die literarischen Vorlagen ab usw. Spannend ist der Hinweis auf die Orchestrierung des Liedes Ganymed von Franz Schubert durch Strauss, das den Beginn der eigenen Beschäftigung mit dieser Liedform markierte, die ihn bis ans Lebensende begleitete. Auch das sagenumwobene allerletzte Klavierlied Malven findet gebührende Würdigung. Thielemann hatte es ebenfalls bei den Salzburger Osterfestspielen auf sehr spektakuläre Weise ins Programm genommen, indem er von Wolfgang Rihm eine Orchesterfassung herstellen ließ, die in den Vortrag der traditionellen Vier letzten Lieder durch Anja Harteros an zweiter Stelle eingegliedert wurde. So wurden aus ursprünglich vier, fünf letzte Lieder. Auch das hatte Festivalniveau. Im Buch konnte diese Lösung noch keine Berücksichtigung finden. Nur so viel ist zu erfahren: Strauss hatte das 1948 komponierte Lied im Todesjahr 1949 der ihm sehr verbundenen Maria Jeritza übereignet, die es Zeit ihres Lebens für sich behielt. Erst 1985 – die Jeritza war 1983 gestorben – wurde das Lied durch Kiri Te Kanawa in New York uraufgeführt.

Allenthalben bekommen Leser einen tiefen Einblick in die Werkstatt des Komponisten. Interessant sind in diesem Zusammenhang Passagen aus dem Handexemplar des Komponisten von Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, die Rückschlüsse auf die Kompositionen zulassen. Beleuchtet wird das Verhältnis zu den Kollegen seiner Zeit mit konkreten Auflistungen von deren Werken, was zu erstaunlichen Vergleichen anregt. Überhaupt macht das Buch in seiner Fülle, die hier nicht annährend erfasst werden kann, Lust, sich Strauss und seinem Umfeld mit neuem Erkenntnisgewinn verstärkt zuzuwenden. Es ist kein Buch, das man auf einen Ritt von vorn bis hinten durchliest. Es will ein begleitendes Nachschlagewerk sein, das zur Hand ist und nicht zu weit oben im Regal stehen sollte, das seiner guten Übersichtlichkeit wegen einen schnellen Zugriff zu allen Werkgruppen zulässt und – ganz wichtig – im Anhang ein Werkverzeichnis enthält. Das ist schon deshalb nötig, um Strauss in seiner Gesamtheit besser verstehen zu können und ihn nicht auf seine populärsten Erfindungen zu reduzieren und festzulegen. Das Buch ist gut lesbar, auch dem musikalischen Laien verständlich, es kommt nicht belehrend daher, sondern vermittelt seinen Gegenstand mit Sachlichkeit und Offenheit.

Rüdiger Winter

Richard Strauss Handbuch, Herausgegeben von Walter Werbeck, Verlag Metzler / Bärenreiter, 583 Seiten, ISBN 978-3-476-02344-5 (Metzler), ISBN 978-3-7618-2058-2 (Metzler/Bärenreiter)

1-Strauss am Schreibtisch

Richard Strauss in Hausjacke am Schreibtisch in Garmisch. Das Bild ist in dem bei Arthaus erschienen Buch Der Patriarch enthalten. Dort sind auch das Familienbild auf Sylt, der Blick in die Wiener Villa und das Probenfoto mit Michael Bohnen abgedruckt. Das große Foto oben zeigt  den Komponisten bei der Zeitungslektüre. Die Fotos stammen aus dem Strauss-Archiv. © Richard-Strauss-Familienarchiv (RSA)/Arthaus

Very British

Der Dirigent Richard Hickox, vor allem in seiner Heimat Großbritannien hoch geschätzt, hinterließ bei seinem plötzlichen Tod im Jahre 2008 eine große Zahl von Schallplattenaufnahmen. Bevorzugt widmete sich der charismatische Künstler englischer Musik verschiedener Epochen. Entsprechend sind auch mehrheitlich britische Komponisten in der Reihe der Wiederveröffentlichungen beim Label Chandos berücksichtigt worden.

Der Dirigent Richard Hickox/Wiki

Der Dirigent Richard Hickox/Wiki

Eine Ausnahme bildet der Elija von Felix Mendelssohn Bartholdy, der hier im originalen Englisch gesungen wird. Das Oratorium war 1846 mit großem Erfolg beim renommierten Musikfestival in Birmingham uraufgeführt worden. Dazu waren die dreihundert Mitwirkenden in einem Sonderzug von London angereist, was für sich genommen schon Aufsehen erregte. Danach arbeitete Mendelssohn das Werk um, indem er Stücke hinzu komponierte, andere veränderte. Elias blieb für lange Zeit in England populärer als in Deutschland. Hickox gelingt mit dem London Symphony Orchestra und dem London Symphony Chorus eine mächtige, gleichwohl transparente Interpretation, unterstützt von den Solisten Willard White, Rosalind Plowright, Linda Finnie, Arthur Davies und Jeremy Budd, die zum Zeitpunkt der Aufnahme 1989 sämtlich noch auf der Höhe ihrer stimmlichen Mittel waren (Chandos CHAN 241-48).

CD ApostlesSir Edward Elgars Oratorium The Apostles, nach dem großen Erfolg seines ersten derartigen Werkes The Dream of Gerontius geschrieben und 1903 ebenfalls in Birmingham uraufgeführt, wurde von Hickox 1990 mit dem gleichen Orchester und Chor wie der Elias eingespielt. Das Werk ist von einer manchmal etwas ermüdenden Getragenheit, mit deutlich über zwei Stunden Spieldauer auch sehr breit konzipiert. Vergleiche mit zeitnah entstandener Musik, beispielsweise von Gustav Mahler, dürften nicht zu Gunsten von Elgar ausfallen. Gleichwohl stehen Hickox auch hier Solisten der ersten Garnitur zur Verfügung: Bryn Terfel als Petrus, Robert Lloyd als Judas und David Rendall als Johannes, um nur die Wichtigsten zu nennen. Chandos CHAN 241-49)

CD TroilusBei Troilus and Cressida von William Walton, uraufgeführt in London 1954, handelt es sich um eine der in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts sehr beliebten Literatur-Vertonungen. Walton greift dabei nicht auf William Shakespeare zurück, sondern auf das gleichnamige Poem des Dichters Geoffrey Chaucer. Dessen Lebensdaten sind nicht eindeutig. Er starb 1400, vermutlich in London. Die Musik ist eingängig, mit dramaturgisch klug gesetzten Akzenten und verfügt über gut singbare, dankbare Partien. In dieser Aufzeichnung einer Produktion der Opera North von 1994 erklingt die Oper in ihrer rekonstruierten Erstfassung. Zwischenzeitlich hatte Walton eine veränderte Fassung, die von Janet Baker kreiert wurde, angefertigt. Judith Howarth als Cressida und Arthur Davies als Troilus sind genau so gut besetzt wie die Sänger der Nebenrollen. Das English Northern Philharmonia Orchester und der Chorus of Opera North sorgen für eine engagierte Wiedergabe des bis heute erfolgreichen Werkes. (Chandos CHAN 241-50)

CD LucretiaBenjamin Britten, ohne Zweifel der bedeutendste britische Komponist des 20. Jahrhunderts, ist in dieser Reihe mit seiner zweiten, unmittelbar nach dem Welterfolg seines Peter Grimes entstandenen Oper The Rape of Lucretia vertreten. Ganz im Gegensatz zu ihrem Vorgänger handelt es sich bei diesem Werk um eine Kammeroper. Das Orchester besteht gerade einmal aus dreizehn Musikern. Die wenigen Figuren, die neben einem mit jeweils nur einer Stimme singenden männlichen und weiblichen Chor agieren, lassen keine Wünsche offen. Es ist eine Freude, ihnen zuzuhören, wenngleich sie an machen Stellen etwas distanziert wirken. Die Altistin Jean Rigby ist die Lucretia (in der Uraufführung sang Kathleen Ferrier diese Rolle), Alastair Miles ist ihr Ehemann Collatinus, männlicher und weiblicher Chor sind mit Nigel Robson und Catherine Pierard besetzt. Das Ensemble City of London Sinfonia begleitet hoch sensibel diese emotional berührende Stück, Hickox gelingt eine gleichermaßen durchsichtige wie eindrückliche Interpretation. (Chandos CHAN 241-51)

Peter Sommeregger

 

Jaroussky dirigiert sich selbst

Vivaldi – Pietà – Sacred works for alto: Das neue Album von Philippe Jaroussky bei Erato (082564257508) fällt zunächst durch seine elegante Gestaltung auf. Als ob Jaroussky nicht allein schon durch sich selbst, durch seinen guten Namen und seine sympathische Erscheinung genug Werbung für sein neues Kunstprodukt wäre. Nein, es wird optisch und gestalterisch noch großzügig draufgelegt. Zur CD kommt eine DVD, im Innern findet sich ein informatives Booklet in drei Sprachen (Englisch, Französisch und Deutsch) mit einem profunden Text über Vivaldi und seine Werke, die auf der CD erklingen, von Frédéric Delaméa (siehe Anhang). Schließlich kommt der Sänger, der entsprechend dem Inhalt der Musikstücke auf mehreren Fotos wirkungsvoll in Szene gesetzt ist, auch noch selbst zu Wort. Was will man mehr. Wir leben im Zeitalter der Bilder. Das Auge hört mit. So schön können Musikalben sein.

Philippe Jarrousky/Foto Marc Ribes/Warner

Philippe Jarrousky/Foto Marc Ribes/Warner

Der eigentliche Neuigkeitswert dieser Produktion versteckt sich zwischen den Zeilen. Erstmals tritt Jaroussky mit seinem eigenen Ensemble Artaserse in einer erweiterten Orchesterbesetzung in Erscheinung – als Sänger und Dirigent. Aufnahmen in kleiner Besetzung gibt es bereits. Der Name Artaserse stimmt mit dem Titel einer Oper überein, für die Pietro Metastasio das Libretto schrieb und die 1730 erstmals in Rom, komponiert von Leonardo Vinci, aufgeführt wurde. Mehr als neunzig weitere Vertonungen sollten folgen. Jaroussky hatte in einer Produktion der Vinci-Version den Titelhelden gesungen, die bei Erato sowohl auf CD als auch auf DVD gelangte und ihm viel Lob einbrachte. Das Werk ist ihm offenbar wichtig. Nun also Vivaldi, der fast dreißig Jahre älter als Vinci gewesen ist, diesen aber überlebte „Musikalisch und für mich persönlich war es ein bewegendes Abenteuer, eine so große Zahl von Musikern zu dirigieren und dabei gleichzeitig zu singen“, lässt er die Leser des Booklets wissen. Er hoffe, dass „diese Einspielung der Beginn einer neuen Richtung in meinem Leben als Musiker sein wird. Möge Vivaldi mir Glück bringen, wie er erst stets getan hat“. Denkt Jaroussky, der langsam auf die Vierzig zugeht, über seine künstlerische Zukunft nach? Eröffnet sich eine ähnliche Laufbahn, wie sie einst René Jacobs mit Erfolg eingeschlagen hat? Man darf gespannt sein.

Immerhin ist in das Programm – diskret in der Mitte platziert – auch ein rein instrumentales Werk, das Concerto for strings and continuo RV 120, aufgenommen worden, das der Dirigent Jaroussky mit großer Entschlossenheit und gar nicht zögerlich angeht. Noch aber ist der Countertenor auf der Höhe. Ja, ich habe den Eindruck, als sei seine Stimme einerseits noch geschmeidiger und aussagestärker geworden, in den Höhen aber mitunter etwas rau. Der musikalische Auftakt der CD ist mit der Kantate Clarae stellae, scintillate RV 625, virtuos und diesseitig gewählt: „Helle Sterne, funkelt und gebt neuen Glanz der Helle des Tages“, beginnt das Werk in deutscher Übersetzung. Es ist, als spräche sich Jaroussky damit selbst Mut zu für die kommenden Herausforderungen. Inhaltlich und formal fällt das Stück aus dem Rahmen der sehr ernst gehaltenen Neuerscheinung, die mit Pietà überschrieben ist. Pietà, steht einerseits für die Darstellung Marias mit dem Leichnam Jesu Christi, andererseits war das Ospedale della Pietà in Venedig kirchliches Waisenhaus und Musikschule in einem. Antonio Vivaldi, selbst als Priester ausgebildet und tätig, wirkte dort viele Jahre als Violinlehrer. Heute sind in der Pietà noch immer soziale Einrichtungen für Menschen in Not untergebracht. Auf der DVD, die ihn nicht nur bei der Arbeit mit seinem Ensemble zeigt, führt Jaroussky die Zuschauer selbst an den Ort, den jeder Venedig-Reisende kennt, weil sich in unmittelbarer Nachbarschaft die imposante Kirche Santa Maria della Pietà erhebt.

Höchste Konzentration: Jaroussky bei der Aufnahme seiner neuen CD.

Höchste Konzentration: Jaroussky bei der Aufnahme seiner neuen CD – Foto: Screenshot aus der DVD.

Pietà also ist ein weitgehend getragenes Angebot mit dem berühmten Stabat Mater im Zentrum. Mir ist die Kantate Filiae maestae Jerusalem RV 638 („Betrübte Töchter Jerusalems, seht, der König aller, euer König verwundet und mit Dornen gekrönt …“) besonders nahe gegangen. Ein sehr verinnerlichtes Stück, dem Jaroussky eine unnachahmliche Schlichtheit gibt. Es bohrt sich einem ins Herz – und verbreitet doch keine Trauer und Schwermut. Jaroussky entlockt dieser Musik Zuversicht, Hoffnung und Poesie. Eine Wirkung, die von dem gesamten Album ausgeht.

Rüdiger Winter

Und nun der Text von Frédéric Delaméa: Priester und Musiker – in den Jahren nach 1710 sollte Don Antonio Vivaldi, Priester, renommierter Geigenvirtuose und Komponist von Konzerten, für Feste oder Gedenkfeiern von Kirchen und Kongregationen in Brescia, Padua oder Vicenza geistliche Stücke liefern. Zur gleichen Zeit begegneten ihm die heiligen Stätten seiner Heimatstadt Venedig mit Argwohn. In Venedigs Kirchen und vor allem im Markusdom, wo die

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majestätische Polyphonie Gabriellis oder der strenge a cappella-Gesang Legrenzis dominierten, misstraute man offenbar den heiteren Ritornellen, farbigen Orchestrierungen oder ungezügelten Kontrasten, wie sie die neuartigen Werke des prete rosso kennzeichneten. Soweit wir heute wissen, debütierte Vivaldi 1712 also fern von Venedig als Komponist geistlicher Musik – in der Stadt Brescia, wo seine Familie ihre Wurzeln hatte. Genau ein Jahr, bevor er mit Ottone in villa als Opernkomponist sein offizielles Debüt gab, auch dies fern von Venedig – in Vicenza.

Vivaldis Venedig: La Chiesa della Pietà/OBA

Vivaldis Venedig: La Chiesa della Pietà/OBA

Der Confederazione dell‘oratorio di San Filippo Neri in Brescia verdanken wir diese ersten Schritte Vivaldis in die geistliche Musik: das berühmte Stabat Mater, dessen Manuskript heute im Fondo Foà-Giordano der Turiner Nationalbibliothek aufbewahrt wird. Dieses Werk, das 1939 eine der allerersten Kompositionen Vivaldis gewesen sein dürfte, die dem Publikum des 20. Jahrhunderts dargeboten wurden, war vermutlich am 18. März 1712, dem Gedenktag der Sieben Schmerzens Mariens, in Santa Maria della Pace, der Kirche der Kongregation, uraufgeführt worden. Für die Oratorianer von Brescia, die nur selten um neue Werke ersuchten und deren Repertoire hauptsächlich alte überarbeitete Stücke umfasste, war der Auftrag ebenso außergewöhnlich wie die mit ihm verbundenen Ausgaben, und er bezeugt, welchen Ruf sich Vivaldi inzwischen mit seiner Instrumentalmusik erworben hatte, die in ganz Oberitalien und großen Teilen des übrigen Europas verbreitet war. Die Verantwortlichen der Institution waren zweifellos sehr angetan von diesem ungewöhnlichen Priester und Musiker, der bereits ein Jahr zuvor sein Können bewiesen hatte. Man kann sich mühelos die Wirkung vorstellen, die dieses karge Meisterwerk hervorbrachte, das von einem kleinen Orchester (vier Violinen, ein Violoncello, ein Kontrabass und eine Orgel, die Mitwirkung einer Bratsche ist möglich, aber nicht bezeugt) und einem Kastraten oder eher Falsettisten vorgetragen wurde, wahrscheinlich dem berühmten Filippo Sandri, den die Kongregation gewöhnlich unter hohen Kosten engagierte.

Antonio Vivaldi auf einem Gemälde eines unbekannten Malers. Er wirkte auch als Violinlehrer in Venedig.

Antonio Vivaldi auf einem Gemälde eines unbekannten Malers. Er wirkte auch als Violinlehrer in Venedig.

Von dem mittelalterlichen Text des Stabat, dessen Autorenschaft sich Jacopone da Todi und Papst Innozenz III. noch immer streitig machen, hat Vivaldi nur die ersten zehn Strophen vertont, entsprechend einer Praxis, die sich etabliert hatte, als die Sequenz, die noch nicht offiziell zum Missale Romanum gehörte, während der Vesper gesungen wurde – zehn Strophen, von denen die ersten drei behutsam kontrastiertes musikalisches Material enthielten, das die drei folgenden Strophen exakt nachbildeten. Der erhabene Gesang von Liebe, Schmerz und Frömmigkeit, gestützt von einer äußerst geringen Orchestrierung von gewaltiger Intensität, miteinander wechselnden langsamen (Largo, Adagissimo, Lento) und gemäßigten Tempi (Andante), die in die düstere Welt von f-Moll bis c-Moll modulieren, rührte die Gläubigen in Brescia gewiss zu ebenso vielen Tränen wie die Mutter Christi auf Golgatha. Bis das abschließende Amen, ein ätherischer Wirbel, der auf einem strahlenden Dur-Akkord verklingt, die Pforten des Himmels öffnet … Fern seiner Heimatstadt Venedig hatte sich Vivaldi bei seinem ersten Versuch gleich als Meister bewährt.

Ein Unfall in der Geschichte war allerdings nötig, damit dieser Meister seine ersten geistlichen Stücke für seine Heimatstadt Venedig komponieren konnte. Dieser ereignete sich ein Jahr nach der Uraufführung des Stabat Mater, dank Francesco Gasparini, maestro di coro am Ospedale della Pietà, einer der vier sozialen Einrichtungen der Stadt, die ein Orchester und einen Chor unterhielt, beide von beachtlichem Ruf, und wo Vivaldi die rangvolle Position des maestro di violino bekleidete. Gasparini in seiner Eigenschaft als Chorleiter hatte die Aufgabe, das geistliche Repertoire der Institution zu komponieren und einzustudieren. Am 23. April 1713 allerdings bat er um die Erlaubnis, sich aus gesundheitlichen und familiären Gründen für sechs Monate entfernen zu dürfen. Der maestro verpflichtete sich sicherlich, die Pietà auch weiterhin mit neuen Kompositionen zu versorgen, ließ sich jedoch, nach einer Etappe in Florenz, endgültig in Rom nieder und kehrte nie wieder auf seinen Posten zurück. Unter diesen Umständen wurden Gasparinis Aufgaben, solange noch kein Vertreter benannt war, offiziell Vivaldi übertragen. Dieses ‚Interim‘ dauerte drei Jahre und setzte ihn in die Lage, mit einem beachtlichen Teil seiner geistlichen Musik aufzuwarten.

Philippe Jaroussky an der Kirche Santa Maria della Pietà in Venedig - Foto: Screenshot aus DVD.

Philippe Jaroussky an der Kirche Santa Maria della Pietà in Venedig – Foto: Screenshot aus der DVD.

Am 2. Juni 1715 ließ die Leitung der Pietà Vivaldi eine Gratifikation von 50 Dukaten zukommen (praktisch sein Jahresgehalt), was der Sonderprämie entsprach, die gemeinhin dem maestro di coro gewährt wurde. In ihrem Beschluss rechtfertigte sie diese Maßnahme mit Vivaldis ‚wohlbekanntem Eifer und der erfolgreichen Arbeit, nicht nur in der Unterrichtung der Instrumente, deren Ergebnisse allgemeinen Beifall fanden‘, sondern auch in den ‚vorzüglichen musikalischen Kompositionen, die er seit der Abreise des maestro Gasparini geliefert hat, darunter eine vollständige Messe, Vespern, ein Oratorium, über dreißig Motetten und andere Stücke’. Die genannte Messe enthielt vermutlich das Gloria in D-dur RV 589, das heute ebenso berühmt ist wie Vivaldis Konzerte. Ein ausgefeiltes Meisterwerk in üppigem concertato-Stil, also einem Wechsel von Arien und Chören in kontrastierenden Tempi und Tonarten. Ein meisterhaftes Fresko, dessen jubilierender rhythmischer Puls mit der zarten Sicilienne Domine Deus eine der herrlichsten Pausen einlegt: Von einer solistischen Oboe, wie in dieser Aufführung, oder Violine begleitet (Vivaldi lässt in seinem Autograph die Wahl) offenbart dieser Augenblick der Ewigkeit dem Hörer, wie es Michael Talbot auf den Punkt brachte, ‚die Quintessenz der Lyrik Vivaldis‘.

Vivaldis Venedig: Canalettos Blick auf den Canal´ Grande/OBA

Vivaldis Venedig: Canalettos Blick auf den Canal´ Grande/OBA

Gelobt wurde Vivaldi auch für seine Komposition von ‚über dreißig Motetten‘. In der Tat musste er sich immer wieder in dieser Gattung bewähren, in der die Sänger geistlicher Musik mit Opernsängern konkurrierten. Allerdings gelang es ihm, die herkömmliche Form der Motette (zwei Arien in kontrastierendem Tempo getrennt durch ein Rezitativ und als Abschluss ein Halleluja) zu verfeinern, indem er ihr den unnachahmlichen Stempel seines melodischen und rhythmischen Genies aufdrückte und somit jeder Gefahr einer Standardisierung entging. Unter den 1715 von der Leitung der Pietà genannten Motetten befand sich vielleicht auch die Motette Clarae stellae, scintillate, die er wohl schon mit Blick auf die Heimsuchung Mariens, das Patronatsfest der Pietà am 2. Juli 1715 komponiert hatte und die an jenem Tag von einer Bewohnerin der Institution namens Geltruda vorgetragen wurde. Ein lichtvolles, wenig anspruchsvolles Stück, doch von sicherer Wirkung, auch wenn es weit entfernt war von den virtuosen Motetten, die Vivaldi mit Beginn der 1720er Jahre komponieren würde. Für Motetten dieser Art ist das spektakuläre Werk Longe mala, umbrae, terrores ein beeindruckendes Beispiel; sie würden in den Gottesdienst die funkelnde Sprache der Oper tragen und damit zeigen, auf welch erstaunliche Weise sich geistliche und profane Welt einander näherten.

Aber kehren wir in das Jahr 1715 zurück. Zu den ‚vorzüglichen musikalischen Kompositionen‘, die von den Verantwortlichen der Pietà in ihrer Resolution gerühmt wurden, könnten auch zwei introduzioni al Miserere gehört haben, wahrscheinlich begleitet von einem oder mehreren Miserere. Wenn diese Miserere heute leider verloren sind, so sind uns doch wenigstens die beiden introduzioni erhalten, alle beide für Alt und Orchester, darunter das ungewöhnliche Filiae maestae Jerusalem. Diese introduzione, während Vivaldis produktiven ‚Interims‘ an der Pietà entstanden und vielleicht ebenfalls von Geltruda gesungen, führte die Gläubigen in die tiefste Tiefe geistlicher Inspiration des Priesters und Musikers. Von der herzzerreißenden Klage der ‚betrübten Töchter Jerusalems‘ im einleitenden Rezitativ bis hin zur spektakulären Schilderung des schwankenden Universums im Augenblick des Todes Christi hat Vivaldi ein düsteres, mächtiges Werk geschaffen, dessen tiefempfundenes Feuer nie seine Kraft verliert, nicht einmal in den betont arkadischen Klängen der mittleren Arie. Wie in dem vernichteten Jerusalem, am Fuße der zerschellten Felsen und beim Zerreißen des Vorhangs ist es eine schwarze Sonne, die von Anfang bis Ende dieses absolute Meisterwerk der geistlichen Musik Vivaldis mit einem eisigen Glanz überzieht.

Vivaldis Venedig: Canalettos Blick auf den Markusplatz/OBA

Vivaldis Venedig: Canalettos Blick auf den Markusplatz/OBA

Bis zu seiner Abreise aus Venedig im Jahre 1740 komponierte Vivaldi unter verschiedenen Rechtsbeziehungen und wechselnden Bedingungen weiter geistliche Werke. Zunächst für die Pietà, die in ihrer langen und bewegten gemeinsamen Zeit bei ihm sporadisch Psalmen, Hymnen und Motetten bestellte. Aber auch für andere Kirchen oder Kongregationen in Venedig und anderen Städten, in Italien und im übrigen Europa. Allerdings können wir die uns überlieferten Werke nicht immer mit Sicherheit an einen Kontext knüpfen oder sie einer bestimmten Bestellung zuordnen. Das gilt auch für das heute im Fondo Foà-Giordano der Turiner Nationalbibliothek aufbewahrte Salve Regina in g-Moll RV 618. Diese herrliche Version der Marienantiphon, die von Trinitatis bis zum Adventsbeginn gesungen wird, verwendet ein Orchester mit zwei cori, verstärkt durch zwei Oboen. Vermutlich komponiert zwischen Mitte der 1720er Jahre und Anfang der 1730er Jahre, könnte sie in der Pietà aufgeführt worden sein, steht aber nicht notwendigerweise mit dieser Institution in Beziehung. Im Laufe der sechs Strophen beeindrucken Ausdruckskraft und melodischer Reichtum ebenso wie der ausgefeilte Instrumentalsatz, der sich schon in den ersten Takten der fugierten Ouvertüre ankündigt und in dem herrlichen Wechselspiel zwischen den beiden cori bestätigt wird.

Philippe Jarrousky/Foto Marc Ribes/Warner

Philippe Jarrousky/Foto Marc Ribes/Warner

Dieses Kleinod der geistlichen Musik Vivaldis bezeugt auf bewegende Weise, wie sehr Vivaldi, eine Persönlichkeit voller Gegensätze, in einer Stadt und einer Epoche lebend, die nicht weniger widersprüchlich waren, sein Leben lang versuchte, seine ‚gewaltige Kompositionswut‘, wie es Charles de Brosses ausdrückte, mit den Erfordernissen seines klerikalen Amtes und seinem Glauben in Einklang zu bringen. Denn es war natürlich der Bereich der geistlichen Komposition, wo dieses Paradoxon in erster Linie seinen Ausgleich finden sollte. In diesem Salve Regina wie auch in so vielen seiner riesigen liturgischen Fresken oder in seinen Psalmen gelang es Vivaldi, über seine Suche nach Erfolg und die Erfordernisse der Konvention hinaus, einer wahrhaft geistlichen Inspiration den absoluten Vorrang zu geben, indem er tiefste Andacht mit strahlendstem Jubel mischte. Auf halbem Wege zwischen Altar und Notenpult scheint der Priester und Musiker, ein wunderbarer Maler der menschlichen Seele, hier sein fragiles und schmerzliches Gleichgewicht gefunden zu haben.

Frédéric Delaméa

Jaroussky in vendig 5

 

Das Foto oben/Marc Ribes/Erato und den Text von Frédéric Delaméa (Übersetzung Gudrun Meier) entnahmen wir dem Warner-Pressematerial, das Foto ganz unten ist ein Screenshot aus der beiliegenden DVD. Auf dieser führt Philippe Jaroussky durch das Venedig Vivaldis. Mit dem Programm seiner neuen CD ist er noch in diesem Jahr in Hamburg (Laeiszhalle, 12. Dezember), Berlin (Konzerthaus, 14. Dezember) und Regensburg (Audimax der Universität, 16. Dezember) auf Tournee. Im kommenden Jahr folgen dann weitere deutsche Städte sowie Wien und Luzern.

Edition-Radiomusiken

EditionRadiomusiken: Hinter dem ein wenig sperrigen Titel dieser Box verbirgt sich ein hoch interessantes Projekt der Staatsoperette Dresden, das in Zusammenarbeit mit dem MDR Figaro und Deutschlandradio Kultur sogenannte Radiomusiken aufnimmt.

Im vorliegenden Fall handelt es sich um die sogenannte Gattung der „Radiomusik“, eine in der Zeit der Weimarer Republik und Frühzeit des Rundfunks  entstandene Schnittstelle der Unterhaltungsmusik und verschiedener Strömungen der zeitgenössischen Musik. Auffällig, dass fast alle auf diesen CDs vertretene Komponisten während des Dritten Reiches Berufsverbot erhielten, oder emigrierten. Diese speziell für das Medium Rundfunk komponierten Stücke sind entsprechend ihrer Verwendung sehr pointierte, eingängige Stücke, deren Entdeckung durchaus lohnt. Geschaffen für ein „Lautsprecherpublikum“ und die Übertragung durch ein einziges Mikrophon folgen diese Stücke zwar keiner stilistisch einheitlichen Form, sind aber doch typisch für das neu entwickelte Genre.

Der erste Band der Radiomusiken bei cpo erschien im vergangenen Jahr (8575714)

Der erste Band der Radiomusiken bei cpo erschien im vergangenen Jahr (8575714).

Vertreten sind in dieser Box Franz Schreker mit einer Kleinen Suite, die den erfolgreichen Opernkomponisten einmal von einer anderen Seite zeigt. Ernst Toch mit der „Bunten Suite“ op.48, einer originellen, launigen Schöpfung, der die Kritik nach der Erstsendung attestierte, es würde „im Spielerischen seine glückliche Wirkung erzielen“. Max Butting ist mit zwei Stücken vertreten ,der Sinfonietta mit Banjo (Erste Rundfunkmusik) und Heitere Musik op.38 (Zweite Rundfunkmusik). Mischa Spoliansky präsentiert eine gerade einmal sechsminütige Charleston Caprice für Großes Orchester, die hier nach dem Originalmanuskript eingespielt wurde, da sie bis heute keinen Verleger gefunden hat. Last not least Eduard Künneke, dessen Tänzerische Suite für Jazzband und großes Orchester das eingängigste und nach meinem Geschmack beste Stück dieser Zusammenstellung ist. Wie der Komponist eine Jazzband in das große Orchester einbaut, lohnt allein schon das Hören dieses Stückes Fern aller Operettenseligkeit zeigt sich der Komponist hier von einer ganz neuen Seite. Walter Braunfels, dessen Kompositionen in den letzten Jahren eine erfreuliche Renaissance erleben, ist mit einem Divertimento für Radio-Orchester zu hören. Gefallen können die Stücke  ausnahmslo, mit Ausnahme der Komposition Schrekers handelt es sich um Auftragswerke verschiedener Rundfunkanstalten aus den Jahren 1929 und 1930. Es ist bitter, dass die Laufbahn fast aller dieser Komponisten schon bald nach diesen Kompositionen zumindest zu einem vorläufigen Ende kam. Aufträge von Rundfunksendern waren in dem veränderten kulturellen Klima nach 1933 für diese Musiker nicht mehr zu erwarten.

Das Orchester der Staatsoperette Dresden unter Ernst Theis musiziert mit großer Hingabe, vor allem aber mit Schwung und dem nötigen Pepp, den diese Musik verlangt. Die Idee, diese Musik wieder aufleben zu lassen und auf CDs zu dokumentieren, kann man nur begrüßen, und auf eine ähnlich geglückte Fortsetzung des Projektes hoffen ( (Suites & Overtures for the Radio; Edition  (Suites & Overtures for the Radio; Edition RadioMusiken Vol.2,  2 CD cpo 777 838-2)

Peter Sommeregger

 

Dieses spannende Thema wollten wir gerne vertiefen und baten den spiritus rector der EditionRadiomusiken, Steffen Lieberwirth (der u. a. auch für die erfolgreiche Serie Semperoper Edition bei hänssler profil verantwortlich ist, um seine Ausführungen, die wir der website „Rundfunkschaetze“ entnahmen, wo sich Weiteres und Weiterführendes findet.G. H.

Der “Radio-Zauberer” “Der Radioapparat beginnt zu wachsen und zu leuchten. Er wird zum phantastischen Zauberer, der das Märchen erscheinen läßt”, so heißt es in einer Beschreibung der Sächsischen Staatsoper Dresden zur Inszenierung des Ballets “Der Nussknacker” von Peter Tschaikowski 1928.  Figurine-Zeichnung des Bauhauskünstlers Oskar Schlemmer für diese Aufführung in der Semperoper.

Der “Radio-Zauberer”
“Der Radioapparat beginnt zu wachsen und zu leuchten. Er wird zum phantastischen Zauberer, der das Märchen erscheinen läßt”, so heißt es in einer Beschreibung der Sächsischen Staatsoper Dresden zur Inszenierung des Ballets “Der Nussknacker” von Peter Tschaikowski 1928. Figurine-Zeichnung des Bauhauskünstlers Oskar Schlemmer für diese Aufführung in der Semperoper/Rundfunkschaetze

 “Radiomusiken”: Was heißt denn das? “Radiomusiken” waren Kompositionen, die von nahezu allen Sendegesellschaften bei den bekanntesten zeitgenössischen Komponisten mit dem Ziel in Auftrag gegeben wurden, ein eigenständiges Genre zu entwickeln, das den technischen Möglichkeiten des neuen Massenmediums angepasst sein sollten. Auch Komponisten wie Eduard Künneke (dessen Musik einst sogar in den Sinfoniekonzerten der Berliner Philharmoniker gespielt wurde) oder Edmund Nick, die vornehmlich Unterhaltungsmusik schrieben (CD RadioMusik Vol. 1, 8575714), gehören zu diesem Kreis. Doch die Grenzen innerhalb dieser zeitgenössischer Musik sind fließend, wie die Namen zeigen, denn auch Kurt Weill, Paul Hindemith, Pavel Haas, Ernst Toch oder Franz Schreker, die als bedeutende Neuerer ihrer Zeit in die Musikgeschichte eingegangen sind, zählen zum angesprochenen Komponistenkreis.

Diese Musik entstand, als die deutsche Unterhaltungsmusik ihre letzte Blütezeit erlebte – bevor die Nazis auch diese verfälschten und ihr Ende einleiteten. Die Rundfunkmusiken sind ein Schnittpunkt von Unterhaltungsmusik und verschiedensten Strömungen der zeitgenössischen Musik der Weimarer Republik. Sie zeigen kaum bekannte Facetten einer für das Lautsprecher-Publikum geschaffenen Musik, die ihre Kraft aus den Innovationen der eigenen Zeit nahm. Diese musikalischen Experimente, die für die Live-Übertragung durch nur ein einziges Mikrophon geschrieben wurden, kennen keine musikalischen Grenzen, Tanz und Jazz stehen neben klassischen sinfonischen Formen und avantgardistischen Neuerungen der Zeit. Für das Vergessen dieser Musik sind in vielen Fällen die Verbote und Verfolgungen der jüdischen und politisch nicht konformen Autoren im Dritten Reich verantwortlich.

So bunt und lebendig zu sein, wie das Leben selbst: „Die Aufgabe lautet, einem schier unermeßlichen, aus allen Altern, Ständen und Stufen menschlicher Reife zusammengesetzten Hörerkreise, welcher zum Teil der Natur nahe in einsamen Häusern auf dem Lande, zum Teil dicht aneinandergedrängt – zwischen Eisen und Beton – in den großen Städten lebt, durch das Wunder des Rundfunks das lebendige Leben und die lebendige Kultur des eigenen und aller Völker zu seelischer Erhebung, geistiger Fortbildung und gemütlicher Zerstreuung nahezubringen. (…) Wir wollen in dem, was wir auch immer verbreiten, so bunt sein, wie das Leben selbst (…)“, verkündet ein Postulat aus dem Jahr 1929, entdeckt in einem vergilbt-brüchigen „Jahrbuch des Westdeutschen Rundfunks“.

Und in der Tat, es ist eine spannende Aufgabenstellung, die sich der Rundfunk mit visionärem Blick auf das kommende Jahrzehnt selbst auferlegt hat und deren Umsetzungsstrategien und -Ergebnisse auch heute noch in unserem digital vernetzten Zeitalter zurückblickend neugierig machen …

Projektleiter und unermüdlicher Kämpfer für die Rundfunkschätze: Steffen Lieberwirth/OBA/hänssler

Projektleiter und unermüdlicher Kämpfer für die Rundfunkschätze: Steffen Lieberwirth/OBA/hänssler

Ambitioniert selbstbewusst wie elektrisierend visionär ist er, der deutsche Rundfunk, der gerade einmal ein halbes Jahrzehnt existiert, als 1929 eine vom Westdeutschen Rundfunk proklamierte Aufgabenstellung an die zukunftsweise denkenden Komponisten veröffentlicht wird. Warum sollten die hochmotivierten Musikredakteure jenes seinerzeit konkurrenzlosen Massenmediums nicht selbst schöpferisch aktiv werden und breitenwirksamere wie radiogemäßere Programminhalte anbieten? Heinrich Strobel, einer der wichtigsten Berliner Musikkritiker und Wegbereiter der Moderne, benennt die Ursachen, die zum Umdenken in den Rundfunksendern führen sollten: „Zuerst war die Situation so: der Rundfunk übernahm als neues Instrument der Musikübermittlung die landläufigen Praktiken der Musikpflege. Opern wurden übertragen, die Unterhaltungsmusik wurde vom Café, vom Tanzlokal, vom Biergarten bezogen, Konzerte wurden nach bewährtem öffentlichem Muster von den einzelnen Sendegesellschaften veranstaltet. Man wusste, daß es eine Neue Musik gab. Also setzte man von Zeit zu Zeit auch Neue Musik an. Langsam erkannten die hellhörigen Sendeleiter die Anfechtbarkeit dieser sehr bequemen Methode von Standpunkt des Rundfunks aus. Der Rundfunk schafft in jedem Fall eine neue soziologische Situation. Er kann nicht mit dem musikwilligen, traditionsgesättigten Hörer der Opernhäuser und Konzertsäle rechnen. Vor dem Lautsprecher haben die wenigsten die künstlerische Aufnahmebereitschaft, die sie sich im Konzert auf jeden Fall einzureden bemühen. Also musste man die Programme anders anlegen, musste man Rücksicht auf die verschiedenen Ansprüche nehmen, musste man auch einmal überlegen, welche Art Musik im Rundfunk zur sinngemäßen Wirkung kommt und welche nicht. (…) Aber das steht fest: nur eine deutlich konturierte, klar instrumentierte, nur eine reinliche Musik setzt sich im Mikrophon durch.“ (Heinrich Strobel: „Zur musikalischen Programmpolitik des Rundfunks“, 1930)

heinrich strobelDie politische und wirtschaftliche Situation ist günstig: Der Rundfunk ist „vom ersten Augenblick seines Daseins an eine wirtschaftliche Macht. In einer Zeit allgemeiner finanzieller Depression war hier ein Unternehmer entstanden, der durch seine regelmäßigen und so gut wie sicheren Einnahmen die Möglichkeit hatte, einen Teil der notleidenden Künstlerschaft durch Engagements zu unterstützen. Im Lauf von fünf Jahren hat sich der Rundfunk zu einem Opern- und Konzertinstitut allergrößten Stils entwickelt, dessen Abonnentenzahl in Deutschland in die Millionen geht. (…)“

Finanziell ist der Rundfunk so gut ausgestattet, dass er es sich Ende der 1920er Jahre leisten kann, als Mäzen und Multiplikator für Musiker und Komponisten in Erscheinung zu treten. So vergeben Monat für Monat alle deutschsprachigen Sender Kompositionsaufträge an jene Komponisten, die sich für das neue Medium Radio interessieren und Kompositionen erschaffen wollen, „deren besondere Rundfunkeignung daraus resultieren sollte, dass die für die Übertragung von Musik gewonnenen Erfahrungen gleich bei ihrer Entstehung ausgenützt würden“, so der Leipziger Radiojournalist Ernst Latzko.

der anbruchUnd weiter erfahren wir von ihm in seiner „Rundfunk-Umschau“, dass diese Aufträge geeignet seien, das Schaffen in eine „bestimmte Bahn“ zu lenken, Werke ganz „besonderer Eigenart“ hervorzubringen: „Die von Max Butting propagierte Idee einer ‚Rundfunkmusik‘ wird hier aufgegriffen und einer Verwirklichung nähergeführt. Der Rundfunk begnügt sich nicht mehr mit der allgemeinen Musikliteratur, die er seinen besonderen Gesetzen entsprechend interpretiert, sondern er fördert die Entstehung einer neuen Musik, die nicht erst rundfunkgemäß wiedergegeben sondern gleich rundfunkgemäß konzipiert sein will. Nicht der Kapellmeister soll die in fünf Jahren gemachten Erfahrungen verwerten, sondern der Komponist. Damit ist der Grundstein gelegt zu einer Literatur, die in Inhalt und Form nicht rein musikalischen sondern funkischen Gesetzen folgt. Diese Gesetze werden die zeitliche Ausdehnung der Werke einengen, sie werden gewisse Formen gegenüber anderen bevorzugen – so ist es kein Zufall, dass bisher ein Konzert und eine Suite auf diesem Gebiet entstanden sind, beides Formen, deren Eigenart den Forderungen des Rundfunks entgegenkommt – diese Gesetze werden sich ganz besonders bei der Instrumentation auswirken, die hier wesentlich andere Regeln befolgen muß, sie werden Phrasierung und Dynamik beeinflussen und zu allererst den Stil der Werke bestimmen indem sie eine Musik ins Leben rufen, der Form und Zeichnung wichtiger ist als Farbe, Technik wichtiger als Ausdruck. (…)“

Max Butting/Wikipedia

Max Butting/Wikipedia

Eine wesentliche Hilfestellung zu musikalisch technischen Voraussetzungen des neuen Genres „Radiomusik“ können schließlich 1929 alle interessierten Tonsetzer einer Veröffentlichung der „Baden-Badener Kammermusik“ entnehmen. Als einer der Pioniere der „Radiomusik“ erklärt der Komponist Max Butting erstmals die gestellten Anforderungen: „1.) Dem Wirkungskreis der Rundfunkübertragung, die sich an Hörer verschiedenster Schichten und Bildung in ihrem eigenen Heim wendet, ist im Charakter des Werkes Rechnung zu tragen. 2.) Zu berücksichtigen sind die technischen Eigenschaften des Mikrophons als Übertragungsinstrument: a.) Die Orchesterwerke müssen eine klare Struktur aufweisen. Rauschender, breiiger Orchesterklang ist ungeeignet für das Mikrophon. Zu dick gesetzte und eng gelegte Akkorde sind zu vermeiden. b) Die Klangfarbe der einzelnen Instrumente wird durch das Mikrophon verschieden wiedergegeben. Die Streichinstrumente kommen gut durch. Zu vermeiden sind nur enge Akkorde in mittlerer und tiefer Stimmlage. (* Die Holzblasinstrumente erklingen ausnahmslos klar und deutlich, ohne von ihrem Klangcharakter viel zu verlieren. Das starke Hervortreten der Flöte, besonders in der höheren Lage, ist zu beachten. Im Übrigen ist die solistische Behandlung der Holzbläser vorzuziehen. * Auf vorsichtige Hornbehandlung ist zu achten, weil sich bei nicht erstklassig geblasenem Horn Unsauberkeiten durch das Mikrophon besonders bemerkbar machen. Enger Satz von mehreren Hörnern und ff im Horn ist zu vermeiden. * Die Trompete ist in jeder Lage, auch mit Dämpfer, verwendbar. * Harfe klingt gut, besonders in höherer Lage. * Vorsichtige Schlagzeugbehandlung, insbesondere Vermeidung der großen Trommel; auch die kleine Trommel bekommt einen vollständig veränderten Klangcharakter. Möglichst kein Becken, nur im ff zu besonderer Charakterisierung in einzelnen kurzen Schlägen. * Pauke in einzelnen Schlägen rhythmischer Natur gut, Paukenwirbel im Tutti ist zu vermeiden. * Sehr gut verwendbar sind Holzschlaginstrumente, Xylophon und Holztrommel.) 3.) Was im Rundfunk aufgeführt wird, erhält eben seinen Charakter einmal durch die technisch-musikalische Einschränkung der Mikrophonübertragung; viel mehr aber durch das Gerichtetsein an alle. Und dies erzwingt nun bestimmte Stilprinzipien: * Verständlichkeit am Empfänger * Prägnanz und Kürze * Sinnfälligkeit und Übersichtlichkeit * Der Ort der Handlung ist immer das Alltagszimmer von jedermann.“ („Anbruch“, Januar 1929)

Spielerische Leichtigkeit – das so schwer Umzusetzbare! Über den Beginn des ambitionierten “Entdeckungs-Projektes” schrieben die “Dresdner Neuesten Nachrichten”:  “Anlässlich einer Operettengala der Dresdner Staatsoperette 2005 hörte MDR FIGARO-Musikchef Steffen Lieberwirth den ersten Satz der ‘Tänzerischen Suite’ von Eduard Künneke. Er war von der Musik und ihrer Wiedergabe so begeistert, dass er die Suite für den Rundfunk produziert wollte, und zwar vollständig!”

Der Dirigent Ernst Theis/Foto prosceniium.at

Der Dirigent Ernst Theis/Foto proscenium.at

Mit der Radioausstrahlung landete der Mitteldeutsche Rundfunk dann auch einen wirklichen Volltreffer. Wir erlebten Schlüsselwerke der Zwanziger Jahre. Kurz: wir fühlten und atmeten den Puls jener Zeit. Mehr noch, wir spürten, wie tagesaktuell und lebendig auch nach 80 Jahren noch diese bislang unbekannte Musik ist. Von 2005 bis 2011 nahm sich das Orchester der Staatsoperette Dresden unter der Leitung seines langjährigen Chefdirigenten Ernst Theis in fester Kooperation mit MDR Figaro und seit 2008 auch mit Deutschlandradio Kultur diesem völlig zu Unrecht vergessenen Genre an und spielte ein Reihe dieser sogenannten Radiomusiken für das ihnen zugedachte Medium neu ein. Und das – wie auch seinerzeit – teilweise aus dem original erhaltenen handschriftlichem Aufführungsmaterial.

Das Redaktionsteam: Die „Edition RadioMusiken“ ist eine gemeinschaftliche Dokumentationsreihe der Staatsoperette Dresden, des Kulturkanals des MITTELDEUTSCHEN RUNDFUNKS [MDR FIGARO] mit DeutschlandRadio Kultur sowie des Archivs der Akademie der Künste Berlin mit dem Klassik-Label cpo; Projektleitung: Steffen Lieberwirth, MDR; Autoren und Historical Research: Uwe Schneider, Ernst Theis, Jens Uwe Völmecke, Steffen Lieberwirt; Recording Supervisor & Digital Editing: Eric Lieberwirth; Executive Producers: Burkhard Schmilgun / Steffen Lieberwirth [MDR]; Cover Painting: Marcellus Schiffer, C Stiftung Archiv der Akademie der Künste; Co-Produktion: cpo / MDR FIGARO / DeutschlandRadio / Staatsoperette Dresden / Archiv der Akademie der Künste Berlin; Recording: Börse Coswig 2006+2007 / Lukaskirche Dresden 2009 / Alter Schlachthof Dresden 2010/ Hochschule für Musik “Carl Maria von Weber” Dresden 2011

 

 

 

Berührendes Abendrot

Ein Hauch von Hollywood weht durch das Foto auf dem Cover. Hollywood in den Dreißiger Jahren. Als die legendären Diven märchenhaft in einer Traumwelt inszeniert wurden, den Niederungen des Alltags völlig entrückt. Anna Netrebko ist in eine wallende Robe gehüllt, die Schultern frei. Der Farbton zwischen Pink und Rubin. Die lange Schleppe flattert im Wind. Die Künstlerin schreitet, schreitet durch Schnee. Die muss doch frieren, ist mein erster Gedanke. Schnee auch auf den Innenseiten des Albums, mit dem die Deutsche Grammophon die große Anhängerschar der gefeierten Sängerin im zu Ende gehenden Richard-Strauss-Jahr beglückt (479 3964). Äste im Schnee, die letzten Hagebutten im Schnee, zwei Menschen auf einer Brücke im Schnee. Dabei hat das Programm dieser CD eigentlich gar nichts mit Schnee zu tun. Es handelt sich um den Mitschnitt eines Konzerts der Staatskapelle Berlin vom August 2014 unter der Leitung von Daniel Barenboim, bei dem die Netrebko im ersten Teil die Vier letzten Lieder sang. Im zweiten Teil dann  Ein Heldenleben. Zwei Werke aus absolut schneefreier Zone. Nun gut, die hübschen Fotos waren wohl noch vorrätig aus dem letzten Winter. Sie müssen auch mal weg. Das lässt sich ja nachzuvollziehen. Schön sehen sie aus.

Auf der CD selbst geht es nicht ganz so traumhaft zu wie auf dem Titelblatt. Die Sängerin muss sich erst hineinfinden in die entrückte Stimmung dieser Lieder. Sie ist um deutliche Aussprache bemüht, hat wohl intensiv am Text gearbeitet und ist über weite Strecken ganz gut zu verstehen. Wenn sie sich denn in nächster Zeit auch im deutschen Fach umtun will – die Elsa ist selbst für Bayreuth angekündigt – muss das auch sein. Potenzial ist vorhanden. Sie steigert sich von Lied zu Lied. Es dürfte kein Zufall sein, dass sie mit Im Abendrot am meisten berühren kann. Sehr gut gelingen ihr die lyrischen, zurück genommenen Momente, die aber noch besser verbunden werden können, auch mit dem Orchester. Sie zerfallen manchmal in ihre Einzelteile. Muss die Stimme in die Tiefe hinab oder aus der Tiefe heraus, klingt sie in diesen Übergängen leicht unliebenswürdig. Es wäre ungerecht und unfair, die Sängerinnen, die mit diesen Liedern Musikgeschichte geschrieben haben, gegen die Netrebko aufmarschieren zu lassen. Wir schreiben 2014 und leben nicht irgendwo zwischen 1960 und 1975. Aber die Konkurrenz ist nun einmal da und auch auf Tonträgern verfügbar. Man kommt nicht davon los, weil sich Anna Netrebko nicht genug durch eine eigene unverwechselbare Lesart davon abheben kann.

Eine Frage stellt sich: Warum live auf CD? Ich bin der festen Überzeugung, dass die Sopranistin mit diesen Liedern im Studio viel besser aufgehoben gewesen wäre. Dort ist der Druck weniger stark, dort gibt es die Möglichkeit der Wiederholung, der Korrektur. Die besten Aufnahmen, die ich kenne, sind im Studio entstanden. Selbst Elisabeth Schwarzkopf, die zwei Studioeinspielungen hinterlassen hat, die noch immer Referenzcharakter haben, war mit den Vier letzten Liedern im Konzert weniger überzeugend. Ich hätte es der Netrebko gegönnt, dass sie mit ihrer Aufnahme besser abgeschnitten hätte. Das Zeug dazu hat sie. Nun ist sie eine unter sehr vielen. Eben.

Die geballte Wucht des großen Orchesters nach dem intimen Einstieg halte ich nicht für die allerglücklichste Wahl. Nun ja, Barenboim will auch glänzen, und das tut er. Sein Heldenleben ist rauschhaft und verschwenderisch. Die Knöpfe für die Lautstärke dürfen ruhig etwas weiter aufgedreht werden, sonst wirkt diese Musik nicht. Aber es gibt auch hier wunderbare leise Momente der Einkehr, die besonders Wolfram Brandl mit der Solovioline zu verdanken sind.

Rüdiger Winter

Triumph des Schöngesangs

Der italienische Tenor Enrico Caruso hat geschafft, was heutzutage selbst die perfekteste PR-Kampagne nicht erreichen könnte: Sein Name ist selbst der Oper fernstehenden Menschen ein Begriff und gilt allgemein als Synonym für schönen Gesang. Dass diese bis heute ungebrochene Popularität des Neapolitaners zu immer neuen Editionen seiner umfangreichen Plattenaufnahmen führt, versteht sich von selbst. Caruso hat ca. 250 Schellackplattenseiten aufgenommen, daraus kann man Kompilationen der verschiedensten Art zusammenstellen, wie dies auch schon im Zeitalter der Vinyl-Schallplatte geschehen ist. Seit geraumer Zeit existieren zwei konkurrierende Gesamtausgaben auf CD, die sämtliche bekannte Aufnahmen Carusos enthalten, und dies in sorgfältig restaurierter Form. Ich persönlich bevorzuge die von Ward Marston für Naxos hergestellte Version auf zwölf CDs, sie hat Maßstäbe gesetzt.

Welche Überlegungen für das Label The Intense Media ausschlaggebend waren, jetzt eine 4-CD-Box mit einer repräsentativen Auswahl herauszubringen, ist nicht ganz nachzuvollziehen (600206). Die Aufmachung ist eher spartanisch, das Booklet enthält zweisprachig einen sehr allgemeinen biographischen Artikel, der nicht einmal namentlich gezeichnet ist. Die Trackliste nennt zwar jeweils das Aufnahmejahr, verzichtet aber ansonsten auf die für Sammler so wichtigen Labelnamen und Matrizen-Nummern. Das Klangbild ist durchaus befriedigend, Carusos Stimme scheint mir aber künstlich verstärkt, bei Forte-Stellen wirkt sie etwas plärrend, und es könnte der Eindruck entstehen, der Sänger wäre mitunter gar ein richtiger Brüller gewesen. Beim Hören der Originale wird gerade das Gegenteil deutlich, so gesehen wird diese Edition dem Künstler und seinen Liebhabern nicht gerecht.

Donizetti, Rossini, Verdi, Meyerbeer, Bizet – die Auswahl ist umfänglich, umfasst all jene Arien und Szenen, die es – auch Dank Caruso – zu großer Popularität gebracht haben. „Er singt die Psyche der Melodie“, hatte Richard Strauss über den Sänger gesagt. Ein Satz, der zu Recht am Beginn des Einführungstextes steht.

Peter Sommeregger