Das Richard-Strauss-Jahr ist Geschichte. Gedacht wurde 2014 seines 150. Geburtstages. Strauss kam am 11. Juni 1864 in München zur Welt. 2014 hatten aber auch Gluck, der Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel (300. Geburtstag) und Rameau (250. Todestag) wenig gefeierte Jubiläen. Da gab es kein besonders großes Aufhebens. Die Feierlaune hielt sich in Grenzen. Stehen runde Jahrestage ins Haus, werden meist jene am meisten gefeiert, die es gar nicht nötig hätten. Strauss ist so einer. Denn es ist eigentlich immer Strauss-Jahr. Nicht nur in Deutschland. Seine Opern, Tondichtungen und Lieder werden ständig und überall aufgeführt, meistens dieselben. Sie sind Renner, mit denen sich Opernhäuser und Konzertsäle locker füllen lassen. Strauss geht immer. Er ist eine sichere Bank für Regisseure, Dirigenten und Sänger. Nach einem Jubiläum ist vor einem Jubiläum. Gewiss werden gelegentlich runder Geburts- oder Todestage auch Zeichen gesetzt, die Aufmerksamkeit verdienen: Rosenkavalierohne Striche im Sommer in Salzburg, an gleicher Stelle zu Ostern die Arabellamit einem zusätzlichen Vers für die Fiakermilli, Schlagobersin München, die selten anzutreffende Feuersnotin Dresden, ein neues Intermezzo und sämtliche Lieder mit Klavierbegleitung auf CD. Das sind für mich Highlights gewesen – und nicht die dreißigste Salomein Wer-weiß-wo.
Doch vergessen wir die Bücher nicht. Es gab interessanten Zuwachs und neue Auflagen alter Titel, verteilt über das Jahr. Eine kompakte Edition aller Texte, die Strauss vertont hat, ist nicht darunter. Sie wäre so nötig wie überfällig. Bücher sind besonders haltbar, womöglich haltbarer noch als CDs, auf jeden Fall haltbarer als jede Inszenierung. Sie bleiben lange bei uns. Zeitlosigkeit schwebt über dem neuen Buch Der Patriarch von – jetzt nicht wundern – Arthaus, dem auf Filme spezialisierten Label. Dort waren bereits die wichtigsten Opern auf DVD und die Dokumentation Richard Strauss and his Heroines herausgekommen. Nun also ein Buch mit DVD – oder eine DVD mit Buch? Für eine Reihenfolge kann ich mich nicht entscheiden. Wer sich in die Neuerscheinung mit dem Untertitel Richard Strauss und die Seinen versenkt, fühlt sich von der Pracht der Fotos wie erschlagen. Ich habe Stunden damit zugebracht, konnte mich nicht satt sehen. Vieles ist neu. Das Familienarchiv ist weit geöffnet worden. Strauss in allen Lebenslagen – mit Angehörigen, mit Weggefährten, Künstlern, Sängern und mit Goebbels am Kamin, beim Skat, im Badeanzug, auf dem Eis, im Schnee, auf der Akropolis, unter ägyptischen Palmen. Immer Herr. Selbst Schnappschüsse zeigen ihn mit Haltung. Kein Foto geht daneben. Er sticht immer heraus, egal welchen Alters er ist. Strauss, der Gentleman, der sich offenbar nie gehen ließ und immer die Form wahrte. Sein Kleiderschrank muss beträchtliche Dimensionen besessen haben. Der Mann hatte Geschmack, von frühester Jugend an. Selbst bei der Bergwanderung oder auf dem Pferd ist er in feinsten Zwirn gewandet. Fast immer die selbstgebundene Fliege, nie ohne Weste, am Schreibtisch in der eleganten Hausjacke, die völlig aus der Mode gekommen ist.
Es wird offenbar, dass es Zusammenhänge gibt zwischen Strauss in seiner äußeren Erscheinung und Strauss als Komponist. Der Bürger als Künstler. Zumindest aber hätte das Thema ein eigenes Kapitel abgeben können. Nun will diese Neuerscheinung nicht nur Bilderbuch sein. Der Inhalt, an dem mehrere Autoren Anteil haben, holt weit aus, bleibt am Buch-Titel nicht sklavisch hängen. Thomas Voigt steuert ausführliche Betrachtungen zu Sängerinnen von Strauss-Partien bei. Frau Pauline, der „Geliebten und Muse“ des Komponisten wird mit Briefen sowie mit Erinnerungen von Gabriele Strauss, der Tochter von Hans Hotter, die den älteren Enkel Richard geheiratet hatte, gedacht. Darin geht es natürlich auch um den handfesten Ehekrach, der Strauss als Vorlage für seine Oper Intermezzo diente. Mit Themen wie „Strauss und das liebe Geld“ oder „Strauss und die Macht“ werden auch jene Seiten seines Lebens gestreift, die ihm Kritik bis völliges Unverständnis einbrachten.
Das Buch und der Film von Marieke Schroeder und Barbara Wunderlich sind inhaltlich eng miteinander verknüpft. Es ist gewiss mehr als fünfzehn Jahre her, dass ich auf einer Reise in den Süden Station in Garmisch machte und entschlossen an der Haustür der Villa Strauss klingelte. Ich wollte hinein. Mir wurde freundlich aufgetan und bedeutet, dass mein Begehren der Familie vorgetragen würde. Ich solle am nächsten Vormittag wiederkommen. So geschah es, und ich wurde eingelassen. Die mit Kunstwerken vollgestopfte Diele, die Treppe nach oben, das Arbeitszimmer mit dem geschwungenen Schreibtisch, der eigens für diesen Raum angefertigte Flügel, das Esszimmer – Behaglichkeit vom Allerfeinsten. Es war ein erbebendes Gefühl, alles, was ich von Fotos kannte, nun im Original vor mir zu sehen. In der oberen Etage das Sterbezimmer, einfach wie die meisten Sterbezimmer großer Geister. Wer durch dieses Haus geht, der kommt Strauss sehr nahe. So will es auch der Arthaus-Film. Gabriele Strauss bittet nun persönlich die Zuschauer herein. Inge Borkh und Brigitte Fassbaender sind schon da. Man kennt sich. Plaudert bei Kaffee und Gebäck wissend über den Meister. Beide Sängerinnen haben mit ihren Strauss-Partien Operngeschichte geschrieben, die Borkh als Elektra, Salome und Färbersfrau, die Fassbaender als Octavian, Klytämnestra, Herodias und Clairon. Die Führung durch die Räume ist sehr persönlich gehalten, selbst Schränke mit der wohl sortierten Tischwäsche tun sich auf. Mit verschieden Gesprächspartnern werden Themen, die auch gedruckt schon abgehandelte wurden, wieder aufgenommen. Die 52 Minuten vergehen wie im Flug.
Rüdiger Winter
Der Patriarch – Richard Strauss und die Seinen, mehrere Autoren, Arthaus Musik, 128 Seiten, sehr viele Fotos, inklusive DVD, ISBN 978-3-86923-200-3.
Der Dokumentarfilm RICHARD STRAUSS AND HIS HEROINES erhält einen der begehrten International Classical Music Awards (ICMA) 2015 in der Kategorie „DVD Documentaries“. Dazu die Firma Arthaus: RICHARD STRAUSS AND HIS HEROINES folgt der Spur der unvergesslichen Strauss’schen Heroinnen. Regisseur Thomas von Steinaecker nähert sich mit Interviews großer Strauss-Sängerinnen an das Frauenbild und die feminine Seite des Jahrhundert-Komponisten. Wie keinem anderem gelang es Richard Strauss, feinste weibliche Gefühle in Musik zu übersetzen. Davon berichten Brigitte Fassbaender, Renée Fleming, Dame Gwyneth Jones und Christa Ludwig. Gleichzeitig erzählt der Film die Geschichte von der bewegten und bewegenden Liebe zu Pauline, der wichtigsten Frau in Richard Strauss’ Universum und treue Gefährtin in 55 Jahren Ehe. Die ICMA werden seit 2011 verliehen und sind der einzige internationale und unabhängige Musikpreis. Die Jury setzt sich aktuell zusammen aus 16 Musikkritikern der wichtigste Musikmagazine, Radiosender und Online-Dienste. Für die ICMA 2015 waren 248 Produktionen von 85 Labels nominiert. Neben den 15 CD- und DVD-Kategorien wurden acht Special Awards ausgelobt. Die Preisverleihung findet am 28. März 2015 mit einem Gala-Konzert des Bilkent Symphony Orchestra in Ankara statt..
Ortwechsel. Die Bahn braucht um die sechs Stunden von Garmisch nach Wien. Mit dem Auto geht es auch nicht viel schneller. Zu Straussens Zeiten dürfte die Fahrt länger gedauert haben. Er musste sie sehr oft zurücklegen. Des Kaisers Hauptstadt also, wo Rosenkavalier und Arabella spielen, wo 1916 die zweite und endgültige Fassung der Ariadne auf Naxos, 1919 Die Frau ohne Schatten und 1924 das Ballett Schlagobers uraufgeführt wurden. Das Buch Durch die Hand der Schönheit widmet sich der segensreichen Liaison des Komponisten mit der Stadt. Geschrieben hat es Christoph Wagner-Trenkwitz (auf dem Buchumschlag zu sehen), der österreichische Dramaturg und Musikwissenschaftler, der gelegentlich auch als Moderator auftritt. Ein Mann mit Theatererfahrung und feinem Gespür für die Bühne, einer, der sich auskennt in Wien. Davon lebt das Buch, das schon im Titel mit einem Zitat von Arabellas Mutter Adelaide die Nähe zu Oper sucht. Es ist flott geschrieben, überquellend von Fakten, Ereignissen, Zitaten und Zeitzeugenberichten. Für Spekulationen ist kein Platz. Meine Erkenntnis aus der Lektüre: Strauss und Wien, das ist am Ende doch die Quintessenz der Verwurzelung des Künstlers, obwohl wesentlich mehr Opern aus seiner Feder, nämlich neun, in Dresden erstmals auf die Bühne kamen, obwohl er so viele Jahre im geliebten Garmisch zubrachte, wo er auch starb. In Wien leitete Strauss von 1919 bis 1924 gemeinsam mit Franz Schalk die Hofoper. Er setzte neue Maßstäbe für die Spielplangestaltung, eigene Werke kamen dabei nicht zu kurz, seine Säulenheiligen Wagner und Mozart auch nicht. Deren Werke leitete er oft selbst. In den von Strauss dirigierten Konzertprogrammen fehlte ganz selten ein Stück von ihm. Mancher Abend bestand ausschließlich aus Strauss. Der hatte offenbar kein Problem damit, auf diese Weise auch das eigene Konto, das durch den verloren Weltkrieg leer geräumt war, schnell wieder aufzufüllen. Auf der Habenseite seines Wiener Wirkens steht auch die Rückgewinnung des traditionsreichen Redoutensaal in der Hofburg für Opern- und Konzertaufführungen. Er hatte sich sehr stark dafür gemacht. Auch nach seiner Abdankung als Operndirektor blieb Strauss Wien fast bis zum Ende des Nationalsozialismus verbunden, erwarb eine Villa, die er faktisch mit Originalpartituren bezahlte.
In Wien suchte Strauss aber auch die Nähe zu Gauleiter und Reichsstatthalter Baldur von Schirach, der 1946 in den Nürnberger Prozessen als Kriegsverbrecher zu zwanzig Jahren Haft verurteilt wurde. Obwohl als ausgewiesener Antisemit für die Deportation Zehntausender österreichischer Juden in die Vernichtungslager verantwortlich, breitete er seine schützende Hand über die Schwiegertochter von Strauss, Alice, eine Tochter des jüdischen Industriellen Emanuel von Grab. Nicht aus Menschenliebe, wie es Strauss missverstanden haben mochte, denn er zeigte sich überschwänglich dankbar. Schirach wollte einzig mit der Anwesenheit des bedeutendsten lebenden deutschen Komponisten in „seiner“ Stadt propagandistisch punkten und zeigte sich aus Berechnung gütig. Wagner-Trenkwitz erspart seinen Lesern die harten Fakten nicht. Wer Strauss gerecht werden will, muss ihn einerseits in seiner Not zeigen, der Frau des Sohnes und den Enkeln durch einen Teufelspakt zur Seite stehen zu müssen, andererseits in seiner opportunistischen Schwäche, unter der nationalsozialistischen Herrschaft auch auf eigene Rechnung Kasse zu machen.
Seinen praktischen Nutzen als Nachschlagewerk gewinnt das Buch durch diverse Anhänge und die auch grafisch abgesetzten Dokumentationen der Wiener Aufführungen der Opern von Strauss, die dem Buch ein stabiles Gerüst geben. Es wurden Daten, Besetzungen und allerlei Hintergründe bis hinein in die Gegenwart angehäuft. Dadurch gewinnt es an Aktualität. Ich habe mich besonders gern und ausdauernd bei diesen Abschnitten aufgehalten. Sie vermitteln den außerordentlichen hohen Standard, der in Wien von Anfang an den Werken von Strauss zuteil wurde, bis zu den kleinsten Rollen. Zum Glück hat einiges davon auf Tonträgern überdauert.
Rüdiger Winter
Christoph Wagner-Trenkwitz. Durch die Hand der Schönheit – Richard Strauss und Wien, Verlag Kremayr & Scheriau Wien, 304 Seiten, zahlreiche Fotos, ISBN978-3-218-00911-9
Das Wiener Theatermuseum, schon oft für seine opulenten Ausstellungen gerühmt, hat den 150. Geburtstag von Richard Strauss natürlich nicht verstreichen lassen, ohne dem der Stadt so stark verbundenen Komponisten eine grandiose Würdigung zu Teil werden zu lassen. Noch schöner, dass diese temporäre Retrospektive ihren Niederschlag in einem üppig gestalteten Katalog gefunden hat, der die Strauss-Literatur im Jubiläumsjahr nicht unwesentlich bereichert. Nun kann das Museum auf einen reichen Bestand an Material über Strauss und seine Tätigkeit in Wien zurückgreifen, damit allein wollte man sich aber wohl nicht begnügen. Auch das Archiv der Wiener Philharmoniker konnte einiges an Material beisteuern, vor allem aber das Richard-Strauss-Archiv in Garmisch stellte umfangreiche Exponate zur Verfügung.
Entstanden ist keineswegs nur ein hoch interessanter Bildband, vielmehr finden sich auf den reichlich zweihundert Seiten auch sehr lesenswerte Wortbeiträge. Laurenz Lütteken schreibt über Strauss und das 20. Jahrhundert, Jürgen May gibt einen Einblick in die Komponier-Werkstatt, die zeitweilige Wiener Operndirektion von Strauss wird von Andreas und Oliver Lang gewürdigt, von Thomas Leibnitz Wien als atmosphärischer und dramaturgischer Faktor in den Opern von Strauss untersucht. Im Beitrag „Die Bühne als Raum-Bild“ beschreibt Alexandra Steiner-Strauss die Ausstattungen Alfred Rollers für Strauss-Opern. Des Weiteren wird untersucht, welche Rollen Strauss-Librettisten gespielt haben und wie sich Strauss im Dritten Reich verhalten hat. Briefe und Werkautographen aus der Handschriften-Sammlung des Theatermuseums, eine Biographie in Stichworten und Bildern und ein Interview mit der Sängerin Brigitte Fassbaender bereichern den sehr liebevoll und edel mit Fadenheftung gestalteten Band. Besonders prächtig werden die Bühnenbild-und Kostümentwürfe Rollers wiedergegeben, Abbilder einer opulenten Theaterästhetik, die in der Gegenwart mehr und mehr verloren geht. Wie werden wohl einst die zeitgenössischen Dekorationen in einem Buch über Strauss‘ 200. Geburtstag aussehen?
Peter Sommeregger
Christiane Mühlegger-Henhapel und Alexandra Steiner-Strauss: Richard Strauss und die Oper – „Trägt die Sprache schon Gesang in sich…“, Residenz-Verlag, 176 Seiten, zahlreiche Fotos, ISBN 978-3701733354
„Die Leute bitten um Kritik, aber sie wollen nur gelobt werden.” Dieser Aphorismus des englischen Erzählers William Somerset Maugham findet sich auf der Internetseite des österreichischen Musikwissenschaftlers Daniel Ender, der eines der interessantesten – wenn nicht gar das interessanteste Buch – zum Richard-Strauss-Jahr 2014 vorgelegt hat. Sein Titel: Richard Strauss – Meister der Inszenierung. Damit hat der Autor zumindest aus meiner Sicht gleich am Anfang sein Lob weg. Es ist verdient. Warum? Ender, um die vierzig, hat nach der Matura 1993 am Musikgymnasium Feldkirch zunächst Klavier und Orgel studiert, später Musikwissenschaft, Philosophie, Germanistik und Sprachwissenschaft an der Universität in Wien. Nach der Promotion war er Lehrbeauftragter an diversen Universitäten, wirkte als freier Autor und ist seit 2011 Chefredakteur der Österreichischen Musikzeitschrift. Ein Mann vom Fach, der neue Fragen stellt, sich Strauss zwar mit Respekt nähert, doch nicht in Ehrfurcht erstarrt. Er bohrt tief hinein in dieses lange Komponistenleben, das zwar von zwei verheerenden Weltkriegen betroffen, aber nicht eigentlich in seinen Grundfesten erschüttert wurde.
Nach eigenem Bekunden wollte Ender „keine klassische Biographie“ schreiben, obwohl er genau den einzelnen Lebensstationen folgt. Diese ist auch 75 Jahre nach dem Tod von Strauss noch nicht zu realisieren. Zu unübersichtlich und unerforscht ist die Quellenlage, Strauss widerspricht sich oft selbst, legt absichtlich falsche Spuren, stellt Sachverhalte und Ereignisse nach den unterschiedlichsten Seiten hin genau so unterschiedlich dar. All das will erforscht werden. Briefe, die in die Zehntausende gehen, sind noch nicht vollständig zugänglich. Sie stellen aber die wichtigsten Selbstzeugnisse dar. Strauss war ein äußerst tüchtiger Briefeschreiber. Es liegt also in der Natur der Sache, dass sich in die bisherigen biographischen Annäherungen Fehler, Unstimmigkeiten und Ungenauigkeiten eingeschlichen haben. Sie werden gern fortgeschrieben und verbreiten sich gerade durch das Internet gleich einer Kettenreaktion. Was einmal unterwegs ist, lässt sich nicht so leicht zurückholen.
Strauss´ Werk selbst ist mitnichten bis in alle Einzelheiten für den allgemeinen Gebrauch erschlossen. Rätsel geben nach wie vor einzelne Fassungen von Opern auf, darunter der 1940 in Weimar neu belebte Guntram. Schallplattenproduktionen sind oft über Unterschiede einfach hinweg gegangen. Booklets werden immer dürftiger. Nachdem erst vor wenigen Wochen vom Label Two Pianists die vermeintlich kompletten Klavierlieder auf CD vorgelegt wurden, einschließlich jener Titel mit Ergebenheitsaderessen an Machthabende des Dritten Reiches, überrascht Ender mit noch einem unappetitlichen Opus für den Generalgouverneur im besetzen Polen, Hans Frank, von 1943. Den Text dazu hatte Strauss selbst verfasst. Im Werkverzeichnis von Franz Trenner (W. Ludwig Verlag), zur weiterführenden Beschäftigung sehr zu empfehlen, wird zumindest der Anfang des Liedes zitiert: „Wer tritt herein so fesch und schlank? Es ist der Freund Minister Frank …“ Frank, ein Kriegsverbrecher der allerschlimmsten Sorte, wurde 1946 in Nürnberg hingerichtet. Offenbar hatte er Strauss vor der Einquartierung von notleidenden Menschen in seiner Garmischer Villa bewahrt, die durch Bombardierungen obdachlos geworden waren. Ender erspart seinen Lesern und Richard Strauss selbst nichts.
Und doch gewinnt das Kapitel über den Nationalsozialismus kein überproportionales Gewicht. Es wird als Teil des Lebenslaufes verstanden und dargestellt – nicht reißerisch, aber so kritisch wie nötig. Gleich nach Kriegsende gab es Bestrebungen, die Verstrickungen des Komponisten zu glätten oder gar zu tilgen. Sie sind gescheitert, haben im Jahr seines 150. Geburtstages keine Chance mehr. Obwohl Strauss nach dem berühmten, von der Gestapo abgefangenen despektierlichen Brief an Stefan Zweig, den jüdischen Dichter und Librettisten der Schweigsamen Frau, schließlich in Ungnade fiel bei den braunen Machthabern, war er deshalb ebenso wenig Gegner des Regimes wie er kein Nazi war. Für ihm blieben seine Bedürfnisse und die möglichst einträglichen Aufführungen eigener Werke Richtschnur seines Verhaltens. Er sorgte sich um seinen Nachruhm. Dabei scheute Strauss nicht davor zurück, Werke von Verdi oder Gounod zu denunzieren, nur um sich gehörig in den Vordergrund zu schieben in der Nachfolge von Mozart, Beethoven und Wagner. Dabei hatte er das gar nicht nötig. Er war schon zu Lebzeiten ein Klassiker. Und Hitler selbst wird es nicht gern gehört haben, wenn Strauss an Operetten mit Ausnahme der Fledermaus kein gutes Haar ließ. Hitler liebte Operetten und den von Strauss gehassten Franz Lehár.
Ender arbeitet detailreich. Er beruft sich auf sehr viele Quellen und einen Großteil der bislang vorliegenden Strauss-Literatur, deren Verzeichnis im Anhang beträchtlich ist. Niemals verfällt er ins Anekdotische. Oberste Priorität haben Fakten und Zitate. Sein Stil ist klar und elegant. Es macht Spaß, dieses Buch zu lesen. Nur an ganz wenigen Stellen geht der Zeigefinger in Anschlag, wenn Ender seinen Lesern in Klammern gesetzt die Bedeutung solcher etwas aus der Mode gekommenen Worte wie Ukas oder Widerspiel erklären zu müssen meint. Am Schluss bringt er die Rede auf den Film Richard Strauss – ein Leben für die Musik, der 1949 gedreht wurde. Ausschnitte geistern seit Jahren durch die verschiedensten Dokumentationen, die im Fernsehen gezeigt wurden. Ender zählt auf, was in dem Film alles zu sehen ist. Und er zitiert den Sprecher mit den pathetischen Worten: „Unbeirrt von Krisen und Schlagworten ist Richard Strauss seinen Weg gegangen. Als versöhnende Friedensbotschaft klingt seine Musik über die Kontinente und wird im Bewusstsein vieler kommender Generationen fortleben“ – um aus eben diesen Schlagworten den hintergründigen Schluss seines Buches abzuleiten: „Im großen Welttheater war Richard Strauss eine Figur, die es verstand, noch in der ernstesten Lage mit einer Mischung aus emotionaler Dramatik und souveräner Distanz von sich reden zu machen. Die Inszenierung war dabei zumindest ebenso meisterhaft wie das Stück.“
So schön, so gut. Der Autor übersieht, dass der Film in ganzer Länge heute unbekannt ist. Meine Bemühungen, seiner habhaft zu werden, waren bisher nicht von Erfolg gekrönt. Ich würde ihn endlich lieber selbst sehen, statt ihn erzählt oder häppchenweise vorgesetzt zu bekommen. Es wäre wirklich an der Zeit, den Dokumentarstreifen in voller Länge auf DVD zugänglich zu machen. Sonst bleibt es beim „Herrschaftswissen“. So kommt zum dicken Lob für die Neuerscheinung nun doch ein kritischer Einwand hinzu. Die noch so ausführlichste Beschreibung ist zwar gut überlegt, doch letztlich kein Ersatz des Originals.
Meister der Inszenierung! Mir scheint, Daniel Ender hat mit der Wahl dieses Untertitels seines Buches das Wesen des Lebenslaufes von Strauss genau erfasst. Insofern kann es ein Grundstock der noch zu schreibenden großen Biographie sein, die bei diesem Autor in guten Händen läge. Jung genug für diese große Aufgabe ist er ja.
Rüdiger Winter
Daniel Ender: Richard Strauss – Meister der Inszenierung, Böhlau Verlag Wien, Köln, Weimar, 349 Seiten, 27 Abbildungen, ISBN 978-3-205-79550-6
P.S. Wie Daniel Ender inzwischen dankenswerter Weise mitteilte, wird die Dokumentation, die nur wenige Minuten dauert, auch im Bundesfilmarchiv Berlin aufbewahrt: http://www.bundesarchiv.de/benutzungsmedien/filme
Wer bei der Salzburger Arabella, Ostern 2014, genau hingehört hat, dem ist nicht entgangen, dass sich die Fiakermilli im zweiten Aufzug irgendwie anders anhörte. Sie hatte auch mehr zu singen als sonst. Wie das? In den einschlägigen Kritiken, die ich gelesen habe, fiel dieser Umstand nicht auf. Ein neues Buch gibt Aufschluss. Es handelt sich um das Richard Strauss Handbuch, pünktlich zum 150. Geburtstag des Komponisten auf den Markt gelangt. Auf Seite 232 ist nachzulesen: „Auf Wunsch des Dirigenten Clemens Krauss erweiterte Strauss im Juli 1942 für eine Neuinszenierung bei den Salzburger Festspielen das Lied der Fiakermilli … um eine achtzeilige Strophe, zu der Rudolf Hartmann den Text lieferte … “ Dieser Zusatz fehle aber in allen Ausgaben – was angesichts des genialen Librettos von Hugo von Hofmannsthal nur zu verständlich ist. Offenbar blieb Strauss doch beim Original. Ist das der Grund dafür, dass die im gleichen Jahr – nämlich 1942 – in Salzburg entstandene Aufnahme, die bei verschiedenen Labels erschienen ist, ebenfalls auf den Zusatz verzichtet? Im Buch führt Ulrich Konrad, Autor des entsprechenden Kapitels, das von Krauss dirigierte Tondokument zwar unter den diskographischen Hinweisen, eine Begründung für die Weglassung liefert er nicht. Dass sich im Strauss-Jahr 2014 Regisseurin Florentine Klepper und Dirigent Christian Thielemann in Salzburg zu der Erweiterung, die allerdings musikalisch nicht sehr viel hermacht, entschlossen haben, ist sehr löblich. So stellt man sich Festivalarbeit vor.
Das Handbuch ist voller solcher interessanter Details, die Fassungen betreffend. Manchmal gibt es sich auch einsilbig. So ist beispielsweise der große Strich in Elektra nicht thematisiert. Im Original hat Elektra in der Auseinandersetzung mit Klytämnestra zum Schluss hin gute dreißig Zeilen mehr Text und Musik. Komplette Aufführungen scheiterten oft daran, dass sich Sängerinnen – wie beispielsweise Inge Borkh – diese enorme zusätzliche Leistung nicht zutrauten. Birgit Nilsson traute sich unter Studiobedingungen mit Georg Solti am Pult bei der Decca. Beim Hinweis auf die Einspielung hätte dieser wichtige Zusatz einem Handbuch wie diesem gut gestanden. Es wäre auch dringend erforderlich gewesen, in der knapp gehaltenen Diskographie zur Frau ohne Schatten die Wiener Produktion von 1955 unter Karl Böhm zu nennen, die bis heute künstlerisch nicht überboten werden konnte. Vergeblich sucht man auch die erste komplette Einspielung, die Wolfgang Sawallisch seinerzeit für die EMI leitete und die bei ihrem ersten Erscheinen 1987 großes Aufsehen erregte. Apropos EMI. So sinnvoll diskographische Tipps im Grunde sind, viele waren bei Erscheinen des Buches bereits hinfällig. EMI, die Maßstäbe setzte bei Strauss-Produktionen, gibt es nicht mehr, und damit sind auch die Bestellnummern verfallen. Pech gehabt.
Im Großen und Ganzen aber reflektiert dieses Buch den aktuellen Stand der Forschung und der praktischen Beschäftigung mit Strauss – auch in seinem kulturpolitischen Wirken, das sich umfangreich dargestellt findet. Ein willkommenes Angebot ist der weiterführende Literaturapparat zu einzelnen Werken und Werkgruppen, der dem praktischen Handbuch wissenschaftlichen Standard verleiht. Entsprechend der Gewichtung im Gesamtwerk bilden die Opern die größte Abteilung mit Inhaltsangabe, Orchesterbesetzung, Entstehungsgeschichte, Kommentar. In den Beschreibungen der Wirkung der Opern führen Verknappungen auch zu Verzerrungen. So ist von „wichtigen Inszenierungen“ die Rede, die in ihrer Wichtigkeit aber nicht erklärt werden, schon aus Platzgründen dürfte das nicht möglich gewesen sein. Auch über die Nennung der „allerbesten Sänger“ ließe sich streiten. Da fehlen zu viele Namen, und nicht alle, die genannt werden, haben das verdient in einem Buch, das für lange Zeit verbindlich sein will. Dicht gedrängte Materialfülle ohne Ende breiten die beiden Kapitel über das Liedschaffen aus, das mit etwa zweihundert Titeln nicht eben klein ist. Autoren sind Elisabeth Schmierer und Christian Thomas Leitmeir. Sie arbeiten die Unterschiede zwischen Klavierliedern und Orchesterliedern genau heraus, ordnen das Liedschaffen in das Gesamtschaffen ein, heben auf die literarischen Vorlagen ab usw. Spannend ist der Hinweis auf die Orchestrierung des Liedes Ganymed von Franz Schubert durch Strauss, das den Beginn der eigenen Beschäftigung mit dieser Liedform markierte, die ihn bis ans Lebensende begleitete. Auch das sagenumwobene allerletzte Klavierlied Malven findet gebührende Würdigung. Thielemann hatte es ebenfalls bei den Salzburger Osterfestspielen auf sehr spektakuläre Weise ins Programm genommen, indem er von Wolfgang Rihm eine Orchesterfassung herstellen ließ, die in den Vortrag der traditionellen Vier letzten Lieder durch Anja Harteros an zweiter Stelle eingegliedert wurde. So wurden aus ursprünglich vier, fünf letzte Lieder. Auch das hatte Festivalniveau. Im Buch konnte diese Lösung noch keine Berücksichtigung finden. Nur so viel ist zu erfahren: Strauss hatte das 1948 komponierte Lied im Todesjahr 1949 der ihm sehr verbundenen Maria Jeritza übereignet, die es Zeit ihres Lebens für sich behielt. Erst 1985 – die Jeritza war 1983 gestorben – wurde das Lied durch Kiri Te Kanawa in New York uraufgeführt.
Allenthalben bekommen Leser einen tiefen Einblick in die Werkstatt des Komponisten. Interessant sind in diesem Zusammenhang Passagen aus dem Handexemplar des Komponisten von Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, die Rückschlüsse auf die Kompositionen zulassen. Beleuchtet wird das Verhältnis zu den Kollegen seiner Zeit mit konkreten Auflistungen von deren Werken, was zu erstaunlichen Vergleichen anregt. Überhaupt macht das Buch in seiner Fülle, die hier nicht annährend erfasst werden kann, Lust, sich Strauss und seinem Umfeld mit neuem Erkenntnisgewinn verstärkt zuzuwenden. Es ist kein Buch, das man auf einen Ritt von vorn bis hinten durchliest. Es will ein begleitendes Nachschlagewerk sein, das zur Hand ist und nicht zu weit oben im Regal stehen sollte, das seiner guten Übersichtlichkeit wegen einen schnellen Zugriff zu allen Werkgruppen zulässt und – ganz wichtig – im Anhang ein Werkverzeichnis enthält. Das ist schon deshalb nötig, um Strauss in seiner Gesamtheit besser verstehen zu können und ihn nicht auf seine populärsten Erfindungen zu reduzieren und festzulegen. Das Buch ist gut lesbar, auch dem musikalischen Laien verständlich, es kommt nicht belehrend daher, sondern vermittelt seinen Gegenstand mit Sachlichkeit und Offenheit.
Rüdiger Winter
Richard Strauss Handbuch, Herausgegeben von Walter Werbeck, Verlag Metzler / Bärenreiter, 583 Seiten, ISBN 978-3-476-02344-5 (Metzler), ISBN 978-3-7618-2058-2 (Metzler/Bärenreiter)