Es rast im Orchester. Zu wilder Hatz werden die Streicher angefacht. Ich kenne keine andere Musik, die die Flucht eines Menschen vor seinen Häschern so glaubhaft ausdrückt wie das Vorspiel zu Richard Wagners Walküre. Natürlich stellt sich diese Wirkung nicht von selbst ein. Es braucht den richtigen Dirigenten. Einen vom Schlage Georg Soltis. Der hat das Zeug dazu. Er holt aus den Musikern heraus, was möglich ist, legt im richtigen Moment lieber noch nach, als dass er zurück nimmt oder dämpft. Zurückhaltung ist seine Sache nicht in dieser Sturmmusik. Er haut drauf. Ich bekenne freimütig, dass mir das im Moment gefällt. Etwas anderes kommt gar nicht in Frage. So und nicht anders. Solti ist ein Verführer. Und er ist einer von den Männern am Pult, die mich live mehr ansprechen und überzeugen als im Studio, wo das Feuer, das er entfacht, nicht ganz so heiß ist wie bei einer Aufführung, für die er brennt.
Der Testament-Mitschnitt, um den es hier geht, stammt vom 2. Oktober 1961 aus dem Royal Opera House, Covent Gaden, London. Im gleichen Jahr hatte er sein Amt als Chef dieses Hauses angetreten, das er zehn Jahre lang innehatte. Was für ein fulminanter Auftakt, der seinen internationalen Ruf als Wagner-Dirigent entscheidend mitbestimmen sollte. Seine Einspielung des bis heute unerreichten Ring des Nibelungen mit den Wiener Philharmonikern hatte zwar bereits 1958 mit dem Rheingold begonnen. Erst 1965 – also vier Jahre nach Soltis Einstand in London – wurde sie mit der Walküre fortgesetzt. Bis auf Hans Hotter als Wotan gibt es zum Glück keine Überschneidungen mit der Studioproduktion. Selbstverständlich ist das nicht. Die Wagnersche Sängerelite reiste seinerzeit ständig um die Welt. An allen großen Häusern gab es deshalb ähnliche Besetzungen. Dank London ist die sängerische Vielfalt größer.
Hotter kommt ans Ende seiner Möglichkeiten, je weiter die Aufführung voran schreitet. Er klingt ziemlich hohl und fahl. Was er aber gestalterisch herausholt, gleicht manches stimmliche Manko aus. Seine Monologe sind wie Krimis. Er zwingt einen, dabei zu bleiben. Hotter ist weit davon entfernt, zum Problem des Mitschnitts zu werden. Er hat erstaunliche Reserven. Mit unerbittlicher Schärfe fährt Rita Gorr als Fricka auf und fällt etwas aus dem Rahmen – und ihrem Wotan hörbar auf die Nerven.
Anita Välkki, die ihre finnische Herkunft auch im Namen trägt, ist die Brünnhilde. Es war ihr erster Auftritt außerhalb Skandinaviens. Ihr leuchtender Sopran ließ aufhorchen. Sie verkörperte im Vergleich zu Mödl, Varnay und Nilsson einen neuen, jugendlichen Typ. Das kam an und gefiel. Sie blieb einige Jahre in London und wurde an viele Häuser weltweit engagiert. 1963 und im Folgejahr wurde sie zu den Bayreuther Festspielen eingeladen, wo sie aber nur die Walküren-Brünnhilde und die 3. Norn in der Götterdämmerung sang. Als Norn wirkte sie auch in der bereits erwähnten Studioaufnahme Soltis mit. Viel mehr Dokumente gibt es nicht. Was ihre weitere künstlerische Entwicklung anbelangt, ist die Nachwelt auf Mutmaßungen und persönliche Erinnerungen von Zeitzeugen angewiesen. Sie lässt sich nicht genau belegen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie schon 1961 über ihre Verhältnisse gesungen hat. Spitzentöne sind oft nicht kontinuierlich erzeugt. Sie reißt die Stimme nach oben, muss Kraft und Energie nachschießen. Ihr Deutsch ist für die damaligen Verhältnisse nicht gut genug. Im Ausdruck bleibt sie hinter den anderen Mitwirkenden um Längen zurück.
Den Ton der gesamten Produktion geben Jon Vickers und Claire Watson als Wälsungenpaar Siegmund und Sieglinde an. Bei beiden ist nicht nur jedes Wort zu verstehen, einschließlich der Konsonanten. Die Partien gehen ihnen wie von selbst über die Lippen. Nichts ist ertrotzt oder erzwungen, sie schöpfen aus dem Vollen. Es gibt nicht die geringsten Schwächen. Sie liefern absolut glaubhafte Rollenporträts ab. Wie Vickers mit seinen an sich ziemlich schweren Tenor Lyrik vom Feinsten erzeugt, macht Staunen. Er legt die gesamte Partie sehr verhalten an, weshalb die Todesverkündigung wie ein Nachtgesang schwebt. Dieses eine Mal hätte ich mir gewünscht, dass Siegmund überlebt. Es ist ein bisschen wie auf einer Partie, wenn der interessanteste Gast zu früh geht. Es wird langweiliger im dritten Aufzug. Michael Langdon, ein in London gefeierter Ochs auf Lerchenau kann als Hunding ziemlich finster und böse werden. Exklusiv ist das Walküren-Ensemble besetzt, darunter Marie Collier, Margareta Elkins und Josephine Veasey. Solti entfacht nicht nur hochdramatische Ausbrüche, er ist an den richtigen Stellen auch ein sehr diskreter Begleiter, der seine Sänger sicher durch den langen Abend trägt.
Der Mitschnitt ist bei Testament in Stereo erschien (SBT4 1495), obwohl auf der Hülle der Box von Mono die Rede ist. Wie bei diesem Label üblich, wird auch diesmal auf die Originalbänder zurückgegriffen, die bei der BBC liegen. In Sammlerkreisen ist die Aufnahme seit längerem, aber in weniger gutem Sound, in Umlauf. Sofort entsorgen! Was jetzt vorliegt, kommt einer Offenbarung gleich.
Rüdiger Winter