Wilhelm Furtwängler hat sich zeitlebens mit Beethovens Neunter auseinander gesetzt. Er hat das Werk nach Recherchen des Musikpublizisten Herbert Haffner, der eine umfangreiche Biografie über den Dirigenten verfasste, einhundertdrei Mal aufgeführt. Nach bisherigem Stand haben sich dreizehn Aufnahmen erhalten, zwölf sind im Laufe der Jahre zugänglich gewesen, ein Mitschnitt von 1949 aus der Mailänder Scala befindet sich angeblich in Privatbesitz. Welche ist die ergreifendste, gelungenste, gar beste? Darüber ließe sich trefflich streiten. Und es wird auch immer noch gestritten. Fest hingegen steht nur eines: Der Mitschnitt vom 22. August 1954 aus dem Kunsthaus Luzern ist der letzte. Zunächst war er beim Label Tahra in sehr angemessener Klangqualität zu haben. Jetzt hat sich Audite noch einmal die Originalbänder des Rundfunks vorgenommen und ein Remastering auf den Markt gebracht, das diesen Namen auch verdient (95.641). SRF (Schweizer Radio und Fernsehen) hat die Konzerte des traditionsreichen Lucerne Festival, das 1938 mit dem von Arturo Toscanini geleiteten „Concert de Gala“ begann, übertragen. Daraus hat das Label Audite seine eigene Reihe mit – wie es im Booklet heißt – „herausragenden Konzertmitschnitten“ entwickelt. Man darf also gespannt sein, was als nächstes folgt.
Furtwängler hatte die Sinfonie 1954 zweimal aufgeführt. Das erste Konzert fand am 21. August statt. Es spielt das von EMI-Chefproduzent Walter Legge ursprünglich als reines Schallplattenochester gegründete Philharmonia Orchestra London, es singt der Festivalchor Lucerne. Die Solisten sind Elisabeth Schwarzkopf (Sopran), Elsa Cavelti (Alt), Ernst Haefliger (Tenor) und Otto Edelmann (Bass). Ein Vierteljahr nach dem Gastspiel, nämlich am 30. November, ist Furtwängler gestorben. Von zunehmender Schwerhörigkeit geplagt, vom schwierigen Neubeginn nach dem Ende des Nationalsozialismus mit dem zähen Entnazifizierungsverfahren zermürbt, soll ihn der Lebenswille verlassen haben.
Es ist darüber spekuliert worden, ob das nahe Ende in dem Konzert gar schon anklingt. Im Nachhinein weiß man es immer besser. So verführerisch derlei Gedankenspiele sind, ich halte davon nichts. Dafür gibt es zu viele Übereinstimmungen mit vorangegangenen Aufnahmen. Etwa mit der Aufführung der Sinfonie bei der Eröffnung der ersten Bayreuther Festspiele nach dem Krieg am 29. Juli 1951. Der Mitschnitt ist offiziell bei der EMI herausgekommen und immer wieder neu aufgelegt worden. Die Schwarzkopf und Edelmann waren auch schon dabei. Der unbestimmte, zögernde, ja nervöse Beginn, wie ihn nur Furtwängler hinbekam, das breite Zeitmaß, das hintergründige Scherzo mit den harten, erbarmungslosen Pauken, das hingebungsvolle Adagio, in dessen Verlauf die Zeit stehen zu bleiben scheint, der Mut zu Pausen, in denen sich die Spannung bis zur Unerträglichkeit aufbaut, die Wucht des Finales mit dem rasenden Einstieg, den peitschenden Becken, dem Drängen, der beängstigenden Eile zum Schuss hin. Das exklusive Solistenquartett, aus dem sich die einzelnen, sehr individuellen Stimmen deutlich herausheben und der Chor stehen genau so unter Furtwänglers Bann. Sie sind wie angesteckt. Mehr geht nicht. Ist der letzte Ton verklungen, ist es auch wie eine Erlösung. Länger hält man Furtwänglers Hochspannung nicht aus.
Rüdiger Winter