Klänge der Heimat

Rafael Kubelik – Legendary and Rare Recordings: Die neue Box von The Intense Media (600182) wird dem eigenen Anspruch mehr als gerecht. Um aus seinem umfangreichen Nachlass an Plattenaufnahmen eine Auswahl für zehn CDs zu treffen, ist ein klares Konzept gefragt. Das Label entschied sich – wohl auch aus rechtlichen Gründen – für die frühen Einspielungen. Eine gute Wahl. Dafür muss allerdings in Kauf genommen werden, dass es sich durchweg um Mono-Aufnahmen handelt. In diesem Fall stört das überhaupt nicht. Schließlich gibt es auch bei fast allen Werken die Alternative in breitestem Stereo.

Kubelik ist ein Weltbürger gewesen. Diese geistige Weitläufigkeit steckt in ihm, sie ist aus seinen Interpretationen heraus zu hören. 1948 hat er seine böhmische Heimat, die dem Stalinismus besonders heftig anheimgefallen war, Richtung USA verlassen. Er wirkte sehr nachhaltig in den großen Musikzentren der westlichen Welt und hatte eine lebenslange Neigung zur Oper. In London setzte er sich nachhaltig für Hector Berlioz und seine Troyens ein. Nach dem Zerfall des sozialistischen Regimes kehrte er 1990 im Triumph in seine Heimat zurück und eröffnete mit Smetanas Mein Vaterland das traditionsreiche Musikfestival „Prager Frühling“. Kubelik, seit 1973 schweizerischer Staatsbürger, fand auf dem Vyšehrader Friedhof in Prag seine letzte Ruhe – in prominenter Gesellschaft. Die Destinn, Dvorák, Schmetana, der Maler Mucha und viele andere haben dort ihre Gräber.

Kubelik hat die Musik seiner Heimat mit in die Welt genommen. Das schlägt sich auch in seiner umfänglichen Diskographie nieder – und folglich auch in der Box. Immer wieder Dvorák. Er war für ihn wie eine Rückversicherung. In die Edition wurden die Sinfonien 7-9 übernommen, mit den Wiener Philharmonikern (7 und 9) und dem Philharmonia Orchestra London (8) eingespielt. Es klingt viel Schwermut an, der langsame zweite Satz der Sinfonie Aus der Neuen Welt ist in Teilen wie auf die Intimität eines Streichquartetts konzentriert. So zart dürfte dieses Largo mit seinen fast dreizehn Minuten selten geklungen haben. Hinzu kommen die Slawischen Tänze und das dunkel leuchtende Cello-Konzert. Die früheste Aufnahme in der Box ist die gelegentlich wild auffahrende üppige Tondichtung Hakon Jarl von Smetana, die thematisch der norwegischen Geschichte entlehnt ist, eingespielt 1945 mit dem Tschechischen Radio Symphony Orchester. Für ihr Alter klingt diese Aufnahme frisch und prachtvoll.

Einen gewichtigen Block für sich bilden die vier Sinfonien von Brahms, die Kubelik 1957 ebenfalls mit den Wiener Philharmonikern eingespielt hat. In der 3. Sinfonie, der sogenannten „Wiesbadener“, ist der Dirigent ganz in seinem Element. Clara Schumann hat die Sinfonie, die gelegentlich eines Kuraufenthaltes im Sommer 1883 in Wiesbaden entstand, so poetisch wie präzise in einem Brief an den Komponistenfreund beschrieben: „Wie ist man von Anfang bis zu Ende umfangen von dem geheimnisvollen Zauber des Waldlebens! Ich könnte nicht sagen, welcher Satz mir der liebste. Im ersten entzückt mich schon gleich der Glanz des erwachten Tages, wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume glitzern, alles lebendig wird, alles Heiterkeit atmet, das ist wonnig! Im zweiten die reine Idylle, belausche ich die Betenden um die kleine Waldkapelle, das Rinnen der Bächlein, Spielen der Käfer und Mücken – das ist ein Schwärmen und Flüstern um einen herum, daß man sich ganz wie eingesponnen fühlt in all die Wonne der Natur. Der dritte Satz scheint mir eine Perle, aber es ist eine graue, von einer Wehmutsträne umflossen; am Schluss die Modulation ist ganz wunderbar. Herrlich folgt dann der letzte Satz mit seinem leidenschaftlichen Aufschwung: Das erregte Herz wird aber bald wieder gesänftigt, zuletzt die Verklärung, die sogar in dem Durchführungs-Motiv in einer Schönheit auftritt, für die ich keine Antwort finde.“ Unter den Händen von Kubelik ist das alles ganz genau nachzuhören.

Rüdiger Winter