Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Der einsame Held

 

Jon Vickers ist tot. Er starb am 11. Juli 2015 in seiner kanadischen Heimat. Vickers litt an Alzheimer. Seine Familie hat das nicht verschwiegen. Ich hole mir wieder seine Aufnahmen hervor. Dazu muss ich auf die Knie gehen. Denn Vickers steht ganz unten im Regal, weil sein Name mit V beginnt. Ich tue es gern, weil es mir eine angemessene Körperhaltung scheint, seinem Andenken zu huldigen. Seit langem denke ich immer über ein anderes Ordnungsprinzip nach. Jene Sänger, die mir wichtig sind, müssen endlich weiter nach oben, auf Augenhöhe. Jetzt wird mir wieder klar, wie sinnvoll das wäre. Einer wie Vickers gehört nicht ins Souterrain. Was also wieder hören? Siegmund, Tristan, Énée, Samson? Oder doch lieber den Messiah? Auch den Gerontios von Elgar habe ich mir lange nicht vorgenommen, die Winterreise ebenfalls nicht. Ich höre Schumanns Dichterliebe. In deutscher Sprache, mitgeschnitten bei einem Konzert 1967 in New York. Genau danach ist mir. Wieder staune ich, wie flexibel dieser Tenor mit seiner voluminösen Stimme umgehen konnte. Er nimmt sich ganz zurück, dreht die Stimme zu Flüstertönen herunter, macht sie so zart und zerbrechlich, dass aus Musik Farbe wird. Ist das nun Poesie oder Technik? Es wird wohl eine Mischung aus beidem sein. Zumindest ist dieses lyrische Vermögen bei Vickers umso erstaunlicher, weil der Sänger ja eher mit dem hochdramatischen Fach in Verbindung gebracht wird. Seine Ausbrüche ließen die größten Häuser erschüttern. Schumann ist davon weit entfernt. Er geht nach innen, nicht nach außen.

Diese CD mit italienischen Arien, jetzt beim Label VAI, trug zum Ruhm des Sängers entscheidend bei.

Diese ehemalige RCA-CD mit italienischen Arien, jetzt beim Label VAI, trug zum Ruhm des Sängers entscheidend bei.

Ich schätzte Vickers über die Maßen. Nicht sofort und auf Anhieb war das so – aber mit der Zeit immer stärker. Warum? Weil er seinen Rollen ein unverwechselbares Siegel einbrannte, sich nicht um Vorbilder scherte und immer aufs Ganze ging. Ich höre da einen unbeugsamen Willen, mit dem er sich in den Mittelpunkt jeder Aufnahme oder Aufführung zu singen versuchte. Das macht ihn nicht immer sympathisch. Seine Partnerinnen und Partner hatten es gewiss schwer, dagegen anzusingen, mit etwas Gleichwertigem aufzuwarten. Gleichwertig im Sinne von Ekstase, Individualität, Unverwechselbarkeit und eiserner Entschlossenheit. Schöngesang allein konnte ihn nicht ausstechen. Es mussten andere Kaliber sein. Vielleicht war ihm ja nur die Callas gewachsen. Sie soll ihn sehr geschätzt haben. Beide sind mehrfach gemeinsam in der italienischen Fassung von Cherubinis Medea aufgetreten. 1958 in Dallas, 1959 in London, 1961 an der Mailänder Scala. Davon sind Mitschnitte erhalten.

Otello ist von Desdemonas Untreue besessen - Screenshot aus dem Film.

Otello ist von Desdemonas Untreue besessen – Screenshot aus dem Film von Herbert von Karajan.

Vickers stand damals am Anfang seiner internationalen Karrieren, die 1957 mit Gustavo in Verdis Ballo in maschera in Covent Garden begonnen hatte. Erst fünf Jahre später gelangte ein Mitschnitt ins Radio, der inzwischen auf CD in der Heritage Series des Royal Opera House herausgekommen ist. Vickers, den ich nur von seinen Aufnahmen kenne, sticht immer heraus. Ein Ton genügt. Noch bevor man zur Kenntnis genommen hat, wer noch mitsingt, Vickers ist schon da. Manchmal kommt es mir vor, als sei er zu egoistisch gewesen im Ensemble, habe auf seine Partner nicht genug Rücksicht genommen. Er ist mehr Solist und Einzelkämpfer denn jemand, der sich harmonisch in eine Szene einordnet, in der mehrere gleichzeitig singend zusammenwachsen. Selbst bei Duetten gibt es diese Neigung, sich selbstständig zu machen. In Wahrheit dürfte er nicht anders gekonnt haben. Seine Wucht der Interpretation ist raumverdrängend. In den dramatischen Steigerungen wie in der Zurücknahme. Es ist immer hundert Prozent Vickers. Nie weniger. Allenfalls mehr.

Otello mit Mirella Freni als Desdemona – für die Unitel-DG von Herbert von Karajan in Szene gesetzt.

Wenn ich an Vickers denke, denke ich an seinen Tristan, an die letzten Minuten des zweiten Aufzuges – wenn der ratlose Marke am Ende seiner berühmten Klage dem “geheimnisvollen Grund“, nachsinnt, warum Tristan ausgerechnet ihn verriet. Und jetzt kommt es: „O König, das kann ich dir nicht sagen / und was du frägst, das kannst du nie erfahren. / Wohin nun Tristan scheidet / willst du, Isold’, ihm folgen? / Es ist das dunkel / nächt’ge Land / daraus die Mutter mich entstand…“ Für mich muss es die EMI-Studioproduktion unter Herbert von Karajan von 1972 sein. Alle anderen Aufnahmen – es gibt an die zehn Mitschnitte – kommen da nicht heran. Sie allein schafft es, dass das Werk genau an der Stelle ins Transzendentale abhebt. Zumindest habe ich es immer so empfunden. Ich kenne und höre keine Isolde, die ihm gleichwertig gewesen ist. Birgit Nilsson war es allenfalls durch stimmliches Volumen, Kraft und Ausdauer. Beide waren gut aufeinander eingespielt. Ins Land, das Tristan meint, in dem der Sonne Licht nicht scheint, vermochte sie ihm nicht zu folgen. Von Helga Dernesch, Gwyneth Jones, Janis Martin, Berit Lindholm, Janice Yoes oder Roberta Knie ganz zu schweigen. Vickers bleibt stets einsam und auf sich gestellt. Ohne Zweifel wäre ihm vielleicht die Mödl in ihren besten Jahren als Isolde gewachsen gewesen. Was seine Anhänger schätzen an seinem Tristan, störte seine Kritiker, für die er zu brachial gewesen ist. Einen Weg dazwischen findet der englische Komponist Robin Holloway, den Jürgen Kesting in seinem Standardwerk über die großen Sänger zitiert: „Er ist absolut authentisch und auf extreme Weise schmerzlich – das Rasen eines verwundeten Tieres, was Melchior sein könnte, wäre er nicht so ununterdrückbar gutgelaunt.“ Es könne nicht den geringsten Zweifel geben am Rand dieser Tour de force, aber es bleibe ein Extrem – etwas Einzigartiges, als ob die Geschichte dieses eine Mal wahr wäre. Und nun der entscheidende Satz: „Ich kann keinen höheren Tribut zollen; aber ich möchte das nie wieder hören müssen.“ Das sitzt. In ihrer Zuspitzung ist das eine der treffendsten Äußerungen über Vickers, die ich kenne.

Das große Foto oben ist ein Screnshot auf der Pagliacci-Verfilmung unter der Leitung von Karajan.

Das Foto oben ist ein Screenshot aus der „Pagliacci“-Verfilmung unter der Leitung von Karajan bei Unitel-DG

Selbst kam ich über Umwege zu Vickers. Er ist – so meine Erfahrung – nichts für junge Ohren. Nachdem ich mich an Windgassen und Melchior gewöhnt hatte, die doch immer auch so schön singen, brachte jener mein ganz persönliches Weltbild vom Wagnergesang ins Wanken. Er holte mich heraus aus dem Elfenbeinturm des Vorgefassten und eröffnete mir eine viel tiefer gehende Vorstellung künstlerischer Gestaltungsmöglichkeiten. Vickers verunsicherte mich. Er lehrte mich, dass Zuhören mitunter sehr unbequem sein kann. Ich fühle mich bei ihm immer genötigt, über das, was ich gerade gehört habe, nachzudenken oder mit Gleichgesinnten zu diskutieren. Das Letzte, was er mir vermittelte, ist Genuss. Ich finde ihn anstrengend. Er taugt nicht zur Projektionsfläche und ist kein gefundenes Fressen für Fanclubs.

Menschen, die Opern hören und sich mit Sängern gut auskennen, vergleichen gern. Sie wollen herausfinden, wer am besten ist. Dabei kommen ganz unterschiedliche Sachen heraus. Im dem Maße, wie solche Vergleiche Spaß machen, hinken sie. Manchmal kommt es mir so vor, als ob es gewisse Gemeinsamkeiten zwischen Vickers und Max Lorenz gibt. Sonst fiele mir niemand ein. Beide haben Tristan, Siegmund und Parsifal gesungen, auch Otello. Aus der Wiener Staatsoper hat sich von 1942 das so genannte Racheduett mit Lorenz und Mathieu Ahlersmeyer als Jago erhalten. Hinter dem Vorhang einer abenteuerlichen Akustik stürzt sich dieser Otello fast schon in selbstmörderischer Absicht hinunter in die Tiefen seiner Verzweiflung, und löst genau das aus, was Holloway über Vickers schreibt. Lorenz reißt so stark mit, dass man es fast nicht aushält und sich nur davor retten kann, dass man es nie wieder hört. Wie Lorenz ist Vickers der verletzte, der verwundete Held.

CD Walküre Leinsdorf Vickers

Der Siegmund in dieser DECCA-Studioproduktion der „Walküre“ gilt als eine der besten Leistungen von Vickers.

Vickers hat eine beachtliche Zahl von Tondokumenten hinterlassen, meistens Mitschnitte. Nicht alle sind ganz legal auf Tonträger gelangt. Mit sechzehn oder gar noch mehr Aufnahmen, ist der Siegmund in der Walküre Spitzenreiter. Meine Wahl fällt auf die Studioaufnahme der Decca unter Erich Leinsdorf von 1961. Das Pendent dazu ist der von Georg Solti geleitete Londoner Mitschnitt aus demselben Jahr, der erst kürzlich offizielle bei Testament herausgegeben wurde. Noch immer ist nachzuvollziehen, warum Vickers damals so aufhorchen hinterließ. Sein Porträt der Rolle, das so tief blicken lässt in die Seele eines Verfolgten, hat mit den Jahren nichts von seiner packenden Intensität verloren. Er verzichtet auf jedwedes Machogehabe. Beide Dokumente sind Vickers pur. Eine ganze Aufführungsserie von 1975 aus der Met ist darunter. Zweimal ist noch Birgit Nilsson die Sieglinde. Wagner vom Meter. Wer soll das alles hören? Wenngleich viele Sammlerherzen da höher schlagen. Gewiss. Aber macht es wirklich Sinn, wenn auch noch der so und so vielte Mitschnitt im heimischen Regal landet? Opern werden doch nicht aufgeführt, damit sich auch noch der hundertste Mitschnitt auf den Ramschtischen oder bei elektronischen Tauschbörsen wiederfindet.

Im Melodram „Enoch Arden“ von Richard Strauss, das bei VAI erschien, tritt Vickrs als Erzähler in Erscheinung.

Ich kann verstehen, wenn sich Sänger selbst nicht für ihre Aufnahmen interessieren und die Sammelei lieber ihren Fans überlassen. Mitschnitte dokumentieren in ihren Voyeurismus auch die Schwächen, Patzer, die Müdigkeit und den Überdruss, sich schon wieder ins selbe Kostüm zwängen zu müssen. Auch Vickers ist nicht einen Tag wie den anderen. Das macht ihn mir menschlich. Er kann an Grenzen kommen, zumal er ja auf diesen Tonbändern nicht zu sehen ist. Zuviel Vickers in schlechten Tagen ist der Verehrung abträglich. Ich kann ihn nur dosiert hören. Tristan und Isolde wurde schon erwähnt. Fidelio und Samson et Dalila  sind auch mehrfach vorhanden, Aida und Carmen ebenfalls. Bei diesen Werken neige ich letztlich zu den Aufnahmen im Studio, weil sie die überbordende Wucht und Raubeinigkeit dieses Tenors besser integrieren und – wenn nötig – abmildern. Hole ich mir nach einer gewissen Abstinenz mal wieder den Pagliacci-Film Karajans hervor, rührt mich dieser Canio in seiner selbstzerstörerischen Verzweiflung zu Tränen. Mehr noch als der Otello, ebenfalls von Karajan opulent in Szene gesetzt – im Vergleich mit dem unverwüstlichen Leoncavallo-Dauerbenner aber deutlich konservativer. Die Troyens von Berlioz unter Colin Davis bei Philips möchte ich nicht missen. Den Peter Grimes von Britten auch nicht. Vickers hat mit dazu beigetragen, dass diese Werke ihren Platz auf den Spielplänen gefunden haben, obwohl Tenöre in seiner Nachfolge beide Figuren weiter verfeinerten. Von Vickers sind Impulse ausgegangen.

The best of: Die EMI hatte auf dieser CD Ausschnitte aus diversen Aufnahmen zusammen gestellt.

The best of: Die EMI hatte auf dieser CD Ausschnitte aus diversen Aufnahmen zusammen gestellt.

Jetzt, nach seinem Tod, dürfte noch manches hinzukommen. So lehrt es die Erfahrung. Vielleicht der Duca in Rigoletto, der Ferrando in der Cosi oder der Alfred in der Fledermaus? Diese Rollen hat er auch gesungen in seiner frühen kanadischen Zeit, als er noch Zweifel hatte, ob er es je zu etwas bringen würde als Sänger. Es ist nicht auszuschließen, dass sich Mitschnitte erhalten haben, zumal an den Produktionen auch der Rundfunk beteiligt war. In amerikanischen Sammlerkreisen soll sein Sergej in Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk von 1964 aus San Francisco mit Marie Collier in der Titelrolle kursieren. Etwas mehr Vielseitigkeit könnte der Vickers-Rezeption nicht schaden. Mit dem Laca in Jenufa brach er 1974 an der Met aus dem Kanon der traditionellen schweren Heldenpartien aus. An diesem Haus landete er 1978 noch einen ganz unerwarteten Coup mit dem Wenzel in der Verkauften Braut (in Englisch). Bei seinem Erscheinen schüttet sich das Publikum aus vor Lachen. Es ist ein trügerischer Spaß. Sobald Vickers nämlich den Mund aufmacht, wird einem selbst in diesem rein akustischen Dokument klar, dass es gar nichts zu lachen gab. Rüdiger Winter

Lohengrin und das blaue Himmelbett

Peter Anders Ein Stern in dunkler Zeit. In gut gemeinter Absicht wird dieses poetische Etikett dem Sänger nachträglich angeheftet. Als müsse eine Entschuldigung dafür her, dass seine beispiellose Karriere während des Nationalsozialismus begann. Wann denn sonnst? Anders, 1908 in Essen geboren, debütierte 1932 in Heidelberg, kam 1928 nach München und wurde im ersten Kriegsjahr 1939 an die Berliner Staatsoper berufen. Dort eilte er von Erfolg zu Erfolg. Er war ein Liebling des Publikums. Ich bezweifle stark, dass er – wie ein Stern – Licht in das düstere Dasein der Unterdrückten und Verfolgten bringen wollte. Das wäre in seinem Fall zuviel verlangt. Er wollte singen, sonst nichts. In der 10-CD-Collection von Membran (233506) sind etliche Aufnahmen aus seinen frühen Jahren zusammengestellt worden. Sie klingen flott, verbreiten gute Laune. Der Kanonendonner und die Schlachtfelder sind weit weg. Melodienfolgen aus Lehár Lustiger Witwe (1935) und Kálmans Csárdásfürstin (1934) sind dabei. In seinem jugendlichen Überschwang scheint Anders wie geboren für dieses Fach. Überhaupt ist Franz Lehár, der der heimliche Lieblinskomponist Hitlers war, auffällig stark präsent. Als Potpourris wurden Mitte der dreißiger Jahre lockere Zusammenstellungen mit Titeln wie Rendezvous bei Lehár oder Peter Anders bei Franz Lehár produziert. Verführerisch lockt das „Blaue Himmelbett„. Dazu wurden auch schon mal die Berliner Philharmoniker bemüht. Querschnitte durch Bettelstudent (gleich zweimal, 1934 und 1936) von Millöcker und Fledermaus von Strauß runden das ausgesprochen heitere Angebot aus „dunkler Zeit“ ab. Anders hat die richtigen Partnerinnen. Mit der Finnin Aulikki Rautawaara (Csárdásfürstin) und Erna Berger (Fledermaus) wirft er sich die musikalischen Bälle nur so zu.

Die auf zwei CDs verteilten Lieder sind ein Kapitel für sich. In der Mehrzahl wird Anders dabei von Michael Raucheisen begleitet. Aufnahmedaten lassen einen heute noch verwundert zurück – 1943, 1944 1945. Während Berlin in Schutt und Asche versank und die sowjetischen Panzer auf die Stadt zurollten, wurden in den Kellern des Funkhauses Lieder aufgenommen. Nicht nur mit Anders, der allerding sehr gut zu tun hatte. An der als Raucheisen-Edition erst nach dem Krieg veröffentlichten Sammlung wirkten an die fünfzig Sänger mit. Darunter einige, die Hitler und Goebels noch 1944 auf ihre so genannte „Gottbegnadeten-Liste“ gesetzt hatten. Das waren Künstler, die das Regime für unverzichtbar erachtete. Anders konnte seine Karriere nach Kriegsende rasch fortsetzen. Viel Zeit blieb ihm nicht bis zu seinem tragischen Tod 1954. Es waren seine wichtigsten Jahre, die Jahre der Reife. Sie sind bei der Auswahl gehörig berücksichtigt – auch mit dem Vorstoß auf neue Betätigungsfelder. Dazu gehörten der Stolzing in den Meistersingern und der Lohengrin.

Meine Liebe zum Gesang hat viele Namen, einer ist Peter Anders. Seit ich bewusst Musik köre, höre ich seine Aufnahmen. Auch wenn für diesen oder jenen Sänger im Laufe der Zeit die einst noch so heiße Begeisterung abkühlt, Anders ist immer präsent. Er hat seinen unverrückbaren Platz. Ich will mir überhaupt nicht vorstellen, wie es denn wäre, wenn es ihn nicht gegeben hätte. Nun hat es ihn aber gegeben, und das ist ein Glück für mich und für alle, die ihn ebenso lieben. Das Interesse an diesem Sänger mit der elementaren, unverkennbaren Stimme ist unverwüstlich. Peter Anders am besten zu gedenken heißt, seine Aufnahmen immer wieder neu aufzulegen und in großen Auflagen zu verbreiten. Seine Stimme ist nicht nur etwas für Kenner und kein Geheimtipp. Sie verträgt ein großes Publikum.

1-Membran-Box 2 Peter AndersDas Label Membran hat sich bei der der Pflege seines Andenkens von niemandem überbieten lassen. Davon zeugt auch die Box Peter Anders – Die unvergessene Stimme mit ebenfalls zehn CDs (LC 12281). Es handelt sich um die in der Aufmachung etwas abgespeckte Wiederauflage der Ausgabe im stattlichen Buchformat gelegentlich des 100. Geburtstages des Sängers im Jahr 2008. Wozu Sammler Jahre brauchten, findet sich hier in beiden Editionen auf einen Schlag wohl geordnet beisammen. Dazu noch in sehr ordentlicher Tonqualität. Soll ich nun neidisch sein, dass hier dem Käufer so mir nichts dir nichts in den Schoß fällt, was ich nur mit  Bienenfleiß und Hartnäckigkeit zusammen gebracht habe? Nein und abermals nein! Ich möchte nicht jene Glücksmomente vermissen, wenn einem plötzlich wieder ein lange gesuchtes Lied oder eine akustischer Filmauftritt in die Hände fiel. Mit diesen Boxen liegen weit mehr als die Hälfte aller 450 Titel vor, die Anders auf Tonträgern für Plattenmarkt und Rundfunk hinterlassen hat – und das zu sehr moderaten Preis. Die Boxen sind also kein Luxus von der Anschaffung her, sie sind Luxus durch Inhalt.

Anders überrumpelt seine Hörer mit unendlichem Charme genau so wie er sie mit schneidender Schärfe treffen kann. Es tut weh, wenn er etwa in der Winterreise (in der Edition findet sich die spätere Einspielung mit Günther Weissenborn) Zwiesprache mit seinem Unglück hält, das plötzlich zum Unglück aller Menschen wird, die ihm zuhören. Er ist niemals akademisch, er singt den Moment. Manchmal setzt er alles auf eine Karten, übermütig und strotzend vor Wagemut. Er ist stimmlich ein unerschrockener Tausendsassa. Seine Aufnahmen wirken nicht blutleer von zu vielen Proben. Sie sind knackig und voller Saft. Peter Anders – der Radioliebling, im Traumland der Operette, der Opern- und der Konzertsänger. In diesen Kategorien wird die Fülle dargeboten. Das macht Sinn und erleichtert den Zugriff, da es musikalisch kaum ein Revier gibt, in dem Anders nicht mit Lust und Können wilderte. Von Granada bis zu Othellos Tod, sein ganzes Repertoire ist ausgebreitet. Florestan, Lohengrin, Apollo, Bacchus, Faust, Tamino, Zarewitsch… Ich vermisse nichts. Ganz im Gegenteil, was immer ich von Peter Anders höre, es ist in diesem Moment mein Lieblingsstück. Und wenn es das LiedDie Frau der Frauen ist, bei dem er gurrt wie Zarah Leander. Für mich ist er in allen Kategorien gleich gut aufgestellt und aufgelegt, weil er in der Praxis Musik nicht in Klassen oder Wertigkeit einteilt. Er verwendet auf den Filmschlager nicht weniger Mühe und Können als auf die Gralserzählung. Mir ist er dadurch sehr sympathisch. Anders gilt als Sympathieträger schlechthin. Nicht, dass er so einfach gute Laune verbreiten würde und für Stimmung im Saale sorgte. In seinem Falle wären das schon Unterstellungen. Dieser Sänger ist sympathisch, weil er Musik völlig unprätentiös und uneitel herüber bringt. Es geht nicht um ihn, es geht um das jeweilige Stück. Im Ensemble drängelt er sich niemals vor, er füllt seinen Platz aus und nimmt niemanden etwas weg, was er auch gar nicht nötig hätte.

Die Sensation von rund zwölf Stunden Musik, auf die es die Edition bringt, sind 28 (!) Sekunden Siegmund.Wälse! Wälse! Wo ist dein Schwert? Dein starkes Schwert, das im Sturm ich schwänge?  Mehr nicht. Die kurze Sequenz mit Klavierbegleitung (Hans Geisendörfer, der mit Anders im Unglücksauto saß, in dem ihn der Tod einholte) ist 1954 für den Schulfunk des Nordwestdeutschen Rundfunks Hamburg als Beispiel für das Sängerfach jugendlicher oder italienischer Heldentenor entstanden und auch gesendet worden, dann im Archiv gelandet. Anders hat die Rolle 1953 in Hamburg gesungen. Für einen Mitschnitt würde ich sonst etwas geben. Ich wäre auch gern ein gehöriges Stück älter, nur, damit ich ihn damals selbst hätte hören können in Wagners Walküre. Nun bin ich auf Ahnungen und diese wenigen Sekunden angewiesen. Auch wer nicht dabei war, die Stimme aber gut kennt, der war sich immer völlig sicher, dass Anders als Siegmund ein Ideal verkörpert haben muss. In den Wälse-Rufen ist etwas von Verzweiflung, etwas Flehendes. Dieser junge Mann ist kein sportlicher Schlagmichtot, er hat eine geschundene Seele. Er ist ein Verfolgter, ein Opfer. Seine Wunden, die er seiner Schwester Sieglinde weisen soll, hat er auch an der Seele. Anders hätte als Siegmund Musikgeschichte schreiben können. 28 Sekunden Musik reichen, dass einem plötzlich der Verlust wieder bewusst wird, den dieser sinnlose Unfalltod bedeutet.      Rüdiger Winter

Ein Mönch sehnt sich nach Liebe

 

Es ist die alte Geschichte. Amarus weiß nicht, wer sein Vater und seine Mutter waren. Er ist ein Findelkind und lebt in einem Kloster. Sein Name bedeutet Bitternis. Ein Engel prophezeit ihm, dass er des Todes sei, sollte er nur ein einziges Mal vergessen, das Öl für das Ewige Licht nachzufüllen. Eines Morgens, als er seinen Dienst versehen will, findet er ein Liebespaar in Andacht vor dem Altarbild. Eine große Sehnsucht nach eigenem Glück ergreift ihn. Amarus vergisst seinen heiligen Dienst und folgt den Liebenden hinaus ins Freie. Das Licht erlischt. Später finden ihn die Mönche tot. Das ist der Inhalt der lyrische Kantate Amarus für Soli Chor und Orchester von Leoš Janáček. Er komponierte das Werk 1897. Es steht am Beginn der Serie seiner erfolgreichsten Werke. Praga Digitals im Vertrieb von harmonia mundi hat eine Einspielung unter Václav Neumann herausgebracht, die am 28. März 1974 im Prager Smetana-Saal in Stereo mitgeschnitten wurde (PRD 250 308). Für eine Liveaufnahme klingt das Dokument ganz vorzüglich. Zunächst hatte ich auf Studio getippt. Dann aber ist hier und da ein Räuspern zu vernehmen. Gelegentlich summt der Maestro mit. Der Text geht auf eine Dichtung von Jaroslav Vrchlický, der als Schüler von Victor Hugo gilt. Er verfasste Opernlibretti, darunter zu Dvoráks Oper Armida und übersetzte Werke der Weltliteratur wie Goethes Faust und die Göttliche Komödie von Dante ins Tschechische.

Lyrisch wie es der Titel verspricht, ist auch der musikalische Grundgehalt. Betörend der Beginn. Einsamkeit und Sehnsucht sind selten so eindringlich in musikalische Form gebracht worden. Sofort werden die Zuhörer in das Geschehen hineingezogen und nehmen Anteil, als seien sie selbst betroffen. Was den späteren Meisterwerken vorbehalten ist, hier klingt es bereits unverwechselbar an. Hundert Prozent Janácek! Die Originalsprache bleibt auch bei diesem sehr poetischen Werk eine Hürde für den Zugang. Inzwischen hat sie sich zwar weltweit für Janáceks Opern durchgesetzt. Den Einzelheiten in Handlung und Ausdruck kann aber nur derjenigen folgen, der die Sprache kennt. So ist das auch bei Amarus.

Die Solisten der Aufnahme, der Tenor Vilém Přibyl und die Mezzosopranistin Věra Soukupová sind Muttersprachler. Sie garantieren Authentizität. Beide haben einen guten Namen, weit über die Grenzen ihres Heimatlandes hinaus. Sie sind auch in westeuropäischen Städten aufgetreten. Neumann gilt weltweit als Sachwalter für tschechische Musik. Bei ihm ist das Werk in den besten Händen. Es singt der Philharmonische Chor Prag, es spielt die Tschechische Philharmonie. Neumann leitet außerdem die Orchestersuite aus der Oper Das schlaue Füchslein sowie das Vorspiel zum Spätwerk Aus einem Totenhaus, dem sich ebenfalls noch die Suite anschließt, diesmal unter der Leitung von František Jílek. In den Suiten entfällt das Sprachproblem. Ich liebe sie auch deshalb sehr. Die Musik kann sich völlig frei von Verständigungsproblemen entfalten. Das gilt übrigens nicht nur für Janáček.   Rüdiger Winter

Bel Ami trifft auf Hans Sachs

Hermann Prey war Berliner. Beim Label Capriccio (C7202) erinnert er sich musikalisch an seine Heimatstadt – an den Frühling in Berlin, die Berliner Luft, die Linden, die Kleine Bank am Großen Stern, an die Spree, die immer noch durch Berlin fließt. Das war in Schöneberg – und nicht in Hohenschönhausen, wo der Sänger 1929 in der Oberseestraße zur Welt gekommen ist. Der Ortsteil, noch immer als „Platte“ verschrien, weil dort so viele DDR-Neubauten auf einem Haufen stehen, gehörte damals schon zu Groß-Berlin. Plattenbauten gab es noch nicht. Wo Prey aufwuchs, war und ist es noch heute schön grün, der Obersee gleich um die Ecke. Er dürfte diese Bilder immer vor Augen gehabt haben. Sonst würde nicht plötzlich ein Lied in dieser mit Große Berlin-Revue betitelten CD auftauchen, das da thematisch nicht hingehört. Es lächelt der See, komponiert von Friedrich Curschmann (1805 bis 1841) auf die einleitenden Verse zu Schillers Wilhelm Tell: Es lächelt der See, er ladet zum Bade, / Der Knabe schlief ein am grünen Gestade, / Da hört er ein Klingen, / Wie Flöten so süß, / Wie Stimmen der Engel / Im Paradies. / Und wie er erwachet in seliger Lust, / Da spülen die Wasser ihm um die Brust, / Und es ruft aus den Tiefen: / Lieb Knabe, bist mein! / Ich locke den Schläfer, / Ich zieh ihn herein.

Nur noch antiquarisch erhältlich: Hermann Preys "Premierenfieber" bei Kindler

Nur noch antiquarisch erhältlich: Hermann Preys „Premierenfieber“ bei Kindler, später bei dtv

In seiner Autobiographie Premierenfieber (1981 zuerst bei Kindler/ ISBN 978-3463008219 erschienen, dann bei dtv), findet sich die Kindheit genau beschrieben. Obwohl Prey von 1962 bis zu seinem Tod 1998 in Krailling, einem Vorort von München, lebte und auch dort begraben ist, hatte er immer einen Draht nach Berlin. Noch 1997 war er in die nun wieder vereinte Stadt gekommen, um bei einem Benefizkonzert in der Staatsoper für ein Kinderheim in Hohenschönhausen zu singen. Er wirkte hinter der Bühne angeschlagen. Aber als er auf das Podium trat, war er immer noch der Charmeur, der stimmlich nicht zu altern schien. Eine Verwandlung, an die ich mich sehr genau und sehr gern erinnere. Sie sagt viel aus über Künstlertum im Allgemeinen und Prey im Besonderen. Auf dem Programm stand Schuberts Schöne Müllerin. Den Liederzyklus beherrschte er auch im Schlaf.

Jene CD mit den alten Berliner Liedern aber, die 1988 im fernen Köln beim WDR eingespielt wurden, kommt viel zu spät. Solche Programme waren spätestens mit Marlene Dietrich, die sich noch im Alter gern an Berlin erinnerte, durch. Unter Preys musikalischen Zuckerguss entpuppt sich die Ware als altbacken. Er verfällt seiner eigenen Sentimentalität, kann keine ironische Distanz schaffen. Die aber wäre dringend nötig, um solche Lieder in die Gegenwart zu holen. Mit den Titeln auf der nächsten CD dieser Edition kann ich mich in der Interpretation von Prey auch nicht anfreunden, zumal Paul Kuhn mit seinem Ensemble den altmodischen Eindruck noch verstärkt. Das Telefon, das nachts ging, nehme ich Prey nicht ab. Den Bel Ami auch nicht, und warum bitte Müsste man Klavier spielen können? Dann doch lieber die Originale mit der Leander, Willi Forst oder Johannes Heesters.

Die drei verbleibenden CDs sind Hermann Prey pur, auch wenn sie weder Überraschungen noch Neuigkeiten oder Entdeckungen zu bieten haben. Endlich ist er in seinem Element. Die Ausschnitte aus der Capriccio-Gesamtaufnahme von Nesslers Trompeter von Säckingen mit dem Kölner Rundfunkchor und dem WDR-Rundfunkorchester unter Helmuth Froschauer von 1994 kommen zwar – was Preys Werner Kirchhofer anbelangt – mit dem frühen Electrola-Querschnitt aus dem Jahr 1958 nicht mit. Sie offenbaren aber genau das, was ich bei der Müllerin 1997 in Berlin wahrgenommen habe – die Fähigkeit des Sängers, seinen Bariton jungendlich und geschmeidig zu halten.

1-Lp Hermann Prey und Kurt Wöss

Deutsches Repertoire – von Hermann Prey und Kurt Wöss in Bratislava auf Platte gebannt und beim dortigen Label Opus zuerst erschienen

 

Noch heute sehe die die Langspielplatte German Romantic Opera vor mir, die 1983 in Bratislava produziert wurde. Der österreichische Dirigent Kurt Wöss war dazu ins Nachbarland gereist und hatte Prey mitgenommen. Es wirkten der Chor und die Philharmonie von Bratislava mit. Das Programm war deutsch, urdeutsch: Conradin Kreutzer, Albert Lortzig, Richard Wagner. Mit dem Fliedermonolog aus den Meistersingern von Nürnberg versuchte Prey wenigstens mit dieser einen Szene im Studio Sachs gegen den üblichen Beckmesser zu tauschen, was bei dieser Szene sogar ganz gut gelingt. Betörend schön in ihrer großen Ruhe und liedhaften Innigkeit finde ich nach wie vor die drei Szenen des Wolfram aus dem Tannhäuser.

Schließlich darf auch der Liedinterpret nicht fehlen. Prey hat dieses Genre sein Leben lang mit großem Erfolg bedient und sogar eine eigene umfängliche Edition herausgebracht, die vom Minnegesang bis zur Moderne reichte. Sie hätte eine Neuauflage eins zu eins verdient. Capriccio hat Lieder von Ludwig van Beethoven, darunter die Ferne Geliebte, Johannes Brahms und Carl Loewe entschieden. Von Loewe brachte Prey im Laufe seiner Karriere gleich mehrere Platten bzw. CDs heraus. Er hat neben Dietrich Fischer-Dieskau einen wichtigen Beitrag geleistet, um einen neues Zugang zu diesem Komponisten zu finden. Erlkönig, Der Fischer, Der Totentanz und Der Zauberlehrling einer Capriccio-CD entlehnt, die ausschließlich Lieder und Balladen nach Texten von Goethe enthielt. Goethe war einer der bevorzugten Dichter von Loewe.        Rüdiger Winter

Immer schön lächeln

Nicolai Gedda – My favourite operetta heroes: Das wären der Sándor Barinkay im Zigeunerbaron von Johann Strauß sowie René, der Graf von Luxemburg, Prinz Sou-Cong im Land des Lächelns, Nicolo Paganini und der Zarewitsch von Franz Lehár? Was Warner Classics auf dem Titel einer neuen Box (825646127030) mit diesen fünf Operetten dem Sänger in den Mund legt, wird durch keine Quellenangabe belegt. Es steht einfach nur so da. Hat er es nun gesagt? Mein Gefühl und meine eigenen Recherchen sprechen dagegen. Gedda, der am 11. Juli Neunzig wird, dürfte milde lächelnd darüber hinweg sehen. Seine Sache sind solche marktschreierischen Verabsolutierungen nicht. Er wird auch seinen Frieden damit gemacht haben, dass er noch im hohen Alter von einem Label vermarktet wird, was es zu seiner Zeit so nicht gab. Er hat alle seine Operetten bei der EMI aufgenommen. Im Kleingedruckten auf der Rückseite der Box wird das auch mit dem schlichten Hinweis auf das ehemalige Electrola-Label erwähnt. In diesem Zusammenhang ist nun plötzlich ganz allgemein von den schönsten Operettenpartien Geddas die Rede. Darüber darf gestritten werden. Gedda hat im Laufe seiner langen Karriere Operetten am Meter aufgenommen. Die lustige Witwe gleich dreimal. Auf der Bühne ist er in diesem Fach eher selten in Erscheinung getreten. Aus der Metropolitan Opera hat sich ein englisch gesungener Zigeunerbaron von 1959 mit Lisa Della Casa als Saffi erhalten, der etwas gestelzt klingt.

Es begann damit, dass es sich der allmächtige EMI-Produzent Walter Legge Anfang der 1950er Jahre in den Kopf gesetzt hatte, mustergültige Aufnahmen von Operetten vorzulegen. Mit dem noch nicht dreißigjährigen Gedda hatte Legge dafür einen idealen Partner für Elisabeth Schwarzkopf, die er 1953 geheiratet hatte, gefunden. Sie war genau zehn Jahre älter und nach eigenem Bekunden sofort genau so hingerissen von Geddas Stimme wie Legge. Jugend traf auf Erfahrung und Ruhm. Das passte. Denn die Schwarzkopf hatte zu dieser Zeit schon einen Namen, während Gedda seine ersten Erfahrungen auf der Opernbühne vornehmlich in Stockholm gesammelt hatte, wo er eine lokale Erscheinung gewesen ist. Mir fällt eine Anekdote ein. Legge soll Gedda zufällig im Radio gehört haben. Er griff zum Telefon, um seine Frau zu bitten, ebenfalls das Apparat einzuschalten. Die verbat sich die Störung mit dem Hinweis daraus, dass sie gerade eine wunderbare Stimme im Radio höre – Gedda! Ein Resümee dieser fruchtbaren Zusammenarbeit zog der Sänger 1988 in einem Interview mit der Zeitschrift Opernwelt: Alle meine Aufnahmen bei der EMI halte ich für wertvoll. Weil sie meist von Walter Legge produziert worden sind. Er wird in die Schallplattengeschichte als einer der größten Produzenten eingehen. Wenn ich zum Beispiel an die Operetten denke, die ich mit ihm aufgenommen habe, sie waren schon eine Klasse für sich. Selbst jetzt kann man sie noch anhören und Freude an ihnen finden.

Legge hat Gedda entdeckt und gefördert, wofür dieser im Gegensatz zu anderen immer dankbar gewesen ist. Das nimmt mich auch für Gedda ein. 1953 wurden in der Londoner Kingsway Hall unter Otto Ackermann zunächst Das Land des Lächelns und Die lustige Witwe eingespielt, im Jahr darauf mit dem selben Dirigenten Wiener Blut, Der Zigeunerbaron und Eine Nacht in Venedig. Das rasante Finale dieser frühen Operetten-Serie bildete Die Fledermaus mit Herbert von Karajan am Pult. Die Fassungen folgen meistens nicht dem Original. Aufgenommen wurde in Mono. Das schreckt heutzutage Hörer oft ab. Mich nicht, denn ich habe nicht die Wahl. In diesen Aufnahmen triumphiert die Kunst über die Technik. In Wien hatte Clemens Krauss schon 1950 mit Fledermaus und Zigeunerbaron einen Operetten-Neuanfang nach dem Krieg für die Decca versucht, der allerdings wesentlich konservativer ausgefallen ist als das, was Legge mit Ackermann, Karajan und seinen Solisten glückte. Die verlassen ausgefahrene Gleise. Sie geben der Operette jene Sinnlichkeit zurück, die der Gattung eigen ist. Erstarrungen lösen sich. Es knistert wieder. Und das alles im Studio.

1-CD Paganini Gedda

Eine Perücke macht noch keinen Paganini: Die CD-Hüllen in der Box sind den originalen Plattencovern nachempfunden

Die fünf Electrola-Produktionen (i. e. also die späteren, nach der EMI London-Phase, in Köln und München aufgenommen), die sich nun in der Warner-Box finden, kommen da nicht mit. Sie sind letztlich Massenware für ein sehr breites Publikum, das immer schon gern Operette gehört hat. Nach meinem Eindruck fallen sie in alte Muster zurück. Ungewollt sagen die originalen Cover, denen die Hüllen für die einzelnen CDs im Innern der Box nachempfunden sind, darüber sehr viel aus. Zarewitsch als Tscherkesse verkleidet, Paganini mit wüster Zottelperücke… Kostüme machen noch keine perfekte Aufnahme. Alle Wirkung einer Studioproduktion sollten von der Musik ausgehen, nicht von Bildern und fragwürdigen Kostümen. Alle Titel sind weit verbreitet, nach dem Ende der Schallplatte gleich auf CD übernommen worden. Ihr Vorzug ist der bessere Klang, das breite Stereo, das der Zeit, in der sie eingespielt wurden, nämlich zwischen 1967 und 1977, akustischen Ausdruck verlieh. Dialoge gleichen Hörspielen. Mindestens zwei Lautsprecher schaffen im Wohnzimmer Theateratmosphäre. Es macht Spaß, die Lautstärkeregler mal so richtig aufzudrehen. Die Stimmung ist aber derber, direkter geworden. Duft, Raffinesse und Sinnlichkeit sind verflogen.

Nun werden die Werke wieder mehr beim Wort genommen. Gute Laune macht sich breit. Immer schön lächlen! Ha, ha, ha, ha, lacht auch der Chor. Dabei wird unter Willy Mattes (Zarewitsch, Graf von Luxemburg, Land des Lächelns), Franz Allers (Zigeunerbaron) und Willi Boskovsky (Paganini) sehr gut musiziert. Geddas Partnerinnen sind allesamt erste Wahl in ihrer Zeit: Anneliese Rothenberger (Lisa und Fürstin Anna Elisa), Rita Streich (Olga und Arsena), Grace Bumbry (Saffi). Lucia Popp, die jüngste von allen, entzückt als Angèle Didier. Kurt Böhme spart als Zsupán nicht am Schweinespeck. Es gibt rasante Ensembles, dann aber wieder scheinen Szenen und Arien in Einzelteile zu zerfallen. Und Gedda selbst, dem diese Box zum Geburtstag geschenkt wird? Stimmlich ist er perfekter als am Anfang, im Ausdruck hat er aber die Unschuld verloren. Noch immer ist dieses Timbre unverwechselbar, unverwechselbar schön. Aber er singt alles gleich, als seien die unzähligen Partien, die er seither in mehreren Sprachen gesungen hat, zu einer einzigen verschmolzen. Rüdiger Winter

Die fleissige Witwe

Es ist eine erfreuliche Tatsache, dass es endlich eine ernst zu nehmende Biographie der Witwe Mozarts gibt. Die Musikwissenschaftlerin Gesa Finke hat mit dem vorliegenden Band die leicht veränderte Druckfassung ihrer 2012 von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg angenommenen Dissertation vorgelegt und diese nun im Böhlau Verlag herausgebracht. Diesem Umstand ist es geschuldet, dass die eigentliche Biographie in einen wissenschaftlichen Kontext eingebunden ist, der den rein biographisch interessierten Leser fast erschreckt und die Lektüre des hervorragend recherchierten Buches nicht erleichtert So wird z. B. auf den ersten ca. 80 Seiten über die musikkulturelle Erinnerung um 1800 referiert, mit reichlich interessanten historischen Aspekten, aber es erfordert Geduld, sich bis zum Punkt vorzuarbeiten, an dem Constanze Mozart als Persönlichkeit vorgestellt und behandelt wird. Sicherlich erfährt man viel Wissenswertes über die Zeit und die Lebensumstände des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, aber der wissenschaftliche Apparat will auch durchgearbeitet werden.

Wichtig ist das Buch, weil es gründlich mit den Vorurteilen der größtenteils verkitschten und süßlichen Mozart-Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aufräumt. Die leichtfertige, oberflächliche Person, die da zumeist vorgestellt wurde, hat so nicht existiert. Wenig bekannt ist die Tatsache, dass Constanze nach dem frühen und unerwarteten Tod ihres Mannes nicht nur sich selbst, sondern auch zwei eheliche Söhne im Kindesalter durchzubringen hatte. Über Mozarts problematisches Finanzgebaren wurde viel Zutreffendes geschrieben, seine Witwe stand tatsächlich materiell mit dem Rücken zur Wand. Es spricht für ihr Verantwortungsgefühl gegenüber dem reichen Werk ihres Mannes, dass sie nicht versuchte, aus den zahlreich vorhandenen Autographen schnellen Profit zu schlagen, sondern von Anbeginn an für eine seriöse Herausgabe einer Gesamtausgabe der Werke Mozarts warb und stritt. Hilfreich war für sie dabei, dass ihr in dem Mozart-Forscher Georg Nikolaus Nissen, einem dänischen Diplomaten, ein kluger Berater zur Seite stand. Dass dieser später ihr zweiter Ehemann wurde, mit dem sie eine wohl glückliche Ehe führte, verbesserte natürlich Constanzes Lebensumstände erheblich. Mehrere Jahre lebte das Ehepaar in Kopenhagen, bevor es sich nach ausgedehnten Reisen in Salzburg niederließ.

Wenig bekannt ist, dass Constanze Mozart in Wien einen eigenen musikalischen Salon führte, in dessen Rahmen bedeutende Musiker auftraten, unter ihnen Beethoven. Die Vertragsverhandlungen mit den Verlegern Breitkopf & Härtel und Johann Anton Andre werden ausführlich behandelt und geben ein hoch interessantes Bild der Vermarktung von Musik in dieser Zeit. Überhaupt besticht die Autorin durch eine Fülle von Milieubeschreibungen, die jene Zeit und ihr Musikverständnis anschaulich abbilden. Ein ausführliches Kapitel widmet Finke der Entstehung der ersten Biographie Mozarts aus Nissens Feder, an deren Entstehung Constanze aber naturgemäß intensiv beteiligt war. Das Buch beschreibt auch noch die Umstände der Errichtung eines Mozart-Denkmals in Salzburg und der Gründung des Mozarteums. Besonders interessant ist die Auflistung aller Konzertaufführungen von oder für Constanze Mozart. In den ersten Jahren nach Mozarts Tod hatte seine Witwe ausgedehnte Konzertreisen unternommen. Als begabte Sopranistin trug sie in zahlreichen Konzerten mit wechselnden Partnern Werke ihres Mannes vor, was ihr Geld für den Lebensunterhalt einbrachte und für die posthume Rezeptionsgeschichte des Mozartschen Oeuvres wichtig war.   Peter Sommeregger

Gesa Finke: Die Komponistenwitwe Constanze Mozart. Musik bewahren und Erinnerung gestalten, Böhlau Verlag, 308 Seiten, ISBN-13: 978-3412210823

Aus den Archiven: „Die Zauberin“

Mit zwei seiner preiswerten Boxen feiert The Intense Media den Komponisten Peter Tschaikowsky zu seinem 175. Geburtstag. Zusammen genommen sind das zwanzig CDs. Gemessen an dem, was aus diesem Anlass sonst noch auf den Markt gelangte, ist das sehr viel für ein einziges Label. Nun handelt es sich hier nicht um Neuproduktionen. Es wird ausschließlich nur in Archive gegriffen. Immerhin.  Schließlich muss man ja wissen, was es so alles zu heben gibt. Die Auswahl kann sich sehen – und hören lassen. The Most Popular Ballets & Opera ist eine Box betitelt (600223). Da kann nichts schief gehen. Bei Tschaikowsky ist vieles beliebt und populär. Nur die Die Zauberin nicht. Sie macht die Auswahl eher ungewöhnlich. Der Oper kann eine Neuauflage nicht schaden, denn sie wird selten gespielt und ist noch seltener aufgenommen. In jüngster Zeit wurden in Erfurt, Baden-Baden und Wien Belebungsversuche unternommen. Es bleibt fraglich, ob ihnen Wirkung beschieden sein wird. Denn das symbolträchtige Stück mit einem Schuss Schneewittchen hat es in sich und endet auf sehr unwahrscheinliche Weise. Die als Pilgerin verkleidete Fürstin Eupraxia trifft im Wald ganz zufällig auf Kuma, die Wirtshausbesitzerin, der Zauberkräfte nachgesagt werden und die sie für Nebenbuhlerin ihres Gatten, des Fürsten Kurtjatew, hält. Sie verabreicht ihr tödliches Gift. In Wahrheit aber ist Kuma die Geliebte ihres Sohnes Juri, wird aber gleichzeitig vom fürstlichen Vater begehrt. Der nun ersticht deshalb in rasender Eifersucht den eigenen Sohn und verfällt dem Wahnsinn.

Es gibt von dieser Oper nicht viele Aufnahmen. In der Box findet sich die erste, 1954 entstandene Einspielung mit Chor und Orchester des Moskauer Rundfunks unter Samuel Samosud. Für mich ist sie sehr stimmungsvoll und unverwechselbar in ihrem typisch russischen Idiom.  Die Geschichte kommt wie ein Märchen mit wunderbarer lyrischer Musik herüber. Für die damalige Zeit ist die Besetzung mit Natalia Sokolowa (Kuma), Veronika Borissenko (Fürstin), Georgi Nelepp (Juri) und Mikhail Kisselew (Fürst) höchst luxuriös. Alle vier vermitteln einen noch im 19. Jahrhundert verhafteten Gesangstil, der sich erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs verlor. Obwohl nur ein Jahr später eingespielt, bringt die noch nicht ganz dreißigjährige Galina Wischnewskaja einen moderneren Zug in die Aufnahme von Eugen Onegin. Sie ist die Tatjana und für mich nach wie vor das Idealbild dieser Rolle. Mit Sergei Lemeschew als Lenski kommt ein Tenor ins Spiel, der mit Nelepp und Iwan Koslowski das legendäre, fast gleichaltrige russische Tenor-Dreigestirn bildete. Koslowski, 1900 geboren, war der Älteste, gefolgt von Lemeschew (1902) und Nelepp (1904). Die Titelrolle wird von Eugeni Bjelow gesungen, der Fürst von Iwan Petrow. Die Aufnahme ist unlängst auch beim originalen Label Melodija neu aufgelegt und bei dieser Gelegenheit von meinem Kollegen Rolf Fath bei operalounge.de besprochen worden.

Untrennbar mit dem Namen Tschaikowski verbunden sind seine drei großen Ballette. Schwanensee und Nussknacker werden vom L’Orchestre de la Suisse Romande unter Ernest Ansermet (1958/1959) sowie Dornröschen vom Minneapolis Symphony Orchestra unter Antal Dorati (1955) gespielt.

CD - Tschaikowsky Edition MembranDie andere Box (600211) enthält die sechs Sinfonien, beiden Klavierkonzerte, das Violinkonzert und diverse Orchesterstücke. Mehr passt nicht hinein. An Aufnahmen aus allen Zeiten mangelt es nicht. Tschaikowsky, der alle Genres bediente, ist hervorragend dokumentiert. Es ist eine gute Idee, mit der Zusammenstellung einen Querschnitt durch die Aufnahmegeschichte der Orchesterwerke anzubieten. Die älteste Aufnahme, nämlich die sinfonische Ballade Der Woyvode – Tschaikowski verarbeitete das Thema auch in seiner gleichnamigen ersten Oper – entstand 1941 mit dem NBC Symphony Orchestra unter Arturo Toscanini. Die jüngste ist die 1. Sinfonie von 2001 mit dem sehr poetischen Titel „Winterträume“, ein Opus voller Überraschungen, dirigiert von Herbert Blomstedt. Es spielt das Sinfonieorchester des Südwestfunks Baden-Baden. Plötzlich wird klar, aus welcher Tradition Schostakowitsch kommt. Zwischen der Ballade und der Sinfonie liegen sechzig Jahre Annäherung an das Schaffen dieses Komponisten, um den kein Dirigent herumgekommen ist. Drei Namen sind schon gefallen. Georg Solti ist als nächster zu nennen. Er leitet die 2. Sinfonie. Wasilij Boyanov, im Westen wenig bekannt, hat mit der Dritten ein Heimspiel (1958). Wilhelm Furtwängler (1951) dirigiert die Vierte, Herbert von Karajan (1952/1953) die Fünfte. Die Pathétique, das so genannte Requiem, ist bei Evgeny Mravinsky (1956) in bester Obhut. Im Beginn ist die Nähe zum Vorspiel des dritten Tristan-Aufzuges unüberhörbar. Unter Mravinskys Händen klingen die Streicher unheimlich tief und dunkel. Er wühlt auf, ohne zu übertreiben.

CD Eugen Onegin (Querschnitt Memnbran)Bekanntes und Unbekanntes, Nähe und Ferne, Vertrautheit und Fremdheit – bei Tschaikowsky liegen die Pole mal nah, mal weit auseinander. Diese Intense-Media-Edition offenbart viele Facetten seines universellen Werkes. In diesem Kontext wird sogar der alles überstrahlende Beginn des b-Moll-Klavierkonzertes, den jedes Kind kennt, erträglicher. Schon deshalb finde ich diese Neuerscheinung höchst erbaulich und erfrischend. Und Van Cliburn schlägt ja auch ganz neue Töne an, die einem noch heute, mehr als fünfzig Jahre nach seinem kometenhaften Aufstieg, ins Ohr fahren. Der 23jährige Pianist aus Texas hatte 1958, mitten im Kalten Krieg, den Internationalen Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau gewonnen und war von da an weltberühmt. Genau in diesem Jahr entstand die Einspielung mit den RCA Symphony Orchestra unter Kiril Kondraschin. Sie hat Kultstatus. Wo das Klavierkonzert ist, sind auch das Capriccio Italien (Antal Dorati mit den Minneapolis Symphony Orchestra/1954) und der Slawische Marsch (Royal Philharmonic Orchestra, dirigiert von Yehudi Menuhin/1994) nicht weit. In den Marsch hat Tschaikowsky ebenso wie in die Ouvertüre 1812 zum Kanonendonner die Zarenhymne eingebaut. Der Marsch ging später immer irgendwie durch bei den sowjetischen Machthabern, die vaterländische Konzertouvertüre in ihrer ursprünglichen Form nicht. Hier wurde die Hymne kurzerhand durch eine Melodie aus Glinkas Iwan Susanin (Ein Leben für den Zaren) ersetzt und dergestalt auch oft eingespielt. Schlecht klingt das nicht. Dorati lässt in seiner Produktion aber das Original spielen (ebenfalls Minneapolis/1954). Für die lärmende Francesca da Rimini ist Leopold Stokowski am Pult der New Yorker Philharmoniker (1947) genau richtig.

Tschaikowsky und Josif Kotek: Das Bild stammt aus dem jahr 1877 und zeigt tschaikowsky mit seinem vertrauten, dem Geiger Josif Kotek (1855 bis1885). Der war ein russischer Violinist und enger Vertrauter Tschaikowskis. Wiki: "Kotek studierte unter Jan Hřímalý am Moskauer Konservatorium Violine, sowie Musiktheorie und Komposition bei Tschaikowski und graduierte 1876. Auf Empfehlung von Nikolai Rubinstein wurde er von Nadeschda Filaretowna von Meck engagiert und spielte privat für sie auf ihrem Gut in Clarens. Dort half er Tschaikowski bei der Ausarbeitung seines Violinkonzertes, insbesondere bei der Ausgestaltung der Solopartien. Außer der gemeinsamen Arbeit verband die beiden auch eine romantische Liebesbeziehung." Nach dem Ende der Beziehung zog Kotek 1882 nach Berlin, studierte dort bei Joseph Joachim und Friedrich Kiel an der Königlich Akademischen Hochschule für ausübende Tonkunst. Anschließend lehrte auch dort. 1884 erkrankte er an Tuberkulose und kehrte nach Davos zurück, wo er am 4. Januar 1885 verstarb/ Foto Wiki

Tschaikowsky und Iosif Kotek/Wiki

Eines der persönlichsten Werke Tschaikowskys ist seine Manfred-Sinfonie nach Lord Byron. Angeregt hatte dazu hatte ihn der komponierende Dirigent Mili Balakirew. Zunächst lehnt er ab, auch aus Respekt vor dem verehrten Robert Schumann, der sich demselben Stoff in einem dramatischen Poem mit Musik zugewandt hatte. Der Stimmungswandel setzte ein, als Tschaikowsky im Oktober 1984 nach Davos gerufen wurde, wo der erst dreißigjährige Geiger Iosif Kotek mit Tuberkulose im Sterben lag. Beide hatten sich auf dem Gut der Frau von Meck kennengelernt und unterhielten zeitweise eine leidenschaftliche Beziehung. Jedem der vier Sätze schickt der Komponist eine kurze Inhaltangabe voraus, die in der schlicht und knapp gehaltenen Edition allerdings keine Erwähnung findet. Gleich zu Beginn heißt es: „Manfred irrt in den Alpen umher. Sein Leben ist zerschlagen, viele brennende Fragen bleiben unbeantwortet, nichts ist ihm geblieben außer den Erinnerungen. Paul Kletzki dirigiert das Philharmonia Orchestra (1954). Dass Kletzki mit den biographischen Hintergründen des Stückes vertraut war, ist eher unwahrscheinlich. Vieles liegt ja heute noch im Dunkeln – und in Russland unter Verschluss. Er war aber selbst ein Verfolgter, der vor den Nationalsozialisten fliehen musste. Schon deshalb vermag er die Not, die Sehnsucht und die Verzweiflung, die in der Musik stecken, zum Klingen zu bringen.

Immer noch im Programm hat das Label die hinlänglich bekannte Szenenfolge durch die Oper Eugen Onegin in deutscher Sprache von 1954 (Membran 231853). George London singt die Titelrolle, Valeri Bak die Tatjana, Anton Dermota den Lenski und Gottlob Frick den Gremin. Am Pult steht Richard Kraus, der in der Box mit den Orchesterwerken das 2. Klavierkonzert mit Shura Cherkassky und den Berliner Philharmonikern leitet (1955). Rüdiger Winter

„Palestrina“ im Schnelldurchlauf

Bei Hans Pfitzner kommt vieles sehr spät. Auch die Klavier-Paraphrasen zu seinen musikdramatischen Werken. Für den Regisseur und Musikschriftsteller Peter P. Pachl scheint darin ein ganz besonderer Reiz zu liegen, denn er hat sich mit Hingabe für eine Produktion dieser Klaviermusik verwendet. Sie ist beim Label Thorofon auf CD erschienen (CTH2620). Der arme Heinrich, Die Rose vom Liebesgarten, Das Christelflein, Palestrina, Das Herz. Nichts fehlt. Die Bearbeitungen stammen nicht von Pfitzner selbst, der – was seinen Palestrina anbelangte – zunächst auch Vorbehalte dagegen hegte. Solche Paraphrasen erfreuten sich zu Liszts Zeiten größter Beliebtheit und verschwanden nach und nach aus den Konzertsälen und Musiksalons. Mit Pfitzner lebte dieses populäre Genre noch einmal auf. Otto Singer (1863–1931), der Sohn des gleichnamigen Komponisten, hatte dafür eine besondere Begabung. Seine Bearbeitungen von Palestrina und Christelflein gehören für mich zu den Höhepunkten der CD, weil sie den Tonfall und die Ausmaße dieser musikdramatischen Werke erfassen, als seien sie von Anfang an für dieses eine Instrument geschaffen worden. Die Paraphrasen unterscheiden sich im Umfang beträchtlich. Mit einer halben Stunde kommt Die Rose vom Liebesgarten am besten weg, weil hier zwei Bearbeitungen von Wilhelm Lehnert und Rudolf Siegel zusammengeführt wurden. Der Palestrina-Schnelldurchlauf dauert siebzehn Minuten, was auch seine Vorteile hat. Wissenschaftlich hat sich Hans Rectanus, der an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg Musik lehrte, mit Pfitzner beschäftigt. Er steuerte für das vorbildlich gestaltete Booklet seine Forschungsergebnisse bei.  Solist der Paraphrasen ist Ulrich Urban, ein weitgereister Pianist, der mit deutschen Rundfunkorchestern mehr als zwanzig Klavierkonzerte eingespielt hat und an der Musikhochschule Leipzig, wo er auch studiert hat, Klavier lehrt. Pfitzner hat auch ihn intensiv beschäftigt. Im Booklet kommt er darüber mit Pachl ins Gespräch.  R.W.

 

Der junge Hans Pfitzner/Manskopf (s. unten)

Der junge Hans Pfitzner/Manskopf (s. unten)

Peter P. Pachl: Vor der Verbreitung des Grammophons und des Rundfunks dienten den Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts Klavierfassungen zur Popularisierung. Dazu gehörten insbesondere auch die Klavierauszüge, die sowohl mit als auch ohne Text zum Zwecke der heimischen Realisierung (ohne Gesang) erschienen. Bereits Richard Wagner sorgte mit Einzelausgaben, die – wie etwa beim Brautchor aus Lohengrin für Sologesang – auch als Bearbeitungen angesehen werden können, für eine Popularisierung, und Hans Pfitzner folgte ihm ein halbes Jahrhundert später mit der frühen Vorveröffentlichung vom „Lied des Engels“ aus dem Christelflein. Selbst als Schallplatte und Rundfunk bereits Opernaufführungen in die Wohnstube tragen konnten, hielt die Produktion von Klavierfassungen zur Popularisierung neuer Kompositionen noch an. So schuf Ignaz Strasfogel kunstvolle Klaviertranskriptionen besonders wirkungsvoller Szenen aus Franz Schrekers Opern, aber auch dessen kompletter Kammersymphonie. Franz Reuss und später Karl Kittel schufen aneinander gereihte Ohrwürmer aus den Opern Siegfried Wagners für Klavier solo, sowohl in pianistisch schwierigen als auch vereinfachten, leichter spielbaren Versionen. In dieses Feld gehören wohl auch die Paraphrasen aus Hans Pfitzners Bühnenwerken? Ulrich Urban: Zweifellos. Pfitzner hat seine fünf Opern stets als besonders wichtige Stationen seines Gesamtwerkes angesehen, und es erscheint sinnvoll, sie auf eine solche Weise vorzustellen – sie sind auf dieser CD vollzählig vertreten. Damit bedeutet die Bezeichnung „Paraphrase“ auch so viel wie eine Kurzfassung. Aus den Daten der Drucklegung kann man sehen, dass die Bearbeitungen beinahe unmittelbar bzw. nur wenige Jahre nach der Vollendung der jeweiligen Oper entstanden sind. Die Verfasser dürften mit der Originalgestalt der Werke bestens vertraut gewesen sein, denn es wurden in echt Pfitznerschem Tonfall die durchaus wichtigsten und prägenden musikalischen Themen sinnvoll zusammengestellt.

 

Peter P. Pachl/PPP

Peter P. Pachl/PPP

Peter P. Pachl: Aber sie waren doch auch Werbeträger für Pfitzners musikdramatisches Oeuvre? Ulrich Urban: Soweit wir wissen, ging das stärkere Interesse an der Verbreitung dieser Notenhefte von den Verlagen aus. Diese waren natürlich bestrebt, die Opern einem größeren Kreis von Musikfreunden bekannt zu machen. Aber auch der stets kritische Pfitzner zeigte sich grundsätzlich offen für die Bearbeitungen. Solcherart Werbung kann man bei wohl allen Opernkomponisten zu dieser Zeit beobachten. Otto Singer, der „berühmte Klavierauszügler“ (wie ihn die Neue Zeitschrift für Musik in den Zwanzigerjahren genannt hat), der sich beispielsweise um Richard Strauss sehr verdient gemacht, ist auf dieser Einspielung mit zwei Beträgen vertreten.

Peter P. Pachl: Es fällt auf, dass solche Klavierfassungen ab Mitte der zwanziger Jahre immer seltener wurden. Das hängt offensichtlich mit der mehr und mehr verbesserten Aufnahmetechnik und dem Beginn des Rundfunks zusammen, welcher sich ja von Beginn an in weit ausgeprägterem Maße als Kulturinstitut verstand denn heutzutage. Pfitzner trat im neuen Medium als Interpret seiner eigenen Werke bereits frühzeitig in Erscheinung, denken wir etwa an den Trauermarsch aus der Rose vom Liebesgarten, aufgenommen im Jahre 1927. Was aber macht diese Paraphrasen, die damals – um mit Pfitzners Palestrina zu sprechen – für „überwunden“ galten, für heute wieder interessant? Ulrich Urban: Sie wurden Anfang des vorigen Jahrhunderts zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten gedruckt. Und wir haben sie jetzt, obwohl sie nur mit großen Anstrengungen aufzufinden waren, wohl zum ersten Mal zusammengefasst vorliegen: wir können diese komprimierte Form aller Opern vorstellen und damit neugierig machen auf einen Theaterbesuch. Die Bühnenwerke, zu deren Realisierung zumeist ein beträchtlicher Aufwand erforderlich ist, werden doch mit einiger Regelmäßigkeit, wenn auch nicht allzu oft, in den Musikzentren gespielt.

Peter P. Pachl: Bleiben wir bei deren musikalischen Substanz. Bei der Begegnung mit den Kurzversionen – oder Ausschnitten – für Klavier erscheint es mir durchaus möglich, den jeweiligen musikdramatischen Verlauf nachzuempfinden: So ist beim Armen Heinrich deutlich das Leiden, der Weg nach Italien und die Errettung herauszuhören und in der Rose vom Liebengarten der in dieses Bühnenwerk eingewebte Naturton. Das Christelflein besticht in der hier für Klavier übertragenen Version, die insofern der Urfassung des Märchen-Melodrams folgt, als die für Pfitzners Bearbeitung zur Spieloper neu komponierten Teile von Otto Singer unberücksichtigt geblieben sind. In diesem direkt auf Weihnachten bezogenen Bühnenwerk treffen die Bereiche von Elementargeist (Elflein), populärer Sagenfigur (Knecht Ruprecht) und belebter Natur (Tannengreis) auf die erwartungsfrohe Stimmung der Menschen und schließlich auf das Christkindchen selbst. Palestrina, Hans Pfitzners meistgespielte Oper, arbeitet die schicksalhafte Spannung um Tradition und Fortschritt musikalisch sehr plastisch nach, während die „Liebesmelodie“ aus Das Herz musikalisch überlagert ist von der das Drama durchziehenden Frage der Gewalt über Leben und Tod. Soweit können die Paraphrasen durchaus nachvollziehbar die Grundstimmungen von Pfitzners Bühnenwerken vermitteln, dennoch ziehe ich eine vollständige szenische Realisierung der Partituren vor.  Ulrich Urban: Hier denke ich noch immer an den Besuch einer Aufführung des Herz in der Regie von Peter P. Pachl. Es ist wohl schon zwei Jahrzehnte her, aber es gibt zum Glück eine CD-Einspielung dieser Produktion unter dem Dirigat von Rolf Reuter. Wie selten jedoch besteht die Möglichkeit, diese Oper komplett im Theater zu erleben?

 

Der Pianist Ulrich Urban. Foto: Booklet

Der Pianist Ulrich Urban. Foto: Booklet

Peter P. Pachl: Und ich erinnere mich gerne an die erste Begegnung mit zwei Pfitznerschen Klavier-Paraphrasen, als Ulrich Urban diese in einem Konzert in Schondorf am Ammersee erstmals öffentlich zum Vortrag gebracht hat. Ulrich Urban: Das war damals in einem Gespräch mit Hans Rectanus angeregt worden. Wir bedauerten, außer den beiden Zyklen op. 47 und 51 keine Klaviermusik von Hans Pfitzner zu haben. Aber Rectanus wusste guten Rat: Er besaß einige Drucke der völlig vergessenen Paraphrasen, die er auf sehr abenteuerliche Weise besorgt hatte, und so starteten wir bei einer Pfitzner-Tagung in Schondorf den Versuch, diese Stücke auch aufzuführen. Dabei stellte sich heraus, dass sie von ihrer reinen Substanz her für Kenner der Bühnenwerke Hans Pfitzners einen besonderen Erinnerungswert besitzen, aber auch musikalisch so zu überzeugen vermögen, als handele es sich dabei um originäre und durchaus bedeutende Klaviermusik.

Peter P. Pachl: Haben Sie die Inhomogenität des musikalischen Materials anfangs nicht als befremdlich empfunden? Ulrich Urban: Ein solcher Eindruck hat sich bald nach der ersten Sichtung des Materials verflüchtigt. Dagegen wurden beim Zusammenfassen der zahlreichen Einzelstücke doch sehr abgerundete Gebilde sicht- bzw. hörbar. Dies war bereits durch die enge Anlehnung an die Originale bedingt. Obendrein habe ich mir gelegentlich erlaubt, weitere charakteristische Stimmen aus der Partitur hinzuzufügen, auf welche die Bearbeiter aus Gründen der Spielbarkeit verzichtet hatten. Zutaten der Bearbeiter beschränken sich im Allgemeinen auf einzelne Übergänge, die jedoch zumeist aus originalen kompositorischen Elementen Pfitzners hergeleitet sind. Die so gebildete Reihung einzelner Stücke basiert ja auf dem Operngeschehen, gilt durchaus als Prinzip der musikalischen Form und ist hier stärker vertreten, als die gewohnten klassisch-musterhaften Abläufe. Ein innerer Zusammenhalt stellt sich durch Pfitzners Genialität ein: denn die als höchst unterschiedlich wahrgenommenen Themen weisen in der Tiefe ihrer Struktur Gemeinsamkeiten auf. Wenn diese sich auch beim erstmaligem Hören kaum mitteilen, führen sie aber zu innerer Geschlossenheit.

Peter P. Pachl: Wie erfolgt denn die Vermittlung der Gesangslinien, und auf welche Weise kann der Pianist der Wiedergabe des spätromantischen Orchesterklanges nahekommen? Ulrich Urban: Die Gesangsstimmen sind in diesen Kompositionen in den Klaviersatz eingearbeitet, sollten jedoch als führende Partien hervorgehoben und dominant gespielt werden. Es gibt aber auch Situationen, in welchen der orchestrale Ausdruck an Bedeutung gewinnt und sinfonische Ausmaße erreicht. Viele der Orchesterfarben der Partitur kann das Klavier schon recht gut wiedergeben, etwa einen Satz hoher Flöten, das glanzvolle Orchester-Tutti, dunkle Blechbläserakkorde, auch einzelne Soli von Trompete, Horn, Violine und Harfe. Letztere hat besonders typische Anteile an Pfitzners Klanggeschehen und ist außerdem von der Tonerzeugung her dem Klavier am ehesten verwandt. Als schönes Beispiel hierzu kann der von einer Harfe bestimmte Mittelteil der „Liebesmelodie“ aus dem Herz dienen.

Peter P. Pachl: Abgesehen von der Ähnlichkeit zur Harfe ist das Klavier in seiner speziellen Eigenart durchaus weniger Melodieinstrument als alle anderen, bei der Realisierung der Opernpartituren hörbaren Orchesterstimmen und ihrer Verläufe. Ulrich Urban: Bemühungen um die gesangliche Linearität auf dem Klavier sind geradezu legendär und bereits seit Bach aktuell. Aber auf modernen Instrumenten haben sich die Möglichkeiten bedeutend verbessert. Zudem bietet das Klavier hinsichtlich schneller Figuration eindeutige Vorzüge.

Peter P. Pachl: Was war nun als Interpret Ihre vorrangige Absicht: das Verständnis für Pfitzner generell oder durch den Hinweis auf den Melodiereichtum in seinen Opernpartituren den Bekanntheitsgrad seiner Bühnenwerke zu erhöhen?´Ulrich Urban: Beides! Und die Zuversicht, dass diese Paraphrasen, auf dem Klavier gespielt, sehr wohl mit ihrem Eigenwert bestehen können.

Hans Rectanus: Verklungene Musik – die versunkene Welt der Potpourris, Paraphrasen und anderen „Melodiensträußchen“ aus Pfitzners Opern Bearbeitungen haben in der Musik eine lange Tradition, die bis zu den Anfängen unserer Musikgeschichte zurückreicht: Die Komponisten aller Epochen haben eigene und fremde Werke bearbeitet, sie für neue Funktionen arrangiert und ihnen damit neue Verwendungsmöglichkeiten und neue Märkte mit neuen Käufer- und Hörerschichten erschlossen. Bach hat eigene und fremde Werke bearbeitet und Themen von anderen (Vivaldi u.a.) verwendet, Mozarts Zauberflöte gibt es in kaum zählbaren Besetzungen, über Beethoven und Brahms reicht die Reihe bis in unser Jahrhundert. Auch Pfitzner hatte keine Scheu, entweder selbst eigene oder fremde Werke (Marschner, Loewe, E.T.A. Hoffmann) zu bearbeiten oder es zuzulassen, dass andere dies für ihn taten: Die Liste der ‚Fremdbearbeiter‘ ist erstaunlich lang. Er selbst hat über 20 seiner Klavierlieder instrumentiert, das Duo op. 43 (1937) ist gleich in zwei Versionen erschienen (mit Orchester- oder Klavierbegleitung), und Gretel, Hauptperson seines gleichnamigen ‚Liederhits‘ (op. 11/5; 1901) wollte er „Horden von Männern“ überlassen (als Männerchor erklingen lassen).

1-Pfitzner nachdenklichWas jedoch die hier erstmals eingespielten Klavierbearbeitungen – mit Ausnahme der zuletzt erklingenden „Liebesmelodie“ aus Pfitzners letzter Oper Das Herz – von einer üblichen Bearbeitung unterscheidet, ist die Tatsache, dass die Originalkomposition fundamental in ihrer kompositorischen Struktur verändert und vor allem komprimiert wird, so dass diese ‚Musik über Musik‘ je nach der musikalisch-kompositorischen Qualifikation des Bearbeiters entweder zu einer ‚Quasi-Neukomposition‘ mit eigenständigem Charakter oder schlimmstenfalls zu einem zusammengestückelten Machwerk werden kann. In ersterem Fall kann es sein, dass der kreative ‚Zweitkomponist‘ von dem Primärkomponisten geradezu als Konkurrent angesehen wird, wie es Pfitzner im Zusammenhang mit der Kontroverse über die Christelflein-Paraphrase gegenüber Otto Singer, einem der fähigsten und anerkanntesten Bearbeiter, wohl empfand. Dieser wolle seine Musik verbessern und sich von der Buchstabentreue gegenüber dem (Original)-Werk emanzipieren, weil er seine Paraphrase als selbstständiges Kunstwerk ansehen möchte.

Damit ist die Bandbreite dieser Bearbeitungen und gleichzeitig ihre Problematik angesprochen: Auf der einen Seite stehen einfache ‚potpourrihafte‘ Aneinanderreihungen der Themen mit kurzen modulierenden Überleitungen, die oft nur aus wenigen Akkorden bestehen oder ganz fehlen, auf der anderen Seite eigenständige Bearbeitungen mit neuer Formgebung, orientiert an den klanglichen Möglichkeiten des Klaviers, mit oft tiefgreifenden Eingriffen in die Struktur des Originalwerks. Der Adressatenkreis ist das Klavier spielende bürgerliche Haus, wo auf diese Weise erste Kontakte zu dem paraphrasierten Werk geknüpft werden konnten, sei es als klangliche ‚Voraus-Information‘ im Hinblick auf den bevorstehenden Opern- oder Konzertbesuch oder als ‚Nach-Hören‘ der gerade erlebten Aufführung. Primär letzteres hat Otto Singer im Sinn, wenn er Pfitzner wissen lässt: „Der Zweck derartiger Paraphrasen ist, Dilettanten in möglichst angenehmer, mundgerechter Form Erinnerungen an die Melodien des paraphrasierten Werkes zugeben. Ein ernster Musiker wird ja immer vorziehen, sich den Klavierauszug anzuschaffen.“ Meist sorgten die Verleger dafür, dass diese Bearbeitungen möglichst zeitgleich mit der Uraufführung des jeweiligen Werks oder besser noch vor dieser auf dem Notenmarkt greifbar waren.

Der Arme Heinrich, Angereihte Stücke für Klavier, Verlag Max Brockhaus, Leipzig 1911 Pfitzners Opernerstling, immer ein rechtes Sorgenkind, nimmt innerhalb seines Opernschaffens eine Sonderstellung ein. Um zwei Jahre nach Vollendung des Werkes (1893) überhaupt Aussicht auf eine Aufführung zu haben, nahm der junge Komponist als ‚überzähliger‘, unbezahlter Hilfskapellmeister eine Stelle am Mainzer Stadttheater an, und als schließlich die Premiere 1895 anberaumt war, musste diese dann wegen der Absage des Sängers der Titelpartie verschoben werden. Es war auch weiterhin schwierig, das Stück an den Bühnen anzubringen, meist gab es nur wenige Folgeaufführungen, so dass die besondere Fürsorge verständlich wird, die der Komponist auch noch lange nach der Uraufführung gerade diesem Werk angedeihen ließ. Kein anderes Werk wurde so oft und so grundlegend umgearbeitet wie dieses: Das Textbuch erlebte fünf, der Klavierauszug gar acht Auflagen. Die vierte erschien 1911 und brachte weitgehende, umfassende und tiefgreifende Änderungen: Aus der bisher zweiaktigen Fassung wurde eine dreiaktige, Tempo- und Ausdrucksbezeichnungen veränderten sich und über 50 Metronomzahlen präzisierten die Tempoangaben; von den insgesamt 159 Seiten des Klavierauszugs weisen über 130 Veränderungen auf. Hermann Büchel fertigte dann 1911 einen „Klavierauszug zu zwei Händen mit überlegtem Text“ an, der sich eng an den Klavierauszug Pfitzners anlehnte. Immer noch im gleichen Jahr erschienen auch die „Angereihten Stücke für Klavier“, allerdings ohne Verfasserangabe. Die Autorschaft Büchels dürfte allerdings eindeutig geklärt sein: Pfitzner bestätigt in einem Brief, dass Büchel sein Honorar für die „angereihten Stücke“ erhalten habe und lobte dessen Arbeit („gut gelungen“), an anderer Stelle bezeichnete er Büchel als „den rechten Mann“ für eine solche Bearbeitung. Um 1922 erschien, wiederum ohne Verfasserangabe, eine von 303 auf 186 Takte gekürzte Fassung der nun „Potpourri“ genannten Büchel-Bearbeitung in der Reihe Sang und Klang im 19. und 20. Jahrhundert, einer populären Sammlung von bekannten Einzelnummern aus Oper, Operette, Lied, Salonmusik usw., in der sich noch weitere Pfitzner-Kompositionen finden: neben fünf Liedern Ausschnitte aus dem Christelflein und der Rose vom Liebesgarten.

1-Pfitzner ohne BrilleDie Rose vom Liebesgarten, Potpourri I für Klavier zu zwei Händen von Wilhelm Lenert; Potpourri II für Klavier zu zwei Händen von Rudolf Siegel, beide Verlag Max Brockhaus, Leipzig 1906 (Originalausgabe Musikverlag Julius Feuchtinger, Stuttgart 1903) Dass von Pfitzners zweiter Oper zwei Jahre nach der Uraufführung Ende 1901 in Elberfeld und zwei Jahre vor der ‚eigentlichen‘ Premiere 1905 an der Wiener Hofoper unter Gustav Mahler gleich zwei „Potpourris“ erschienen sind, zeigt an, wie sehr der Komponist diesem Werk zum Durchbruch verhelfen wollte. Nach dem Übergang aller bei Feuchtinger erschienenen Pfitznerwerke im Jahre 1906 an Brockhaus wurde auf dem neuen Titelblatt des neuen Verlegers die Bezeichnung „Potpourri“ durch „Angereihte Stücke“ ersetzt. Die Bearbeiter waren Wilhelm Lenert, der Pfitzner aus seiner Zeit als Lehrer am Sternschen Konservatorium bekannt war und der dort ab 1898 studierte, und Rudolf Siegel, den Pfitzner ebenfalls in seiner Berliner Zeit kennengelernt hatte. Siegel, ein Schüler von Humperdinck (der die Verbindung zu Pfitzner herstellte), führte 1911 den Armen Heinrich im Münchner Prinzregententheater auf. Der Schwerpunkt des ersten Teils (Potpourri I) ist ganz der Melodienseligkeit der Chor- und Tanzszenen aus dem Vorspiel und ersten Akt und der heiter gelösten Atmosphäre, dem „munteren Getümmel“  – bestimmt von der Grundtonart D-Dur – verpflichtet. Teil II ist kontrastreicher angelegt, da hier auch die finstere Welt des Nachtwunderers und am Schluss der Trauermarsch (Beginn des Nachspiels der Oper) erklingt.

Palestrina, Paraphrase für Klavier von Otto Singer – Das Christelflein, Paraphrase für Klavier von Otto Singer, beide im Verlag Adolph Fürstner, Berlin 1918 Mit den beiden Paraphrasen zu Palestrina und Christelflein begann die Zusammenarbeit mit der damaligen ‚Nummer Eins‘ der Musikbearbeiter: Otto Singer (1863-1931). Die Verbindung stellte der Verleger Fürstner her, der neben Brockhaus nicht nur Pfitzners Hauptverleger, sondern auch der von R. Strauss war, zu dessen Opern und symphonischen Dichtungen Singer neben den Klavierauszügen auch weitere Klavierbearbeitungen erstellt hat. Fürstner gab zunächst die Palestrina-Paraphrase in Auftrag, ohne Rücksprache mit Pfitzner zu nehmen, der deshalb etwas ungehalten reagierte: „Durch die Zeitung erfuhr ich, dass in Ihrem Verlag ein ‚Potpourri‘ aus ‚Palestrina‘ erschienen ist […] der Gedanke, von diesem Werk ein ‚Melodiensträußchen‘ zu versenden, ist mir nicht gerade eingehend“. Nach Erhalt von einigen Freiexemplaren fand er jedoch die Bearbeitung „nicht ungeschickt gemacht“ und war damit einverstanden, dass Singer auch eine solche zum Christelflein zusammenstellen würde. Als er aber diese nach drei Monaten erhält, reagiert er empört, ist „geradezu entsetzt“ und hat eine Fülle von Änderungswünschen, die sich auf die Auswahl der Themen, ihre Veränderung durch Singer und abweichende Tonartenwahl beziehen: „Alles in allem scheint mir das ganze Vorgehen des Bearbeiters auf der Ansicht zu beruhen, dass meine Musik verbessert werden müsste“. Der selbstbewusste Bearbeiter aber ist nicht bereit, allen Änderungswünschen Pfitzners nachzukommen und belehrt den Komponisten in einem ausführlichen Brief über das Wesen einer Paraphrase: Sie sei eine freie Bearbeitung, bei der es im Ermessen des Bearbeiters läge, Zutaten, Ausschmückungen und klangliche Vervollständigungen des Klaviersatzes anzubringen. In seiner Antwort gibt Pfitzner zwar zu erkennen, dass er keine Rechte mehr an dem Werke habe, verlangt aber wenigstens die Wiederherstellung seiner Originalthemen in ihrer melodischen, harmonischen und rhythmischen Faktur; dies und anderes („keine eingeschobenen 5/4-Takte“) scheint Singer dann doch noch geändert zu haben, jedoch bleibt die Weigerung bestehen, eine vollständig umgearbeitete Paraphrase nach Pfitzners Vorschlägen unter seinem Namen herauszugeben, so dass Pfitzner seinen Widerstand gegen den Druck aufgeben muss: „Der Verlag und Druck der Singerschen Paraphrase geschieht auf Ihre und Herrn Singers Verantwortung. Ideell protestiere ich natürlich nach wie vor durchaus“.

Aus heutiger Sicht sind beide Singer-Paraphrasen überzeugend gestaltet, so u.a. die Übergänge zwischen den einzelnen Melodien, die meist aus dem thematischen Material des gerade gehörten bestehen und nicht ‚nur‘ aus einigen (oder gar keinen) Modulationsakkorden, wie dies in der Büchel-Bearbeitung des Armen Heinrich des Öfteren der Fall ist. Singer geht allerdings sehr eigenständig mit dem gegebenen thematischen Material um, was z. B. die Fortführungen mancher Originalthemen betrifft; so greift Singer am Schluss der Palestrina-Paraphrase auf das die Oper eröffnende Quint-Quart-Motiv zurück und schafft so einen thematischen Rahmen, der im Original nicht vorkommt. Zudem sind „Melodiensträußchen“ aus einer heterogenen Nummernoper wie dem Christelflein mit oft weit auseinander liegenden Tonarten und sehr kontrastierenden musikalischen Eigenschaften sicher besonders schwer zu einer überzeugenden Einheit zu binden. Singers Ausführungen und Entgegnungen auf Pfitzners Kritik belegen, dass er sich durchaus der Problematik dieser Art von Bearbeitung bewusst war.

1-Pfitzner als junger MannDas Herz, Liebesmelodie für Klavier, Vorspiel zu Akt II und 29 Takte Akt III (Klavierauszug Ziffer 55 bis 58), Klavierauszug von Felix Wolfes, Verlag Adolph Fürstner, Berlin 1931 Das als „Liebesmelodie“ bekannte Klavierstück besteht aus dem 72-taktigen Vorspiel zum zweiten Akt von Pfitzners letzter Oper Das Herz (1931) und einer nach Dur gewendeten 29-taktigen „Coda“ aus dem Finale der Oper (III. Akt, Klavierauszug Ziffer 55 bis 58). Die insgesamt 111 Takte in der Klavierauszugfassung von Felix Wolfes entsprechen der orchestralen „Liebesmelodie“ aus dem 1932 erschienenen zweiteiligen Orchesterstück Hoffest und Liebesmelodie, in dem letztere Bezeichnung erstmals verwendet wird. Nach dem Zeugnis des Münchner Freundeskreises um 1930, allen voran Helmut Grohe und Paul Winter, die beide am Klavier die Oper erstmals vierhändig aus dem Autograph in Anwesenheit des Komponisten gespielt haben, hat dieser gerade diese Musik insbesondere auf seine 1926 verstorbene Frau Mimi bezogen und ihr gewidmet, ohne dies durch eine ‚offizielle‘ Widmung zu dokumentieren. Die von Pfitzner autorisierte Klavierfassung ist bereits von dem Münchner Pianisten Julius Müller-Landau in den vierziger Jahren gespielt worden und am 9.10.1949 im Salzburger Mozarteum in Anwesenheit des Komponisten erklungen, interpretiert von Gilbert Schuchter, der das Stück als „vom Komponisten autorisierte Klavierfassung“ Ende der sechziger Jahre im Rahmen seiner Pfitzner-Schallplatte eingespielt hat. Ende der dreißiger Jahre hat Pfitzner diese Musik mit dem Philharmonischen Orchester Berlin aufgenommen und 1937 für Hans von Benda und dessen Berliner Kammerorchester „mit nur einem Horn und einer Klarinette“ bearbeitet.

Die virtuosen Opernparaphrasen im Stile von Franz Liszt verschwanden als typische musikalische Erscheinungsformen des 19. Jahrhunderts um die Jahrhundertwende aus dem Konzertsaal; zugleich endete auch, spätestens mit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, die Zeit der Opern-Potpourris für Klavier, die fast immer auf Initiative der Verleger im Rahmen der vertraglich vereinbarten ‚Verwertungsrechte‘ in Auftrag gegeben wurden, um ein neues Werk zu propagieren, dies immer unter Berücksichtigung des spieltechnischen Leistungsvermögens der ‚Kenner und Liebhaber‘ und auch unter marktgemäßen Gesichtspunkten, wie die erstaunlich niedrigen Preise gegenüber den zugehörigen Klavierauszügen zeigen. Im Zeitalter der original besetzten Kompositionen, der Urtextausgaben und einer von bestimmten Kreisen geforderten ‚historischen Aufführungspraxis‘ sind Paraphrase und Potpourri suspekt geworden und leben nur noch in der U- und POP-Musik als Medley unangefochten weiter. Die um die 100 Jahre alte ‚Musik aus zweiter Hand‘ der Lenert, Siegel, Büchel und Singer sind zudem längst aus den Verlagsprogrammen und damit vom Notenmarkt verschwunden. Das ‚Nach- und Voraus-Hören‘ der Werke übernahmen ab Mitte der zwanziger Jahre zunehmend die neuen Medien der technisch vermittelten Musik wie Rundfunk und Schallplatte. Nach den um 1930 erscheinenden ‚Heim- und Kurzopern‘, den ‚Opernquerschnitten‘ und dem Siegeszug der Langspielplatte, des Tonbandes und der Musik-Kassette sowie letztendlich der CD und DVD mit den Gesamtaufnahmen von Opern und anderen Musikwerken, war das Kennenlernen und das unbegrenzte Wiederholen von Musik für jeden Musikliebhaber möglich geworden.

1-Pfitzner manskopfVerklungene Musik also? Versungen und vertan? Vielleicht nicht ganz, denn möglicherweise richtet eines Tages die Musikwissenschaft ihre Aufmerksamkeit auf diese bisher von ihr kaum zur Kenntnis genommene Gattung, trotz der hohn- und spottdurchtränkten Verdikte von Schopenhauer, die Pfitzner nachweislich kannte („eine aus Fetzen, die man honetten Leuten vom Rocke abgeschnitten, zusammengeflickte Harlekinsjacke“), Schönberg („erstarrtes Kaffeegeschwätz, ein Nichts, aus vielen Etwas bestehend“) sowie vielen anderen. Vielleicht wird einmal den zahllosen Potpourris und Paraphrasen, angereihten Stücken und Perlen, den Fantasien und Reminiszenzen eine ebenso überzeugende Darstellung zuteil wie der in gleicher Weise von vielen verachteten ‚Salonmusik‘. Die Schlussbemerkung in einem Standardwerk zur Bearbeitung schließt dies zumindest nicht aus: „Und vielleicht ist die Zeit nicht mehr fern, da die Bearbeitungen des 19. Jahrhunderts [und mit ihnen auch die der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, HR]) als Originale [Hervorhebung HR] wieder entdeckt werden.“ (Silke Leopold [Hg.], Musikalische Metamorphosen – Formen und Geschichte der Bearbeitung, Kassel u. a. 1992)

Die Texte wurden uns freundlicherweise von Peter P. Pachl und Hans Rectanus zur Verfügung gestellt. Beide sind Präsidiumsmitglieder der Hans Pfitzner Gesellschaft. Die Fotos des Komponisten stammen aus der Porträtsammlung Manskopf der UB der Goethe-Universitat Frankfurt am Main.

 

Wer singt denn nun wann?

Wer auf der Suche nach Aufnahmen mit Ferdinand Leitner ist, sollte sich zuerst die Frage stellen, was er nicht eingespielt hat. Dieser Dirigent war sehr fleißig. Tamerlano von Georg Friedrich Händel hat er – wie sich jetzt herausstellt – auch aufgenommen. Neunzehn Jahre nach seinem Tod 1996 in Zürich wächst die Händel-Abteilung seiner umfangreichen Diskographie damit auf drei Opern an. Der deutsch gesungene Julius Caesar mit Lucia Popp, Christa Ludwig, Walter Berry und Fritz Wunderlich (Bayerischer Rundfunk 1965/Orfeo) sowie Alcina, bereits in der Originalsprache, mit Joan Sutherland, Norma Procter und Wunderlich (WDR 1959/Deutsche Grammophon), dürften in vielen Sammlungen vorhanden sein. Angesichts ihres Wertes gelangten sie erst im Nachhinein auf offizielle Labels. Ihr erstes öffentliches Leben hatten sie unter diversen inoffiziellen Markenzeichen geführt. Die Alcina ist nicht nur wegen der Besetzung interessant. Sie ist auch deshalb etwas Besonderes, weil das begleitende Orchester ein besonderes ist – die Cappella Coloniensis. Unterstützt und gefördert vom mächtigen Westdeutschen Rundfunk, versuchte sie sich seit ihrer Gründung 1954 um Aufführungen im Stil historischer Aufführungspraxis. Das war neu. 1959, als die Alcina in Köln mitgeschnitten wurde, war ein Händel-Jahr. Es wurde seines 200. Todestages gedacht. Leitner hat damals erstmals die Cappella dirigiert und blieb ihr verbunden. Tamerlano war 1966 wieder ein Produkt dieser segensreichen Zusammenarbeit. Tamerlano wurde nun beim Label Profil Günter Hänssler veröffentlicht, was höchst verdienstvoll ist (PH11029), wenngleich die heutige Händelrezeption die Augenbrauen bis ganz kurz unter den Haaransatz angesichts der doch recht historischen Ausführung heben würde. Aber ich gebe zu, ich höre das gerne so! Was vielleicht eine Altersfrage ist.

Im Booklet nimmt der knapp und allgemein gehaltene Einführungstext aber keinen Bezug zu den Hintergründen und Leitners nachhaltiger Beschäftigung mit diesem Repertoire. Da wurde völlig unnötig gespart. Die Produktion erscheint lediglich als eine von zirka 300 Schallplattenaufnahmen, die „seinen exzellenten Ruf als nahezu grenzenloser Dirigent“ untermauerten. So ein Satz ist natürlich nicht falsch. Aber er reicht nicht. Vielmehr offenbart er erhebliche Informationsdefizite. Das Label verschenk viel. Leitner lässt eine stark gekürzte Fassung spielen. Welche? Spätere Produktionen haben bis zu achtzig Minuten mehr Musik. Kürzungen werden aber nicht deutlich gemacht. Ja, es findet sich in der Trackliste nicht einmal vermerkt, wer was singt. Es sind lediglich die Textanfänger der einzelnen Nummern aufgeführt. Damit können nur sehr vorgebildete Händel-Konsumenten etwas anfangen, die das Werk in und auswendig kennen. Für eine erste Begegnung mit Tamerlano reicht dieses Album leider nicht aus.

Man muss schon die Stimme von Helen Donath genau im Ohr haben, um sich ganz sicher zu sein, wann sie als Asteria in Erscheinung tritt. Ist das geklärt, stellt sich allerdings heraus, dass sie sehr gut zurechtkommt mit der Rolle, obwohl Händel in ihrem Repertoire nicht die Nummer eins gewesen ist. Sie verleiht der unglücklichen Sultanstochter, die um ein Haar zur Giftmörderin geworden wäre, am Ende aber Vergebung erfährt, menschliches Format. Die Bässe von Franz Mazura (Tamerlano) und Kieth Engen (Andronicio) wollen auch auseinander gehalten werden. Mazura machte sich vor allem im Wagnerfach, als Pizarro oder Scarpia einen Namen, folglich bringt ihn niemand zwangsläufig in Verbindung mit Händel. Er ist nicht die erste Wahl. Engen hat zumindest durch seine Mitwirkung in vielen Produktionen von Karl Richter Erfahrungen mit Barockmusik, die ihm nun zu Gute kommen.

Bei allem Fortschritt, den die Aufnahme durch einen sehr leichten, flotten und durchsichtigen Orchesterklang markiert, wird sie durch die Besetzung der beiden männlichen Partien stilistisch zurück geworfen – wirkt inzwischen doch sehr historisch, eben wie man in den 1960ern besetzte. Harnoncourt oder Jacobs waren noch nicht auf dem Plan. In der Uraufführung der Oper 1724 in London wurden beide Rollen von Kastraten gesungen. Eine Praxis, an die in der Neuzeit mit Altstimmen bzw. Countertenören angeschlossen wird. Zwei aus Finnland stammende Sänger, die erfolgreiche Karrieren hatten, auf Tonträgern aber nur selten zu finden sind, komplettieren das Ensemble: die Mezzosopranistin Raili Kostia als Irene und der Bariton Kari Nurmela als Leone.

Wo also auf die Schnelle ein Libretto hernehmen, um der Aufnahme doch noch mit Gewinn folgen zu können? Im Buchhandel scheint es gar nicht verfügbar. Rettung kommt – wie inzwischen so oft – aus dem Netz. Im Wikipedia-Eintrag über Tamerlano ist unter Weblinks eine italienische Ausgabe abrufbar, die sich als PDF herunterladen lässt. Jetzt heißt es, immer den richtigen Anschluss zu finden, die Kürzungen auszumachen. Dazu braucht es eine gute Maus, denn der Text muss heftig gescrollt werden, will man ihn nicht auf vielen Seiten ausdrucken.

Rüdiger Winter

Ein Thema jagt das andere

Wenn ein deutsche öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt eigene Aufnahmen einem Label in England zur Verfügung stellt, was ist das? Im besten Fall kulturelle Globalisierung. Im schlimmsten Fall hat sich für Carl Loewes Klaviermusik in seinem Heimatland keine Firma gefunden. Wie dem auch sei, bei Toccata Classics mit Sitz in London ist jetzt als Volume one Piano Music von Loewe veröffentlicht worden mit Linda Nicholson am Klavier (TOCC 0278). Die Engländerin spielt ihr breit angelegtes Repertoire, das vom Barock bis zu Frühklassik reicht, am liebsten auf Instrumenten aus der jeweiligen Zeit. Sie legt Wert auf Authentizität. Für Loewe kommt ein Instrument der berühmten Londoner Klavierbauer-Brüder Collard & Collard zum Einsatz, das um 1850 entstand. Der Klang ist gelegentlich etwas trocken. Aufgenommen wurde im November 2012 im WDR-Funkhaus in Köln. Des Programm der CD enthält die aus fünf Sätzen bestehende Zigeuner-Sonate, die Tondichtung Mazeppa, die Große Sonate in E-Dur und die Alpenfantasie.

loewe cpoLoewes Klaviermusik sprudelt über vor musikalischen Einfällen. Thema auf Thema. Ein Gedanke jagt den anderen, so dass mitunter der Eindruck entsteht, Ausführung und Ausformung der einzelnen Themen kämen zu kurz. Das gilt für beide große Sonaten. Es spricht ein starker musikalischer Mitteilungsdrang aus dieser Musik. Sie prägt sich deshalb rasch ein und kann durchaus auch mal nebenbei gehört werden. Das richtet sich nicht gegen Loewe, das zeugt von seinem überbordenden Talent. Wer sich mit den Balladen, die sein gewaltiges Hauptwerk bilden, auskennt, wird viele Ähnlichkeit feststellen.

Für seine Tondichtung Mazeppa, die mir am besten gefällt, braucht Loewe keine zehn Minuten. Er wurde durch die literarische Vorlage von Lord Byron inspiriert, die 1819 erschienen war – gut zehn Jahre bevor sich Loewe an seine Komposition machte. Liszt kam mit seiner sinfonischen Dichtung, die auf ein Gedicht von Victor Hugo zurückgeht, mehr als zwanzig Jahre danach. Tschaikowski beschäftigte sich mit dem Stoff noch viel später. Seine Oper, die einem Gedicht von Puschkin folgt, wurde 1884 uraufgeführt. Mazeppa, längst zum Hetman, also zum Führer des Kosakenheeres aufgestiegen, ist in die Jahre gekommen und liebt eine junge Frau, die seine Tochter sein könnte. Im Gegensatz zu Tschaikowski wenden sich Liszt und Loewe der legendenumwobenen, rasanten Vorgeschichte zu, die auch Maler zu dramatischen Gemälden inspirierte.

mazeppa

Mazeppa auf dem Rücken seines toten Pferdes: Ausschnitt aus einem Gemälde des französischen Malers Horace Vernet

Mazeppa war als Page an den Hofe des polnischen Königs Johann Kasimir gekommen, der auch über ukrainische Provinzen gebot. Er genoss das Vertrauen des Königs, wurde mit vielen Missionen betraut, schließlich aber hart bestraft als er in sehr vertraulichem Umgang mit der Gattin eines einflussreichen Magnaten überrascht wurde. Dieser soll ihn nackt auf den Rücken seines eigenen Pferdes gebunden haben, das fortan durch die Steppe raste. Nach wenigen Tagen stirbt das Pferd, Mazappa aber wird völlig entkräftet von Kosaken gerettet, zu deren Heerführer er aufstieg. Ähnlich Liszt, der dazu ein großes Orchester zur Verfügung hatte, schildert Loewe ausschließlich den verhängnisvollen Ritt. Das Klavier rast, dem Pferde gleich. Selbst dann, wenn sich die Musik dem Helden, seinen Gedanken, Nöten und Ängsten zuwendet, ist der Hintergrund von Unrast erfüllt. Es ist ganz erstaunlich, wie viel Dramatik und Bildhaftigkeit Loewe aus seinem Instrument herausholen kann – auch hier ganz der Geschichtenerzähler.

Mir ist nicht bekannt, ob Loewe, der 46 seins Lebens als Organist, Kantor, Musikdirektor und Gymnasiallehrer in Stettin zubrachte, jemals die Alpen gesehen hat. Aus seiner Alpenfantasie ist auch Sehnsucht und Aufbruch herauszuhören. Sie ist wie ein entschlossener Aufstieg angelegt also wollte da einer mit großer Entschlossenheit und mit raschem Schritt aus seiner engen Welt ausbrechen und höher und höher hinaus, um dann auf halber Strecke aufzugeben – oder gar abzustürzen. Der Schluss ist abrupt. Ich würde mir wünschen, dass dieser CD noch weitere nachfolgen, denn noch ist ein erheblicher Teil des Gesamtwerkes von Loewe unerschlossen. In jüngster Zeit kommen aber immer neue Titel hinzu. Daran hat das Label cpo erheblichen Anteil mit seiner vorbildlichen Gesamteinspielung aller Lieder und Balladen auf einundzwanzig CDs. Wirklich aller? Zumindest aus der patriotischen Abteilung des Werkverzeichnisses fehlt mancher Titel. Gewiss ist das meiste offenbar sehr lässlich, aber man hätte sich schon gern selbst ein eigenes Bild gemacht.

Rüdiger Winter

Jedem seinen Jonas

Jonas Kaufmann kann nicht nur gut singen, er hat auch etwas zu sagen – wenn ihm denn die richtigen Fragen gestellt werden. Thomas Voigt, Stimmenexperte, Musikjournalist und Reisender in Sachen Oper, stellt solche Fragen. Er kennt Kaufmann gut – und immer besser, seit er „peu a peu“ dessen Presse- und Medienarbeit übernahm. Da fällt schon mal ein „neues“ Buch ab, das sich bei näherem Hinsehen als aktualisierte Neuauflage des Titels „Jonas Kaufmann – „Meinen die wirklich mich?“ von 2010 erweist. Seither hat sich einiges getan, die Neuerscheinung reagiert drauf mit einem inhaltlichen Update und etwa fünfzig zusätzlichen Seiten. Schon das Titelbild ist das glatte Gegenteil von einst. Es ist nicht mehr so fröhlich bunt, sondern gibt sich ganz als hohe Kunst in Schwarz-Weiß wie ein Hollywood-Film aus den 1930er Jahren. Aus dem netten Jungen von nebenan im T-Shirt ist ein tiefsinnig blickender Hochglanzstar im Smoking geworden. Auch das unrasierte kleine Tenor-Doppelkinn ist nun weg. Noch wirkt er wie verkleidet, als sei er hineingeborgt in das nicht ganz perfekte sitzende nagelneue weiße Hemd, unter dessen Manschette nicht ganz so zufällig wie es scheinen will, eine garantiert sündhaft teure Uhr hervorblitzt. Warum nicht. Der Mann verdient ja genug Geld. Er bastelt an seinem Image. Und er sieht nach wie vor blendend aus, was seinem Marktwert nicht abträglich ist. Bei Frauen wie bei Männern.

51jR2ilKWgLReizwörter werden mal eben so fallen gelassen. „Wer hat den Größten, wer hat den Längsten?“ Kaufmann hat kein Problem mit derlei erotischem Geplänkel und kriegt geschickt die Kurve zum Eigentlichen, das sich seriös gibt: „Das Schöne an Oper und Opernstimmen ist ja, dass beide Ebenen angesprochen werden: das Sinnlich-Animalische und das Seelische.“ Er redet über Stimmen, berühmte Kollegen, seine Lehrer, technische Details, über eigene Ängste, Phobien und Niederlagen, über die Callas, die er gern komplette als Isolde gehört hätte (und nicht nur mit dem Liebestod), über Belcanto bei Wagner, Dirigenten, Deutschtümelndes im Lohengrin. Er weiß, wer Georges Thill war, hat sich bei seinem Werther-Studium mit dessen Aufnahmen beschäftigt, wollte mal französischer klingen als die Franzosen, kommt auf die Unterschiede des Faust bei Goethe und Gounod zu sprechen, reflektiert über Aspekte von Eigentherapie bei Don José. Er kommt auf Zeiten zu sprechen, da er „gern wie Wunderlich oder Corelli geklungen hätte“. Schließlich gelangt er aber zu dem Schluss, dass man sich als Sänger nichts Besseres antun könne, als „die eigenen Stimme zu finden“.

So schön, so gut. Bei allem Bemühen des Buches, hipp und jung sein zu wollen, wozu auch das inzwischen unerlässliche „geil“ gehört (ach ja…), gibt es reichlich konservative Anklänge. „Beseelt“ sei ein Wort, dass sich heute kaum noch einer auszusprechen traue, wirft Voigt mehr als Bemerkung denn als Frage ein. ein. Darauf Kaufmann: „Vielleicht, weil es den meisten Menschen zu kitschig klingt.“ Aber wenn man übers Singen rede, sei eben dieses Wort unersetzlich, weil „es einen Zustand“ bezeichne, den man nicht durch Wollen erreiche, sondern durch Geschehenlassen, nicht durch Leistung, sondern durch Sein. Kaufmann als Philosoph. Auch das. Im Liedgesang sieht er die „Königsklasse des Singens“. Dieses Repertoire erfordere „wesentlich mehr Feinarbeit als jede andere sängerische Disziplin, mehr Farben, mehr Nuancen, mehr Differenzierungen in der Dynamik, subtileren Umgang mit der Musik und mit dem Text“. Und so liest es sich fort. Anspruchsvoll und unterhaltsam zugleich.

Der nette Junge von nebenan: So sah das Buch in der ersten Auflage aus.

Der nette Junge von nebenan: So sah das Buch in der ersten Auflage aus.

Bevor das Buch aber inhaltlich in Fahrt kommt, fallen gleich auf den ersten Seiten alle Stichworte, mit denen heutzutage sehr bunte Zeitungen und manche Talk-Shows auszukommen pflegen: Fußball, Kochkunst, Social Networks, Angela Merkel, Skifahrer, Foto-Shooting, Plácido Domingo, Christmas-Show, schöne Russin, roter Teppich, Krafttraining, Anna Netrebko, Thronfolger, Sexsymbol, Model-Image, Fitnessstudio, WM, Magen verkleinern, Latin-Lover-Look, Drei Tenöre – und Brad. Brad? Brad Pitt natürlich, wer sonst? Erst später, und im Personenverzeichnis eingeklemmt zwischen Edith Piaf und Michel Plasson, taucht er mit seinem vollen Namen auf. Wer nicht weiß, wer Brad ist, kann dieses Buch gleich zur Seite legen. Vorerst muss Brad reichen. Man ist ja unter sich, man kennt sich. So erklärt es sich, dass meistens auch nur von Jonas die Rede ist. Jonas dort, Jonas da, Jonas hier, Jonas oben, Jonas unten, Jonas hüben, Jonas drüben. „Jedem zu Diensten zu allen Stunden, umringt von Kunden bald hier, bald dort. So wie ich lebe, so wie ich webe, gibt es kein schön‘res Glück auf der Welt“, sagt wer anders in Rossinis Oper. Es jonast sich so durch die 240 Seiten. Jedem seinen Jonas.

Willkommen bei Facebook. Kaufmann ist ohne das Netz überhaupt nicht mehr vorstellbar. Nun tritt Marion Tung auf den Plan  Sie betreibt die inoffizielle Kaufmann-Website. Die ist sehr gut gemacht. Mit Mühe und Sorgfalt ausgestattet. Immer auf dem Laufenden. Wer wissen, will, wann Kaufmann was und wo gesungen hat, wird genau so fündig wie der Operntourist, der schon mal die Flüge für den nächsten Auftritt in Übersee buchen will. Im Buch wird die Adresse der Website gleich mitgeliefert. Es bleibt auch – auf etwas uncharmante Weise – nicht unerwähnt, dass es sich bei Marion Tung um eine 62-jährige ehemalige Finanzbeamtin handelt, die verwitwet und also „völlig frei“ sei. Frei, um dem Tenor in alle Welt nachzureisen. Live-Sammler kennen sie – virtuell als Adina/Albous auf den Hosentaschenportalen (so behaupten Eingeweihte). Einst hatte sie sich José Carreras verschrieben und diverse Foren im Netz mit seinen Dokumenten überschüttet. Nun ist es Kaufmann. Nach den zitierten Angaben der Witwe Tung kursieren an die 500 Mitschnitte von Aufführungen und Konzerten Kaufmanns. Einen großen Teil davon dürfte sie selbst mitgeschnitten und in diversen Foren verbreitet haben, gehen die Gerüchte. Frage einen Kenner der Szene nach ihr, und er wird dir eine Geschichte erzählen. Da war doch damals was…. Aber nun ist sie sogar offiziell gelitten. Und in den engen Kreis vorgelassen. So wird man als Pirat Hofpersonal.

Sänger gehen heute offenbar viel lockerer mit derlei Fans um. Die mehren ihren Ruhm, weil sie ihn dokumentieren. In Opernhäusern und Konzertsälen ist er schneller verflogen. In den heimlichen Mitschnitten, die durch das Netz rasen, Festplatten und selbstgebrannte CDs füllen, bleibt er bewahrt. Anfrage aus Detroit: Hat jemand den soundsovielten Werther vom soundsovielten Tag in Paris? Habe ich, kommt nach wenigen Minuten die Antwort aus Brüssel! Wieder fünf Minuten später landet genau dieser Werther sechsmal auf dem Rechner der Person, die die Suche auslöste – weil auch andere mitgelesen hatten, die von sich behaupten, einen technisch noch viel besseren Mitschnitt zu besitzen. So ähnlich läuft das. Am Ende ist es völlig egal, wie die Tagesform der Sänger gewesen ist, ob ein Ton saß oder nicht. Manchmal spielt es sogar überhaupt keine Rolle, welches Werk gespielt wurde. Der Mitschnitt als solcher ist es. Kaufmann kann singen, was er will. Und wenn es der Vogelhändler wäre.

Musikkritiker sind nicht die Zielgruppe des Buches. Aber sie können es lesen. So bleibt einem das entzückend bebilderte Kapitel über „Eine ganz normale Kindheit“ aus der Feder einer gewissen Irene Leipprand nicht erspart, die dafür schon im Vorwort mit Dank versehen wird. Sie gibt vor, dass der kleine Jonas Kaufmann eines Tages am östlichen Rand von München während eines Fußballspiels mit improvisiertem Tor, bei dem er sich als „Schreihals“ hervortat, plötzlich „heimbefohlen“ wurde. Ein Fenster im fünften Stock habe sich aufgetan, daraus die Stimme der Mutter ertönte: „Jooooonas! Abendessen!“ (Wer hat nur die vielen O’s gezählt?) Jedenfalls habe der Junge dem Ruf „ohne Murren“ Folge geleistet. Im Treppenhaus sei ihm der Duft von „Rouladen und Kartoffelpürree“ in die Nase gestiegen. Oben angekommen, habe ihn die Mutter an der Wohnungstür „routiniert“ abgefangen. (Was immer darunter zu verstehen ist.) Frau Leipprand will sich genau daran erinnern, dass sich der spätere Weltstar an diesem ganz gewöhnlichen Münchner Abend zuerst die „vermatschten Schuhe“ auszog, dann (in dieser Reihenfolge) Socken und Hemd. Es bleibt nicht unerwähnt, dass beide Kleidungsstücke „in der Wäsche“ landeten. Die Lederhose musste nur trocknen und wurde „später ausgebürstet“. Ob vor dieser pflegerischen Verrichtung oder danach – jedenfalls rief der „Pimpf“ (Pimpf???) mit „lautem Organ“: „Is‘ Papa schon da?“ Aus für die Leser unerfindlichen Gründen drückte die Mutter daraufhin „schnell die Wohnungstür zu“. Stand sie die ganze Zeit offen? Endlich war die Familie um den Tisch versammelt. Dann sei „Fressstille“ (das steht da wirklich!) eingekehrt, und der Vater habe von seinem Arbeitsalltag erzählt. Eines Tages „nickte die Mutti im Sessel schon mal weg“, als sich Jonas beim täglichen „Tastenspiel“ erging (immerhin ein musikalischer Haushalt!). Ach, und dann diese Kälte beim Chorsingen auf den Rathausbalkon, als der Knabe und seine Schwester „gerötete Nasen“ hatten. So geht das wortreich fort in einer Sprache von 1930. Als würde aus Kindertagen von Rudi Schock erzählt. Manche Wörter habe ich seit Jahrzehnten nirgends mehr gelesen. Dazu gehört auch der „Knirps“, der sich beim ersten Opernbesuch wunderte, dass die tote Madame Butterfly am Schluss quicklebendig vor dem Vorhang erschien. Jonas wuchs prächtig heran. Seine Chronistin aus frühen Tagen lässt (fast) nichts unerwähnt, erspäht im Zimmer des Teenagers schon mal einen kleinen Kassettenrecorder und die Fan-Ecke für den FC Bayern München. So bleibt nicht aus, dass der „fröhliche Frechdachs“, mit dem schon mal „die Pferde“ durchgehen“, alsbald auch den „Liebreiz des weiblichen Geschlechts“ entdeckt. Und der staunenden Öffentlichkeit wird mitgeteilt, dass Jonas über ein „südländisches Aussehen“ verfügt. Unser Jonas: Ein Heimatroman im Klein-Heftformat ist nichts dagegen. Ach ja.

Rüdiger Winter

Thomas Voigt: Jonas Kaufmann – Tenor. Henschel/Bärenreiter, 240 Seiten, zahlreiche Fotos, ISBN 978-3-89487-938-9 (Henschel), 978-3-7618-2369-9 (Bärenreiter)

Jarousskys geheimer Garten

Philippe Jaroussky ist im Café Procope eingekehrt. In seiner neuesten CD (rechtzeitig erschienen zur Tournee im März/April, so am 17. 3. in Berlin) spielt dieses berühmte Pariser Etablissement im Quartier Latin eine wichtige Rolle: Green – Mélodies françaises sur poèmes de Verlaine. Es gibt ein Foto, das den Lyriker Paul Verlaine, der von 1844 bis 1896 lebte, im Café zeigt. Es stammt aus seinem Todesjahr. Der Dichter allein auf einem Sofa sitzend, vor ihm der Tisch mit der weißen Marmorplatte. Darauf Schreibzeug, ein nicht näher bezeichnetes Getränk, reichlich bemessen in Glas und Karaffe, der Stock und der Hut. Hüte auf Tischen bringen Unglück, heißt es. Für Verlaine war Unglück keine Bedrohung mehr. Seine zermürbende Liebe zu dem zehn Jahre jüngeren Arthur Rimbaud endete tragisch. Verlaine schoss auf Rimbaud und musste dafür ins Gefängnis.

1-VCD Jaroussky VerlaineIn dieser Zeit entstanden die Romances sans paroles, die Lieder ohne Worte. Den Titel der Sammlung soll Verlaine bei Mendelssohn entliehen haben. Green ist ein Gedicht draus. „Hier siehst du Blätter, Früchte, Blumenspenden / und hier mein Herz, es schlägt für dich allein. / Zerreiß es nicht mit deinen weißen Händen / lass dir die kleine Gabe teuer sein.“ Verlaine gilt als typischer Vertreter des Symbolismus. Jaroussky hat die Wahl, kann sich an dem reichen Werk bedienen – und ist fündig geworden für sein Album, das aus zwei CDs besteht (Erato 0825646166954). Green ist gleich in drei verschiedenen Varianten vertreten – von Gabriel Fauré, André Caplet und Claude Debussy, der dem Dichter übrigens als Kind zufällig begegnet war. Caplet nimmt sich mit mehr als drei Minuten doppelt so viel Zeit wie Fauré, der eine Minute einundvierzig braucht. Debussy liegt mit zwei Minuten sechzehn dazwischen. Caplet (1878-1925) wiederholt die letzte Zeile „… und lass mich, da du schläfst ein wenig ruhn“. Bei ihm klingt das Lied zudem mit einem Nachspiel aus. Allein deshalb hinterlässt es die größere Wirkung. Wie Green werden viele der insgesamt zwanzig ausgewählten Gedichte Verlaines in bis zu drei unterschiedlichen Vertonungen dargeboten. Darin besteht ein großer Reiz. Der Dichter hat auf Komponisten eine starke Anziehungskraft ausgeübt. Kaum ein anderer ist in Frankreich ist so oft vertont worden wie er. Jules Massent fühlte sich genauso inspiriert wie Camille Saint-Sains, Arthur Honegger, Ernest Chausson oder Reynaldo Hahn. Die Stile wechseln wie die Komponisten jünger werden. Das Verbindende ist die Sprache, die für sich genommen ein unverwechselbares Flair entfaltet. Benoit Duteurtre zitiert in seinem lesenswerten Essay im Booklet den Dichter René Chalupt aus einer Studie von 1949: „Das Originelle an Verlaine war, dass er in seinen Gedichten eine neue Musik hören ließ.“

Dr Dichter Paul Verlaine 1896 im Café Procope im Pariser Quartier Latin.

Der Dichter Paul Verlaine 1896 im Café Procope im Pariser Quartier Latin / Repro aus dem Booklet

Musikalisch ist der Auftakt des Albums einschmeichelnd, fast verführerisch. „Im alten einsamen Park, wo es fror, / traten eben zwei Schatten hervor. / Ihre Augen sind rot, ihre Lippen erblassen, / kaum kann man ihre Worte fassen“, lauten die ersten Zeilen von Colloque sentimental in der Komposition von Léo Ferré (1916-1993). Ferré war einer der erfolgreichsten Chansonniers des 20. Jahrhunderts, der auch selbst komponierte. Seine Platten und seine Konzerte im Pariser Olympia sind Legende. Vom Streichquartett wird die Melodie aufgenommen, die das Klavier vorgibt. Jaroussky zieht seine Zuhörer auf einen Schlag tief in dieses Repertoire hinein, das er seinen „geheimen Garten“ nennt. Man kommt nicht davon los, bleibt dabei. Das Album schließt nach knapp zwei Stunden mit Colombine, von Georges Brassens in Töne gesetzt. Brassens, der bis 1981 lebte, war nicht nur ein erfolgreicher Schriftsteller und Dichter, sondern machte sich ebenfalls als Chansonnier einen Namen weit über die Grenzen seiner französischen Heimat hinaus.

Ganz im Stil eines Chansons bewegt sich bisweilen auch Jaroussky, beweist dabei Witz, Charme und Leichtigkeit – holt auf diese Weise Verlaine in die Gegenwart. Er legt den Opernsänger über weite Strecken völlig ab und gibt seiner Stimme eine ganz neue, ja überraschende Richtung, wie es sich schon auf seiner ersten CD „Opium“ mit französischen Melodien ankündigte, die vor fünf Jahren herausgekommen ist. Jaroussky könnte sich gut und gerne auch in diesem Fach mit Erfolg behaupten. Mittlerweile ist er Siebenunddreißig. Kein Alter für einen Sänger. Viel hat er erreicht. Genauso viele Möglichkeiten stehen ihm noch offen. Er braucht ja nirgends anzukommen, wie ein Heldentenor, auf den noch der Tristan oder Otello wartet, um seine Karriere zu vollenden. Bei Jaroussky ist vieles denkbar. Er legt sich nicht fest, probiert sich immer wieder neu aus und erweist sich dabei als außerordentlich entdeckungsfreudig – für sich und für sein Publikum.

1-Opium-CD Jaroussky

Bereits im Jahr 2000 ist die erste CD von Philippe Jaroussky mit  französischen Liedern bei Erato/Warner erschienen.

„Warum sollte ein Countertenor nicht die nötige Einfühlsamkeit und Vokaltechnik haben, um französische Lieder zu singen?“ Diese Frage stellt Jaroussky in einem knappen eigenen Text des Booklets mehr an sich selbst. Es scheint, dass dabei auch Zweifel mitschwingen, was ihn nur sympathischer und überzeugender macht. Gewiss verfügt er über diese Einfühlsamkeit und diese Vokaltechnik. Es ist aber auch zu spüren, wie hart er dafür gearbeitet hat. Nicht jede Nummer überzeugt in allen Details in der musikalischen so wie in der darstellerischen Ausführung. Manche Töne geraten etwas spitz, gar veristisch. Getragene Passagen gelingen in der Regel besser als die stürmischen. Das alles kann auch gewollt sein. Jaroussky geizt nicht mit Gefühlen, lässt viel Nähe zu, ohne sich anzubiedern. Selbst diejenigen, die des Französischen nicht mächtig sind, können ihm problemlos folgen. Warum? Weil er Inhalte plausibel durch Ausdruck, Charme und Pointen transportiert. Auf eine gewisse Weise ist sein Publikum ihm ausgeliefert, was er zu genießen scheint.

Es bleibt ein Wagnis, gut zwei Stunden hintereinander französische Lieder auf Texte von Verlaine vorzutragen. Zumal für einen Sänger dieses Kalibers, der mir atemberaubenden Koloraturen riesige Säle in seinen Bann schlägt, aus dem sich die Menge am Ende solcher Darbietungen nur durch heftige Schreie der Begeisterung befreien kann. Hier nun ist alles ganz anders. Und es ist gut möglich, dass Jaroussky auch enttäuscht, weil er bestimmt Erwartungen nicht erfüllt. Ganz bewusst nicht erfüllt. Ich fühle mich an Marilyn Horne erinnert, die lange Liederabende gern mit Brahms, Mahler und Mozart ausfüllte, das Publikum aber vor allem deshalb gekommen war, weil als Zugaben Arien von Rossini oder Vivaldi zu erwarten waren. Sie tat mir dafür immer ein bisschen leid, leistete aber unnachgiebig Überzeugungsarbeit auf diesem Gebiet. Sie wollte sich nun mal auch als Liedsängerin durchsetzen.

Paul Verlaine (1844-1896) als Troubadour auf einem Gemälde von Frédéric Bazille.

Paul Verlaine (1844-1896) als Troubadour  auf einem Gemälde von Frédéric Bazille / Repro aus dem Booklet

Bei seinen Eroberungen von musikalischem Neuland hat Jaroussky treue Verbündete, wofür er Dankbarkeit empfindet. Einer ist sein langjähriger Bühnenpartner Jérôme Ducros am Piano, der auch die meisten Titel neu arrangierte. Bei neun Nummern kommt das Quatour Ebène hinzu, was – ich sage es ganz offen – auch für willkommene Auflockerung sorgt. In das Lied „La lune blanche“, von Massenet für zwei Stimmen gesetzt, teilt sich Jaroussky mit der Altistin Nathalie Stutzmann. Dieses Lied fließt dahin wie eine Barkarole. Es ist Luxus pur, die viel beschäftigte Altistin und Dirigentin, die auch bei anderer Gelegenheit mit Jaroussky zusammengearbeitet hat, nur für diesen einzigen Titel zu verpflichten.

Vom Glanz fällt auch etwas auf die Ausstattung des Albums. Jaroussky hat sich tatsächlich ins Le Procope begeben, um sich dort ablichten zu lassen, im Sweetshirt – und mit Weste und Gehrock im Stile der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wie Verlaine, der sich auf Gemälden und Fotos findet. Von den Komponisten wurden in Teilen seltene Konterfeis aufgetan. Das macht viel her. Alle Texte, darunter die Gedichten selbst, sind dreisprachig – auch in Deutsch – abgedruckt. Der alte Spruch, wonach das Auge mithört, erfüllt sich. Heutzutage sind solche Ausstattungen, die bis in alle Einzelheiten stimmen, selten geworden. Ein anspruchsvoller Inhalt findet seine Entsprechung in der äußeren Form. Gut so.

Die CD ist das Eine. Vor Publikum einen ganzen Abend (am 17. 3. 2015 im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie) mit diesem Programm zu bestreiten, ist die eigentliche Herausforderung. Inhaltlich und künstlerisch. Dann kann nämlich nicht mehr probiert, abgewogen, umgestellt, korrigiert oder wiederholt werden. Alles muss sitzen. Jaroussky hat glänzend bestanden. Schließlich war die Produktion des Albums die allerbeste Probezeit. Live wählt er eine neue Reihenfolge. Er beginnt anders und endet anders. Die Auswahl wirkt spontaner, nicht ganz so perfekt ausgeklügelt wie im Studio. Daran hat auch sein langjähriger Begleiter am Flügel, Jérome Ducros, erheblichen Anteil, der zwischen den Liedern mit Klaviermusik von Debussy beeindruckt. Jaroussky braucht auch eine gewisse Zeit, um mit seinen individuellen Mitteln stimmlich in das Idiom dieser Melodien hinein zu finden. Von Lied zu Lied legt er zu. Tragisch-sentimentale Titel wie „O triste étaiut mon ame“ von Charles Bordes gelingen zunächst am besten. Das ist aber nur ein vorläufiger Eindruck. Am Ende kommt es ganz anders. Ein freches und mit Spott gespickte Couplet aus der Buffo-Oper Fisch-Ton-Kan (ein Spitzname, der Napoleon III. angehängt wurde) von Emmanuél Chabrier wird zum umjubelten Rausschmeißer. Es bleibt einem mit samt dem jubelnden Beifall auch noch auf dem Heimweg im Ohr. Der Kammermusiksaal war nicht ausverkauft, was nicht am Sänger, sondern am Programm gelegen haben dürfte, das natürlich weniger Publikum anzieht als rasende Barockarien mit Orchester. Jaroussky weiß das. Für seine Lieder nimmt er auch eine kleine Runde, wo sie besser aufgehoben sind, in Kauf. Mit ihr kann er kommunizieren. Es scheint, als ob er jeden einzelnen im Saal im Blick hat. Als ob er flirtet. So fühlt sich das Publikum sehr ernst genommen. Es hängt ihm an den Lippen. Er dankt es, indem er sich nach dem kräftezehrenden Konzert bestens gelaunt und charmant wie immer zur Autogrammstunde einstellt, Widmungen in die CD-Alben schreibt und artig Fragen beantwortet. Kein Zweifel, dass Jaroussky auch diesmal neue Fans gewonnen hat.

Das Café Procope an der Rue de l’Ancienne Comédie 13 wurde 1686 gegründet. Foto: Screenshot Google Street View

Das Café Procope an der Rue de l’Ancienne Comédie 13. Foto: Screenshot von Google Street View

Sein neues Album erfüllt auch ein Klischee. Es macht irgendwie Lust auf Paris, obwohl nicht die Stadt im Mittelpunkt steht, sondern der Dichter und seine Komponisten, die natürlich alle in der Stadt gelebt haben und deren ganz eigene Melodie in sich aufnahmen. Paris ist immer gegenwärtig wie ein eingebildetes Hintergrundgeräusch. Ich werde endlich Verlaines Grab besuchen auf dem Friedhof von Batignolles in der Rue Saint-Just im Nordosten des 17. Arrondissements, wo auch Schaljapin seine letzte Ruhe fand. Im Jardin du Luxembourg steht die mit seinem Haupt gekrönte Stele des schweizerischen Bildhauers Rodo. Und dann natürlich auch im Café Procope, Rue de l’Ancienne Comédie 13, einkehren. 1686 wurde es vom Italiener Francesco Procopio dei Coltelli gegründet. Älter dürfte kein Kaffeehaus sein in Paris. Es hat alles gesehen und beherbergt, was Rang und Namen besaß in Kunst, Wissenschaft und Politik. Wessen Name nicht selbst auf einem Buchdeckel oder in einer Zeitung stand, drückte sich mit eben solch einem Buch oder solch einer Zeitung in einer Ecke herum und tat so, als ob er dazu gehörte. Heute genügt eine Kreditkarte oder ein gut gefülltes Portemonnaie. Buch und Zeitung können getrost beiseite bleiben. Ich habe ja Jaroussky und seine Lieder im Kopf.

Rüdiger Winter

Foto oben: (c) Marc Ribes

„Erwacht zu neuem Leben“

Noch in diesem Jahr steht ein besonderes Jubiläum ins Haus – der 100. Geburtstag von Elisabeth Schwarzkopf am 9. Dezember. Ihre größten Erfolge hat The Intense Media schon mal in einer Box auf zehn CDs zusammengefasst (232762). Dazu komme ich noch. Auch von Wolfgang Windgassen wird noch zu reden sein, der nun ebenfalls seine Box bekommen hat (600212). Der Vortritt meiner Beschäftigung mit den Sänger-Sammlungen des Labels gehört Martha MödlThe Queen of Drama in Opera (233382), deren Hundertster drei Jahre zurück liegt. In der Sammlung sind ihre besten Jahre zusammengefasst. Das wird ihr mehr gerecht als eine Gesamtschau auf die lange Karriere mit dem bald einsetzenden Verfall der Stimme und dem schwierigen Übergang ins Charakterfach. Die Mödl, das sind für mich in allererste Linie Brünnhilde, Isolde, Kundry – und zwar in Bayreuth. Nirgendwo anders ist ihre Ausstrahlung stärker gewesen als dort. Sie fühlte sich wohl in diesem Klima, gefördert von Wieland Wagner, Knappertsbusch und Keilberth. Das belegen die vielen Mitschnitte, die sich weitgehend in sehr guter Klangqualität erhalten haben, weil im Rundfunk gesendet. Denn wer hat sie schon noch selbst gehört in ihrer Glanzzeit? Die Zeitzeugen werden weniger. Meine persönliche Erinnerung streifen nur ihre letzten Jahre, als der Beifall, der sie überall noch immer umrauschte, mehr der Vergangenheit galt als der jeweiligen Tagesform in den noch so kleinen Rollen.

Mödl-BoxAls ich sie zum ersten Mal sah – als Golde in Düsseldorf – ist mir genau das geschehen. Ich ging nicht wegen der Golde auf die Reise, ich wollte endlich die Sängerin live erleben, von der ich jeden Mucks auf allen möglichen Tonträgern kannte, die für mich der Inbegriff hochdramatischen Singens ist, die mir eine Tür in Wagners Welt aufgestoßen hatte. Das also sollte sie sein? Das ihre Stimme? Ich war nicht enttäuscht. Denn ich hatte ja nichts anderes erwartet als die schlichte Tatsache, sie leibhaftig auf der Bühne zu sehen. Glückliche Umstände wollten es, dass ich sie anschließend sogar noch persönlich traf. In dieser Begegnung erfuhr ich viel mehr über die Wirkung dieser bedeutenden Künstlerin als zuvor in der Vorstellung. Da war sie nun. Viel kleiner und zarter als erwartet, sehr freundlich, natürlich, neugierig, durch und durch Dame im kleinen schwarzen Jackenkleid. Die Beine noch immer wunderschön in den eleganten Schuhen. Sie machte es mir sehr leicht, kam auf mich zu, als würden wir uns ewig kennen und mal eben ganz zufällig wiedersehen. Dadurch wertete sie ihr Gegenüber auf, nicht sich selbst. Mit der dunklen Sprechstimme erinnerte sie mich viel stärker an die Hochdramatischen aus fernen Tagen als mit den Resten ihrer Gesangsstimme als Golde.

Die Mödl war schon zu Lebzeiten ihre eigene Legende. Wer davon eine Vorstellung bekommen will, höre sich in die Box hinein. Gesamtaufnahmen von ganzen Opern können nicht darunter sein, das gibt der Platz nicht her. Zehn CDs – das klingt zunächst viel. Am Ende fehlt es hinten und vorne. Es gibt keine Neuigkeiten. Alles hat es bereits schon im Rahmen anderer Editionen gegeben. Gut bedient wird, wer am Anfang seiner Beschäftigung mit der Mödl steht. Die größte zusammenhängende Szene ist der erste Aufzug der Walküre von 1954 aus Bayreuth unter Joseph Keilberth mit Max Lorenz als Siegmund und Josef Greindl als Hunding. Fortgesetzt wird mit Sieglinde-Szenen aus den folgenden beiden Aufzügen. Nur in diesem einen Jahr hat sie die Sieglinde gesungen, sie lag ihr nicht, was auch zu hören ist. Ihr fehlt es schlicht an Höhe und Atem. Lorenz, nicht mehr der Jüngste, ist ihr kein Partner. Er hat zu tragen an seiner Rolle und singt meist nur für sich selbst. Die Einfügung in das Bayreuther Ensemble der Nachkriegsära wollte ihm wohl nicht mehr gelingen, er war einen anderen Stil gewöhnt. Trotz aller Einschränkungen ist die Entscheidung für dieses Dokument seiner Seltenheit wegen sinnvoll. Von anderem Kaliber ist die Brünnhilde, die der Mödl abgesehen von einigen tückischen Spitzentönen, bei denen ich heute noch die Luft anhalte, mehr liegt. In dieser Rolle kann sich die Stimme wunderbar entfalten und ihre Fähigkeit zu enormen Steigerungen ausleben. So stelle ich mir Wagnergesang vor. Alle großen Szenen – bis auf den fulminanten ersten Auftritt in der Walküre, der unbedingt dazugehört hätte – stammen aus verschiedenen Quellen. Bayreuth steht an erster Stelle mit dem Siegfried-Finale und dem Duett „Zu neuen Taten“ aus Götterdämmerung von 1953 mit Wolfgang Windgassen als Siegfried. Eine knappe halbe Stunde – nämlich die Auseinandersetzung mit Wotan (Ferdinand Frantz) vor dessen Abschied und Feuerzauber – ist der von Wilhelm Furtwängler geleiteten Wiener Studioproduktion der Walküre entlehnt. Den Schlussgesang gibt es zweimal, einmal aus der berühmten Ring-Produktion der RAI Rom von 1953 unter Wilhelm Furtwängler und zum anderen aus dem Studio mit dem von Arthur Rother geleiteten Orchester der Städtischen Oper Berlin, eingespielt 1952.

Bayreuther Ausschnitte aus Parsifal springen etwas unmotiviert zwischen den Jahren 1951 (Hans Knappertsbusch) und 1953 (Clemens Krauss). Es fällt nicht leicht, aus diesem Stückwerk ein genaues Bild von der womöglich besten Leistung der Mödl zu rekonstruieren. Parsifal braucht es nun mal ganz. Dreigeteilt ist der Tristan mit Live-Aufnahmen aus Bayreuth (1952 / Herbert von Karajan), München (1958 / Joseph Keilberth) und aus dem Studio (1954 in gleicher Begleitung wie der Schlussgesang der Brünnhilde unter Rother). Ausgerechnet beim Münchener Liebetsod müssen akustische Mängel hingenommen werden, die unnötig sind, weil es Alternativen gegeben hätte. Die Mödl war nicht nur Wagner. Ihre bedeutendste Leistung außerhalb von dessen Schaffen dürfte die mehrfach dokumentierte Leonore in Beethovens Fidelio gewesen sein, mit der sie 1955 bei der Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper dabei war. Mehr Ehre ging damals nicht. Sechs Szenen, darunter die große Arie „Abscheulicher, wo eilst du hin“, rufen ein packendes, ja spektakuläres Opernereignis in Erinnerung. Die Mödl singt um ihr Leben und traf damit wohl genau den Nerv einer Zeit, in der die Erinnerung an die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten noch so tief saß – auch in Österreich. Leonore noch einmal in einem seltenen Dokument aus Wien, mitgeschnitten 1953 unter Karajan mit der leicht exaltierten Elisabeth Schwarzkopf als Marzelline. Schließlich dürfen auch Ausschnitte aus Furtwänglers Studioaufnahme von 1953 nicht fehlen. Mödl und Studio – das ist nicht die glücklichste Verbindung. Sie war ein Bühnentier, Studio engte sie ein wie ein Käfig. Dem Bemühen, ja alles richtig zu machen, opfert sie ihre Spontaneität. Sie ist plötzlich nicht mehr riskant. Bei Fidelio vor dem Mikrophon kann Furtwängler am Pult noch gehörig gegenhalten, bei anderen Aufnahmen fehlt dieser Impetus. Carmen, Ulrica, Eboli, Preziosilla oder Dido überzeugen mich genau so wenig wie die Lieder von Beethoven. Als Grenzfall kommt mir die Lady Macbeth vor, die es auch in beiden Ausführungen gibt. Während „Nun sinkt der Abend“ und „Dieser Flecken kommt immer wieder“ aus dem Studio zu gewollt wirken, gelingen die selben Szenen 1950 auf der Bühne in Berlin um Längen packender und echter. Wenn dann noch Josef Metternich als Macbeth hinzutritt, lassen mir die unheimlichen Minuten nach der Ermordung des Königs immer wieder einen Schauer über den Rücken laufen. Wie lauernd sich beide stimmlich umschleichen, lässt keinen Gedanken daran aufkommen, dass da manche Note womöglich nicht ganz exakt getroffen ist.

1-Metternich-BoxJa, der Metternich. Er hat seine eigene Box bei Intense, etwas allgemein mit The Great Josef Metternich betitelt (233382). Das stimmt immer, da ist nichts falsch. Ich überlegte, wie man es hätte genauer ausdrücken können und bin auch nicht weiter gekommen. Reichlich Macbeth auch hier. Die Szenen sind CD-füllend. Mit zusätzlichen Ausschnitten wird der Mitschnitt aus Berlin wieder aufgegriffen, der sich auch komplett erhalten hat. Hinzu kommen Auszüge aus der Rundfunkproduktion des WDR unter Richard Kraus, in der Astrid Varnay die Lady gibt. Verdi ohne Ende. Mehr als die Hälfte des Programms ist ihm vorbehalten – zu Recht. Metternich ist mit keinen anderen Komponisten so stark identifiziert worden. Sogar an die Met nach New York hat er es mit Verdi geschafft, was seinerzeit wirklich einem Ritterschlag gleichkam. Leider wird weitestgehend auf Mitschnitte verzichtet, der Schwerpunkt liegt auf den Rundfunkaufnahmen, die in ihrer Menge Legende sind: Macht des Schicksals, Maskenball, Aida, Troubadour, Carlos, Traviata, Othello, Falstaff und natürlich seine Leibrolle Rigoletto – in Deutsch. Korrekt, konzentriert, immer auf dem Punkt. Seine Stimme bohrt sich in die Partien hinein, als wollte er auch die tiefsten Schichten an Ausdruck freigelegen. Metternich, höchst musikalisch und sicher, hatte in seiner besten Zeit zwischen 1950 und 1960 nicht das geringste technische Problem. Er klingt nur immer gleich. Das spricht für ihn, denn es bedeutet auch, dass er immer gleich gut gewesen ist gemessen am Verständnis und den Erwartungen seiner Zeit. Verdi in deutscher Übersetzung mit gestandenen Kammersängern als Partner wie Hans Hopf, Rudolf Schock, Melitta Muszely, Clara Ebers oder Richard Holm hört sich halt anders an als die Originale an der Scala.

Zu Verdi kommt Puccini mit Tosca (Scarpia) und Mantel (Marcel), Leoncavallo mit Bajazzo (Tonio), Giordano mit André Chenier (Gerard) usw. Kein Ende ist in Sicht, denn da wären ja auch noch die Russen, die Franzosen – und das deutsche Fach, das auch seine eigene CD bekommen hat mit Marschner, Wagner, Strauss, Korngold. Metternich kannte keine Grenzen. Er war der Vielseitigsten einer. Und doch gibt sich die Box mit einem spannenden Kapitel seiner Karriere zugeknöpft. Gemeint sind Operette und Musicals. Gasparone (Carl Millöcker) und Zigeunerprimas (Emmerich Kálmán) mit seinem schwelgerischen Bariton wie Butter gehören für mich zu seinen schönsten Leistungen. Er hat auch an der Synchronisation von Kiss Me Kate und Eine Frau für sieben Brüder mitgewirkt.

1-Intense WindgassenAls Der erste Heldentenor in Neu-Bayreuth wird Wolfgang Windgassen gefeiert. Eigentlich hätte er mit der Mödl in eine gemeinsame Box gehört, so eng sind beider Karieren verzahnt. Sie standen oft in ein und derselben Vorstellung auf der Bühne. Ohne die beiden ist der Bayreuth in der Nachkriegszeit überhaupt nicht denkbar. Sie haben sängerische und darstellerische Standards gesetzt. Insofern hat Intense Recht getan, in die jeweilige Box des einen gehörig viel vom anderen zu packen. Beide sind nun in weiteren Szenen aus Walküre, Siegfried, Tristan und Isolde, Parsifal und Fidelio zu hören – wechselweise live und Studio. Sollte ich wählen müssen, ich würde immer für Mitschnitte optieren. Was für Mödl gilt, gilt auch für Windgassen. Das Mirkophon wirkt wie eine Bremse. Sie brauchen die Bühnen, können erst dort alle ihre Möglichkeiten entfalten, auch ihr stimmlichen Ressourcen ökonomisch verwalten. In Mitschnitten geben Sänger viel mehr von sich preis. Windgassen hat rauf und runter alle Wagner-Rollen gesungen, die für ihn in Frage kommen – auch den Rienzi. Alle sind gebührend berücksichtigt, was praktisch dazu führt, dass acht CDs mit Wagner vollgestopft sind. Selbst auf die verbleibenden zwei wurden schnell mal noch zwei Dokumente aus Tannhäuser und Holländer geklemmt – zum einen die Szene aus dem Venusberg mit Margarete Bäumer „Stets soll nur dir, nur dir mein Lied erklingen“, zum anderen der Erik in der Auseinandersetzung mit Senta (Annelies Kupper) „Was muss ich hören“ aus der DG-Gesamtaufnahme unter Ferenc Fricsay.

Spannend und lehrreich zugleich finde ich die verbleibenden hundertzehn Minuten mit Szenen aus Fidelio von Beethoven, Guntram von Strauss, Rose vom Liebesgarten von Pfitzner, Wildschütz von Lortzing, Freischütz und Euryanthe von Weber, sowie Tiefland und Tote Augen von d’Albert. Sie wecken Begehrlichkeiten. Ich hätte gern noch mehr davon gehört. Denn diese Aufnahmen außerhalb des Dunstkreises von Wagner lassen tief in die Werkstatt dieses Sängers blicken. Es wird deutlich, wie er seine relativ kleine Stimme mittels phänomenaler Technik ins große Fach erweitern konnte. Windgassen war ein Heldentenor dank seiner Intelligenz. Das funktionierte auf Dauer nur, weil er zwischendurch immer wieder den Tamino gesungen hat. Von hm können all jene lernen, die sich zu früh und zu ausschließlich auf Wagner werfen.

Rothenberger-BoxDie Fünfte im Bunde dieser Betrachtungen ist Anneliese Rothenbergerdie Stimme für Millionen, wie sie auf ihrer Box bezeichnet wird, die unter dem Label Membran auf den Markt gekommen ist (232764). Das trifft es. Die Rothenberger kennt (fast) jeder. Ihre Fernsehkarriere hat ihr ein großes Publikum, nicht aber immer Beifall der Kritik und der Opernfraktion eingebracht. Es ist eine glückliche Entscheidung, nur solche Aufnahme ins Programm der Edition aufzunehmen, die vor dieser Zeit entstanden sind, nämlich zwischen 1950 und 1958. Damals waren übrigens die Rothenberger, die Mödl und Metternich zeitweise gleichzeitig in Hamburg engagiert. Eine gemeinsame Aufnahme lässt sich allerdings nicht nachweisen. Ach, wäre das schön gewesen. Dafür aber findet sich eine Nummer auf CD 7 als Track 5, die allein die Anschaffung dieser Box lohnt: „Künstlerball bei Kroll“ aus Künnekes Die lockende Flamme. Diese drei Minuten sind für mich eines der rasantesten Operettendokumente, die ich kenne. Die Rothenberger setzt ein Feuerwerk in Gang. Sie rast atemlos durch das Couplet mit einer Textmenge, die selbst Wotans Walküre-Monologe in den Schatten stellt. Sie ist frech, lästert unverschämt. Niemand ist vor dieser scharfen Zunge sicher. Eine ganze Gesellschaft bekommen ihr Fett weg. So frei und unverstellt habe ich sie nie wieder gehört. Am Ende musste ich die CD erst einmal anhalten, um selbst Luft zu holen für das weitere Programm.

Denn das hat es in sich, ist noch reichhaltiger als bei Metternich. Operette, so weit das Ohr reicht. Neben den gängigen Titeln auch seltene Stücke wie Die verschleierte Maja von Michael Jary, Anita und der Teufel von Theo Mackeben oder Anouschka und der Walzerkönig von Rudolph Schmidt. Drei englisch gesungene Szenen aus Gershwins Porgy and Bess mit Lawrence Winters berühren mehr, als dass sie das Idiom dieses Werkes treffen. Schwebend die Gilda mit „Teure Name, dessen Klang“ aus Rigoletto, alles andere als langweilig die versonnene Szene „Bin ich am Wald“ aus Pfitzners Christelflein. Alles, was ich an den späteren Aufnahmen der Rothenberger auszusetzen habe, gerät in Vergessenheit angesichts dieser verschwenderischen Fülle an Begabung und Talent der jungen Frau.

Nun also Elisabeth Schwarzkopf mit ihren „größten Erfolgen“. Ob die Kinderlieder des Gelegenheitskomponisten Walter Gieseking tatsächlich dazu gehören, sei dahin gestellt – auch dann nicht, wenn er selbst am Klavier, seinem eigentlichen Metier, sitzt. Lieder von Carl Loewe, Richard Trunk und Hermann Zilcher sind ebenfalls nicht das, was einem bei Schwarzkopf zu allererst einfällt. Da müssen andere Komponisten her: Strauss, Mozart, Wolf. Die finden sich natürlich auch in der Sammlung. Drei Ausschnitte aus dem Rosenkavalier, zwei davon aus der berühmten EMI-Produktion von 1956 unter Herbert von Karajan, sind gesetzt. Die Schlussszene aus der Gesamteinspielung von Capriccio mit Wolfgang Sawallisch am Pult auch. Ariadne auf Naxos und Arabella kommen hinzu. Wenn ich ihre Arabella höre, verfalle ich jedes Mal in Wehmut, dass keine Gesamtaufnahme zustande gekommen ist. Ehemann und Produzent Walter Legge hielt das Werk damals in seiner Gänze nicht für markttauglich. Er, der gewöhnlich weit in die Zukunft blicken konnte, hatte sich diesmal geirrt. Arabella ist heute aus den Spielplänen nicht mehr wegzudenken.

Dass die Vier letzten Lieder nicht fehlen dürfen, versteht sich von selbst. Es wurde – völlig zu Recht – die erste Einspielung, die Otto Ackermann dirigiert, ausgewählt. Die glitzert nicht so wie die von George Szell dirigierte Stereo-Aufnahme, dafür fließt die Stimme so wunderbar. Sie gilt Kennern nach wie vor als die gelungenste. Mozart ist mit jenen Opern berücksichtigt, die über Jahre zum festen Bestandteil ihres immer kleiner werdenden Repertoires gehörten: Figaro, Don Giovanni, Cosi fan tutte. Die drei Cosi-Szenen sind ausschließlich der frühen Karajan-Produktion entlehnt, bei den anderen beiden Opern wurden verschiedene Quellen angezapft. Lieder dieses Komponisten in frühen Rundfunkproduktionen (1944) mit Michael Raucheisen offenbaren eine Natürlichkeit und Schlichtheit, die später mehr und mehr der Kalkulationen wichen. „Erwacht zu neuem Leben“: Der Beginn des Liedes Frühlingsanfang könnte das Motto dieser, wenn nicht aller Boxen sein. Hugo Wolf kommt mit sechzehn Liedern etwas zu kurz weg. Fast alle ihre vielen Liederabende hatten eine Gruppe von Wolf-Liedern im Programm. Ohne die Kernarbeit von Schwarzkopf und Legge, der schon in den 1930er Jahren für ihn warb, hätte Wolf heute nicht den Stellenwert, der ihm tatsächlich auch gebührt. Die Wahl fiel auf vierzehn Titel aus dem Liederabend 1953 in Salzburg, als Wilhelm Furtwängler am Flügel saß. Im Gänze ist das ein höchst eigenwilliges und unterhaltsames Dokument. Es sollte nicht zerteilt werden. Wie stark die Schwarzkopf das Ausdrucksspektrum bei Wolf-Liedern erweitert und bestimmt hat, wird erst im Studio in der Zusammenarbeit mit Gerald Moore offenbar.

Drei CDs mit Operette, Walzern und leicht gehaltenen Liedern betonen die heitere Seite der Sängerin, von der sie sich gern zeigte. Die Schwarzkopf-Diskographie ist unerschöpflich. Und immer noch kommen neue Titel hinzu. Für neue Ausgrabungen ist der bevorstehende 100. Geburtstag hoffentlich Anlass genug.

Rüdiger Winter

 

Die Posaune weckt die Toten auf

Hat es sich das Label Profil Günter Hänssler anders überlegt? Mit Karl Richter Edition war erst neulich eine CD mit Flötenkonzerten unter Leitung dieses Dirigenten überschrieben. Das ließ hoffen. Nun ist davon keine Rede mehr. Das von Richter geleitete Requiem von Wolfgang Amadeus Mozart erschien in ganz allgemeiner Aufmachung (PH15006). Ein Grund für die eher schlichte Vermarktung könnte auch darin  bestehen, dass diese Aufnahme eine sehr gute alte Bekannte ist. Sie erschien bereits bei der Teldec unter dem Dach einer Edition. Auch Telefunken war mit einer eigenen Ausgabe auf dem Markt.

Ob nun mit oder ohne neue Edition, an der Musik und ihrer Interpretation ändert das nichts. Die Einspielung stammt vom November 1961. Das ist lange her. Wie bei Richter nicht anders zu erwarten, singt der Münchener Bach-Chor, spielt das Münchener Bach-Orchester. Mit Maria Stader (Sopran) und Hertha Töpper (Alt) sind zwei gestandene Sängerinnen mit entsprechender Erfahrung in diesem Genre aufgeboten. Der gradlinige holländische Tenor John van Kestern ist nicht so oft auf Platten anzutreffen. Insofern ist seine Mitwirkung auch eine diskographische Bereicherung. Er hat nach wie vor seine Anhänger. Etwas aus der Rolle fällt Karl Christian Kohn mit seinem robusten Bass, der mit Kaspar oder Geisterbote besser bedient wäre denn mit Mozart. Sein „Tuba Mirum“ lässt tatsächlich aufschrecken, auch aus dem Quartett ragt er zu stark heraus. Richter war bei der Auswahl seiner Solisten oft sehr eigenwillig. Nicht alle Entscheidungen sind nachzuvollziehen. Er geht das Requiem groß und dramatisch an. Es klingt wuchtig. Als sollten die Toten aufgeweckt werden. Nicht umsonst ist Franz Eder an der Posaune extra erwähnt.

Cd Richter FlötenkonzerteFlötenkonzerte von Wolfgang Amadeus Mozart und Joseph Haydn waren im Dezember  2014 herausgekommen (PH 13055). In dem Album mit zwei CDs findet sich als eine Art Bonus noch die berühmte Ballettmusik „Reigen seliger Geister“ aus der Oper Orpheus und Eurydike für Flöte und Orchester von Christoph Willibald Gluck. Hänssler pflegt das Andenken an Richter. Es dürften also noch weitere Aufnahmen mit diesem Dirigenten zu erwarten sein. Bereits 2012 war die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach mit Irmgard Seefried, Hertha Töpper, Ernst Haefliger, Dietrich Fischer-Dieskau – ursprünglich Archiv Produktion Deutsche Grammophon – neu aufgelegt worden. Bach ist ein festes Posten im Gesamtkatalog. Für das kommende Jahr – es wird der 330. Geburtstag des Thomaskantors begangen – ist eine Edition mit 36 CDs angekündigt, in der auch Richter vertreten sein wird. 
Richter und Bach sind eins. Wer im Internet auf die Suche geht, findet diese Einheit bestätigt. Bach, soweit Auge und Ohr reichen. Nun war der auch Richters täglich Brot. Richter begann seine musikalische Laufbahn als Kruzianer in Dresden, studierte in Leipzig bei den Thomaskantoren Karl Straube und Günter Ramin, wurde mit 23 Jahren Thomasorganist, führte an seiner späteren Hautwirkungsstätte München den Bach-Chor und das Bach-Orchester zu internationalem Ruhm, reiste mit diesen Ensembles um die ganze Welt, machte unzählige Aufnahmen, die sogar ins Fernsehen und schließlich auf DVD gelangten. Er pflegte einen vergleichsweise groß besetzten Bach, der inzwischen durch die so genannte historisch informierte Aufführungspraxis (HIP) als überholt und historisch gilt. Und doch geht von Richters Interpretationsstil nach wie vor eine sehr elementare Wirkung aus, die viele Anhänger hat. Ich gehöre dazu. 
Richter kann noch mehr als Bach. Er hat sich Händel zugewandt, Brahms, Gluck und Mozart. In dem Gedenkkonzert der Münchner Philharmoniker für den verstobenen Dirigenten Rudolf Kempe, das am 4. Juli 1976 stattfand, setzte er neben der g-Moll-Sinfonie (KV 550) von Mozart die vierte Sinfonie von Robert Schumann auf das Programm. Schade, dass ihm nicht genug Zeit geblieben ist, sein romantische Repertoire zu pflegen und weiter auszubauen. Der Schumann ist hinreißend in seiner Klarheit und in seinem Schwung. Fünf Jahre nach dieser musikalischen Trauerfeier für den Freund war er selbst tot. Das Konzert, von dem sich ein Rundfunkmitschnitt erhalten hat, verdient es, veröffentlicht zu werden. Ein Projekt für Hänssler? Dort gibt es nun Mozart und Haydn. Die Flöte bei den Konzerten spielt der Schweizer Aurèle Nicolet, der oft mit Richter zusammengearbeitet hat. Zwischen beiden stimmt die Chemie. Ihr Zusammenspiel ist von gegenseitiger Zurückhaltung geprägt, der Solist bekommt immer den Vorrang, kann sein virtuoses Können voll entfalten und trägt die grundsolide Interpretation durch Richter mit. Er reißt nie aus. Es ist viel Heiterkeit und Licht in diesen Aufnahmen, zumal die Flöte immer eine gewisse Naturnähe schafft. 
Mit dabei ist auch das berühmte Konzert KV 314, das ursprünglich als Oboenkonzert komponiert wurde und in dem ein Einfall den nächsten jagt. Es lohnt sich, die Aufnahmen mehrfach zu hören, also nicht gleich ins Regal einzuordnen. Ihren ganzen Reichtum, der sehr viel Ruhe und Ausgeglichenheit verbreitet, habe ich erst dadurch erfahren. Zunächst klingen die Konzerte – wenn das Wort denn erlaubt ist – grundanständig. Darin liegt die Gefahr, dass sie zur Hintergrundmusik werden. Wäre das so schlimm? 
Rüdiger Winter

Magische Töne

 

Warum jetzt an Maria Cebotari denken? Am 10. Februar 1910 geboren, am 9. Juni 1949 gestorben. Kein Jubiläum kann also der Anlass sein. Eine neu entdeckte Aufnahme vielleicht? Genau. So ist es. Bei Orfeo ist Der Zaubertrank von Frank Martin als Mitschnitt von den Salzburger Festspielen 1948 erschienen (C 890 142 A). Endlich. Die Cebotari als Isolde, Isot, wie sie in dem Stück heißt. In Dokumentationen über das Festival sind vier Aufführungen im Landestheater vermerkt, die vorletzte am 24. August wurde im Rundfunk übertragen. Ein originales Band hat sich erhalten. Endlich wurde es aus dem Archiv geholt. Dem Label sei Dank. Damals war es ein Wagnis, das strenge Stück, das weder Oper noch Oratorium ist, anzusetzen, heute dürfte es ein Wagnis sein, damit auf den heiß umkämpften Musikmarkt zu gehen. Reichtümer werden damit nicht zu holen sein. Der Wert misst sich in anderer Währung.

Das Foto zeigt Maria Cebotari in einem PR-Shot als Violetta/La Traviata auf dem Cover einer alten Saga-LP/OBA

Das Foto zeigt Maria Cebotari in einem PR-Shot als Violetta/La Traviata auf dem Cover einer alten Saga-LP/OBA

Nur eine Szene aus dem (in Salzburg deutsch gesungenen) Zaubertrank war in gut sortierten privaten Sammlungen seit Jahren zu finden, wenngleich in ziemlich mieser Klangqualität. Sie ließ mehr ahnen, als dass sich daraus ein Gesamteindruck hätte rekonstruieren lassen. Sie handelt von der Begegnung zwischen Tristan (Julius Patzak) und Isot im ersten Teil. Für mich der eindrucksvollste Moment des ganzen Werkes. Isot antwortet auf die Tristans Frage, was es sei, dass sie quäle: „Die Liebe zu euch.“ Was in der wörtlichen Niederschrift lakonisch klingt, ist in der musikalischen Wiedergabe meilenweit davon entfern. Martin lässt seine Figuren aus dem Chor, der wie in der griechischen Tragödie agiert, immer wieder heraustreten, so auch in dieser Szene. In dieser Loslösung entsteht die überwältigende Wirkung. In der Diskographie von John Hunt (ISBN 9780952582731), die für die genaue Beschäftigung mit der Cebotari unerlässlich ist, heißt es auf Seite 199 über den Zaubertrank – im Original Le vin herbé„unpublished radio broadcast“. Von nun an gilt das nicht mehr.

Maria Cebotari, die aus dem heutigen Moldavien stammt, auf einer Briefmarke ihres Heimatlandes.

Maria Cebotari, die aus dem heutigen Moldavien stammt, auf einer Briefmarke ihres Heimatlandes.

Ich bin mit der Cebotari aufgewachsen. Meine Mutter hatte ihre Filme gleich nach der Premiere gesehen und immer und immer wieder davon erzählt. Deshalb hielt ich sie zunächst für eine Schauspielerin, die sie nur episodenhaft gewesen ist. Ihre bessere Hälfte war und blieb der Gesang. Eine meiner ersten eigenen Schallplatten enthielt Musik aus La Bohéme und Madame Butterfly„Man nennt mich jetzt Mimì“, „Eines Tages sehn wir“ und das Duett „Mädchen, in deinen Augen liegt ein Zauber“ mit dem Tenor Walther Ludwig. Ich bräuchte die Aufnahmen von 1942 gar nicht mehr neu zu hören, obwohl sie längst als CDs im Regal stehen. So tief haben sie sich eingegraben, als sei das Gehirn selbst der Tonträger. Diese elementare Erfahrung habe ich mit kaum einer anderen Sängerin gemacht. Auf mich wirkt die Cebotari immer noch wie ein Naturereignis. Meine Liebe zur Oper ist ohne sie nicht denkbar. Das liegt nicht an mir, das liegt an ihr. Sie öffnet die Ohren. Als ich noch ein Junge war, gab es kaum Operngesamtaufnahmen. Arien und Querschnitte waren die Norm. Das Gros der Aufnahmen mit Maria Cebotari besteht aus solchen Szenen. Mir kam es immer so vor, als würde sie in einer einzigen Arie den Stoff der ganzen Oper verdichten wie der Meisterkoch die Kraft des Fleisches in einer Consumé.

Die Tatiana hat Maria Cebotari - hier mit Autogramm - an der Berliner Staatsoper gesungen.

Die Tatiana hat Maria Cebotari – hier mit Autogramm – an der Berliner und Dresdner Staatsoper gesungen.

Sie singt höchst konzentriert. Bei ihr scheinen die Noten zusammenzurücken. Wohl deshalb ist mir die Arie der Susanne aus Figaros Hochzeit die allerliebste Aufnahme einer Arie geblieben. Sie lockt mit der Stimme, setzt somnambule Dunkelheit verführerisch, erotisch ein. „Endlich naht sich die Stunde…“ Da kann alles und mancher gemeint sein, nicht nur Figaro, auch der Graf, gar der Page. Es ist das Lied der Liebe, das durch die Nacht klingt. Eine Prise Chanson mischt sich bei. „Feuer und Fieber“, überschreibt Jürgen Kesting in seinem Standardwerk Die großen Sänger das Kapitel über die Sängerin und trifft damit ins Zentrum. Die Wirkung ist auch nach mehr als siebzig Jahren nicht verflogen. Kunst und Können verfallen eben nie. Mir scheint, sie stellt den Ausdruck immer über die Technik des Gesangs. Manchmal schleift sie Töne. Das aber gerät zur Gestaltung, wenn Ungenauigkeiten, gar Nachlässigkeiten in den Koloraturen bei Partien wie Konstanze oder Violetta noch wie Stärken wirken. Zumindest fällt es mir schwer, dies ihr als Schwäche anzulasten. Die Cebotari macht aus Individualität ein Markenzeichen. Sie ist unverwechselbar.

Gedenktafel an ihrem Berliner Wohnhaus an der Hessenallee 12 - Foto: Winter

Gedenktafel an ihrem Berliner Wohnhaus an der Hessenallee 12 – Foto: Winter

Jeder Vergleich mit ebenso berühmten Kolleginnen ist so mühsam wie sinnlos. Aber in einem Fall kann ich nicht widerstehen. Das ist die Salome. Es gibt zwei Dokumente, den berühmten Schlussgesang von 1943 und den Londoner Aufführungsmitschnitt des Gastspiels der Wiener Staatsoper von 1947. Konkurrenz in dieser Zeit ist übermächtig. Ljuba Welitsch und Christel Goltz sind die berühmtesten Namen, gelten bis heute als Inbegriff, gar als Nonplusultra. Daran ist nicht zu rütteln. Und doch hat die Cebotari etwas in der Stimme, was die anderen so ausgeprägt nicht haben – Jugend. Sie ist die Kindfrau. Dabei ist sie von den Dreien die Älteste. Als Daphne hätte sie lange vor Hilde Güden die Maßstäbe setzten können. 1943 wurde der Schussgesang eingespielt, der große Erwartungen ans Ganze weckt – zart, verhalten, tastend. Daphne ist selbst erstaunt, was da mit ihr passiert, nämlich das Wunder der Verwandlung. Das Finale aus Ariadne auf Naxos, 1947 mit dem trunkenen Karl Friedrich unter Thomas Beecham entstanden, markiert den Beginn einer neuen Ära in der Karriere der Schallplattensängerin Maria Cebotari.

Eine alte ETERNA-LP jetzt auf CD. Irrtümlich enthielt die die Martern-Arie mit der Schwarzkopf. Das hatte für Verwirrung gesorgt.

Eine alte ETERNA-LP jetzt auf CD bei Berlin Classics. Irrtümlich enthielt sie die Martern-Arie mit der  jungen Elisabeth Schwarzkopf. Das hatte für Verwirrung gesorgt.

Viel Zeit blieb ihr aber nicht, um nun unter wesentlich besseren technischen Bedingungen aufzunehmen. In London hatte sich ihr das berühmte Studio No. 1 in der in der Abbey Road aufgetan. Der allmächtige EMI-Produzent Walter Legge war auf sie aufmerksam geworden. Das versprach mehr Arbeit im Detail, größere Genauigkeit. Ein Exklusivvertrag war abgeschlossen. Legge betreute den Monolog der Ariadne „Es gibt ein Reich“, der ein Jahr später mit den Wiener Philharmonikern eingespielt wurde, nun schon unter Herbert von Karajan. Wie eine beglückende Zugabe bei diesen Aufnahmesitzungen wirkt Saffis Arie „So elend und so treu“ aus dem Zigeunerbaron von Strauß. Ihr Tod beendete diese verheißungsvolle Zusammenarbeit. Endlich ein modernerer Sound. Alles ist besser als Reichsrundfunk, wobei es zur Wahrheit gehört, dass in den 1930er Jahren bis Kriegsende bereits unter sehr soliden Bedingen produziert wurde. Viele Aufnahmen leiden mehr an späteren Bearbeitungen als an den eigenen Geburtswehen. Es scheinen sich ganz Heerscharen von Hobbyrestauratoren an den Dokumenten vergangen haben, so hohl, blechern und übersteuert klingt vieles.

cebotari turandotGroßes Aufsehen wie jetzt der Zaubertrank erregte vor fünfzehn Jahren die Ausgrabung ihrer Turandot, die 1938 beim Reichssender Stuttgart mit Joseph Keilberth am Pult entstand, nachdem sie sie 1933 und 1934 in Dresden auch live gesungen hatte. Aus einem Gerücht um dieses Dokument, an das niemand so recht glauben wollte, war Gewissheit geworden. Das sind beglückende Momente im Leben jedes Sammlers. Einige Fehlstellen am Schluss tun fast nichts zur Sache. Der Gesamteindruck bleibt und wird zu einer Lehrstunde, wie eine lyrische Stimme durch Fokussierung ins Hochdramatische gelenkt werden kann, ohne im klassischen Sinne hochdramatisch zu sein. Nicht ohne Risiko gelingt das. Die Cebotari ist es eingegangen. Für ihre Zeit hat sie ziemlich viele Gesamtaufnahmen hinterlassen. Ebenfalls in Stuttgart wurde ihre vollständige Susanne in Mozarts Figaros Hochzeit mit Karl Böhm am Pult verewigt. Verdis deutsch gesungene und von Karl Elmendorff betreute Luise Miller entstand 1944 in Dresden, die Gabriele in Schoecks Schloss Dürande entstammt einem lückenhaften Mitschnitt der Berliner Staatsoper von 1943. Aus Salzburg gibt es schließlich noch Dantons Tod. Die Cebotari ist die Lucile. Es war die Uraufführung der Oper Gottfried von Einems. Für den schwer erkrankten Otto Klemperer sprang der junge ungarische Dirigent Ferenc Fricsay ein und wurde über Nacht berühmt. Ein Dokument rührt mich immer wieder zu Tränen. Es ist der Mitschnitt der 2. Sinfonie von Gustav Mahler vom 16. September 1948 aus Wien. Am Pult der Philharmoniker stand Bruno Walter. Neun Monate vor ihrem Tod erhebt sich ihr leuchtender Sopran mit unglaublicher Kraft und Intensität über den gigantischen Aparat , um die Auferstehung zu beschwören. „Sterben werd´ ich, um zu leben!

Rüdiger Winter

Frank Martin: Der Zaubertrank. Tristan: Julius Patzak, Isot: Maria Cebotari, König Marke: Endré Koréh, Brangäne: Hilde Zadek, Die Mutter Isots: Maria von Ilosvay, Isot die Weißhändige: Dagmar Herrman, Sprecher: Alfred Poell, Kaherdin: Wilhelm Friedrich, Herzog von Hoel: Karl Dönch; Chor der Wiener Staatsoper, Mitglieder der Budapester Philhamoniker, Dirgent: Ferenc Fricsay; Orfeo  C 890 142 A

Maria Cebotari als Mimì/Künstlerpostkarte/OBA

Maria Cebotari als Mimì/Künstlerpostkarte/OBA

Die Salzburger Aufnahme und die damalige Atmosphäre kommentiert der Musikwissenschaftler Gottfried Kraus im beiliegenden Booklet: (… ) Zurück in den Festspielsommer 1948 und zur Tristan-Version Le vin herbé des Schweizer Komponisten Frank Martin, die in deutscher Übersetzung als Der Zaubertrank ihre szenische Uraufführung erlebte. Martin hatte schon 1938 mit der Konzeption des Werkes begonnen, es aber vermieden, seine Gestaltung des Tristan-Stoffes einer gängigen Kategorie zuzuordnen, Le vin herbé ist keine Oper, auch kein Oratorium im herkömmlichen Sinn und keine Ballade obwohl dieser Begriff es vielleicht noch am besten trifft. Als Vorlage diente dem Komponisten Le Roman de Tristan et Iseut des französischen Dichters und Literaturforscher Joseph Bédier (1864-1938), der die Tristan-Sage aus frühen Quellen und Darstellungen, etwa durch Thomas von England oder Gottfried von Straßburg, zu einem umfassenden Epos zusammengefasst hat. Im Gegensatz zu Richard Wagner, der den Tristan-Stoff frei und unter dem Eindruck seiner Beziehung zu Mathilde Wesendonck sehr individuell gestaltet hat, wird der mittelalterlichen Sage um das Schicksal der beiden durch den Zaubertrank tragisch einander verfallenen Liebenden von Bedier nichts hinzugefügt.

Maria Cebotari als Isot - Foto: Orfeo/Archiv Salzburger Festspiele

Maria Cebotari als Isot – Foto: Orfeo/Archiv Salzburger Festspiele

Drei Kapitel des Romans hat Frank Martin ausgewählt, in welchen die wichtigsten Episoden geschildert werden, und sein Werk dementsprechend in drei Abschnitte gegliedert. Jeder Teil wird von einem Prolog und einem Epilog umrahmt, in welchen dem Chor ähnlich der antiken Tragödie erzählende, kommentierende Passagen anvertraut sind. Auch die eigentliche Handlung wird in mehr oder weniger epischer Form erzählt – aus dem Chorus, der im Original von Einzelstimmen gesungen wird, tritt ein Erzähler (Bariton), und in den einzelnen Szenen werden die handelnden Figuren – Tristan, Isolde, deren Mutter, Brangäne, die Dienerin, König Marke, Tristans Freund Kaherdin und andere – in einer Art freien Sprechgesangs vorgestellt. Anstelle eines Orchesters wählt Martin ein kleines Instrumentalensemble, sieben Streichinstrumente und Klavier, das die Erzählung mit einem eigenartig herben, harmonisch vielschichtigen, doch an manchen Stellen überaus dichten, atmosphärischen Klangteppich unterlegt und illustriert. Diese sparsame musikalische Gestik und die strenge Form der einzelnen Bilder und Episoden geben dem Ganzen holzschnittartigen Charakter, der an mittelalterliche Bilddarstellungen erinnert.

Die Idee Le vin herbé nicht nur konzertant aufzuführen, sondern bei den Salzburger Festspielen auf die Bühne zu bringen, hatten der Regisseur Oscar Fritz Schuh und der Bühnenbildner Caspar Neher. Sie wählten dafür die deutsche Fassung, die der Komponist gemeinsam mit dem Dichter Rudolf Binding erstellt hatte, sorgsam darauf bedacht, den strengen Stil des Werkes in der deutschen Übersetzung beizubehalten. Und auch in der szenischen Umsetzung machten Schuh und Neher nicht den Fehler, eine dramatische Handlung vorzutäuschen. Auf der relativ kleinen Bühne des Landestheaters kommentierte der in einheitlich graue Kostüme gehüllte Chor das Geschehen, einzig der Sprecher trug ein farbiges gotisches Kostüm, den handelnden Figuren und ihrem rezitativischen Gesang war nur wenig Bewegung gestattet. Die Aufmerksamkeit galt ungeteilt dem eigenartigen Reiz dieser musikalischen Erzählung.

Das Label Preiser hat mehrere CDs mit Aufnahmen der Cebotari im Katalog.

Das Label Preiser Records hat mehrere CDs mit Cebotari-Aufnahmen im Katalog. Hier als Sophie im „Rosenkavalier“ von Richard Strauss.

Interessanterweise ist in den verschiedenen Darstellungen der Salzburger Festspielgeschichte zu lesen, dieser zweiten Uraufführung sei im Sommer 1948 wenig Erfolg beschieden gewesen. In zeitgenössischen Kritiken liest man es neben manchem Einwand gegen die undramatische Form einer „Nicht-Oper“ aber auch anders. So berichtet die Neue Zürcher Zeitung nach der Uraufführung, dassFrank Martins zu Herzen sprechende Komposition sich bei der szenischen Aufführung im Rahmen der Salzburger Festspiele als höchst lebendiges und bildhaftes Bühnenwerk entpuppt“ habe. (…)  In der in Wien erscheinenden Weltpresse vom 19. August 1948 schreibt Max Graf: „Der größte Reiz der Martinschen Vertonung von drei Kapiteln aus Bédiers Roman von ,Tristan und Isot‘ ist ihr epischer Ton. Sie erzählt mit Singstimmen, einem kleinen Chor und zwölf Saiteninstrumenten und Klavier die Geschichte von Tristans Liebe und Tod, wie ein Trouvere sie an einem nordfranzösischen Hof erzählt haben würde … Die Luft des gotischen Zeitalters liegt über der Musik, die fast durchwegs rezitativischen Charakter hat. Die Harmonien mit den vielen herben, eckigen Quarten in den Chören und im Kammerorchester sind mittelalterlich. Auch wo die Musik nicht die harten Linien eines mittelalterlichen Schnitzwerkes hat, wo sie weich und gefühlvoll wird und wo aus dem Orchester Geige, Viola oder Cello mit tränen-behangener Kantilene sich herausheben, hat die melodische Zartheit den Charakter gotischer Kunst. Man ist, wenn die Chorstimmen hart zusammenstoßen oder Solostimmen psalmo- dieren, in einer alten, fernen Welt, im dreizehnten Jahrhundert, in gotischen Burggewölben, in Kapellen, in denen holzgeschnitzte Madonnen leise lächeln und ein mattes Licht durch kleine gotische Fenster fällt, und in Sälen mit teppichgeschmückten, dicken Steinwänden, in denen ein Vorleser im schwarzen Kleid aus einem Pergamentbuch, das mit vergoldeten Miniaturen geschmückt ist, einen traurigen Roman vorträgt.“

In der sehr guten Diskographie vo John Hunt wird der "Zaubertrank" noch als unveröffentlicht geführt ( ISBN 0-95255827-3-2)

In der sehr guten Diskographie von John Hunt wird der „Zaubertrank“ noch als unveröffentlicht geführt          (ISBN 0-95255827-3-2).

Eindruck und Echo dieses ungewöhnlichen Abends waren stark bestimmt von der außerordentlichen Qualität der Aufführung, für die Salzburg das gleiche Team aufgeboten hatte, das im Jahr zuvor Dantons Tod so eindrucksvoll realisiert hatte und das im Sommer darauf auch die Uraufführung der Antigonae von Carl Orff zum Erfolg führen sollte, In der Wiener Zeitung vom 19. August 1948 schreibt Rudolf Holzer: „Salzburg darf sich zur Ehre anrechnen, daß es dem Werk eine vollendete Aufführung zuteil werden ließ. Der ungarische Dirigent Ferenc Fricsay waltete mit sichtlicher Begeisterung und Hingabe seines Amtes: Julius Patzak und Maria Cebotari waren von außerordentlicher Tiefe beseelter Ausdruckskraft“. Und in der Neuen Zürcher Zeitung (ebenfalls 19. August 1948) heißt es: „Großartig in seiner Intensität und Einfachheit Julius Patzak als Tristan, dem sich auf hohem künstlerischen Niveau Maria Cebotari als Isot, Hilde Zadek als Brangäne und in wundervollem Klangsinn und Deutlichkeit der poetischen Diktion der Chor der Wiener Staatsoper anschlossen. Frank Martin konnte den begeisterten und wahrhaft echten Beifall des Publikums entgegennehmen.“

 

Und selbst in der beliebten Serie der Sammelbildchen in Zigaretten-Schachteln gab es sie/OBA

Und selbst in der beliebten Serie der Sammelbildchen in Zigaretten-Schachteln gab es sie/OBA

In memoriam Ferenc Fricsay: Für die vorliegende Veröffentlichung des Rundfunkmitschnittes der Sendergruppe Rot-Weiß-Rot vom 24. August 1948 hat uns das Deutsche Rundfunkarchiv dankenswerter Weise Kopien der Originalbänder aus dem Archiv des Berliner Senders RIAS zur Verfügung gestellt. Die Salzburger Festspiele wollen mit dieser Ausgabe nicht nur eine wichtige Uraufführung aus der Nachkriegszeit dokumentieren, sondern auch an einen großen Dirigenten erinnern, der im September 2014 seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. Ferenc Fricsay ist nach den Uraufführungen der Jahre 1947 bis 1949 erst 1961 zu den Festspielen zurückgekehrt, um Mozarts Idomeneo und ein Konzert der Wiener Philharmoniker zu dirigieren. Es sollte der Anfang einer engen Zusammenarbeit des inzwischen zu einem der wichtigsten Dirigenten seiner Generation gereiften Musikers mit den Festspielen werden. Fricsays tragisch früher Tod im Februar 1963 hat diesen Plänen ein Ende gesetzt. Im umfangreichen diskographischen Nachlass Fricsays hat Frank Martins Zaubertrank bisher gefehlt.

Der obige Beitrag aus dem Booklet zur Orfeo-Veröffentlichung, den wir leicht gekürzt haben,  wurde uns von Gottfried Kraus freundlicherweise zur Verfügung gestellt, wir danken sehr! 

Nachtrag: Die beiden Söhne aus der Ehe von Maria Cabotari und des österreichischen Schauspielers Gustav Diessl, der noch vor der Sängerin starb, wurden von dem englischen Pianisten Clifford Curzon und seiner Frau Lucille Wallace-Curzon adoptiert.