Hat es sich das Label Profil Günter Hänssler anders überlegt? Mit „Karl Richter Edition“ war erst neulich eine CD mit Flötenkonzerten unter Leitung dieses Dirigenten überschrieben. Das ließ hoffen. Nun ist davon keine Rede mehr. Das von Richter geleitete Requiem von Wolfgang Amadeus Mozart erschien in ganz allgemeiner Aufmachung (PH15006). Ein Grund für die eher schlichte Vermarktung könnte auch darin bestehen, dass diese Aufnahme eine sehr gute alte Bekannte ist. Sie erschien bereits bei der Teldec unter dem Dach einer Edition. Auch Telefunken war mit einer eigenen Ausgabe auf dem Markt.
Ob nun mit oder ohne neue Edition, an der Musik und ihrer Interpretation ändert das nichts. Die Einspielung stammt vom November 1961. Das ist lange her. Wie bei Richter nicht anders zu erwarten, singt der Münchener Bach-Chor, spielt das Münchener Bach-Orchester. Mit Maria Stader (Sopran) und Hertha Töpper (Alt) sind zwei gestandene Sängerinnen mit entsprechender Erfahrung in diesem Genre aufgeboten. Der gradlinige holländische Tenor John van Kestern ist nicht so oft auf Platten anzutreffen. Insofern ist seine Mitwirkung auch eine diskographische Bereicherung. Er hat nach wie vor seine Anhänger. Etwas aus der Rolle fällt Karl Christian Kohn mit seinem robusten Bass, der mit Kaspar oder Geisterbote besser bedient wäre denn mit Mozart. Sein „Tuba Mirum“ lässt tatsächlich aufschrecken, auch aus dem Quartett ragt er zu stark heraus. Richter war bei der Auswahl seiner Solisten oft sehr eigenwillig. Nicht alle Entscheidungen sind nachzuvollziehen. Er geht das Requiem groß und dramatisch an. Es klingt wuchtig. Als sollten die Toten aufgeweckt werden. Nicht umsonst ist Franz Eder an der Posaune extra erwähnt.
Flötenkonzerte von Wolfgang Amadeus Mozart und Joseph Haydn waren im Dezember 2014 herausgekommen (PH 13055). In dem Album mit zwei CDs findet sich als eine Art Bonus noch die berühmte Ballettmusik „Reigen seliger Geister“ aus der Oper Orpheus und Eurydike für Flöte und Orchester von Christoph Willibald Gluck. Hänssler pflegt das Andenken an Richter. Es dürften also noch weitere Aufnahmen mit diesem Dirigenten zu erwarten sein. Bereits 2012 war die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach mit Irmgard Seefried, Hertha Töpper, Ernst Haefliger, Dietrich Fischer-Dieskau – ursprünglich Archiv Produktion Deutsche Grammophon – neu aufgelegt worden. Bach ist ein festes Posten im Gesamtkatalog. Für das kommende Jahr – es wird der 330. Geburtstag des Thomaskantors begangen – ist eine Edition mit 36 CDs angekündigt, in der auch Richter vertreten sein wird.
Richter und Bach sind eins. Wer im Internet auf die Suche geht, findet diese Einheit bestätigt. Bach, soweit Auge und Ohr reichen. Nun war der auch Richters täglich Brot. Richter begann seine musikalische Laufbahn als Kruzianer in Dresden, studierte in Leipzig bei den Thomaskantoren Karl Straube und Günter Ramin, wurde mit 23 Jahren Thomasorganist, führte an seiner späteren Hautwirkungsstätte München den Bach-Chor und das Bach-Orchester zu internationalem Ruhm, reiste mit diesen Ensembles um die ganze Welt, machte unzählige Aufnahmen, die sogar ins Fernsehen und schließlich auf DVD gelangten. Er pflegte einen vergleichsweise groß besetzten Bach, der inzwischen durch die so genannte historisch informierte Aufführungspraxis (HIP) als überholt und historisch gilt. Und doch geht von Richters Interpretationsstil nach wie vor eine sehr elementare Wirkung aus, die viele Anhänger hat. Ich gehöre dazu.
Richter kann noch mehr als Bach. Er hat sich Händel zugewandt, Brahms, Gluck und Mozart. In dem Gedenkkonzert der Münchner Philharmoniker für den verstobenen Dirigenten Rudolf Kempe, das am 4. Juli 1976 stattfand, setzte er neben der g-Moll-Sinfonie (KV 550) von Mozart die vierte Sinfonie von Robert Schumann auf das Programm. Schade, dass ihm nicht genug Zeit geblieben ist, sein romantische Repertoire zu pflegen und weiter auszubauen. Der Schumann ist hinreißend in seiner Klarheit und in seinem Schwung. Fünf Jahre nach dieser musikalischen Trauerfeier für den Freund war er selbst tot. Das Konzert, von dem sich ein Rundfunkmitschnitt erhalten hat, verdient es, veröffentlicht zu werden. Ein Projekt für Hänssler? Dort gibt es nun Mozart und Haydn. Die Flöte bei den Konzerten spielt der Schweizer Aurèle Nicolet, der oft mit Richter zusammengearbeitet hat. Zwischen beiden stimmt die Chemie. Ihr Zusammenspiel ist von gegenseitiger Zurückhaltung geprägt, der Solist bekommt immer den Vorrang, kann sein virtuoses Können voll entfalten und trägt die grundsolide Interpretation durch Richter mit. Er reißt nie aus. Es ist viel Heiterkeit und Licht in diesen Aufnahmen, zumal die Flöte immer eine gewisse Naturnähe schafft.
Mit dabei ist auch das berühmte Konzert KV 314, das ursprünglich als Oboenkonzert komponiert wurde und in dem ein Einfall den nächsten jagt. Es lohnt sich, die Aufnahmen mehrfach zu hören, also nicht gleich ins Regal einzuordnen. Ihren ganzen Reichtum, der sehr viel Ruhe und Ausgeglichenheit verbreitet, habe ich erst dadurch erfahren. Zunächst klingen die Konzerte – wenn das Wort denn erlaubt ist – grundanständig. Darin liegt die Gefahr, dass sie zur Hintergrundmusik werden. Wäre das so schlimm?
Rüdiger Winter