Philippe Jaroussky ist im Café Procope eingekehrt. In seiner neuesten CD (rechtzeitig erschienen zur Tournee im März/April, so am 17. 3. in Berlin) spielt dieses berühmte Pariser Etablissement im Quartier Latin eine wichtige Rolle: Green – Mélodies françaises sur poèmes de Verlaine. Es gibt ein Foto, das den Lyriker Paul Verlaine, der von 1844 bis 1896 lebte, im Café zeigt. Es stammt aus seinem Todesjahr. Der Dichter allein auf einem Sofa sitzend, vor ihm der Tisch mit der weißen Marmorplatte. Darauf Schreibzeug, ein nicht näher bezeichnetes Getränk, reichlich bemessen in Glas und Karaffe, der Stock und der Hut. Hüte auf Tischen bringen Unglück, heißt es. Für Verlaine war Unglück keine Bedrohung mehr. Seine zermürbende Liebe zu dem zehn Jahre jüngeren Arthur Rimbaud endete tragisch. Verlaine schoss auf Rimbaud und musste dafür ins Gefängnis.
In dieser Zeit entstanden die Romances sans paroles, die Lieder ohne Worte. Den Titel der Sammlung soll Verlaine bei Mendelssohn entliehen haben. Green ist ein Gedicht draus. „Hier siehst du Blätter, Früchte, Blumenspenden / und hier mein Herz, es schlägt für dich allein. / Zerreiß es nicht mit deinen weißen Händen / lass dir die kleine Gabe teuer sein.“ Verlaine gilt als typischer Vertreter des Symbolismus. Jaroussky hat die Wahl, kann sich an dem reichen Werk bedienen – und ist fündig geworden für sein Album, das aus zwei CDs besteht (Erato 0825646166954). Green ist gleich in drei verschiedenen Varianten vertreten – von Gabriel Fauré, André Caplet und Claude Debussy, der dem Dichter übrigens als Kind zufällig begegnet war. Caplet nimmt sich mit mehr als drei Minuten doppelt so viel Zeit wie Fauré, der eine Minute einundvierzig braucht. Debussy liegt mit zwei Minuten sechzehn dazwischen. Caplet (1878-1925) wiederholt die letzte Zeile „… und lass mich, da du schläfst ein wenig ruhn“. Bei ihm klingt das Lied zudem mit einem Nachspiel aus. Allein deshalb hinterlässt es die größere Wirkung. Wie Green werden viele der insgesamt zwanzig ausgewählten Gedichte Verlaines in bis zu drei unterschiedlichen Vertonungen dargeboten. Darin besteht ein großer Reiz. Der Dichter hat auf Komponisten eine starke Anziehungskraft ausgeübt. Kaum ein anderer ist in Frankreich ist so oft vertont worden wie er. Jules Massent fühlte sich genauso inspiriert wie Camille Saint-Sains, Arthur Honegger, Ernest Chausson oder Reynaldo Hahn. Die Stile wechseln wie die Komponisten jünger werden. Das Verbindende ist die Sprache, die für sich genommen ein unverwechselbares Flair entfaltet. Benoit Duteurtre zitiert in seinem lesenswerten Essay im Booklet den Dichter René Chalupt aus einer Studie von 1949: „Das Originelle an Verlaine war, dass er in seinen Gedichten eine neue Musik hören ließ.“
Musikalisch ist der Auftakt des Albums einschmeichelnd, fast verführerisch. „Im alten einsamen Park, wo es fror, / traten eben zwei Schatten hervor. / Ihre Augen sind rot, ihre Lippen erblassen, / kaum kann man ihre Worte fassen“, lauten die ersten Zeilen von Colloque sentimental in der Komposition von Léo Ferré (1916-1993). Ferré war einer der erfolgreichsten Chansonniers des 20. Jahrhunderts, der auch selbst komponierte. Seine Platten und seine Konzerte im Pariser Olympia sind Legende. Vom Streichquartett wird die Melodie aufgenommen, die das Klavier vorgibt. Jaroussky zieht seine Zuhörer auf einen Schlag tief in dieses Repertoire hinein, das er seinen „geheimen Garten“ nennt. Man kommt nicht davon los, bleibt dabei. Das Album schließt nach knapp zwei Stunden mit Colombine, von Georges Brassens in Töne gesetzt. Brassens, der bis 1981 lebte, war nicht nur ein erfolgreicher Schriftsteller und Dichter, sondern machte sich ebenfalls als Chansonnier einen Namen weit über die Grenzen seiner französischen Heimat hinaus.
Ganz im Stil eines Chansons bewegt sich bisweilen auch Jaroussky, beweist dabei Witz, Charme und Leichtigkeit – holt auf diese Weise Verlaine in die Gegenwart. Er legt den Opernsänger über weite Strecken völlig ab und gibt seiner Stimme eine ganz neue, ja überraschende Richtung, wie es sich schon auf seiner ersten CD „Opium“ mit französischen Melodien ankündigte, die vor fünf Jahren herausgekommen ist. Jaroussky könnte sich gut und gerne auch in diesem Fach mit Erfolg behaupten. Mittlerweile ist er Siebenunddreißig. Kein Alter für einen Sänger. Viel hat er erreicht. Genauso viele Möglichkeiten stehen ihm noch offen. Er braucht ja nirgends anzukommen, wie ein Heldentenor, auf den noch der Tristan oder Otello wartet, um seine Karriere zu vollenden. Bei Jaroussky ist vieles denkbar. Er legt sich nicht fest, probiert sich immer wieder neu aus und erweist sich dabei als außerordentlich entdeckungsfreudig – für sich und für sein Publikum.
„Warum sollte ein Countertenor nicht die nötige Einfühlsamkeit und Vokaltechnik haben, um französische Lieder zu singen?“ Diese Frage stellt Jaroussky in einem knappen eigenen Text des Booklets mehr an sich selbst. Es scheint, dass dabei auch Zweifel mitschwingen, was ihn nur sympathischer und überzeugender macht. Gewiss verfügt er über diese Einfühlsamkeit und diese Vokaltechnik. Es ist aber auch zu spüren, wie hart er dafür gearbeitet hat. Nicht jede Nummer überzeugt in allen Details in der musikalischen so wie in der darstellerischen Ausführung. Manche Töne geraten etwas spitz, gar veristisch. Getragene Passagen gelingen in der Regel besser als die stürmischen. Das alles kann auch gewollt sein. Jaroussky geizt nicht mit Gefühlen, lässt viel Nähe zu, ohne sich anzubiedern. Selbst diejenigen, die des Französischen nicht mächtig sind, können ihm problemlos folgen. Warum? Weil er Inhalte plausibel durch Ausdruck, Charme und Pointen transportiert. Auf eine gewisse Weise ist sein Publikum ihm ausgeliefert, was er zu genießen scheint.
Es bleibt ein Wagnis, gut zwei Stunden hintereinander französische Lieder auf Texte von Verlaine vorzutragen. Zumal für einen Sänger dieses Kalibers, der mir atemberaubenden Koloraturen riesige Säle in seinen Bann schlägt, aus dem sich die Menge am Ende solcher Darbietungen nur durch heftige Schreie der Begeisterung befreien kann. Hier nun ist alles ganz anders. Und es ist gut möglich, dass Jaroussky auch enttäuscht, weil er bestimmt Erwartungen nicht erfüllt. Ganz bewusst nicht erfüllt. Ich fühle mich an Marilyn Horne erinnert, die lange Liederabende gern mit Brahms, Mahler und Mozart ausfüllte, das Publikum aber vor allem deshalb gekommen war, weil als Zugaben Arien von Rossini oder Vivaldi zu erwarten waren. Sie tat mir dafür immer ein bisschen leid, leistete aber unnachgiebig Überzeugungsarbeit auf diesem Gebiet. Sie wollte sich nun mal auch als Liedsängerin durchsetzen.
Bei seinen Eroberungen von musikalischem Neuland hat Jaroussky treue Verbündete, wofür er Dankbarkeit empfindet. Einer ist sein langjähriger Bühnenpartner Jérôme Ducros am Piano, der auch die meisten Titel neu arrangierte. Bei neun Nummern kommt das Quatour Ebène hinzu, was – ich sage es ganz offen – auch für willkommene Auflockerung sorgt. In das Lied „La lune blanche“, von Massenet für zwei Stimmen gesetzt, teilt sich Jaroussky mit der Altistin Nathalie Stutzmann. Dieses Lied fließt dahin wie eine Barkarole. Es ist Luxus pur, die viel beschäftigte Altistin und Dirigentin, die auch bei anderer Gelegenheit mit Jaroussky zusammengearbeitet hat, nur für diesen einzigen Titel zu verpflichten.
Vom Glanz fällt auch etwas auf die Ausstattung des Albums. Jaroussky hat sich tatsächlich ins Le Procope begeben, um sich dort ablichten zu lassen, im Sweetshirt – und mit Weste und Gehrock im Stile der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wie Verlaine, der sich auf Gemälden und Fotos findet. Von den Komponisten wurden in Teilen seltene Konterfeis aufgetan. Das macht viel her. Alle Texte, darunter die Gedichten selbst, sind dreisprachig – auch in Deutsch – abgedruckt. Der alte Spruch, wonach das Auge mithört, erfüllt sich. Heutzutage sind solche Ausstattungen, die bis in alle Einzelheiten stimmen, selten geworden. Ein anspruchsvoller Inhalt findet seine Entsprechung in der äußeren Form. Gut so.
Die CD ist das Eine. Vor Publikum einen ganzen Abend (am 17. 3. 2015 im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie) mit diesem Programm zu bestreiten, ist die eigentliche Herausforderung. Inhaltlich und künstlerisch. Dann kann nämlich nicht mehr probiert, abgewogen, umgestellt, korrigiert oder wiederholt werden. Alles muss sitzen. Jaroussky hat glänzend bestanden. Schließlich war die Produktion des Albums die allerbeste Probezeit. Live wählt er eine neue Reihenfolge. Er beginnt anders und endet anders. Die Auswahl wirkt spontaner, nicht ganz so perfekt ausgeklügelt wie im Studio. Daran hat auch sein langjähriger Begleiter am Flügel, Jérome Ducros, erheblichen Anteil, der zwischen den Liedern mit Klaviermusik von Debussy beeindruckt. Jaroussky braucht auch eine gewisse Zeit, um mit seinen individuellen Mitteln stimmlich in das Idiom dieser Melodien hinein zu finden. Von Lied zu Lied legt er zu. Tragisch-sentimentale Titel wie „O triste étaiut mon ame“ von Charles Bordes gelingen zunächst am besten. Das ist aber nur ein vorläufiger Eindruck. Am Ende kommt es ganz anders. Ein freches und mit Spott gespickte Couplet aus der Buffo-Oper Fisch-Ton-Kan (ein Spitzname, der Napoleon III. angehängt wurde) von Emmanuél Chabrier wird zum umjubelten Rausschmeißer. Es bleibt einem mit samt dem jubelnden Beifall auch noch auf dem Heimweg im Ohr. Der Kammermusiksaal war nicht ausverkauft, was nicht am Sänger, sondern am Programm gelegen haben dürfte, das natürlich weniger Publikum anzieht als rasende Barockarien mit Orchester. Jaroussky weiß das. Für seine Lieder nimmt er auch eine kleine Runde, wo sie besser aufgehoben sind, in Kauf. Mit ihr kann er kommunizieren. Es scheint, als ob er jeden einzelnen im Saal im Blick hat. Als ob er flirtet. So fühlt sich das Publikum sehr ernst genommen. Es hängt ihm an den Lippen. Er dankt es, indem er sich nach dem kräftezehrenden Konzert bestens gelaunt und charmant wie immer zur Autogrammstunde einstellt, Widmungen in die CD-Alben schreibt und artig Fragen beantwortet. Kein Zweifel, dass Jaroussky auch diesmal neue Fans gewonnen hat.
Sein neues Album erfüllt auch ein Klischee. Es macht irgendwie Lust auf Paris, obwohl nicht die Stadt im Mittelpunkt steht, sondern der Dichter und seine Komponisten, die natürlich alle in der Stadt gelebt haben und deren ganz eigene Melodie in sich aufnahmen. Paris ist immer gegenwärtig wie ein eingebildetes Hintergrundgeräusch. Ich werde endlich Verlaines Grab besuchen auf dem Friedhof von Batignolles in der Rue Saint-Just im Nordosten des 17. Arrondissements, wo auch Schaljapin seine letzte Ruhe fand. Im Jardin du Luxembourg steht die mit seinem Haupt gekrönte Stele des schweizerischen Bildhauers Rodo. Und dann natürlich auch im Café Procope, Rue de l’Ancienne Comédie 13, einkehren. 1686 wurde es vom Italiener Francesco Procopio dei Coltelli gegründet. Älter dürfte kein Kaffeehaus sein in Paris. Es hat alles gesehen und beherbergt, was Rang und Namen besaß in Kunst, Wissenschaft und Politik. Wessen Name nicht selbst auf einem Buchdeckel oder in einer Zeitung stand, drückte sich mit eben solch einem Buch oder solch einer Zeitung in einer Ecke herum und tat so, als ob er dazu gehörte. Heute genügt eine Kreditkarte oder ein gut gefülltes Portemonnaie. Buch und Zeitung können getrost beiseite bleiben. Ich habe ja Jaroussky und seine Lieder im Kopf.
Rüdiger Winter
Foto oben: (c) Marc Ribes