Karl Richter – Revealing Bach: Äußerlich lässt die mit achtzehn CDs bestückte Box kaum Erinnerungen an die schönen Schallplatten der Archiv Produktion der Deutschen Grammophon aufkommen (482 0959). In Inneren schon. Denn die Aufnahmen sind ja dieselben geblieben. In wiefern aber die Ordnung und Konzeption der Platten auf CD übertragen wurde, lässt sich nicht bis in alle Einzelheiten nachvollziehen. Da gibt es neue Zusammenlegungen, weil auf eine CD nun mal viel mehr passt als auf die Platte. Der Ursprung der Archiv Produktionen reicht in die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg zurück. Es sollte zunächst versucht werden, Orgeln und wertvolle Instrumente, die nicht den Zerstörungen anheim gefallen waren, akustisch zu dokumentieren. Daraus wurde mit den Jahren eine monumentale Sammlung, die immer weiter über das ursprüngliche Ziel hinaus wuchs. Die ersten Aufnahmen erschienen noch auf Schelllack, die Hülle am Rand vernäht. So waren sie unverwechselbar und sehr haltbar zugleich. Beigegeben waren umfängliche, musikwissenschaftlich fundierte Informationsblätter. Ein großer Teil des Plattenbestands wurde im Laufe der auf CD übernommen. Nicht alles, was sich in der neuen Box findet, ist also CD-Premiere.
Jetzt geht die Suchereich und Sortiererei los. Was hat man schon, was ist neu aufgelegt? Die erhabene und groß angelegte h-Moll-Messe mit Maria Stader, Hertha Töpper, Ernst Haefliger, Dietrich Fischer-Dieskau und Kieth Engen gibt es bereits als CD-Album. Warum wurde sie für die Box ausgewählt und nicht etwa die Matthäus-Passion? Ist da Zufall im Spiel? Eine Erklärung, für die auch das schmale Booklet Argumente liefert, könnte sein, dass Richter diesem Werk besonders zugetan gewesen ist. Er hat es im In- und Ausland um die neunzig Mal dirigiert. Erschwert wird die Übersicht, weil die Aufnahmedaten nicht den Tracklisten angefügt, sondern im Anhang versteckt sind. Wohl dem, der eine Lupe zur Hand hat! Muss das sein?
Für die neue Edition spricht, dass sie günstig zu haben ist. Das grenzt schon an Ausverkauf. Sale! So etwas zählt heutzutage auch – allerdings um den Preis, dass das ursprüngliche Konzept praktisch aufgegeben wurde, die Werke in mustergültigen Ausgaben vorzulegen und bekannt zu machen. Dieser Anspruch ist ohnehin nicht mehr haltbar, weil inzwischen Jahrzehnte ins Land gegangen sind. Mehr als fünfzig Jahre alt ist die Hohe Messe in h-Moll. Sie wurde 1961 in München produziert. Inzwischen ist die Bach-Forschung fortgeschritten, die Aufführungspraxis hat sich grundlegend geändert, die Erwartungen des Publikums sind anders geworden. Insofern ist aus der fortschrittlichen und maßstäblichen Archiv Produktion ein durch und durch historisches Monument geworden.
Für mich ist Bach ohne Karl Richter überhaupt nicht vorstellbar, denn ich bin mit ihm groß geworden. Er hat mein üppig gezeichnetes Bach-Bild geprägt. Dazu gehört auch die Vorstellung vom universalen Musiker, die ich in ihm immer verwirklicht sah. Mit dieser Archiv-Sammlung tritt dieses Phänomen deutlicher denn je hervor, weil Richter nicht nur als Dirigent der Messe, der Brandenburgischen Konzerte oder der Orchester-Suiten dokumentiert ist. Bei den Goldberg-Variationen sitzt er selbst am Cembalo. Er spielt und leitet zugleich die diverse Orchester-Konzerte, ist also Solist und Dirigent in einem.
Als Organist scheint er mir in seinem eigentlichen Element. An diesem Instrument machte sich Richter schon 1949 als Thomasorganist in Leipzig einen Namen. Da war er gerade mal Mitte zwanzig. Seine Vorliebe zu den Orgeln von Gottfried Silbermann mag seiner Herkunft geschuldet sein. Richter war wie Silbermann Sachse. Die Orgelkonzerte Nummer 1-6 (BWV 592-597) sind 1978 an der Silbermann-Orgel im Freiberger Dom aufgenommen worden. Damals gab es die DDR noch, der Richter 1951, also zwei Jahre nach ihrer Gründung, den Rücken gekehrt hatte. Seine Einkehr an der alten Wirkungsstätte für die Plattenaufnahme war also nicht selbstverständlich in Zeiten der deutschen Teilung. Sie hatte für ein gewisses Aufsehen gesorgt, das heute nur noch schwer nachzuvollziehen ist. Für die berühmte Toccata und Fuge in d-Moll, wählte Richter allerdings die Orgel in der Jaegersborg Kirche in Kopenhagen. In der Münchner Markus-Kirche, seinem „Stammhaus“, verfügte er gleich über zwei Orgeln, eine wurde extra für ihn gebaut. Sei üppiges und konzentriertes Spiel gefällt mir sehr. Es gibt Filme, die Richter an der Orgel zeigen. Sie sind sehr aufschlussreich, weil er mit einer solchen Leichtigkeit und Sicherheit das gewaltige Instrument zum Klingen bringt, als würde die Musik wie von selbst aus den Pfeifen strömen. Ich hatte bei ihm immer den Eindruck, als spiele sich die Orgel so einfach wie eine Blockflöte. Diese Mühelosigkeit ist ein Alleinstellungsmerkmal aller Aufnahmen der Sammlung. Sie ist unverwüstlich.
Bei den Sonaten für Flöte bzw. Violine und Cembalo holte sich Richter mit Auréle Nicolet (Flöte) und Wolfgang Schneiderhan (Violine) Partner erstens Ranges. Er hatte kein Problem mit solcher Konkurrenz. Es galt immer der Kunst. Einige Solisten, darunter auch Sänger wie die Töpper oder Engen, tauchen in seinem Umfeld und bei den Aufnahmen sehr oft auf. Er legte wohl Wert auf solche Verlässlichkeit. Wer einmal sein künstlerisches Vertrauen hatte, behielt es. Bei Richter habe ich eine Vorstellung davon bekommen, was Vollkommenheit in der Interpretation sein kann. Es geht nur so und nicht anders! Richter lässt da keinen Zweifel aufkommen. Man hört es ständig heraus, dass er von sich überzeugt gewesen ist. Es gibt keine Unsicherheiten, keine Ausrutscher. Deshalb ist er für mich nie eine Modeerscheinung gewesen, auch wenn sich Johann Sebastian Bach heute anders anhört als zu seiner Zeit. Nach seinem frühen Tod im Jahre 1981 ist er immer präsent geblieben durch seine vielen Aufnahmen, durch die starken Erinnerungen seines Publikums in aller Welt, durch Bücher und Filmdokumente. Seine Rastlosigkeit im künstlerischen Wirken bildet einen seltsamen Kontrast zur Ruhe seines musikalischen Stils. Und nun wieder eine umfängliche und empfehlenswerte Edition, die diesem Künstler neue Kränze flicht für die Ewigkeit.
Rüdiger Winter