Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Wiener Schmäh

 

In schöner Selbstgefälligkeit verkündete Jonas Kaufmann während seines eigenmoderierten Konzerts im Wiener Konzertsaal, er verfüge über den berühmt-berüchtigten Wiener Schmäh, was nicht alle dort ansässigen Kritiker so sahen, der aus Berlin stammende maßt sich kein Urteil an, staunt lediglich darüber, wie weitgespannt, von Wien bis Tirol und darüber hinaus bis bella Venezia,  sich Mein Wien“ erstreckt. Es handelt sich wohl eher um in irgendeiner Weise mit Wien verbundene Komponisten, die „the World’s greatest Tenor“, wie es auf dem Cover heißt, zu Gehör bringt, so dass auch die Rosen in Tirol ihre Berechtigung haben und die Geigen auf Balkanisch „Hab mich lieb“ flüstern dürfen, mit „O Königin du“ die Stadt in der Lagune, nicht die an der Donau gemeint ist. In dem als Zugabe abschließenden Kreisler-Chanson Der Tod ist ein Wiener scheint der weanerische Ton am besten getroffen zu werden, ansonsten singt der Tenor in angenehm lässiger, weil sich der Potenz und Geschmeidigkeit seiner Stimme sicher, Haltung durchaus operettengemäß, mal auch, so bei  den Zwei Märchenaugen wie ein Opern-Schmetter-Tenor, mit gut gestütztem Piano in der Nacht in Venedig, pfeift auf das Heurigenlokal und setzt Schmelz und Schmalz für „Wien, nur du allein“ ein. Für das Wiener Blut und die Lustige Witwe hat er in Rachel Willis-Sorensen nicht nur eine charmante Gesangspartnerin mit süßem, weichem Sopran, sondern kann zum Vergnügen des Publikums auch ein paar Tanzschritte zum gelungenen Abend beitragen. Die Sängerin kann sich dann mit dem Vilja-Lied mit zusätzlichen hohen Tönen über besonders viel Beifall vom animierten Publikum freuen. Viel ist vom Prater, in dem wieder die Bäume blühen, zu vernehmen, einiges davon im charmant dargebotenen Kommentar auch direkt aus dem dortigen Riesenrad, aber auch Sievering, wo nur der Flieder blüht, oder das kleine Café in Hernals werden in Wort und Ton gewürdigt. Für den Eisenstein und seine plumpe Anmache ist Jonas Kaufmann einfach zu charmant, beim Tragik vermeidenden „Sag beim Abschied leise Servus“ ganz in seinem Element. Das Orchester, die Prague Philharmonia unter Jochen Rieder ist etwas behäbig, aber zuverlässig und ein guter Begleiter. Ein angenehm herzerwärmender Abend ist jedem Betrachter des reichhaltigen Programms der DVD gewiss (Sony 19439734009). Ingrid Wanja   

Unbekannte Mondwelten

 

Immer wieder wartet NAXOS mit staunenswerten Neuveröffentlichungen von veritablen Raritäten auf – jetzt mit einer echten portugiesischen Oper. Ihr Titel – Il mondo della luna – lässt sofort an Joseph Haydns Vertonung des Librettos von Carlo Goldoni (1777) denken. Auch der portugiesische Komponist italienischer Abstammung Pedro António Avondano, der von 1714 bis 1782 lebte, stützte sich für seine Version, die 1765 während der Karnevalsaison in Salvaterra uraufgeführt wurde, auf diese Vorlage. Sie erzählt von dem reichen Kaufmann Buona Fede und seinen Töchtern Clarice und Flaminia, die von dem angeblichen Astrologen Ecclitico und dem Kavalier Ernesto geliebt werden. Da die beiden Bewerber von Buona Fede abgewiesen werden, greifen sie zu einer List, wollen mit seiner Hilfe eine Reise zum Mond unternehmen. Nach einem verabreichten Schlaftrunk erwacht Buona Fede in einem Garten, der in eine phantastische Mondlandschaft verwandelt wurde. Verkleidet überreden ihn Ernestos Diener Cecco und Buona Fedes Zofe Lisetta,  der Doppelhochzeit zuzustimmen.

Die Aufnahme entstand im September 2017 in Lissabon und nutzt eine gekürzte Fassung, welche 1994 im Teatro Sao Carlos der portugiesischen Hauptstadt herauskam (8.660487-88, 2 CD). Das 2005 von Marcos Magalhaes gegründete Ensemble Os Músicos do Tejo musiziert unter seinem Leiter auf historischen Instrumenten. Schon in der viersätzigen Sinfonia entfacht er musikantischen Schwung und die Blechbläser können sich besonders profilieren.

Das rein portugiesische Ensemble führt der Bassist Luis Rodrigues als Buona Fede an, dem das erste Solo zufällt, die Cavatina „Ho veduto una ragazza“ – eine buffoneske Nummer, in welcher der Sänger mit lautmalerischer Eloquenz aufwartet. Ihr folgen seine Arien „Ho veduto un bon marito“,„Ho veduto dall’amante“ und „La ragazza col vecchione“ von ähnlichem Charakter.

Die Soprane Susana Gaspar und Carla Caramujo singen seine Töchter Clarice und Flaminia. Letztere kann in ihrer beschwingten Auftrittsarie („Ragion nell’alma“) mit leichter, rescher Stimme gefallen, während die Erstgenannte  in „Son fanciulla da marito“ mehr Farbe und corpo, aber auch strenge Töne hören lässt.

Deren Liebhaber sind die beiden Tenöre Joao Pedro Cabral als Ernesto und Fernando Guimaraes als Ecclitico. Dieser führt sich mit der schwärmerischen Arie „Un poco di denaro“ ein und lässt dabei eine angemessen muntere Stimme hören. Ersterer zeigt in „Qualche volta“ eine eher schmales Volumen. Das Buffo-Paar geben der Bassist Joao Fernandes als Cecco und die Sopranistin Carla Simoes als Lisetta. Sie hat mit „Una donna come me“ eine Arie von reizvollem Melos, kann aber grelle Momente nicht vermeiden. Er kann in der Arie „Un avaro suda e pena“ ein buffoneskes Kabinettstück abliefern und dabei verblüffende Kopftöne einsetzen. Beide Paare haben im 3. Akt noch innige Duette, bevor das Finale mit „Buona Fede tondo il cerchio della Luna“ alle sieben Interpreten zu einem heiteren Abgesang vereint. Bernd Hoppe 

 

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Martin Essinger

 

Mit großem und Bedauern und einer gewissen Erschütterung hörte ich vom Todes des Journalisten und Dramaturgen Martin Essinger, einem lieben Freund aus jenen alten Tagen, als wir mit unserem maroden Mercedes durch Italien reisten und bei ihm und seinem Schweizer Freund in Bergamo (citta alta!) Station machten, auf dem Wege nach Triest, Pesaro oder Rom. Seine außerordentliche Bescheidenheit und seine Freundlichkeit kommen wir wieder ins Gedächtnis, wenn ich auf sein Foto mit seinem zögernden Lächeln vor mir blicke. Martin war ein unendlich kluger Mann, zurückhaltend und vielleicht auch ein wenig zu schüchtern, um stets fest seine Meinung zu sagen. Seine unerhörte Bildung war ein Fels jeder Unterhaltung, seine Genauigkeit und seine vorsichtige Neugier amüsierten mich gelegentlich. Martin war ein milder Mann der leisen Worte, ein besonders lieber und herzlicher. Wir hatten uns aus den Augen verloren, lange Jahre nichts mehr voneinander gehört. Eine gemeinsame, fürsorgende Freundin hielt mich auf dem Laufenden und berichtete von seinem Leiden, seinem physischen und mentalen Niedergang. Die Nachricht von seinem Tod am 9. Oktober (2020) brachte ihn mir wieder vor Augen: ein reizender, hochliebenswerter Mann. Ruhe aus, Martin. G. H.

 

 Martin W. Essinger, 1953 geboren in Reichenbach/Odenwald, arbeitete bis 1979 als Industriekaufmann bei CIBA GEIGY. Abitur am Abend­gymnasium Mannheim, Studium in Heidelberg. Während dieser Anstellung als Buchhalter: Abendgymnasium in Mannheim mit Abitur-Abschluss. Studium Germanistik, Geschichte, Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg. Eigenfinanzierung des Studiums durch Arbeit am Stadttheater als Programmheftverkäufer, Logenschließer, Pförtner, Statist, Regie- und, sowie als Nachtportier in einem Hotel. Während der Studienzeit Regie-Hospitanzen am Nationaltheater Mannheim bei Ruth Berg­haus und bei Harry Kupfer. Hochschulabschluss (Thema der Promotion: Wackenroders Einfluss auf die Musikanschauung der Romantik). Zweitstudium Musikwissenschaft und Philosophie. Beginn einer Habillitation zum Thema Die Hosenrolle in der Operngeschichte. Nach Tätigkeit als Musikdra­maturg in Kassel und Freiburg Wiederaufnahme der Habilitation.

Seit 1987 Musik- und Kunstkritiker für Tageszeitun­gen (u. a. Die Welt und Mannheimer Morgen) und Opernzeitschriften (u. a. Opernwelt, der alte Orpheus, Crescendo, Opernglas und Neue Zeitschrift für Musik). Veröffentlichungen vor allem zur italienischen Oper der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Charles Gounod. CD-Booklets. Mitarbeit an großen Reihenwerken (u, a. das Neue MGG). Von 1991 bis 1993 Musikdramaturg am Staats­theater Kassel, anschließend in gleicher Position in Freiburg, Bielefeld und zuletzt in Bonn.  Dazu war er auch als Buchautor Tätig, so der Märchenroman Pauline und die Albtraumhexe. Nach langer und schwerer Krankheit verstarb er im Oktober 2020 ebenfalls in Bonn. OBA

Michele Carafas „Masaniello“

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In jüngster Zeit hat der französische Komponist Daniel Esprit Auber reichlich fortune, aufgeführt und auch eingespielt zu werden. Seine Muette de Portici erreichte sogar Dessau und die kleineren Theater in Deutschland; die Pariser Opéra gab 2012 eine prachtvolle Vorstellung davon, und selbst wenn man mit June Anderson nicht glücklich wird ist doch die ältere EMi (und nun Warner) Aufnahme ein gültiges akustisches Dokument mit diskutabler Besetzung (auch Alfredo Kraus ist da nicht wirklich der Tenor zum Träumen; und Fans haben natürlich weitere Live- und Radioaufnahmen der Oper, die in London oder Paris mehrfach gegeben wurde). Dennoch – Auber ist – wie nun auch mit der zweiten der Naxos-Ouvertüren-CD – gut bedient.

Carafas „Masaniello„: Der Komponist Michele Carafa/ Stich von Maurin/ Wikipedia

Aber es gibt ja noch einen anderen Masaniello, eben jenen von Michele Carafa von 1827, der sich nach anfänglichen Aufstieg nicht gegen den Konkurrenten Auibers durchsetzen konnte. Er galt aber lange als die erfoilgreichere Oper dieses Sujets, so wie Carafa in seiner Zeit zu den wirklichen Größen der italienischen und französischen Oper gehörte.

Im wie stets hochinformativen Programmheft zur Muette de Portici an der Pariser Opéra-Comique 2012 fanden wir einen spamnnenden Artikel des Lyoneser Musikwissenschaftlers Olivier Bara über eben Carafas Masaniello, den wir mit der liebenswürdigen Werlaubnis des Autors hier in unserer Die vergessene Oper in eigener deutscher Übersetzung durch Ingrid Englitsch wiedergeben. Wie spannend doch die Welt der Oper ist – hat jemals jemand etwas von Carafas Masaniello gehört? Wir nicht, müssen wir gestehen. G. H.

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Olivier Bara – der andere Masianello: Die Rivalität zwischen “Grand-Opéra” und “Opéra-comique” ist alt. Geht sie doch auf die Epoche der “Spectacles forains” zurück, als Vaudevilles und “Comédies en ariettes” bitter mit der Musikakademie um das exklusive Recht, auf der Bühne zu singen, kämpften. Man kannte auf verschiedenen Theatern einige “Doubletten”finden, zuerst als Parodien: zum Beispiel die von Favart 1740 parodierte musikalische Tragödie Pyrame et Thisbé.Aber die Verdopplungen werden zu Duplikaten, wenn dasselbe Thema an der Opera und der Opéra-Comique behandelt wird, auf der einen Seite im großen Stil, auf der anderen Seite im mittleren Stil: so beim berühmten Fall des Pré aux clercs von Hérold (1832), der vier Jahre vorher durch seine auf den Religionskriegen basierende Handlung die Huguenots von Meyerbeer vorwegnimmt. So ist es auch der Fall bei Masaniello von Michele Enrico Francesco Carafa di Colobrano, der am 27. Dezember 1827 am Théâtre Feydeau (Opéra Comique) zwei Monate vor La Muette de Portici von Auber an der Académie royale de musique entstand. Dasselbe Thema: die neapolitanische Revolte von 1647, dieselben historischen Hauptgestalten: Thomas Aniello, Masaniello genannt, dieselbe Handlungsentwicklung: das Scheitern des Volksführers vor dem Hintergrund des Vesuvausbruchs. Beachten wir einen Größenunterschied, der der Opéra Comique den Vorteil der musikalischen Wahrheit sichern hätte müssen: Der Komponist von Masaniello ist der Neapolitaner Michele Carafa de Colobrano, aus dessen Feder das Erlebte die Feuerwerke des Pittoresken transzendieren hätte müssen.

Carafas „Masianello“/ zeitgenössische Darstellung des Fischeraufstandes in Neapel/ L´oro del popolo

Konspiration und Aufruhr: Man hat diese wichtige Figur der Geschichte der romantischen Opéra comique vergessen. Carafa, dessen Gabriella di Vergy von 1816 dem rossinischen Otello in Neapel die Stirn geboten hat. Das Théâtre Feydeau hielt sich an ihn 1821, weil es seine Musik „italianisieren“ wollte, um der Konkurrenz des Théâtre Italien mit seiner Rossiniwelle entgegen zu treten. Wenn auch die Belcantoattacke mit einer unglücklichen Jeanne d’Arc, die Carafa seinem Lehrer Cherubini gewidmet hat, nicht gegriffen hat, kam der Erfolg 1822 mit Le Solitaire (122 Vorstellungen während der Restaurationszeit), dann mit „Le Valet de chambre“ nach einem Libretto von Scribe. Zwei komische Opern und zwei Misserfolge später übernahm Carafa das Libretto des Vaudevillisten Moreau und Lafortelle Masaniello ou le Pêcheur napolitain, ein durch sein historisches und politisches Thema, seine Länge ( 4 Akte) durch sein lokales neapolitanisches Kolorit, für die Opéra Comique gefährliches Werk und den eruptiven Höhepunkt der Handlungsentwicklung  für die Opéra Comique gefährliches Werk, auch durch die Werkbezeichnung „historisches Drama“ (Barba, 1828).

Hat sich das Théâtre Feydeau entschlossen, direkt in Konkurrenz mit der Opéra zu treten und sich mit seinem großen „Opernbruder“ auf einen Wettlauf einzulassen, indem es seinen Masaniello unmittelbar vor dem Werk von Scribe und Auber auf die Bühne brachte? Hat es sich nicht auch auf einen Kampf mit dem Odéon eingelassen, das die Musik von Carafa wegführte, indem es seine milanesische Oper I due Figaro auf Französisch adaptierte? Die Presse von 1827 delektiert sich an diesem Konspirationsklima und nimmt die Kulissengespräche ebenso wie die Publikumsgespräche auf: „Die Kulturwelt hat sich in eine Arena verwandelt, wo unterhalb der Gladiatoren eine ganz spezielle Spezies kämpft und deren Hauptverdienst in ihrer Geschicklichkeit besteht, sich dessen zu bemächtigen, was die Beute der anderen ist“, schreibt der „Courrier des théâtres“ anlässlich der „zwei Masaniellos“ (siehe 12. Oktober 1827). Wer hat wen kopiert? „Wir nicht“, protestieren die beiden Librettisten der Operand Comique am nächsten Tag in derselben Zeitung: Zuerst einmal sei das Thema historisch und gehöre daher allen, weiters wurde unser Drama ab 1825 geschrieben, so behaupten sie und versuchen, öffentlich zu suggerieren, dass Eugène Scribe und Germain Delavigne die wahren Plagiateure seien. In Wahrheit stützen sich alle auf dieselben Quellen: Le Duc de Guise à Naples, ou Mémoires sur les révolutions de ce royaume en 1647 et 1648, herausgegeben vom Grafen von Pastoret im Jahr 1824. Ein musikalisches Drama Masaniello, the fisherman of Naples wurde übrigens von Henry Bishop 1825 in London herausgebracht.

Carafas „Masaniello„: Zoé Prevost war die erste weibliche Hauptdarstelling der Uraufführung/ Stich von Henri Grévedon/ BNF

Die vier Libretisten schlachten eine Melodie der Zeit aus, die politisch dem Liberalismus angehört. Das ultraextreme Ministerium von Villèle wird immer mehr angefeindet. Sie wird flüsternd nach dem Sieg der Liberalen in der Deputiertenkammer verbreitet. Zur gleichen Zeit sind auf den Bühnen die „revolutionären“ Themen in Mode: die Verteidigung der Bürgerrechte und der Kampf gegen den Unterdrücker werden gefeiert, 1827 und vor allem 1828 in Guillaume Tell von Puxérécourt am Théâtre de la Gaîté, in Les Trois Cantons am Vaudeville, in „Guillaume Tell“ von Pichat am Théâtre-Français, im „Guillaume Tell“ von Grétry, der von der Opéra Comique wieder aufgenommen wurde, vor dem von Rossini, 1829 an der Opéra. In dieser Vervielfachung der  Guillaume Tell (der von der Abschwächung der Zensur unter dem Ministerium Martignac profitiert) findet sich eine teilweise Antwort auf das Geheimnis des Zwillingswesens des Masaniello: Das Theaterleben, das noch keine genauen Kriterien der künstlerischen Urheberschaft kennt, speist sich von gängigen Themen und nährt so, im Feuer des kulturellen Augenblicks, die Phantasie des Zusehers.

Carafas „Masaniello„: Louis-Auguste Hué war der erste Masianello/ BNF

Ein Vesuv verschattet den anderen. Im Übrigen unterscheidet sich, wenn man die beiden Libretto genau liest, der Masaniello von Moreau und Lafortelle klar von der Muette de Portici von Scribe und G. Delavigne: Der Vergleich ist faszinierend, so sehr erlaubt er, das Genie von Scribe gegenüber den beiden Herstellern am Théâtre Feydeau zu erkennen. Die letzteren malen das historische Material in den  engen Formen der Opéra-Comique, was ihre  Vorgehensweise und ihre Couplets betrifft. Scribe hingegen nutzt nicht nur die dramatischen Potentiale, sondern auch die visuellen, klanglichen und spektakulären des Themas aus, indem er zusätzlich die Titelfigur der Stummen erfindet, eine Gelegenheit, Pantomime und Tanz in das dramatische und musikalische Geschehen einzubinden. Dadurch verwischt er die hervorstechenden Konturen eines gewagten politischen Themas, indem er, da wo die Librettisten Carafas vervielfachen,  den Diskurs, entsprechend den Zensurwünschen, implizit hält mit Anspielungen auf die heilige Vorsehung, die die Volksrevolten bestrafen kann. Dieser dramaturgische und ideologische Unterschied wurde von den Zensoren erkannt, die die ungeschickte Freizügigkeit, mit  der das Libretto der Opéra Comique das Thema der neapolitanischen Revolte behandelt, der hohen Geschicklichkeit Scribes gegenüberstellen, mit der er jede direkte Anspielung vermeidet. „Die Ruhe des Staates hängst so sehr davon ab, wie unsere Aufgaben mit Vertrauen und Unterwerfung erfüllt werden, folglich soll nichts an diesem Thema die Geister aufwiegeln, man müsse einen solchen Gegenstand sehr vorsichtig behandeln und am Theater sei es noch besser, an nichts zu rühren“, kommentiert die Zensur angesichts von „Masaniello“. Sie erkennt aber dennoch den belehrenden Charakter des Werks von Moreau und Lafortelle: der Tod des Helden am Schluss (in einer Opéra Comique unüblich), der durch die Menge der Revoltierenden getötet wird, stellt ein Beispiel der konservativen Tugenden dar. Das bietet einen Beweis der Gefahr der Revolutionen und des Nachteils, den es mit sich bringt, aus seiner Sphäre herauszutreten“, beruhigt sich der Zensor. Er erlaubt die Muette der Opéra Comique unter der Bedingung, dass Formulierungen wie „zu den Waffen greifen“ oder, schlimmer, „diese Schurken von Steuereintreibern“ gestrichen werden. Die Muette erscheint den Zensoren sogar inoffensiv dank ihrer Titelgestalt: Diese wendet die Handlung vom Politischen mehr in die intime Sphäre. „Die Gefahr für die legitime Autorität, der Volksaufruhr, die Schreie der Revolution, alles verliert sich und wird vergessen beziehungsweise vermischt es sich mit dem Interesse an einer Person. Diese Person ist eine Frau und sie ist stumm. (…) Sie ist es, auf die alle Blicke gerichtet sind, die alle Herzen berührt. Es gibt kaum etwas, das die Gefahren des Themas geschickter umgeht.“ Die Zensoren waren blind dafür, dass, wie man weiß, es Aubers Muette de Portici ist, die durch die heimtückischen Rhythmen ihrer Barcarolen und den kriegerischen Elan ihres „Amour sacré de la patrie“ die belgische Revolution von 1830 auslösen wird.

Carafas „Masaniello“ der angeblich originale Masianello auf einem Bild von Onofrio Palumbo, 1647/ Wikipedia

Die am Rande der künstlerischen Geschichte verbliebene Opéra-Comique von Carafa hatte zweifellos auch andere Schwächen als nur das Libretto. Die Partitur des Neapolitaners erscheint rau in ihren Rhythmen, eher knapp in ihren Melodien, zu verhalten in ihrem dramatischen Elan durch die Aufeinanderfolge geschlossener Nummern, auch wenn einzelne herausgenommene Stücke einen echten kommerziellen Erfolg hatten, wie die Couplets von Notre-Dame du Mont Carmel. Die Regie der Opéra vom Regisseur Solomé, die von Ciceri nach einer Reise nach Neapel gemalten Dekorationen  lassen die Aufführung in visueller Bescheidenheit verharren trotz der für den Vesuv angewandten technischen Verbesserungen, mit denen man dem „Konkurrenz-Vesuv“ gleichkommen wollte. Es ist auch anzumerken, dass es der Titelrolle im Gegensatz zur Interpretation von Adolphe Nourrit an Eklat, Biss und Kraft gefehlt hat. Der leichte Tenor Ponchard in der Rolle des neapolitanischen Fischers hat nur ein kleines Stimmchen, beklagt die Presse. Die „Muette de Portici“ hat „Masaniello“ verdrängt. Die Oper von Carafa hatte allerdings mehr als 60 Aufführungen in zwei Jahren, ein heftiger, aber vergänglicher Erfolg aufgrund der Ähnlichkeiten der beiden Werke. Der Titel verschwindet rasch von den Ankündigungen nach 1829, während das Werk von Scribe und Auber die neue Form entwickelt, die unter der Julirevolution eine glänzende Zukunft hat: die große romantische historische Oper, die bald darauf Rossini (Guillaume Tell), dann Halévy (La Juive) und Meyerbeer (Les Huguenots) zur Vollendung bringen werden. Die ästhetische Revolution an der Opéra Comique ist unter der Restauration nicht Masaniello, es ist die Dame blanche von Scribe und Boieldieu,die Matrix der Meisterwerke des „mittleren Genres“ des 19. Jahrhunderts.

Der Autor und Musikwissenschaftlr Olivier Bara/ institution-ville-geneve

Ein kleiner Trost für Carafa: Sein Masaniello hatte in der Provinz eine ansehnliche Karriere, wobei er von seinen kleinen Proportionen und der Einfachheit, mit der er in Szene gesetzt werden konnte, profitierte: wenige Statisten, ein weniger „anspruchsvoller“ Vesuv und keine Tanzrolle. Masaniello oder die Muette der Armen? Olivier Bara/ Übersetzung Ingrid Englitsch

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Wir danken dem Autor Olivier Bara , der Professor und Musikwissenschaftler an der Universität Lyon ist, für die sehr freundliche Genehmigung zum „Nachdruck“ seines Artikels aus dem Programmheft zu Aubers Muette de Portici an der Pariser Opera-Comique 2012. 

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Evvivano i Litiganti

 

Im Jahre 1834 erinnerte sich der über 70jährige Luigi Cherubini an die frühen Ereignisse seines Musikerlebens, die er in die Feder eines Sekretärs diktierte. In der daraus resultierenden Notice biographique würdigte der Greis einen heutzutage fast vergessenen Komponisten, der sich seiner angenommen hatte: „Im Jahre 1778 verlieh Leopold II., der Großherzog der Toskana, (…) Cherubini ein Stipendium, das dem jungen Komponisten erlaubte, sich nach Bologna zu begeben, wo der berühmte Sarti weilte, unter dem er seine Ausbildung verfeinern wollte. Sarti freundete sich mit seinem Schüler an und gab ihm hervorragende Ratschläge, die ihn in der Wissenschaft des Kontrapunkts und in der Ästhetik (style idéal) stärker machten“ (meine Übersetzung). Cherubini berichtet darüber hinaus, dass Giuseppe Sarti (1729-1802) ihn auf Reise mitnahm, und ihm sogar erlaubte, Stücke für die Nebenrollen zu verfassen, um ihn üben zu lassen oder wenn er wegen Termindrucks eine Aushilfe brauchte. Diese Eindrücke müssen fürwahr prägend gewesen sein, wenn Cherubini sich veranlasst fühlte, mehr als 50 Jahre später herzliche Worte für seinen Lehrer zu finden. Daran, dass Sartis Musik, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts überall in Europa gespielt wurde, nach und nach vergessen wurde, konnte auch er nichts ändern. Mozart und Da Ponte auch nicht: in der Schlussszene des Don Giovanni spielen nämlich die „amici cari“, die Don Giovanni zur Erhöhung seiner Tafelfreuden eingeladen hat, auch eine Melodie aus Sartis Dramma giocoso Fra i due litiganti il terzo gode („Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte“), das 1782 an der Scala uraufgeführt worden war und sich auch im Wien des Jahres 1787 einer großen Beliebtheit erfreute. Das Zitat in Mozarts Oper sorgte dafür, dass zumindest der Name von Sarti nicht ganz aus dem Horizont der Musikliebhaber verschwand. Die Bühne eroberten die Opern von Giuseppe Sarti jedoch nicht zurück, und in den letzten 30 Jahren bleib es bei mehr oder weniger überzeugenden Einzelversuchen, etwa für Giulio Sabino (Ravenna 1999), Enea nel Lazio (St. Petersburg 2001) sowie Armida e Rinaldo (unter anderem in Sartis Geburtsort Faenza, 2012). Hinzu kamen mehrere wagemutige Produktionen von universitären und freien Operngruppen, die keine Spuren in der Rezeption seiner Werke hinterlassen haben. Dabei schätzten Publikum und potente Geldgeber der Zeit Giuseppe Sarti sehr hoch. Er war Kapellmeister in Kopenhagen und Sankt Petersburg, wohin ihn Katharina II. 1784 berufen hatte (Sarti starb 1802 in Berlin auf der Rückreise nach Italien, nachdem er der Kaiserin als Opern- und Kirchenkomponist, u. a. auch von Stücken für die orthodoxe Liturgie, getreu gedient hatte). Trotz des großen Ruhms unter den Zeitgenossen fehlt es nach wie vor an einer umfassenden modernen Monographie zu diesem bedeutenden Komponisten, auch wenn er immer wieder ins Blickfeld der Forschung geraten ist. Man erinnert sich etwa an Kongressakten von 1986 und an das Buch von Roland Pfeiffer zu Sartis opere buffe von 2007.

Es ist dementsprechend sehr zu begrüßen, dass die Edition Argus in ihrer Reihe „Forum Musikwissenschaft“ einen weiteren, elegant gestalteten Sammelband zu Sarti veröffentlicht, der Beiträge versammelt, die auf Tagungen aus den Jahren 2014 und 2015 gehalten wurden. Es sind 21 Aufsätze auf Deutsch und Englisch, in denen anerkannte Spezialisten und Nachwuchskräfte (unter anderem Martina Grempler, Roland Pfeiffer, Christin Heitmann und Dörte Schmidt) jeweils einen Aspekt von Sartis Schaffen, manchmal auch ein einziges Werk (etwa Le gelosie villane, Fra i due litiganti il terzo gode und Giulio Sabino) zum Objekt ihrer gelehrten Betrachtungen machen. Besonders interessant wirken die Ausführungen zu Sartis Beziehung zur ambrosianischen Tradition (Mariateresa Dellaborra; Sarti war von 1779 bis 1784 Domkapellmeister in Mailand) oder zu seinem langen Aufenthalt in Russland (Marina Ritzarev, Bella Brover-Lubovsky). Der Band wird durch drei Beiträge zu digitalen Editionen abgerundet (Joachim Veit, Johannes Kepper und Kristin Herold).

Man vermisst schmerzlich ein Register der Quellen, der Werke und der Namen, was für ein wissenschaftliches Buch eigentlich zur Standardausstattung gehört, zumal in einem Band, der die „Überlieferung“ im Untertitel nennt. Es handelt sich hier trotzdem unmissverständlich um eine Publikation von Fachleuten für Fachleute. Wer sich den gelegentlichen trockenen und beinahe solipsistischen Vortrag einiger dieser Autoren antut, bekommt die seltene Gelegenheit, Informationen aus erster Hand über einen der wichtigsten Komponisten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu gewinnen, und sehnt sich danach, einen der großen Erfolge Sartis einmal wieder in einer würdigen szenischen Produktion erleben zu können. Michele C. Ferrari

 

Giuseppe Sarti. Ästhetik, Rezeption, Überlieferung. Herausgegeben von Christin Heitmann, Dörte Schmidt und Christine Siegert. Schliengen : Edition Argus 2019, 328 Seiten, ISBN 978-3-931264-42-0

Unter Mayas

 

 

Man darf sich nicht von dem düsteren Cover abschrecken lassen. Auch nicht von dem Untertitel Ein kultisches Drama für Tanz, Sologesang und Chor, den der Schönberg-Schüler Egon Wellesz (1885-1974) seinem Werk Die Opferung des Gefangenen gab. Man hört in der auf Capriccio als Ersteinspielung von 1995 vorgelegten CD (C5423) eine höchst originelle, ekstatische, ungemein farbig instrumentierte freitonale Musik, die eine immense Sogkraft und hämmernde Intensität entwickelt und deren motorische Strecken nicht verleugnen, dass sie für Tänzer konzipiert ist. Der österreichisch-britische Komponist, der nach seiner Emigration ab 1938 einen Lehrstuhl in Oxford innehatte und in seiner neuen Heimat als Musikwissenschaftler und Pädagoge hoch geachtet und geehrt wurde – nach dem Zweiten Weltkrieg überhäufte in auch seine Geburtsstadt Wien mit Auszeichnungen – teilt eine ähnliche Biografie mit seinem fünf Jahre jüngeren Landsmann Hans Gál, der in Edinburgh eine neue Wirkungsstätte fand. Wie Wellesz‘ bedeutendstes Bühnenwerk, die 1999 von Gerd Albrecht wiederaufgeführten Bakchantinnen von 1931 – der nicht mit ihm verwandte Marc Albrecht leitete 2003 eine konzertante Aufführung bei den Salzburger Festspielen – ist die Opferung des Gefangenen im Grunde ein Chorwerk, in dem er expressionistische Klanggesten mit sakraler Bedeutungsschwere verband. „Als Vorlage diente Wellesz, der dieses Werk auch und im Besonderen mit dem avantgardistischen Tänzer und Choreographen Kurt Joos entwickelte, ein archaisches Drama der Maya“, in dem Eduard Stucken den Untergang des Aztekenreiches schildert: „Ein Prinz wird nach verlorener Schlacht als Gefangener an den Hof des siegreichen Königs gebracht. Höhnend fragt ihn der Sieger, ob er gekommen sei, die wunderbaren seines Landes zu genießen, seine prächtigen Königsgewänder anzulegen, mit der schönen Prinzessin zu tanzen, oder mit seinen furchtlosen Kriegern den Kriegstanz auszuführen. Im Bewusstsein seines nahen, unabweisbaren Endes fordert der Prinz als dies als Gunst, und in vier großen Tänzen, die das Spiel im Spiel bilden, empfängt er die Früchte, tanzt er in den Königsgewändern und dann mit der Prinzessin und zuletzt mit den Kriegern des Königs. Nach jedem dieser Tänze lässt der Prinz den siegreichen König jedoch verächtlich wissen, dass all das nicht mit seiner Macht konkurrieren können. Ihm ist klar, dass die Stunde des Sterbens da ist. Mit einem fünften Tanz von den Bergen und den Tälern seiner Heimat Abschied nehmend, ergibt er sich sein Schicksal“.

Es ist immer wieder erstaunlich, wie aufregend es in den 1920er Jahren abseits der Metropolen in den Opernhäusern zuging. Die Opferung des Gefangenen kam 1927 in Magdeburg heraus, es dirigierte Eugen Szenkar, der sich sehr für die Musik seiner Zeitgenossen und insbesondere auch Wellesz einsetzte, die Ausstattung stammte von dem stilbildendenden Ausstatter der Berliner Staatsoper Panos Aravantinos. Das Werk ist mehr als eine Fußnote, dennoch blieb die im Wiener Konzerthaus von Friedrich Cerha mit exemplarischem Nachdruck geleitete Aufführung (bereits 1995 erstmals bei Capriccio erschienen)  mit dem vorzüglichen ORF Orchester und dem Wiener Konzertchor folgenlos. Der seinerzeit knapp 30jährige Wolfgang Koch singt den Feldherrn mit der hier angemessenen Stentorstimme. Kraftvoll, wütend und verschwenderisch stellt er seinen Bariton aus. Dagegen kommen der Tenor Robert Brooks und der Bass Ivan Urbas als Schildträger des Prinzen und Ältester des Rates nicht an.  Rolf Fath 

 

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Bühnenwirksam

 

Nicht das rechte Zutrauen in die Bühnenwirksamkeit des allerdings als Oratorium konzipierten Werks von Rossini hatte wohl die holländische Regisseuse Lotte de Beer, als sie 2017 Mosè in Egitto in Bregenz inszenierte, allerdings nicht auf der Seebühne, für die es sicherlich nicht populär genug war. Sie ließ die Oper quasi auf drei Ebenen spielen, zum einen mit dem Sängerensemble, des weiteren auf einer Bühne für die Marionetten der Theatre Company Hotel Modern, die vor allem in den Massenszenen wie die des Durchschreitens des Roten Meeres auf einer Riesenscheibe „aktiv“ wurden, und schließlich mit drei „Technikern“, die in Arbeitskleidung auf der Bühne allerlei richteten, verbesserten und eingriffen, wenn ihnen irgendwas gegen den Strich ging. Die Letzteren allerdings rissen die Zuschauer immer wieder aus der Verzauberung, in die die Sänger das Publikum durch hatten versetzen können. Einen ähnlichen Verfremdungseffekt hatte das zeitweilige Erstarren der Handelnden, und ein Marionetten-Insekt gab zusätzliche Rätsel auf. Ganz klar aber war, dass die kenternden Boote und die im Wasser treibenden Flüchtlinge eine Anspielung auf Zeitereignisse darstellten. Mit wenigen Versatzstücken kam die Bühne von Christof Hetzer aus, der auch für die Kostüme, Weiß für die Ägypter, gemischt lumpig für die Israeliten, verantwortlich war.

Am Pult des „Hausorchesters“ der Bregenzer Festspiele, der Wiener Symphoniker, stand der mit dem Rossini-Repertoire höchst vertraute Enrique Mazzola, den ebenfalls tüchtigen Prague Philharmonic Choir leitete Lukás Vasilek, beide leisteten pesarowürdige Arbeit.

Nicht ganz so gut war es um die Solisten bestellt. Für die Titelpartie brachte Goran Juroc zwar eine imposante Erscheinung mit, auch einen warm timbrierten Bass mit guter Tiefe, der sich betont legatofreundlich gab, im Verlauf der Vorstellung aber etwas an Kraft einbüßte und zudem eine Schwäche bei den hohen Tönen offenbarte. Sein Gegenspieler war der Faraone von Andrew Foster-Williams mit schlankerer, aber dunklerer Stimme exakter Konturen, der machtvoll auftrumpfen konnte. Mandy Fredrich war die Amaltea mit ebenmäßig geführter Stimme, die die Ensembles überstrahlen konnte, die schöne, anspruchsvolle Partie der Elcia wurde von Clarissa Costanzo mit feinem lyrischem Sopran gestaltet, von dem sich im Duett der beiden die frische Stimme von Dara Savinova als Amenofi abhob. Einen bärbeißigen Osiride sang Sunnyboy Dladla mit durchdringendem, aber nicht besonders stilsicherem Tenor, der streckenweise überfordert wirkte, auch wenn er immer wieder mit sicheren Höhen erfreute. Als Tenorino offenbarte sich der Aronne von Matteo Macchioni, in der Rolle des Aronne, einen charaktergerechten Charaktertenor hatte Taylan Reinhard für den Mambre. Das Stück verdient wegen seiner mitreißenden Melodien mehr Aufmerksamkeit und vor allem zahlreichere Aufführungen (C-Major 744808). Ingrid Wanja    

 

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Wie aktuell!

 

Es geht überwältigenden los: mit Gongschlägen, Rasseln, Ganztonskalen, federnden Sechzehntel-Sprungfedern und brillant eingeworfenen Hornpassagen à la Richard Strauss. Das Münchner Rundfunkorchester unter Ulf Schirmer spielt diesen Orientalismus-Traum von Leo Fall mit einer gehörigen Portion Bombast; und die wirkt hier klanglich opulenter als alle früheren Aufnahmen der Rose von Stambul, wo das Orchester nie so durchhörbar von der Tontechnik eingefangen wurde. Chapeau!

Und gleich in der ersten Szene dann, in der die weibliche Hauptfigur Kondja Gül, Tochter des Kamek Pascha, in ihren Frauengemächern in Istanbul erwacht, fallen die Sätze, die daran erinnern, wie aktuell diese Operette von 1916 ist: Denn in ihrem Introduktionssolo beklagt Kondja, dass sie einst „ein liebes kleines braunes Mädchen“ gewesen sei, dass „auf Bälle durfte“ und „Feste, Tennis und Flirt“ genoss. Doch dann hieß es eines Tages plötzlich: „Du trägst jetzt den Schleier!“ („Ich war nicht mehr als eine grau verschleierte Puppe“). Kondja begehrt auf gegen diese Verschleierung aus „Sitte und Tradition“, die „der Prophet“ verordnet hat. Und als ihre Freundin Midili Hanum erscheint und im Two-Step davon singt, dass in Paris die Frauen in Cafés flirten und sich nicht im Haus verbergen müssen, weil sie „frei von unserer konservativen Tradition“ den Frühling genießen können, da schließen sich alle diese jungen türkisch-muslimischen Frauen (im Chor) zusammen zu einem mitreißenden Protestmarsch, der in der Zeile mündet: „Von Reformen, ganz enormen, träumen wir am Bosporus!“ Sie alle fordern „Fort der Schleier!“ und heraus „aus dem Dunkel“.

Kemal Atatürk setzte das dann alles tatsächlich in den 1920er-Jahren in der Türkei um und modernisierte das Land. Bis Erdogan kam und Jahrzehnte später (erfolgreich) versuchte, diese Bewegung wieder umzudrehen. Seither wird über die Religion und Islam viel gestritten und diskutiert, nicht nur in der Türkei. 

Zur Erinnerung: Als 2019 das Frankfurter Museum für Angewandte Kunst die Ausstellung „Contemporary Muslim Fashions“ zeigte, worin es u. a. um Tschadors, Niqabs, Burkas, Schleier und Kopftücher ging, entbrannte wütender Protest. Der Vorwurf lautete, es würde gezeigt, dass islamische Frauen die Verhüllung nicht als freiwilliges religiöses Statement tragen würden, stattdessen seien vermeintlich nur westliche stereotype Vorurteile zur Unterdrückung von Frauen reproduziert worden. Weswegen sich in sozialen Medien Shit-Stürme erhoben, die die Schließung der Ausstellung forderten, die Absetzung des Museumsdirektors usw. Anlässlich einer im Rahmen der Ausstellung geplanten Konferenz, wo über islamische Mode inkl. Verschleierung diskutiert werden sollte, gab es wiederum massiven Gegenwind zur Frage: Wer darf sich eigentlich zu diesem Thema äußern?

Was das mit der Rose von Stambul und dieser neuen cpo-Aufnahme aus dem Prinzregententheater? Ein befreundeter Regisseur hat in den letzten Jahren wiederholt versucht, an einem westdeutschen Theater die Rose von Stambul zu inszenieren. Doch die Intendanz und Dramaturgie erklärten ihm, die Geschichte im Stück „sei nicht seine“, er sei nicht „berechtigt“ sie auf die Bühne zu bringen, weil die Themen „anderen gehörten“. Im Klartext: türkischen bzw. muslimischen Frauen. Er als weißer, nicht-muslimischer deutscher Mann müsse sich also von dieser Operette fernhalten! (Vermutlich hatte die Intendanz Sorge vor Empörungswellen, wie sie über das Museum in Frankfurt schwappten.)

Solche Identitätspolitikdiskussionen sind auf allen Ebenen sichtbar, auch in der Oper(etten)nwelt: Wer „darf“ Aida und Otello singen? Ist Der Mikado „rassistisch“ oder Die Geisha? Werden darin nur überholte und „verletzende“ ethnische Stereotype wiederholt? Muss das alles weg? Oder zumindest dekonstruiert und problematisiert werden?

Beim Münchner Rundfunkorchester ist man von solchen Fragen scheinbar unberührt. Jedenfalls kann man konstatieren, dass Dirigent Ulf Schirmer ein weißer nicht-muslimischer Mann ist und sich bei seiner Besetzung der „türkischen“ Rollen niemand findet, der erkennbar etwas mit der Türkei oder dem Islam zu tun hat: Matthias Klink singt den Achmed Bey, Kristiane Kaiser die Kondja Gül, Magdalena Hinterdobler die Midili, Eleonora Vacchi die Bül-Bül, Christoph Hartkopf die Exzellenz Kamek Pascha (Vater von Kondja). Und dann wäre da noch Hanne Weber als Djamileh. Könnte man sagen, Die Rose von Stambul sei „ihre“ Geschichte? Sind sie „berechtigt“ sie zu erzählen? Und wenn sie sie schon erzählen, haben sie dann etwas zu sagen zu all den explosiven Themen?

Im lesenswerten Essay vom Leo-Fall-Biografen Stefan Frey im Booklet ist nirgends auch nur in einem Nebensatz die Rede davon, was für Debatten in den letzten Jahren zum Thema Verschleierung geführt wurden. Und dann geht’s im Stück ja auch darum, dass Kondja von ihrem Vater zwangsverheiratet wird mit einem türkischen Mann, den sie nicht kennt und noch nie gesehen hat. Dass beispielsweise 2019 Sandra Maischberger den Film Nur eine Frau produziert hat, bleibt unerwähnt, ein Film über den sogenannten „Ehrenmord“ an der Berlinerin Hatun Sürücü, die von einem ihrer Brüder getötet wurde, weil sie den von ihrer Familie ausgewählten Ehemann verließ, abends tanzen ging, das Kopftuch ablegte und sich einen Liebhaber nahm. Die ARD strahlte den erschütternden Film kürzlich aus.

Wäre es bei so viel Zeitbezug nicht mindestens angebracht, den Text von den „Reformen, ganz enormen“ von denen die Protagonistinnen der Rose von Stambul träumen so klar und explosiv rüberzubringen, wie er von Julius Brammer und Alfred Grünwald geschrieben bzw. von Leo Fall komponiert wurde? Oder soll die maximale Textundeutlichkeit und sprachliche Apathie von Kristiane Kaiser (Kondja) und Magdalena Hinterdobler (Midili) die Spuren verwischen, damit niemand mitbekommt, dass es hier um aufregende Dinge geht, die viele Menschen im Jahr 2020 immer noch bewegen?

Beide Damen singen extrem gepflegt, sind angenehm anzuhören, aber sie sind niemals die aufmüpfigen Charaktere, die sie laut Textbuch sein sollen. Es gibt von der Berliner Erstbesetzung 1917 eine Truesound-Transfer-CD: Wenn man hört, mit welch unendlichen Nuancen und mit welcher Kessheit Fritzi Massary da als Kondja vom „Glück nach der Mode“ singt, von dem sie träumt (nach westlichem Vorbild, statt nach islamischer Tradition), oder wenn man hört, wie quietschend-rebellisch Molly Wessely als Midili zu ihrem selbstgewählten westlichen Liebhaber sagt „Fridolin, ach wie dein Schnurrbart sticht“, als sie ihn entgegen „Anstand und Sitte“ küsst, da spürt man, was dieser Neuaufnahme gründlich fehlt. Nämlich ein Gespür dafür, dass es hier nicht nur um „gehobene“ Wunschkonzertmusik geht.

Die Wunschkonzertnummer aller Wunschkonzertträume ist natürlich das Duett „Ein Walzer muss es sein“: Vergleicht man die 1917 demonstrierte Tempoflexibilität mit der neuen cpo-Aufnahme, auch die Leichtigkeit, mit der sich Massary und Albert Kutzner in einem vollkommenen Rausch hineinsteigern, dann merkt man, wie pedantisch Matthias Klink und Kristiane Kaiser unter Ulf Schirmer diese Nummer gestalten – obwohl in München die vollständige Spielszene aufgenommen wurde, in der Achmed seiner Verlobten Kondja das Walzertanzen beibringt, bevor er sie in der Hochzeitsnacht vergewaltigen will (oder sagen wir: gegen ihren Willen die Ehe gewaltsam konsumieren möchte). Womit wir schon beim nächsten Aufregerthema wären.

Fritzi Massary sang damals mit durchaus feministischem Furor im Kostüm einer Orientalin gegen solche Zustände an, die auch in Deutschand zu Zeiten des Kaiserreichs herrschten. Noch 1966 urteilte der 4. Zivilsenat am Bundesgerichtshof: „Die Frau genügt ihren ehelichen Pflichten nicht schon damit, dass sie die Beiwohnung teilnahmslos geschehen lässt. Wenn es ihr infolge ihrer Veranlagung oder aus anderen Gründen, zu denen die Unwissenheit der Eheleute gehören kann, versagt bleibt, im ehelichen Verkehr Befriedigung zu finden, so fordert die Ehe von ihr doch eine Gewährung in ehelicher Zuneigung und Opferbereitschaft und verbietet es, Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen.“ Wenn eine Frau sich in Deutschland an die Polizei wandte, um eine Vergewaltigung anzuzeigen, hatte sie zuerst eine Frage zu beantworten: In welchem Verhältnis stehen Sie zum Täter? – Wir sind verheiratet. – Na, dann gehen Sie nach Hause. Daran änderte sich erst 1997 (!) etwas.

Matthias Klink tritt in die Fußstapfen von vielen berühmten Vorgängern. An Hubert Marischka als Uraufführungssänger 1916 wird sich vermutlich kaum jemand erinnern (es sind keine Aufnahmen von ihm überliefert, nur Fotos in Atatürk-Outfit), aber an Rudolf Schock und Fritz Wunderlich muss man schon denken, wenn man die beiden berühmtesten Tenorschlager dieser Operette hört: den betörenden Walzer „O Rose von Stambul nur du allein, sollst meine Scheherazade sein“ und die schwungvoll aufblühende „Serenade“. Bei beiden breitet das Münchner Rundfunkorchester einen Klangteppich aus, der atemberaubend ist. Und Klink beschreitet ihn vorsichtig, mit angenehmen Pianoeffekten. Aber ohne das Draufgängertum Schocks und ohne den sengenden Glanz Wunderlichs. Es hätte Klink gut getan, sich Albert Kutzner von 1917 anzuhören und sich von ihm einige Gestaltungsdetails abzulauschen, mit denen er eine interessante Alternative zu Schock/Wunderlich hätte darstellen können. Vielleicht wäre es auch Aufgabe des Dirigenten, so etwas mit seinen Solisten zu erarbeiten? (Nur so als Anregung.)

Andreas Winkler singt einen braven Buffo, bei dem nichts grotesk quiekt (wie bei Eugen Rex 1917). Und wenn Winkler im zweiten Akt als Frau verkleidet in den Harem eindringt und singt „Ich bin die Lilly vom Ballett und finde alle älteren Herrn so nett“, dann müsste das doch deutlich amüsanter sein als hier. In Freys Fall-Biografie sieht man ein Foto von Ernst Tautenhayn als Lilly in Wien 1916, und man merkt allein an der Pose, dem Dekolleté und dem Grinsen, das hier mehr drin steckt an Wirkung. Besonders in den im Falsett gesungenen Refrain-Passagen.

Warum man schließlich in München für die Sprechrolle des Kamek Pascha den Bariton Christof Hartkopf gewählt hat, der viel zu jung klingt und vor allem viel zu charakterlos (in der Sprechstimme), bleibt ein Rätsel. Und als reimender Schweizer Hotelangestellter (im 3. Akt) wirkt Michael Glantschnig in einer weiteren Sprechrolle wie eine Notlösung, nicht wie ein komisches Elementarereignis. Hat der Bayerische Rundfunk keine guten Sprecher mit Schwizerdütsch-Talent?

Auf der neuen Doppel-CD gibt’s genug Dialoge, um die Handlung detailliert verfolgen zu können, auch wenn sie wenig theatralisch vorgetragen werden. Immerhin lockern Live-Lacher des Publikums die Sterilität der Dialogszenen ab und zu auf (Dialogregie: Ralf Eger).

Von der Klangqualität ist diese Neuaufnahme jener von Werner Schmidt-Boelke dirigierten von 1966 weit überlegen, obwohl Elfie Mayerhofer als Kondja und Rudolf Christ als Achmed durchaus reizvoll sind. Die Gesamtaufnahme unter Franz Marszalek hat Fritz Wunderlich als Achmed und Gretel Hartung als Kondja. Ein wichtiges Zeitdokument, aber natürlich auch meilenweit entfernt von Massary-Tönen, von denen Oscar Bie im Berliner Börsen-Courier 1917 schrieb: „Wie sie dem Geliebten sich weigert, wie sie am Walzer erwacht, wie sie mit den Kindern wiesenthalhaft (aber viel besser) tändelt, wie sie Lebensfreude in zurückhaltender Lust ausstreut, das sind Momente unvergesslicher Gestaltungskunst.“

Um Die Rose von Stambul ohne „unvergessliche Gestaltungskunst“ kennenzulernen, ist diese neue cpo-Ausgabe perfekt. Dass Ulf Schirmer sich mit den Mitteln von BR Klassik und des Münchner Rundfunkorchesters so gar nicht um „Gestaltung“ schert in seiner Leo-Fall-Konzertreihe, kann man tragisch finden. Denn so schnell wird es sicher keine Neuaufnahme des Stücks geben, mit einem derart grandiosen Orchester. Kevin Clarke ǀ Operetta Research Center

 

Donizettis“L’Ange de Nisida“

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Lange war der Donizettis Ange de Nisida so etwas wie Das Phantom der Oper. Man ahnte, dass es in irgendeiner Form existierte, doch keiner hat es je gesehen Nun erblickt der L’Ange de Nisida, Gaetano Donizettis für das Théâtre de la Renaissance 1839 geschriebene  Oper, beim Donizetti Festival in Bergamo 2019 erstmals nach 180 Jahren das Licht der Bühne und n un bei Dynamic als DVD (Bluray 57848, leider ohne Libretto, für solche, die von Untertiteln iriitiert sind wäre ein Libretto in der Hand eine Hilfe). 97% der Oper konnte Candida Mantica, die die Edizione besorgte, im Lauf ihrer zehnjährigen, von der handschriftlichen Partitur in der Bibliothèque Nationale de France und einer Arbeitsausgabe des Librettos aus der Hand von Gustave Vaëz in den Archives Nationales de Paris ausgehenden Recherche aufspüren. Doch eben nicht alles. So passte es, dass sich die Festivalleitung entschloss, das unvollständige Werk in dem immer noch unvollständigen, seit Februar 2018 als große Baustelle befindlichen Teatro Donizetti zu spielen und den Spielort, der für 18 Millionen Euro – so war die Planung vor Corona – bis im Herbst 2020 rekonstruiert, erweitert und technisch auf den neusten Stand gebracht werden soll, als Cantiere del Teatro Donietti auszuweisen, was so viel wie „Baustelle“ heißt und an Henzes Cantiere Internazionale d’Arte in Montepulciano denken lässt. Auf der Baustelle wurde also eine Oper gespielt, die bis vor Kurzem noch selbst eine Baustelle war und erst 2018 in London konzertant aufgeführt und von Opera Rara mitgeschnitten wurde. Die Story der Wiederentdeckung wurde in operalounge.de umfangreich geschildert:

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Bergamo Donizetti Festival 2019: „L’Ange de Nisida“/ Szene/ Foto Walter Vitale

Festzuhalten ist nochmals, dass es sich bei L’Ange de Nisida um keine Vorstudie zu La Favorite handelt, sondern – wie jetzt eindrucksvoll in der dritten und letzten Aufführung am 21. November zu erleben war – um ein vollgültiges Werk, das eine eigene Struktur und vor allem Atmosphäre besitzt und mit den historischen Gegebenheiten des Theaters, für das es geschrieben wurde, verknüpft ist. Das Théâtre de la Renaissance besaß ein eigenes künstlerisches Profil, wie es den Pariser Theatern durch Dekrete Napoleons vorgeben war – also französisch- oder italienischsprachige Werke heiteren oder ernsten Zuschnitts, mit oder ohne Sprechtexte – und war bestimmt, sogenannte opéra de genre in zwei Akten, ohne gesprochenen Dialog und in der Manier der italienischen Oper zu spielen. Eine Definition, die einigen Spielraum zuließ. Auf jeden Fall sollten es keine grand opéras und keine opéra comiques mit gesprochenen Dialogen sein und durften dem Théâtre Italien nicht ins Gehege komme. Der große Erfolg der französischen Lucie de Lammermoor brachte Donizetti zwei weitere Aufträge für das Théâtre de la Renaissance ein, darunter L’ange de Nisida mit einem Textbuch von Gustave Vaëz und Alphonse Roger. L’ange war am 27. Dezember 1839 fertig gestellt und wurde im Januar 1840 der Zensur vorgelegt. Dann begannen die Proben, die nach dem Bankrott des Theaters im Mai 1840 abgebrochen wurden mussten. Man könnte sagen, dass sei nicht so schlimm gewesen, hatte doch Donizetti für L’ange offenbar auf vorhandenes, um 1834 entstandenes Material für eine nie vollendete Adelaide zurückgegriffen und seine Librettisten gebeten, ihre Verse der Musik anzupassen. Das Libretto der Adelaide ist unbekannt, doch Donizettis Korrespondenz lässt vermuten, so Mantica, dass zu den Vorlagen Claudine de Tencins Les mémoires du Comte de Comminge und das viele Librettisten beeinflussende Drama Les amants malhereux ou Le Comte de Comminge von Baculard d’Arnaud gehören. Mantica nennt L’ange, der unter der neutralen Bezeichnung opéra en quatre parties angekündigt wurde, folglich eine hybride Oper aus Traditionen des französischen Dramas des genre sombre und seiner italienischen Opernadaptionen mit Spuren der opera semiseria und des französischen romantischen Dramas wie Hugos Marion Delorme, in dem es eine ähnliche Figur wie den Bassbuffo Don Gaspar gibt. Nach dem Abbruch der Proben schien es aussichtslos, die Oper, die aufgrund ihrer Anlage für keine der Pariser Bühne in Frage kam, zu recyclen. In Italien hätte die Zensur Donizetti ein Strich durch das Libretto gemacht. Die Geschichte des Königs von Neapel und seiner leidenschaftlichen Beziehung zu einer ihm anvertrauten Waise, die er mit einem jungen, ihm zu Dank verpflichteten Soldaten vermählt, um dem Bann der Kirche zu entgehen – das ging gar nicht. Also musste eine komplette Umarbeitung her, wie es Donizetti bereits mit der Adelaide gemacht hatte. Das aber wäre die Geschichte der Favorite.

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L’Ange de Nisida spielt 1470 in Neapel und auf der kleinen vorgelagerten Insel Nisida, die für den König zu einer Liebesinsel wurde. Die Comtesse Sylvia de Linarès ist des Königs Objekt der Begierde. Leone de Casaldi ist ein einfacher Soldat, der sich in eine unbekannte Fremde verliebt. Erst nachdem er erkennt, die Mätresse des Königs geheiratet zu haben und deshalb glauben muss, Sylvia habe ihn bewusst betrogen und in die schmachvolle Heirat mit ihm eingewilligt, entscheidet er sich fürs Kloster. Wir erkennen also in L’ange zumindest in Teilen die Vorlage zur Favorite.

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Ganz und gar eigen ist Don Gaspar, der Gefolgsmann des Königs und Helfer der Verliebten, eine arglos, heiter gelöste Figur mit den typischen Plapperfiguren des Buffos. Roberto Lorenzi singt den Kanzler mit der wendigen Belcore-Hurtigkeit des erfahrenen Parlando-Komikers und hinreichen profunder Bass-Seriosität, so dass diese Figur in einer interessanten Schwebelage gehalten wurde. Anderes als London spielte Bergamo nur originalen Donizetti, wie ihn Mantica auf 470 Seiten vorgefunden hatte, verzichtete auf die Zutaten von Martin Fitzpatrick, also die wenigen fehlenden Rezitative sowie das Prélude und führte stattdessen mit dem instrumentalen Andante, welches den Auftritt Leones begleitet, direkt in die Oper ein. Der südkoreanische Tenor Konu Kim ist mit seinem strahlend durchhaltestarken, schlank emphatischen und durchaus schön gefärbten und stilsicher geführten Tenor die Entdeckung des Abends. Kim hat etwas feurig Draufgängerisches, das dem Leone de Casaldi gut ansteht, leider wird er von Francesco Michelis Regie teilweise dazu angehalten ein tölpelhaftes, einfältiges Landei zu geben. Im Lauf des Abends verliert Kim etwas von seiner stimmlichen Eleganz, wird sein Tenor im Forte etwas plärrend. Die junge Russin Lidia Fridman, die im Sommer in Martina Franca erfolgreich in Manfroces Ecuba einsprang, erzielt einen großen Erfolg als Sylvia. Ihr Sopran schmeichelt nicht, der Ton ist ein wenig opak und in der Höhe fest, doch sie verfügt über schillernde Farben und überzeugt zunehmend durch Ausdruck und gestalterische Dichte, so in ihrer Arie im dritten Akt, für deren fehlende Cabaletta Mantica auf eine frühere, bislang unbekannte und in der Bibliothek der Opéra aufgefundene Fassung von Léonors Arie aus der Favorite zurückgriff. Für den Fernand d’Aragon bringt der französische Bariton Florian Sempey schöne Diktion und Ausstrahlung und einen großen Bariton mit. Die breite, halsige Tongebung und der gelegentlich plumpe, etwas leiernde Ausdruck werden durch klangliche Opulenz und Intensität ausgeglichen, etwa wenn er im Quartett Ende des zweiten Aktes auf dem Rücken liegend zum sich herabsenkenden Kronleuchter blickt und „Ô mon ange j’implore“ sing. Federico Benettis Bass reicht (noch) nicht aus, um die eindrucksvolle Figur des Mönchs auszuschöpfen. Jean-Luc Tingaud leistet mit Orchestra e Coro Donizetti Opera eine überzeugende, in den instrumentalen Solopassagen, etwa des Horns, detailkundige Aufführung, die sicherlich aufgrund des ungewöhnlichen Raums mit einigen Alkstikproblemen zu kämpfen hatte.

Bergamo Donizetti Festival 2019: „L’Ange de Nisida“/ Szene/ Foto Walter Vitale

Oper auf der Baustelle heißt, dass die Zuschauer in den – teilweise mit Rigipsplatten ausgekleideten und notdürftig mit roten Vorhängen zu den Gängen hin verhängten – Logen und auf der Bühne saßen und das leer geräumte Parkett zur Spielfläche wird, auf der Donizettis Notenblätter verstreut liegen oder auf die Notenseiten projiziert wird. Das Orchester bleibt, mit dem Rücken zum Zuschauerraum und der Dirigent in diesen schauend, im Orchestergraben; der Chor ist im vierten Rang postiert und wirft seine Notenblätter ins Parkett, sobald die Noten gesungen sind. Die Inszenierung von Francesco Micheli weist in ihrem Wechsel zwischen Symbolik, Sylvia mal mit Engelsflügeln und mal in ein riesiges Korsett gepfercht, von dem der Mönch Feten herunterreißt, und modernem Alltag in den zeitlos weiß schwarzen Kostümen der Protagonisten, auf den Werkstattcharakter der Aufführung hin, während Magherita Baldoni mit ihren Kostümen im Hochzeitsakt ein fabelhaftes, irgendwie fast chinesisch anmutendes Mittelalter gefaltet hat mit prächtigen, weit geschnitten Papierkostümen wie aus buntscheckigen Tapetenresten. Der vierte im Kloster spielende Akt findet zwischen den zerfetzten Papierkostümen und Resten statt. Unsere französischen Nachbarn würden ihn wohl als „sublim“ bezeichnen. Tatsächlich ist die Überlegenheit, mit der Leones Romanze, die Gesänge der Mönche und das Duett von Sylvia und Leone bis zum finalen „Dieu du pardon, que nos prières portent cette âme jusqu’à toi!“ verschmolzen sind, von außerordentlicher stilistischer Geschlossenheit. Er ist auch ein bisschen länglich. Aber da war beim Livebesuch 2019 auch schon fünf Minuten vor Mitternacht und man ging essen. Rolf Fath

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Vater der armenischen Kunstmusik

 

Anlässlich der Veröffentlichung des zentralen Hauptwerks des armenischen Komponisten Komitas Vardapet (Vardapet = „gelehrter Priester“, Komitas = der Amtsname, der dem als bürgerlich Soghomon Gevorgi Soghomonya geborenen Würdenträger von der armenischen Kirche verliehen wurde), der Göttlichen Liturgie beim Label DELOS (DE 9530; als Divine Liturgie), gelang es operalounge.de zwei der Initiatoren dieses außergewöhnlichen Projekts über die Umstände der Entstehung dieser neuen Einspielung zu befragen: Sigvards Klava (Chefdirigent Latvian Radio Choir) und Tigran Mkrtchyan (Botschafter Armeniens in den baltischen Staaten)!

In gemeinsamer Anstrengung wurde die Göttliche Liturgie in einer neuen, vom armenischen Komponisten Vashe Sharafyan angefertigten Fassung für gemischten Chor für CD eingesungen. Diese Fassung entstand auf der Basis von Skizzen zu einer Version für gemischten Chor, die der Komponist selbst angefangen aber nicht beenden konnte. Das gesamte Projekt entstand anlässlich des 150. Geburtstag des Komponisten Komitas, der im Jahr 2019 feierlich begangen wurde.

Der Komponist und Hohe Geistliche Komitas (eigentlich Soghomon Gevorgi Soghomonya/ Foto Wikipedia

Wie bedeutend der Komponist und Hohe Geistliche Komitas (geb. 1869/Kütahya – 1935/Paris) für die armenische Kunstmusik gewesen ist, und wie weitreichend sein Einfluss sich auch international bis in die heutige Musikszene hinein abbildet, können wir mit deutschen oder mitteleuropäischen Maßstäben nur schwer erfassen. Soghomon Gevorgi Soghomonya begann als Komponist weltlicher Werke, schrieb zahlreiche weltliche Lieder und sehr eigenständige Klaviermusik. Mit den Antritt seines geistlichen Amtes übernahm er den Amtsnamen Komitas und verfügte, dass seine sämtlichen Kompositionen (auch die frühen, weltlichen) nur noch unter diesem Namen veröffentlicht werden. Heute steht der Name Komitas synonym für den eigentlichen Beginn der modernen armenischen Kunstmusik. Im Zuge seiner weiteren Laufbahn schuf Komitas ein bemerkenswertes Œuvre an geistlichen Werken, die in ihrer inwendigen Spiritualität einzigartige Beispiele für einen Stil sind, den man als eine frühe Inspiration für Komponisten wie etwa die Esten Arvo Pärt oder Lepo Sumera verstehen könnte.

Im Zuge des Völkermords an den Armeniern im osmanischen Reich wurde Komitas wie viele armenische Intellektuelle verhaftet und interniert. Zwar entging er selbst – offenbar „im letzten Moment“ und nur durch die Hilfe einflussreicher Freunde – dem Massenmord, doch erholte sich sein Geist nie mehr von diesen Ereignissen, und so glitt er zunehmend in geistige Umnachtung ab, komponierte nicht mehr und verbrachte die letzten Jahre seines Lebens in einer Anstalt für Geisteskranke im Exil in Paris.

Im Folgenden sollen hier die beiden Projektinitiatoren im Gespräch mit René Brinkmann zu Wort kommen.

 

SIGVARDS KLAVA: Maestro Klava, wie sind Sie auf Komitas‘ „Göttliche Liturgie“ aufmerksam geworden, und wie kam es schließlich zu der CD-Aufnahme mit dem Lettischen Rundfunkchor, den Sie dirigiert haben? Die Einladung, eine gemischte Chorversion der Komitas-Liturgie zu schaffen, aufzuführen und aufzunehmen, kam vom Botschafter Armeniens in der Republik Lettland, Tigran Mkrtchyan. Wir hatten bereits einen Teil der Musik von Komitas aufgeführt, und es war eine Zeit, in der die Liebhaber geistlicher Musik und viele andere Musikfreunde die bevorstehende Feier zum 150. Geburtstag des Komponisten erwarteten.

Für diese CD hat der Komponist Vache Sharafyan eine spezielle Bearbeitung für gemischten Chor gemacht. Geschah dies speziell für den Chor des Lettischen Rundfunks oder existierte das Arrangement bereits, bevor Sie das Projekt übernahmen? Vache Sharafyan arbeitete bei der Erstellung dieses Arrangements eng mit mir zusammen, und es wurde speziell für diese Aufführung geschrieben. Dies geschah mit der Absicht, dass der Chor des Lettischen Rundfunks diese Fassung uraufführen sollte.

Komitas: der Dirigent Sigvards Klava/ Foto Daina Geldmane

Was haben Sie in der Musik von Komitas entdeckt, welche Herausforderungen stellt sie dar und welche Inspirationen können Sie daraus schöpfen? Das kann ich nicht kurz beantworten. Es ist eine neue und tiefe Erfahrung. Sie macht definitiv Lust auf mehr, darauf, wieder zur armenischen Musik und dem spirituellen Umfeld zurückzukehren.

Persönlich sehe ich in der Chormusik von Komitas eine frühe Verwandtschaft zu Komponisten wie Arvo Pärt, die einerseits die strengen Regeln der geistlichen Liturgien respektierten, andererseits aber innerhalb dieser Grenzen eine sehr nach innen gerichtete Spiritualität fanden und sie mit einem eigenen Klangkosmos erfüllten – kann man das so ausdrücken? Ich stimme völlig zu, dass die Großartigkeit der Liturgie von Komitas sich über jeden kanonischen Rahmen und jede Grenze hinaus ausdehnt. Seine eigene Lebenserfahrung ist ein Beispiel dafür – er spürte wohl das Bedürfnis danach, sich in eine quasi grenzenlose Welt zu begeben.

Für deutsche Ohren ist es vergleichsweise schwer zu verstehen, worum es bei einer Komposition wie der „Göttlichen Liturgie“ geht. Wir sind in der Regel an die Messliturgie der mitteleuropäischen Konfessionen gewöhnt, und viele empfinden die geistliche Musik der Ostkirchen als etwas Hermetisches und Unzugängliches. Wie kann man den Mitteleuropäern beschreiben, worum es in dieser Musik geht? Eines der Ziele dieses Projekts war es, die Liturgie für die breite Öffentlichkeit zugänglicher zu machen – sie eben weniger fremdartig zu präsentieren. Ich bin zuversichtlich, dass jeder Zuhörer in diesem musikalisch-geistigen Denkmal etwas entdecken wird, das ihm lieb und nahrhaft ist. Sowohl für ihren Geist als auch für ihre Seele.

Komitas: der Lettische Radio Chor/ Foto Janis de Inats

Jedes Stück bringt besondere Herausforderungen mit sich – was war für Sie die größte Herausforderung, als Sie die „Göttliche Liturgie“ einstudierten? Die größte Herausforderung war es wohl, die armenische Tradition zu verstehen und sich ihr anzunähern. Eine Art des Gesanges zu finden, die der musikalischen Sprache auch angemessen ist. Diese Gesänge sind sowohl in der kirchlichen als auch in der volkstümlichen Tradition verankert. Das erfordert gründliches Studium und hohe Fähigkeiten.

Haben Sie sich während der Arbeit an dem Stück auch mit anderen Kompositionen von Komitas aus anderen Werkgattungen auseinandergesetzt, um ein „Gefühl“ für die Klangwelt dieses Komponisten zu bekommen, oder haben Sie sich ausschließlich mit der „Göttlichen Liturgie“ beschäftigt? Zuvor hatten wir das Werk von Komitas nur fragmentarisch tangiert. Ich habe also das Gefühl, dass dies die erste wirklich tiefreichende Erfahrung mit dieser musikalischen Sprache und Kultur für uns war.

Heute ist der Chor des Lettischen Rundfunks eines der wichtigsten und allgemein anerkannten Chorensembles der Welt, was keineswegs selbstverständlich ist, wenn man bedenkt, dass Lettland bis vor wenigen Jahrzehnten noch nicht sehr oft auf der typischen „Klassik-Landkarte“ für ein internationales Publikum erschien. Was sind die größten Herausforderungen für ein Ensemble, das seine Kunst aus der geographischen Peripherie der Kulturszene heraus aufführt? Was sind Ihre Pläne und die des Chores des Lettischen Rundfunks für die nahe Zukunft? Herausforderungen und Pläne? Dies gegenwärtigen Zeiten werden definitiv Korrekturen in allen Belangen mit sich bringen. Zurzeit besteht unser Hauptwunsch darin, einfach nur erst einmal zum normalen Kunst- und Konzertleben zurückzukehren. Wir wollen so schnell wie möglich und mit großer Schaffensfreude all die Ideen verwirklichen, die während des Stillstands der Quarantäne entstanden sind.

 

Tigran Mkrtchyan, Botschafter Armeniens in den Baltischen Staaten/ Photo Tatev Mnatsakanyan

TIGRAN MKRTCHYAN. Exzellenz, die Musik von Komitas ist in den letzten Jahren immer bekannter und beliebter geworden und hat große internationale Anerkennung gefunden. Warum, glauben Sie, wird diese Musik gerade jetzt wiederentdeckt? Hat es „nur“ mit dem 150. Geburtstag des Komponisten zu tun, dessen Jubiläum 2019 gefeiert wurde, oder ist es nur die Musik selbst? Die Musik von Komitas ist international schon sehr lange bekannt. Ich möchte sagen, dass jeder, der einmal in Armenien war, Komitas wohl nicht übersehen haben kann. Er ist zu Recht überall: das Staatliche Konservatorium ist nach ihm benannt, ebenso wie viele Konzertsäle, Schulen, Straßen, auch eines der besten Quartette, das Komitas State Quartet. Seine Büsten und Statuen sind überall, von Eriwan bis Paris, von St. Petersburg bis Montréal. Eines der wichtigsten Museen in Eriwan – das supermoderne und äußerst beeindruckende Komitas  Museums-Institut, das sein Leben und Werk präsentiert, ist ein Muss für Liebhaber armenischer Musik und Kultur.

Dennoch müssen wir hier etwas vorsichtiger sein. Es ist eine Sache, sich an das unvergessliche Gesicht von Komitas zu erinnern, und eine ganz andere, in seine Musik einzutauchen. Ich kann nicht genug betonen, wie wichtig das ist. Wenn seine Musik erst einmal „greift“, merkt man, dass sie ewig ist, dass sie göttlich ist, und dass sie gleichzeitig von uns handelt. Die Musik von Komitas sollte auf jeden Fall noch besser bekannt sein. Eines der Hindernisse für ihre breitere Anerkennung und Verbreitung ist die Tatsache, dass die Texte seiner Lieder, mit einigen Ausnahmen, auf Armenisch sind. Es ist eine Herausforderung für internationale Interpreten, obwohl bedeutende armenische Chöre, wie der Staatliche Akademische Chor, der Hover Chamber Choir und andere, die Musik von Komitas in der Welt weit verbreitet haben. Instrumentalisten haben dieses Problem mit der Sprache nicht. In letzter Zeit haben einige der besten Geiger, z. B. Sergey Khachatryan und Maxim Vengerov, oder Klavierspieler, wie Grigory Sokolov und Yevgeny Kissin, Komitas aufgeführt.

Größere Anerkennung erfährt Komitas auch dank der internationalen Labels, die seine Aufnahmen herausgeben. So hat zum Beispiel die DELOS-Aufnahme von Komitas‘ „Göttlicher Liturgie“ mit dem Chor des Lettischen Rundfunks, die von der Botschaft Armeniens in Lettland initiiert und organisiert wurde, die Welt erneut über Komitas und seine Musik sprechen lassen. Hervorzuheben ist auch das deutsche Label ECM, das Komitas‘ Musik aufgenommen und veröffentlicht hat, insbesondere mit Lusine Grigoryan, dem Gurdjieff-Ensemble und einer anderen, eher ungewöhnlichen, mit Kim Kashkashians und Tigran Mansurians Interpretationen. Erwähnenswert sind auch die Bemühungen der armenischen Operndiva Hasmikik Papian um die Popularisierung von Komitas und insbesondere seine deutschen Lieder, die vom deutschen Label Audite aufgenommen wurden, sowie Isabel Bayrakdarians Grammy-nominierte „Gomidas-Lieder“, die vom Label Nonesuch aufgenommen wurden („Gomidas“ ist eine west-armenische Aussprache für „Komitas“).

Komitas scheint mir fast eine Art früher „musikalischer Verwandter“ von Komponisten wie z.B. Arvo Pärt gewesen zu sein, d.h. von Komponisten, die einerseits die strengen Regeln der geistlichen Musik, der Liturgie, respektierten, aber innerhalb dieser Grenzen eine neue, quasi nach innen gerichtete Spiritualität fanden. Kann man das so sagen? Ja, natürlich. Wir sollten uns vor Augen halten, dass Komitas eine sehr gründliche theologisch-spirituelle Ausbildung hatte. Er war ein Archimandrit (Vardapet), und sein Wissen über spirituelle Musik war grundlegend. Man könnte sagen, dass spirituelle Musik Teil seiner musikalischen Kognition ist.

Komitas: Aufführung 2019 mit dem Lettischen Radio Chor/ Foto wie oben Daina Geldmane

Abgesehen von seiner Rolle als Komponist geistlicher Werke ist Komitas auch ein wichtiger Komponist seiner Epoche, z.B. in seiner Klaviermusik, die sehr eigenständig ist. Welche Rolle spielt Komitas in der armenischen Musik? War er der „Urknall“ der Kunstmusik für Ihr Land, wie man es oft lesen kann? Komitas ist der Gründer der armenischen nationalen Musikschule. Wenn wir versuchen würden, darüber zu sprechen, was er in dieser Hinsicht geleistet hat, würden wir ein sehr langes Gespräch führen. Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen. Komitas hat die armenische Musik (in einer Zeit der wiederholten Vernichtungen und des Völkermordes an den Armeniern und ihrer Kultur in der osmanischen Türkei) nicht nur gerettet, sondern sie verbessert und ihr eine neue Qualität verliehen. Er hatte die Notwendigkeit verstanden, einen neuen Ansatz für die Präsentation der nationalen Musik zu finden. Komitas spielte eine entscheidende Rolle bei der Entschlüsselung der khaz – der armenischen, mittelalterlichen Musikzeichen. Er war ein erstaunlicher Gelehrter. Es gibt alte Nationen, die eine nationale Musik haben – aber ohne jemanden wie Komitas, der die richtige Methode zur Präsentation dieser musikalischen Reichtümer gefunden hat, können sie der Welt praktisch unbekannt bleiben. Die Armenier hatten Glück, denn heute und für immer kann die Musik von Komitas neben den großen Kompositionen der klassischen Musik bestehen. Und dennoch ist seine Musik immer attraktiv, weil sie nicht jemand anderen kopiert, sie ist in der Tat ziemlich einzigartig.

Komitas: Aufführung 2019/ Foto Daina Geldmane

Hatte Komitas eigentlich Studenten oder inspirierte er Komponisten, die seinem Stil folgten?  Ich glaube, es gibt keinen armenischen Komponisten nach Komitas, der ihn einfach umgehen oder ihn ignorieren könnte. Aber zu behaupten, dass jemand seinem Stil bewusst nachgefolgt ist, könnte eine Übertreibung sein. Dennoch möchte ich einige in Armenien sehr bekannte Namen erwähnen – Robert Atayan, Nikoghayos Tavrizyan, Artur Shahnazaryan usw. Natürlich kann die Liste der Namen, die einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung von Komitas‘ Studien geleistet haben, weiter fortgesetzt werden.

Ich möchte auch den großen amerikanisch-armenischen Komponisten Alan Hovhaness erwähnen, der sogar einmal selbst Klavierkompositionen von Komitas aufgenommen hat. Ich glaube, dass einiges von seiner Musik, darunter bestimmte Sinfonien, stark von Komitas inspiriert ist. Dasselbe kann man über den zeitgenössischen armenischen Komponisten, meinen lieben Freund Tigran Mansurian, sagen. Ich denke, dass beide immer wieder auf Komitas als Wegweiser und Schlüssel zur Zukunft zurückgeblickt haben.

Wird die Musik von Komitas in Armenien auch heute noch regelmäßig liturgisch verwendet, oder verhält es sich eher wie bei Beethovens „Missa Solemnis“ oder Mozarts „Requiem“, dass diese Musik vor allem als eigenständige Kompositionen, mittlerweile ein Eigenleben außerhalb ihres früheren liturgischen Wirkungskreises führt? Auf jeden Fall. Sie wird sowohl in Kirchen als auch auf Bühnen aufgeführt. Bestimmte Abschnitte seiner Liturgie, wie auch die gesamte Liturgie, werden auf verschiedenen Bühnen der Welt aufgeführt. Obwohl Komitas selbst mehr als 10 Fassungen seiner Liturgie angefertigt hat, gibt es zwei weithin akzeptierte Fassungen. Die eine ist die längere, die „kirchliche“ Version mit vollständigen Ritualen und Texten, die fast zwei Stunden Spielzeit in Anspruch nimmt. Diese Version wird von Zeit zu Zeit in Kirchen aufgeführt. Die andere ist eher eine Konzertfassung, die ca. 70 bis 80 Minuten dauert (je nachdem, wie stark man die Parts von Priester und Diakon kürzt). Diese Konzertfassung der Liturgie wird sowohl in Konzertsälen als auch in Kirchen mit guter Akustik aufgeführt.

Gibt es noch viel Musik von Komitas zu entdecken, die noch nicht aufgeführt oder aufgenommen worden ist? Oder anders ausgedrückt: Wird es Folgeprojekte geben? Zurzeit wird nur ein Teil von Komitas‘ Musik auch regelmäßig aufgeführt. Ich möchte keine konkrete Anzahl seiner Lieder oder Werke nennen, denn es gibt verschiedene wissenschaftliche Meinungen über den Umfang seines Erbes. Einige argumentieren, die meisten seiner Werke seien untergegangen und hätten uns nicht erreicht. Aber es ist sicher, dass wir noch viel Arbeit vor uns haben. Einige seiner Kompositionen sind noch nicht einmal uraufgeführt worden, und ich hoffe, dass sie schon bald ein neues Bühnenleben vor sich haben werden. Was ich sagen kann, ist, dass unsere Initiative etwas Besonderes war, die Fassung für gemischten Chor (sowie die Tatsache, dass sie von einem nicht-armenischen Chor, zum ersten Mal überhaupt aufgeführt wurde und dann auch eine vollständige Konzertfassung aufgenommen wurde) war kühn, und ich hoffe, dass wir nicht von Komitas‘  Geist abgewichen sind. Wir sollten nicht vergessen, dass er selbst einige Teile der Liturgie für gemischten Chor arrangiert hatte. Und niemand kann widerlegen, dass er, hätte er nach 1915 weiter komponiert, die gesamte Liturgie für gemischten Chor umgeschrieben hätte.

Komitas: Ölgemälde  von Panos Termlemezyan 1913/ Wikipedia

Als Armenische Botschaft haben wir ein weiteres Komitas-Projekt. Wir haben Sona Hovhannisyan, einen der besten Komitas-Interpreten von Komitas, zugleich Rektor des armenischen Staats-Konservatoriums, Dirigent und Gründer des Hover Chamber Choir, zusammen mit den Solisten dieses Chores nach Estland eingeladen, zusammen mit einem der besten Männerchöre der Welt, dem Estnischen Nationalen Männerchor, die vollständige Konzertfassung der „Göttlichen Liturgie“ von Komitas aufzuführen. Diese Veranstaltung ist für den 25. November in Tallinn geplant. Ich hoffe, COVID wird uns nicht davon abhalten können, ein weiteres bahnbrechendes Komitas-Projekt in Europa zu vollenden. Die Interviews führte René Brinkmann

 

Weitere Information zu der CD  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.deZur künstlerischen Bewältigung des Genozids an den Armeniern durch die Osmanen vergl. auch unsere Besprechung des Armenian Requiem von Ian Krouse bei Naxos. 

Strenges Glück

 

An Einspielungen von Händels Opera seria Rinaldo besteht kein Mangel auf dem Musikmarkt. Die italienische Firma HDB SONUS wagt es dennoch, eine Neuaufnahme herauszubringen (HDB-AB-OP-001, 2 CD). Sie entstand im Januar 2019 im Teatro Sociale d Como als Montage aus zwei live mitgeschnittenen Vorstellungen. Der Dirigent Ottavio Dantone verwendet die Edizione critica von Bernardo Ticci, welche die beiden Londoner Fassungen von 1711 und 1731 nutzt. Letztere bezog ihre Änderungen vor allem wegen der  Übernahme der Titelpartie durch den gefeierten Kastraten Senesino, dessen Stimme tiefer positioniert war als die des Interpreten der Uraufführung, Nicolini. Deshalb transponierte Händel de Titelrolle um einen Ganzton. In der (gekürzten) Neuaufnahme wurde sie der französischen Altistin Delphine Galou anvertraut, die auf das barocke Repertoire spezialisiert ist. Die Stimme ist von androgynem Reiz, zuweilen streng (wie in der Auftrittsarie „Ogni indugio“), absolviert aber die drei Soli am Ende des 1. Aktes überzeugend; „Cara sposa“  und „Cor ingrato“ mit schmerzlichen Klagetönen sowie das Bravourstück „Venti, turbini prestate“ mit fiebrigem Ausdruck und souveräner  Beherrschung der Läufe. Auch in „Or la tromba“ am Ende der Oper sorgt die Interpretin noch einmal für einen bravourösen Moment.

Die zentrale Sopranpartie des Werkes, in der zweiten Fassung immerhin von der berühmten Anna Strada wahrgenommen, ist Almirena, für die Händel mit „Lascia ch’io pianga“ eine seiner schönsten Arien komponiert hat. Sie führt sich aber zunächst mit dem forschen Solo „Combatti da forte“ ein. Die Italienerin Francesca Aspromonte formuliert es mit energischem Zugriff, wirkt im Fluss der Koloraturen allerdings etwas schwerfällig und bei gehaltenen Tönen larmoyant. Danach folgt das liebliche, vom Zwitschern der Vögel reizvoll umspielte „Augelletti“, welches ihr ansprechender gelingt und in dem auch der begleitende Flötist Gregorio Carraro brilliert. Im munteren Duett mit Rinaldo, „Scherzano sul tuo labbro“, harmoniert ihr Sopran perfekt mit dem Alt der Galou. Im 2. Akt dann die berühmte Nummer, die hier zunächst fast stockend ertönt, im Da capo durch originelle Verzierungen aufhorchen lässt. Auch das muntere  „Bel piacere“ im 3. Akt ist ein Zugstück der Partie und es empfängt hier die gebührende Wirkung.

Eine weitere und sehr dramatische Sopranpartie gehört der Zauberin Armida, in der Anna Maria Sarra zu hören ist. Sie hat mit dem furiosen „Furie terribili“ ein spektakuläres Entree, das sie mit Aplomb angeht und die Spitzentöne furchtlos nimmt. Diese klingen freilich recht grell und das Timbre ist nicht sonderlich bemerkenswert. „Vo’ far guerra“ am Ende des 2. Aktes führt sie technisch deutlich an die Grenze. Beide Sopranistinnen übernehmen in dieser Aufnahme auch den zauberhaften Gesang der Due sirene „Il vostro maggio“.

Den Goffredo, bei der Uraufführung eine Altistin, später ein Tenor, singt hier einer der renommierten italienischen Countertenöre, Raffaele Pe. Ihm fällt mit „Sovra balze scoscesi“ das erste Solo des Werkes zu. Die Stimme ist klangvoll, auch in der exponierten Lage, gefällt in der Arie zu Beginn des 2. Aktes, „Siam prossimi al porto“, durch den empfindungsstarken Vortrag und in „Mio cor“ durch den entschlossenen Zugriff.

Die beiden Bassisten Luigi De Donato als Argante und Federico Benetti als Mago cristiano komplettieren die Besetzung. Vor allem Ersterer trumpft mit dem pompösen „Sibillar gli angui d’Aletto“ mächtig auf und hat auch im 2. Akt bei „Basta che sol tu chieda“ einen attraktiven Auftritt.

Dantone setzt mit seiner Accademia Bizantina prägnante Akzente, gibt der einleitenden Ouverture und dem Prelude am Ende des 1. Aktes sowie der Sinfonia im 3. Akt rhythmisch straffe Kontur, begleitet die Arien sehr farbenreich und sorgt am Ende bei der Battaglia mit auftrumpfender Verve für einen effektvollen Ausklang. Bernd Hoppe

 

Ersteinspielung

 

“Who doesn’t have a prison?” fragte der Gefangene in Henry B. Brewsters philosophischem Werk The Prison: a Dialogue von 1891. Und die zunehmend ertaubende Ethel Symth mag sich vermutlich auch als Gefangene in einer verstummenden Welt gesehen haben. Mit dem Gefängnis hatte sie übrigens 1912 nach einer Aktion der britischen Frauenrechtsbewegung während einer zweimonatigen Haftstrafe selbst Erfahrungen gesammelt. 1930 nahm sich die 72jährige neuerlich The Prison ihres langjährigen Freundes Brewster vor und formte aus den Gesprächen von vier Freunde, die sich über das Manuskript eines Gefangenen auseinandersetzen, das er am Abend vor seiner Hinsichten verfasste, den Dialog des Gefangenen (Bariton) mit seiner Seele (Sopran): eine gut einstündige Sinfonie für Sopran und Bariton-Solisten, Chor und Orchester. Ein spätes Abschiednehmen von ihrem 1908 verstorbenen Freund Brewster, der ihr auch die Libretti zu ihren Opern verfasst hatte und mit dem sie eine lange platonische und nach 1895 auch sexuelle Beziehung verbunden hatte

Die Seele söhnt den Prisoner mit seinen inneren Ängsten und Zweifeln aus und lässt ihn den Tod in Friede annehmen, bis er im Epilog verkündet „I am the joy and the sorrow…“ und die Seele seine Worte aufnimmt, „This is no leavetaking…“. Man hat das Werk mit Elgars The dream of Gerontius verglichen. Auch das eine typisch britische Angelegenheit. Neunzig Jahre nach seiner Entstehung (Uraufführung 1931 unter Leitung der Komponistin) nehmen sich das New Yorker Experimental Orchestra and Chorus unter James Blanchly und die Solisten Sarah Brailey und Dashon Burton das Werk vor, ohne es durch die verdienstvolle Ersteinspielung retten zu können. vor. Zu schwerfällig und eher bemüht als inspiriert hangeln sich Chor und Solisten an den weinerlichen Zeilen entlang, es kommt zu zwitschernden Naturbildern mit Harfe und Holzbläsern, zu ermüdenden Wiederholungen, bombastischen Ausbrüchen. Trotz der zarten Sopranlinien von Sarah Brailey und des aufbegehrenden Baritons von Dashon Burton, trotz der sauberen Chöre und des stimmungsvollen Orchesterspiels ermüdet das salbungsvolle Werk den geneigten Hörer rasch (Chandos CHSA 5279, mit ausführlichem dreisprachigen Textheft).   Rolf Fath

Quer durch die nordische See

 

Nachdem Edward Gardner 2007 den Chefposten der English National Opera übernommen hatte, gehörte Peter Grimes bald zu den Schlüsselwerken seiner Ägide. Verständlich, dass er das Werk auch in Bergen zeigen wollte, wo er seit 2013 amtiert. Mit nicht unbeträchtlichem Aufwand versammelte er rund hundertfünfzig Chorsänger aus vier Chorkollektive aus Norwegen – den Bergen Philharmonic Choir, Choir of Collegium Musicum und Edvard Grieg Kor – und vom Royal Northern College of Music, um George Crabbes Dorf von der Ostküste Englands in Norwegen entstehen zu lassen, wo in Bergens schicker Grieghallen im November 2019 diese Chandos-Aufnahme entstand (2 CDs CHSA 5250), der bereits 2017 Aufführungen vorausgegangen waren. Von betörender Schönheit erklingt das erste Interlude mit dem anschließenden Chor „Welcome the hour when fishing through the tide“, der von solch klangseeliger Sanftheit und präziser Klarheit ist, dass man dahinter nicht den aufgebrachten kleinstädtischen Mob vermutet würde, der sich später gegen Peter Grimes stellen wird und mit präziser Wucht und so nie erlebter Fülle seine „Peter Grimes“-Rufe wiederholt. Eine Idylle, die später gesprengt wird. Gardner ist ein achtsamer Klangdramaturg, der die Protagonisten bildhaft aus den Kulissen treten lässt: die Pub-Betreiberin Auntie („Hell may be fiery but the pub won’t burn“), den Methodisten Bob Boles, den Fuhrmann Hobson, die von Laudanum abhängige Witwe Mrs. Sedley („I have never been in a pub in my life“) und die Lehrerin Ellen Orford als Stimme der Vernunft („Cast the first stone“), es ergibt ein flüsterndes, plapperndes Dorfbild. Inmitten die „lonely soul“ Peter Grimes. Er wurde von leichteren Tenören wie Peter Pears, Anthony Rolfe Johnson, Philip Langridge wie von Heldentenören, darunter der enigmatische Jon Vickers oder Ben Heppner, gesungen. Stuart Skelton, gehört eindeutig zur zweiten Gruppe und liefert das psychologische Porträt eines Zerrütteten und Ausgestoßenen von großer Eindringlichkeit. Behutsam, die Nerven quasi gespannt, gefangen und ausgeliefert, was er in seinem Gesang mit manchmal fast brechendem Tenor nachzeichnet. Skelton hat den Fischer bereits an der ENO gesungen, mit Gardner in Edinburgh, beim South Bank Festival und Oslo präsentiert und verbindet subtile Einzelmomente („Now the Great Bear and the Pleiades“) von düsterer Beklommenheit und die großen bedrohlich-resignativen Monologe des zweiten Aktes, schließlich die Angst und Verzweiflung am Ende, zu einem einzigartigen Strom der Gefühle. Diesen seelischen Sturm entfacht auch Gardner mit theatralischer Wucht, Spannung und Leidenschaft, orchestral glühend und heftig, natürlich, doch nicht nur, in den Interludes, vor allem der großartigen Passacaglia, welche die beiden Szene des zweiten Aktes verbindet, was das Bergen Philharmonic Orchestra glänzend umsetzt und die Aufnahmetechnik, die auch eine fabelhaft plastische und unmittelbare Breitwandszene zeichnet, staunenswert einfängt. Die Aufnahme kann neben den großen Beispielen von Britten, Davis (gleich zweimal) oder Haitink bestehen. Daneben hat Gardner mit Susan Bickley als Auntie, Catherine Wyn-Rogers als Mrs. Sedley routinierte Britten-Sängerinnen mit nach Bergen genommen, dazu den lyrisch wendigen Bariton Roderick Williams, der dem Balstrode freundliche und sympathische Züge verleiht und fast zu jung für den ehemaligen Kapitän und das Gewissen von Peter Grimes ist. Die Tenöre Robert Murray und James Gilchrist steuern als Boles und Reverend Adams, die Bässe Barnaby Rea und Neal Davies als Hobson und Swallow kleine Charakterporträts bei und geben den Chargenrollen Gesicht, die Nichten der Mrs. Sedley bleiben, wie so häufig, verschwommen (Hanna Susáhr, Vibeke Kristensen), mit Erin Walls spitzer Ellen Orford muss man sich anfreunden (Chandos 5250, 2 CD mit Booklet). Rolf Fath

 

 

Haydn-Initiative

 

Joseph Haydns einziges Oratorium in italienischer Sprache – Il ritorno di Tobia – steht noch immer im Schatten seiner beiden deutschsprachigen Werke dieser Gattung Die Schöpfung und Die vier Jahreszeiten. Mit seinem Mozarteumorchester Salzburg will Ivor Bolton diesen Zustand revidieren und das 1775 in Wien uraufgeführte Oratorium in der Publikumsgunst voranbringen.

Tobia war ein Auftragswerk der Wiener Tonkünstler-Societät. Das Libretto stammt von Giovanni Gastone Boccherini, dem Bruder des berühmten Komponisten Luigi. Er benutzte eine italienische Version des biblischen Textes um Tobias, verkürzte die Handlung und stellte die Rückkehr des Tobias aus der Fremde sowie die Heilung seines erblindeten Vaters Tobit ins Zentrum des Geschehens. Neben Vater und Sohn treten noch Tobias’ Mutter Anna, seine Braut Sara und der Erzengel Raffaelle auf. Der Chor kam in der Urfassung nur zu Beginn und am Ende der beiden Teile zum Einsatz. Für eine Wiederaufführung des Stückes 1784 im Wiener Burgtheater komponierte Haydn zwei festliche Choräle neu („Ah gran Dio“ und „Svanisce in un momento“), die in der Mitte der beiden Akte platziert sind. Diese Zweitfassung ist heute nahezu vergessen, gespielt wird vorwiegend die erste Version, allerdings ergänzt um die beiden Chöre. Darauf fußt auch die vorliegende Einspielung bei SONY, die im April 2016 im Großen Saal des Salzburger Mozarteums entstand (19075981082, 3 CD).

In der Titelrolle ist der Tenor Mauro Peter zu hören, bekannt als Salzburger Tamino und durch seine zahlreichen Liederabende. Sein Auftritt „Quando mi dona un cenno“ ist ein anmutiges Stück, welches die Verehrung seiner Braut in lieblichen Koloraturen ausmalt. Der Sänger nimmt mit weichen, kultivierten Tönen für sich ein. „Quel felice nocchier“ im 2, Teil ist bewegter und fordernder in der Tessitura sowie den dynamischen Kontrasten.

Anna Bonitatibus, eigentlich ein Mezzo, nimmt die Sopranpartie der Sara wahr. Sie antwortet auf Tobias Liebesbekenntnis mit der Arie „Del caro sposo“ und kann ihre reizvoll timbrierte Stimme wirkungsvoll einbringen, sich auch im Zierwerk als souverän erweisen. Die Eltern des Tobias interpretieren die Altistin Bettina Ranch als Mutter und der Bassist Neal Davies als Vater. Ihnen fallen die ersten Soli des Werkes zu – Annas „Sudò il guerriero“ mit beherztem Zugriff und dunkel glühendem Klang sowie Tobits „Ah tu m’ascolta“ mit warmen und resoluten Tönen. Wie alle Partien des Oratoriums sind sie mit höchst virtuosen Koloraturen und Verzierungen ausgestattet, hatte der Komponist für die Uraufführung doch Interpreten seines Eisenstädter Ensembles zur Verfügung, denen er die Musik auf die geläufigen Gurgeln schrieb. Anna hat später noch die würdevolle Arie „Ah gran Dio“ zu singen, in welcher sich die Schönheit der Altstimme besonders entfaltet. Dagegen kann sie in der pulsierenden Arie „Come in sogno“ im 2. Teil ihr dramatisches Potential einbringen. Tobit berührt mit der Arie „Invan lo chiedi“, als er erstmals wieder seine Augen öffnet. Lucy Crowe komplettiert die Besetzung als Raffaelle und führt sich mit der Arie „Anna, m’ascolta!“ vorteilhaft ein. Die Stimme ist lieblich, klar und hell, flexibel und brillant in den ausgedehnten Koloraturläufen. Träumerisch und zart schwebt der Sopran in „Non parmi esser fra gl’uomini“ im 2. Teil.

Der Bachchor Salzburg (Einstudierung: Alois Glassner) hat hohen Anteil an  der hochrangigen Aufnahme. Der machtvolle Chorsatz „Ah gran Dio!“ findet zu erhabener Wirkung und „Svanisce“ fasziniert in seinem furiosen Duktus und der tobenden Gewalt. Ivor Bolton ist der Spiritus rector des Unternehmens. Schon in der einleitenden Sinfonia setzt er spannende Akzente und findet bis zum Ende ein reiches Spektrum von Farben und Affekten. Majestätische Erhabenheit verleiht er dem finalen Ensemble „Io non oso alzar“. Seine Einspielung kommt einer Wiederentdeckung des Werkes gleich und ist daher nicht hoch genug zu werten. Bernd Hoppe

Auf den Spuren von Rosina Storchio

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Viele Gedanken hat sich Ermonela Jaho über ihre erste Recital-CD gemacht und sie in dem informationsreichen Booklet dazu auch zu Papier gebracht. Anima Rara nennt sich die CD und um Opera Rara, vielmehr opere rare kümmert sich seit langem das Label gleichen Namens. Der Hörer kann also einmal nicht eine Liste bekannter oder sogar allzu bekannter Arien erwarten, sondern darf sich mit den Opern auseinandersetzen, die der lyrische Sopran Rosina Storchio sang, zu einem großen Teil zur Uraufführung brachte. Die Toscanini nicht nur künstlerisch, sondern auch privat verbundene Sängerin war nicht nur für die Perfektion ihres Gesangs, sondern auch für ihre intensive Darstellungskunst berühmt, und auch die albanische Sängerin unserer Tage bekennt sich dazu, dem reinen Schöngesang abhold, dem Ganz-in-einer-Rolle-Aufgehen jedoch verpflichtet zu sein. Der Verismo, aus dem die meisten Titel stammen, bietet sich natürlich besonders dafür an, beeinflusst nicht nur die Optik, sondern natürlich auch, wie auf der CD zu hören, den akustischen Eindruck einer Darbietung (weiter nachstehend)Ingrid Wanja

 

Wir  fanden die Konzeption dieser neuen CD von Opera Rara ebenso wie Ingrid Wanja so bedeutend, dass wir hier den Artikel von Ditlev Rindom aus dem beiliegenden Booklet zur CD einschieben, der die Kunst der Rosina Storchio und ihre Wichtigkeit für die Komponisten der Zeit untersucht. Dankenswerter Weise hat uns Opera Rara und der Autor diesen Beitrag überlassen, den Daniel Hauser für uns aus dem Englischen übersetrzte und somit auch einer nicht unbedingt englischkundigen Leserschaft zugänglicht macht. Im Anschluss daran fährt Ingrid Wanja mit ihrer Rezension fort. G. H.

 

Ditlev Rindom: Die Kunst der Rosina Storchio „Und so will mich mein Schmetterling, mein leidenschaftlicher kleiner, verlassen?“, schrieb Giacomo Puccini in einem Brief an die Sopranistin Rosina Storchio kurz nach der Weltpremiere von Madama Butterfly im Jahre 1904. „Es scheint mir geradezu so, als würden Sie mit Ihrem Abgang den besten, den poetischsten Teil meiner Arbeit mit sich nehmen. Oder, um mich besser auszudrücken: Ich denke, dass Butterfly ohne Rosina Storchio ein Ding ohne Seele wird.“ Die Premiere im Mailänder Teatro alla Scala war für Puccini ein demütigender Misserfolg gewesen, aber seine Bewunderung für die Storchio war unerschütterlich. Selbst diejenigen Kritiker, die Madama Butterfly als uninspirierte Wiederholung der früheren Werke des Komponisten verurteilten, waren sich in einer Sache einig: Storchios exquisit musikalische Darstellung der Titelrolle war ein weiterer Triumph für die Sängerin.

Rosina Storchio und Edoardo Garbin in „Zaza“ Leoncavallos/ Künstlerpostkarte/ Ipernity (namentlich die Sammlung Bialystok-Stavenuiter ist auf dieser hochinteressanten website für historische Fotos bemerkenswert)

Die Storchio ist heutzutage vor allem aufgrund ihrer Verbindung zu Puccinis Werken bekannt, die sie während ihrer langen Karriere in Städten wie Madrid, Paris, Buenos Aires und New York aufführte und 1923 sogar als Butterfly in Barcelona ihren Abschied gab. Doch Puccini war bei weitem nicht der einzige, der Storchios Talente bewunderte. Ruggero Leoncavallo, Umberto Giordano und Pietro Mascagni suchten die Storchio für Weltpremieren ihrer Opern auf und ehrten sie mit den Eröffnungsabenden von La bohème (1897), Zazà (1900), Sibiria (1903) und Lodoletta (1917). Hochgeschätzte Dirigenten wie Arturo Toscanini, Cleofonte Campanini, Leopoldo Mugnone und Ettore Panizza zählten bei prestigeträchtigen Anlässen in Italien und im Ausland ebenfalls auf die Storchio, beeindruckt von ihrer hervorragenden Technik, ihrem nuancierten Schauspiel und ihrer Ausdruckskraft.

Die in Venedig geborene Storchio zeichnete sich schon in jungen Jahren durch ihr herausragendes Talent aus. Als Kind zog sie in die Lombardei und ließ sich am Mailänder Konservatorium ausbilden. Auch als Studentin erhielt sie das Lob der Mailänder Presse. „Sie hat ihr Studium noch nicht abgeschlossen“, bemerkte die Corriere della sera, „aber sie ist bereits ziemlich reif für die Herausforderungen der Bühne.“ Bald wurde ihr Arbeit an kleineren Theatern in Mailand angeboten; 1892 gab sie ihr professionelles Debüt als Micaëla in Bizets Carmen (1875) am Teatro dal Verme. In den ersten Jahren ihrer Karriere übernahm sie Rollen in mehreren inzwischen vergessenen Werken – darunter Filippo Brunettos La sagra di Valaperta (1895) und Dario de Rossis Fadette (1895) – und debütierte 1895 an der Scala als Sophie in Massenets Werther (1887). Es folgte rasch eine beeindruckende Auswahl an Partien, wobei zwei Weltpremieren für Leoncavallo neben Werken von Massenet, Mascagni, Puccini und Giordano ihren Zeitplan füllten.

 

Rosina Storchio sang die Uraufführung von Umberto Giordanos „Siberia“ 1903 an der Scala/ Foto Grandi Voci alla Scala/ Teatro alla Scala/ Ricordi

Zu Beginn des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts hatte sich die Storchio als Primadonna an der Scala etabliert, wo sie eine wichtige künstlerische Partnerschaft (sowie eine romantische Beziehung) mit dem Dirigenten Arturo Toscanini pflegte. Kritiker lobten immer wieder ihre Kommunikationskraft und Vielseitigkeit, was sie zur geborenen Kollaborateurin führender italienischer Komponisten machte. Die Premiere von Madama Butterfly sicherte ihren Platz in der Operngeschichte, aber Storchios Repertoire erweiterte sich weiter, als sie Tourneen an Opernhäuser in Spanien, Deutschland, Frankreich, Monaco und Südamerika unternahm. Die Storchio, vor allem als Manon, Violetta und Butterfly bekannt, sang schließlich neben ihren Verismo-Kreationen auch in Werken von Mozart, Rossini, Auber, Bellini, Donizetti, Meyerbeer, Gounod und Thomas sowie in Neuheiten wie Webers Euryanthe (1823) und Humperdincks Hänsel und Gretel (1893). Ihre dramatische Bandbreite erstreckte sich außerdem von der Susanna in Mozarts Le nozze di Figaro (1786) bis zur Maddalena in Giordanos Andrea Chénier (1896). Während ihre Stimme häufig als klein – wenn auch von überraschender Intensität – beschrieben wurde, ermöglichte ihr ihre unübertroffene Kombination aus Pathos und Charme, in einer Vielzahl von Rollen zu triumphieren, selbst als sie sich die zerbrechlicheren Verismo-Heldinnen unauslöschlich zu eigen gemacht hatte.

Aufgrund ihres Weltenbummler-Profils verstärkte die Karriere der Storchio in vielerlei Hinsicht vertraute Vorstellungen über diese Periode der Operngeschichte. Wie ihr gelegentlicher Bühnenpartner Enrico Caruso, war sie eine Sängerin, die im frühen 20. Jahrhundert die künstlerischen und finanziellen Möglichkeiten in Europa und Amerika nutzte, um etablierte Repertoire-Werke aufzuführen, nahezu ausschließlich in italienischer Sprache. Ab 1904 spielte Lateinamerika eine entscheidende Rolle in der Karriere der Storchio: Sie trat bis zu ihrem Rückzug von der Bühne in ganz Argentinien, Brasilien, Kuba, Venezuela, Peru und Uruguay auf. Eine kleine Anzahl kommerzieller Aufnahmen zeigt auch ihr Interesse daran, Interpretationen klassischer Arien während der frühen Jahren der Grammophon-Industrie zu bewahren.

Rosina Storchio als Madama Butterfly an der Scala 1904/ Foto Opera Rara

Die Zusammenarbeit der Storchio mit lebenden Komponisten ist aber auch eine Erinnerung an den anhaltenden Einfluss von Opernkünstlern auf neue Musikwerke zu einer Zeit, als immer weniger italienische Opern ins Repertoire aufgenommen wurden und der Opernkomponist anscheinend immer mehr Autorität über die Sänger hatte als zu Beginn des 19. Jahrhunderts. George du Mauriers Bestseller Trilby (1895) – ein Meilenstein, der in den ersten Jahren von Storchios Karriere veröffentlicht wurde – verdichtete in vielerlei Hinsicht Jahrzehnte negativer Stereotypen rund um Operndiven mit der Fabel, dass eine stimmlich begabte (aber passive) Sängerin von einem männlichen Svengali kontrolliert werde: Weibliche Kreativität hatte sich als Illusion herausgestellt. Storchios enge Beteiligung an Rollen wie Butterfly, Zazà und Lodoletta lässt jedoch auf ein ganz anderes Szenario schließen. Ohne die Storchio wären diese Partien möglicherweise erheblich anders gewesen oder hätten überhaupt nicht existiert.

Fast ein Jahrhundert nach ihrem Rückzug ist die Zeit reif für eine Neubewertung des einzigartigen Beitrags der Storchio zur Operngeschichte. Anstatt eine gehorsame musikalische Dienerin zu sein, war die Storchio eine wichtige kreative Vertreterin, die künstlerische Konventionen in Repertoire-Opern wie La traviata (1853) etablierte und sich für zeitgenössische Werke einsetzte. Ihre stimmliche Vielseitigkeit erinnert auch daran, wie sich die Kategorisierung von Sängern seit ihrer Zeit verschoben hat, als sich die Rollenkonventionen noch nicht verschärft hatten und die Unterscheidung zwischen lyrischen und dramatischen Rollen weniger klar war. Aufbauend auf der Wiederentdeckung von Leoncavallos Zazà durch Opera Rara in Zusammenarbeit mit der Sopranistin Ermonela Jaho, werden in diesem Recital weitere Kernaspekte von Storchios Repertoire untersucht, die von einer der überzeugendsten Operninterpretinen der Gegenwart umgesetzt werden. Die Wiederentdeckung der Kunst der Rosina Storchio ist eine Gelegenheit, in diese vergessene Musiklandschaft einzutauchen, in der neue italienische und französische Werke mit kreativen Neuinterpretationen der Vergangenheit koexistieren. Ditlev Rindom; Übersetzung: Daniel Hauser

 

Rosina Storchio: Ermonela Jaho und der Dirigent Andrea Battistoni bei der Aufnahme/ Foto Opera Rara

Und  nun weiter die Rezension der Opera-Rara-CD Anima rara: Rosina Storchio war die erste Butterfly und zwar nicht nur die der Urfassung von 1904, die unter dem Hohngelächter des Publikums über die Bühne ging, sondern auch der auf drei Akte erweiterten und um eine Tenorarie bereicherten Uraufführung der zweiten und nunmehr allein gültigen Fassung. So bilden denn auch zwei Arien aus der Puccini-Oper den Rahmen für die Trackliste. In „Un bel di, vedremo“ lässt der Sopran hören, was er mit „only a naked soul can do this“ meint, nämlich das Publikum zum Weinen bringen, was ihm, glaubt man den Kritiken, gerade mit dieser Partie immer wieder gelingt. Man hört in dieser Arie aus dem zweiten Akt keine Mädchenstimme, sondern ein leidgetränktes Timbre, dem am Schluss, bei Abschied von dem Kind, der erotisch flimmernde Glanz abhanden gekommen ist. Dazu beeindrucken die wie aus dem Nichts herbei schwebenden Pianissimi, die unangestrengten, weich angesetzten Höhen.

Rosina Storchio hat viele Versimo-Opern aus der Taufe gehoben, so auch Leoncavallos La Bohéme, dessen Mimi sie 1897 war und aus der die Jaho sowohl eine Arie der Mimi wie eine der Musetta, die anders als bei Puccini im Mittelpunkt steht, singt. Als Mimi, die den Charakter der Freundin beschreibt, verleiht sie der Stimme selbst viel civetteria und viel fresco tintinnire, so dass man den Sopran kaum wiedererkennt. Als Musetta beweist sie, dass die beiden Figuren Leoncavallos einander sehr vielmehr ähneln als die Puccinis.

Rosina Storchio sang auch Mascagnis Iris, der sie in ihrer großen Arie im zweiten Akt unendlich viele Facetten vom fast nicht mehr hörbaren Flüstern bis zum angstvollen Ausbruch im Forte verleiht. Zwei weitere Opern Mascagnis sind mit L’amico Fritz und mit Lodoletta vertreten, die Storchio als Erste sang. Zauberhaft frisch klingt die Susel, als öffne sich die Stimme wie eine der besungenen Blüten, während der Schluss von Lodoletta den Stimmungswechsel eindrucksvoll zum Ausdruck bringt, die Stimme die Orchesterfarben annimmt und die Oper mit einem schönen Verlöschen des Gesangs enden lässt.

Nicht ganz unbekannt dem heutigen Opernpublikum, aber doch leider selten gespielt sind Boitos Mefistofele und Catalanis La WallyL’altra notte“ der Margherita besticht durch bruchlose Crescendi, durch das Durchschimmern des Wahnsinns durch die herzzerreißenden Töne, die besonders im so trost- wie farblosen „Pietà“ gipfeln. Eine zarte Ausgabe der Wally verabschiedet sich mit ihrem „Ebben? Né andrò lontana“. Ganz neu für das Publikum dürfte die Arie der Stephana aus Giordanos Siberia sein, in der einst La Storchio und nun la Jaho „fiori e amor“ erblühen ließ/lässt.

Das französische Repertoire ist mit Massenet, nicht nur mit seiner naiv und leicht parfümiert klingenden Manon, sondern auch doppelt mit seiner Sapho vertreten, die nichts mit der griechischen Poetin auf der Insel Lesbos zu tun hat. Feine Pianogespinste, ein kapriziöser Verführungsversuch und inniges Piano-Flehen machen den Anfang, später  beweist ein raffiniertes Vorspiel zum 5. Akt,  dass auch das Orquestra de la Comunitat Valenciana unter Andrea Battistoni mit diesem Repertoire vertraut ist.

Nur kurz kommt Verdi zu Wort und zwar bezeichnenderweise mit einem verismonahen Track, dem „Teneste la promessa“ mit anschließendem „Addio del passato“, so dass stilistisch kein Bruch entsteht, vor allem auch, weil man diese Arie selten so expressiv gehört hat. So lässt man sie sich selbst mit der Callas‘ Einwand im Hinterkopf auch gern zweimal gefallen (Opera Rara/ Warner ORR253). Ingrid Wanja    

 

Ditlev Rindom/ University of Cambridge

Der Autor: Ditlev Rindom st Postdoktorand der British Academy am King’s College London. Er vervollständigt derzeit ein Buch über die Verbreitung der italienischen Oper zwischen Italien und Amerika um 1900 und arbeitet an einer kritischen Ausgabe von Puccinis La rondine, die von Ricordi veröffentlicht werden soll. Er studierte an den Universitäten von Oxford, Yale und Cambridge sowie am Royal Northern College of Music und hat im Journal der Royal Musical Association, im Cambridge Opera Journal und im Opera Quarterly Publikationen veröffentlicht.

(Übersetzung aus dem Englischen Daniel Hauser; wir danken dem Autor und Opera Rara/ Moe Faulkner/Macbethmediarelations für die Erlaubnis zur Übernahme des Artikel aus dem Booklet der neuen Opera-Rara-Aufnahme „Anima rara“. Foto oben: Rosina Storchio/ Iprnity)