Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Sperrig

 

Ich halt es nicht mehr aus!“, singt die Titelheldin in Berthold Goldschmidts Oper Beatrice di Cenci, die, zum ersten Mal in deutscher Sprache, 2018 bei den Bregenzer Festspielen aufgeführt wurde. Dieser Satz ist dem Betrachter der DVD da längst mehrere Male durch den Kopf gegangen angesichts der zwar historisch verbürgten, aber trotzdem oder gerade deswegen unmöglichen Handlung um einen tochterschändenden Vater, gatten- und vatermordende Frauen, heuchlerischen Liebhaber, bestechlichen Kardinal, gnadenlosen Papst und obendrauf noch zwei Auftragsmörder. Zwar wird in Opern oft, aber meistens schön, dazu nach dem Ausleben von Lust und Liebe gestorben, in diesem Werk und dieser Inszenierung von Johannes Erath aber sind selbst die mordenden Opfer von Anfang an durch ihr Leiden so deformiert, die Heldin der Puppe gleich, die sie von Anfang bis Ende in den Armen hält, dass man ihr Schicksal weniger mit Anteilnahme als mit einer Mischung aus Ekel und Mitleid verfolgt. Großartig, aber halt auch eher Abscheu als Bewunderung erregend sind die Kostüme von Katharina Tasch, die die zu Karikaturen von Renaissancemenschen verkommene Hofgesellschaft ausgestattet hat, deren Text zwar von Mitleiden spricht, deren Verhalten jedoch ambivalent ist. Auch die Bühne, insbesondere der Turm, in dem die Gefangenen schmachten, ist von Katrin Connan phantasievoll gestaltet worden, alles in allem sind da Könner am Werk gewesen, die ein Publikum zu fesseln verstehen, selbst wenn die Geistlichen durchweg mit Sonnenbrille oder die Pistole, die von Hand zu Hand geht, natürlich nicht passen. In Johannes Debus und den Wiener Symphonikern stehen außerdem Interpreten zur Verfügung, die die von Schreker, Mahler, der Spätromantik beeinflusste Musik zur Geltung zu bringen wissen. Die Kameraführung konzentriert sich auf die jeweils singenden Personen, was allerdings manchmal zur Folge hat, dass man nicht weiß, woher nackte Körper, die auf einmal in der Ecke liegen, oder andere Überraschungen nun eigentlich kommen.

Gut ausgewählt ist das Sängerensemble, an der Spitze Gal James als Beatrice, marionettenhaft wie ihre Puppe und zunehmend dem Wahnsinn verfallend, mit üppigem, stets weich bleibendem Sopran, sei es in der schönen Klage zu Beginn des zweiten Akts, im „War es böse, was ich tat?“ oder im Lebewohl vor ihrer Hinrichtung. Einen angemessen androgyn klingen Mezzosopran hat Christina Bock für ihren Bruder Bernardo, der als Einziger der Familie überlebt. Angenehm warme Stimmfarben steuert Dshamilja Kaiser als Stiefmutter Lucrezia bei. Die angemessene Härte in der Stimme hat Christoph Pohl für den Vater Francesco Cenci. Einen flachen, scharf klingenden Tenor, der aber die Zwielichtigkeit der Figur gut hörbar macht,  setzt Michael Laurenz für den falschen Fuffziger von Orsini ein, der sich hier immerhin mit dem Pistol selbst richtet. Den geldgierigen Kardinal Camillo singt mit eherner dunkler Stimme Per Bach Nissen. Mit schneidendem Charaktertenor gibt Peter Marsh den blutrünstigen Richter. Der bewährte Prague Philharmonic Choir unter Lukáš Vasilek  darf sich über elegante Kostüme für den Schlusschor freuen, der mit dem Requiem so ziemlich das einzige versöhnliche Element in der fürchterlichen Geschichte ist. (C – Major 751408). Ingrid Wanja    

 

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Händels mythische Frauen

 

Ein reizvolles Programm mit Händel-Arien hat die Sopranistin Margriet Buchberger für ihre Debüt-CD bei Perfect Noise zusammengestellt, die im Juli 2019 in Wuppertal aufgenommen wurde (PN 2004). Der Titel Witches, Queens & Heroines verspricht einen spannenden Rundblick über die berühmten Figuren des Komponisten. Er beginnt mit der Medea aus Teseo und deren Arie „Morirò“. Das Timbre der Interpretin ist nicht sonderlich individuell, aber schon im ersten Beitrag fällt die Flexibilität der Stimme auf, was sie besonders für virtuose Arien prädestiniert.

Aus Alcina gibt es sogar drei Auszüge – zwei Arien der Titelheldin („Ombre pallide“ mit gekonnten Ausflügen in die Extremhöhe und das schmerzliche „Ah! mio cor“ mit existentiellem Ausdruck) sowie eine von ihrer Schwester Morgana. Ihr „Credete al mio dolore“  zeigt die empfindsame Seite der Figur. Sehr populär ist die Cleopatra in Giulio Cesare. Deren Arie „Da tempeste il legno infrato“ ist eine Herausforderung an das virtuose Vermögen der Interpretin und Margriet Buchberger wird ihr mit einem stupenden Koloraturfeuerwerk beeindruckend gerecht.

Dann folgen recht unbekannte Damen – zunächst die Adelaide in Lotario mit ihrer übermütigen Arie „Scherza in mar la navicella“, deren muntere Interpretation besonders gelungen ist.

Aus Siroe ist Laodice mit der Arie „Or mi perdo“ zu hören, die in ihrer melancholischen Stimmung einen reizvollen Kontrast bildet.

Danach treten die Titelheldin aus Atalanta mit „Al varco“ und die Melissa aus Amadigi di Gaula mit „Ah, spietato!“ auf und komplettieren diesen abwechslungsreichen Reigen der Händelschen Gestalten.

Das Ensemble Il Giratempo unter der Konzertmeisterin Zsuzsanna Czentnár begleitet die Solistin mit reicher Farbskala und vielfältigen dynamischen Abstufungen. Bernd Hoppe

Home singing mit Gefühl

 

Ber der neuen Sony-CD Selige Stunde von Jonas Kaufmann freut man sich darüber, dass die Stimme das Grobkörnige, Preis für die letzten hochdramatischen Partien, anscheinend verloren hat, im Piano gut trägt und für die zarten Gebilde geschmeidig genug ist. Nicht home office, aber home singing und für seinen Begleiter Helmut Deutsch home playing waren das Gebot der Stunde, wollte man nicht gänzlich untätig bleiben. Die wundersamsten Gedichte in deutscher Sprache wie Goethes Wanderers Nachtlied und Eichendorffs Mondnacht sind in der bekanntesten Vertonung, der von Schumann und Schubert, auf der CD versammelt, aber auch sonst Lieder, die jedem Freund dieser Gattung vertraut sind, ja sogar Volksliedcharakter haben wie Ännchen von Tharau oder Das Veilchen.

Bei Schuberts Musensohn klingt die Stimme noch etwas fleischig verquollen, das Piano hauchig, als sei die Aufnahme zu einem ungünstigeren Zeitpunkt entstanden als der Rest der CD. Die beiden Beethoven-Lieder hingegen erfreuen mit einer innig-sanft gesungenen Adelaide und einer die Stimmung exakt treffenden Zärtlichen Liebe. Dabei wird deutlich, dass es dem Pianisten eher um das Durchhalten einer Grundstimmung geht, dem Tenor um den Wechsel der Farben je nach Stimmung, das Herausheben oft sogar einzelner Worte wie „flöten“ oder „rauschen“.

Der Volksliedton des Ännchen wird gut getroffen, schwebend schlank kann sich der Tenor durch Mendelssohns Auf Flügeln des Gesanges bewegen, auf „in seligem Traum“ schön aufblühend. In Griegs Ich liebe dich herrscht eine große Ernsthaftigkeit vor mit einer intensiven Steigerung zum Schluss, andächtig erklingt Liszts Es muss ein Wunderbares sein mit der Heraushebung des Wortes „Tod“. In Schuberts Der Jüngling an der Quelle klingt das „ach“ bewegend, sind die leisen Seufzer tatsächlich solche. Gänsehaut macht der dramatische Schluss von Bohms Still wie die Nacht, eine inbrünstige Beschwörung, agogikreich gestaltet. Endlich die Tenorfanfare strahlen lassen kann Kaufmann beim „heilig, heilig“ von Srauss‘   Zueignung, weniger bekannt ist Zemlinskys Selige Stunde, die der CD ihren Namen gab.

Ein raffiniertes An- und Abschwellen des Klangs ins Fast-Nichts erfreut bei Chopins In mir klingt ein Lied, in Wolfs Verschwiegene Liebe befreit sich die Stimme  auf „frei“ von jeder Zurückhaltung, während „schön wie die Nacht“ noch dem „verschwiegen“ verpflichtet zu sein scheint.  Sanfte Intervallsprünge kennzeichnen die Interpretation von Dvoraks Als die alte Mutter, Strauss‘ Allerseelen variiert sehr schön das „einst im Mai“, endet in einem Ton der Entsagung. Hier wie noch stärker in Tschaikowskis Nur wer die Sehnsucht kennt wird deutlich, wie weniger eine einheitliche Stimmung wiedergegeben werden soll, als dass auf jede einzelne Nuance eingegangen wird. Rokokohaft mit leichtem Schritt wird Mozarts Veilchen durchmessen, unbekümmert plaudernd, behänd vom Klavier begleitet, erklingt dessen Sehnsucht nach dem Frühling. Ein feiner Schatten der Betrübnis liegt über Schuberts Die Forelle, wenn am Schluss das muntere Fischlein der Verlierer ist. Vollkommene Stimmbeherrschung ist die Voraussetzung für eine gelungene Mondnacht, ehe weitgespannt auch die Stimme wirken darf. Von schöner zärtlicher Schlichtheit schließlich ist Brahms‘ Wiegenlied, berührend Wolfs Verborgenheit,  bis hin zum Crescendo des „balde“ trifft das auch auf  Wanderers Nachtlied zu. Mit Mahlers Ich bin der Welt abhanden gekommen, unheimlich durch die Verzierungen auf „gestorben“, endet eine CD, die das Vermögen hat, ihrem Hörer selige Stunden zu bereiten, auch wenn es nicht durchweg Romantic songs sind, die sie auf sich vereint (Sony 19439783262). Ingrid Wanja  

Aufarbeitung

 

Ein Buch, das über 325 Seiten hinweg den Intellekt des Lesers aufs Höchste beansprucht, ihn mit einer Fülle von Fakten konfrontiert, ihn (den ehemaligen West-Berliner) in eine untergegangene Welt entführt und ihm dann auf der letzten Seite ganz unerwartet das Herz berührt, ist Eckart Kröplins Operntheater in der DDR,   zum 30.Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschlands vom Henschelverlag herausgegeben. Fremd erscheint der (ehemaligen BRD-) Rezensentin ein Staat, in dem die Oper und ihre Aufführungen höchstes Politikum sind, wo erbitterte Auseinandersetzungen um ideologische und ästhetische Positionen geführt werden, jeder Satz eines Librettos und jeder Takt eine Komposition argwöhnisch daraufhin geprüft werden, ob sie auf dem Boden der letzten, von der Sowjetunion gut geheißenen Parteilinie stehen, nicht nur über die Zukunft einer Partitur, sondern auch über das Schicksal ihres Schöpfers von einem Politbüro, dessen Mitgliedern Oper grundsätzlich schon suspekt sein kann, entschieden wird. Und doch heißt es auf der letzten Seite, nach dem „Untergang“ der DDR habe sich bei  Opernleuten (und wohl nicht nur bei ihnen) ein Gefühl der „Heimatlosigkeit“ eingestellt, weil die „Reibungsfläche“ fehlte, an der man sich bisher abgearbeitet hatte, um seine künstlerischen Pläne durchzusetzen.

Von tiefer Liebe zur Oper generell erfüllt ist der Verfasser, insbesondere zu der, die er in den Häusern der DDR erlebt hat, deren Verwirklicher den schmalen Grat „Zwischen neuer Ästhetik und politischen Dogmen“ (so der Untertitel)  wandeln mussten, seien sie Librettisten oder Komponisten, Intendanten oder Regisseure gewesen, die sich bedingungslos anpassten oder opponierten, daran wuchsen oder zugrunde gingen.

Im Vorwort stellt sich der weit über die Grenzen der alten DDR hinausbekannte und international renommierte Autor vor, schildert knapp seinen Weg zur Oper vom Studium  der Musikwissenschaft in Leipzig, über die Dozententätigkeit, die als Dramaturg und schließlich als stellvertretender Intendant der Semper-Oper in Dresden (operalounge.de ist ihm ohnehin verpflichtet, weil er liebenswürdiger Weise uns Texte zum „Nachdruck“ überlassen hat/ G. H).

Im Grußwort von Siegfried Matthus werden bereits die beiden Pole erwähnt, um die es in weiten Teilen des Buches geht: um das Theater der Verfremdung am Berliner Ensemble unter Bert Brecht und das realistische Einfühlungstheater unter Walter Felsenstein an der Komischen Oper Berlin.

Der Autor ist bei der Beschreibung des Opernlebens in der DDR chronologisch vorgegangen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, wobei innerhalb dieses Zeitraums die jeweilige allgemeine politische Entwicklung, abhängig von der in der Sowjetunion, sich im Verhalten zur Oper niederschlägt, nur in den Achtzigern mag die SED sich Perestroika und Glasnost nicht anschließen, verharrt vielmehr in Erstarrung. Innerhalb dieser chronologischen Gliederung gibt es eine nach Spielstätten, beginnend jeweils mit Berlin und damit  mit Staatsoper und Komischer Oper, dann sich Leipzig und Dresden widmend und schließlich die gar nicht provinzielle Provinz in Augenschein nehmend.
Da die SED, beeinflusst von Ideen wie der Shdanows von den Schriftstellern als Ingenieuren der menschlichen Seele, in der Kunst generell und damit auch in der Oper ein Mittel zur Erziehung der DDR-Bevölkerung zu sozialistischen Menschen sah, nahm sie massiv Einfluss auf deren Gestaltung. Kröplin schildert sehr eindrucksvoll zwei „Fälle“, die darüber Aufschluss geben: den Kampf um Brecht/Dessaus Lukullus-Oper und das Ringen um eine deutsche Nationaloper, die Hanns Eisler mit seinem Faust-Projekt, das den Doktor mit dem Bauernkrieg verbinden sollte, schaffen wollte. Die Abhängigkeit der Künstler von der jeweiligen politischen Richtung zeigt sich dann auch darin, wie nach der Stalinnote von 1952 mit der Aufgabe des Nationalstaatsgedankens die von der Notwendigkeit einer Nationaloper einhergeht. Da das Buch sich der Oper in der DDR widmet und nicht der Gesamtnachkriegsgeschichte, ist verzeihbar, dass der Inhalt der Stalinnote etwas sehr knapp und damit zu Missverständnissen einladend wiedergegeben wird.

Eindrucksvoll werden die vielen Möglichkeiten für die Bevölkerung der DDR, am kulturellen Leben teilzunehmen, dargestellt, immer wieder sind in den Text lange Listen von „Kulturschaffenden“ eingestreut, viele Namen enthaltend, die ebenfalls im Westen einen guten Klang hatten. Es wird auch klar herausgestellt, dass man in Ost und West von Anfang an getrennte Wege ging: im Westen auf der Suche nach Neuem, dem Nachholen in der Nazizeit verpasster Entwicklungen, im Osten der Tradition verhaftet, sich dem Kampf gegen den „Formalismus“ widmend. Eine gleich starke Verachtung trifft nur noch den „Kulinarismus“.

Charakterisiert sind die Jahre 49 bis 61 durch die ästhetische Neuorientierung, 61 bis 71 durch die Aufgabe des Nationalstaatsgedankens, 71 bis 80 durch eine scheinbare Liberalisierung nach der Ablösung Ulbrichts und die 80er zwischen dem ersten Erscheinen von Solidarnost und dem offenen Protest mit dem Dresdner Fidelio inmitten von Mauern und Stacheldraht.

Die Geschichte der Oper in der DDR ist auch eine ihrer Regisseure, von Felsenstein und seinen Schülern Herz und Friedrich, später Kupfer, von Riha und Berghaus. Sie ist eine ihrer Dirigenten wie Kleiber (der Rücktritt nach dem Entfernen der Inschrift über dem Portal der Staatsoper wird nicht ausgepart), Konwitschny, Suitner, Masur, Blomstedt und anderer, ihrer Säger, der deutschen und nach dem 13. August der vielen aus dem Ostblock. Natürlich werden diejenigen nicht ausgespart, die die Kulturpolitik des SED-Staates zu verantworten hatten wie Becher, Abusch, Girnus, Hager und Konsorten, und gleichermaßen einen Schauer über den Rücken jagen dem Leser deren Verlautbarungen wie das schriftliche Bemühen der künstlerischen Macher, ihre Vorhaben zu verteidigen, ihnen zumindest den Anschein sozialistischer Korrektheit zu verleihen. Und nicht einmal kommt dem Leser angesichts der dann oft stupenden Ergebnisse der Gedanke, erst aus dem Kampf gegen Widrigkeiten erwachse das überzeugendste Kunstwerk, falls es nicht bereits im Vorfeld „versandet in engstirniger Ideologie“.

Das Buch befasst sich auch mit der Literatur, die die Opernarbeit begleitete, so werden „Theater der Zeit“, „Sinn und Form“ oder „Material für Theater“ angemessen gewürdigt, nicht zuletzt der bereits 1945 gegründete Henschelverlag. Es entstehen viele neue Opern, die abgesehen z.B. von einigem von Udo Zimmermann, heute nicht mehr aufgeführt werden. Sie sind es aber wenigstens wert, in diesem gehaltvollen Buch erwähnt zu werden, sogar ein unvollendet gebliebenes Werk Brechts und Dessaus, an dessen happy end sich herausstellen sollte, dass das wahre Glück der Kommunismus sei. In den letzten Jahren der DDR entwickelt sich nach Kröplin Kunst immer mehr zur Gegenwelt der realen Misere.

Noch vor Chereau wird der Ring in Leipzig durch Herz zur Kapitalismuskritik, Spas Wenkoff singt in Dresden Tristan und bald in Bayreuth, und hier wie anderswo im Westen sind Sänger wie Adam, Schreier, Vogel, Büchner, Freier, Lorenz, Priew, Tomowa-Sintow oder Goldberg gefragt und beliebt.

Ganz nebenbei erfährt man, dass Felsenstein, nachdem er aus der Reichskulturkammer ausgeschlossen worden war, von Heinrich George an seinem Theater beschäftigt wurde. Das schien nach 1945 keine Rolle mehr gespielt zu haben.

Bei der Schilderung des Werdegangs von Götz Friedrich kommt mit der Erwähnung von Stanislawski noch ein weiterer Antagonist zu Brechts Verfremdungstheater ins Spiel, in dessen „poetischer Wahrheit“ Wirklichkeit und Künstlichkeit einander aufheben sollen. Gegen einen Sowjetmenschen war kein Einwand denkbar und damit die „ästhetische Weiterung“ ideologisch abgesichert.

Im letzten Teil des Buches wird der Umgang der DDR mit Mozart und Wagner betrachtet, die „politische Brisanz in der Mozart-Rezeption“ und der Streit darum, ob Wagner ein Revolutionär oder Reaktionär gewesen sei. Ein kurzer Blick nach Westen beweist dem Leser, dass es bereits damals  auch mit Wieland Wagner oder Robert Wilson andere Regiehandschriften gab als die realistische oder die verfremdende.

Die 80er täuschen mit der Eröffnung von Gewandhaus, Konzerthaus am Gendarmenmarkt und Semperoper, mit der Rehabilitierung von Preußentum und Bismarck (Rückversicherungsvertrag mit Russland!) Prosperität vor, aber dahinter versteckt sich mühsam die „finale Agonie“.

Das an Fakten überaus reiche Buch, das zusätzlich sympathisch wird durch das Engagement des Autors für seine Sache, das den Leser in seinen Bann zieht und ihn bereichert um Wissen und Verständnis entlässt, wird vervollständigt durch einen Anhang, der wichtige Operninszenierungen auflistet, ein Literaturverzeichnis, ein Personenregister und einen Bildnachweis umfasst (360 Seiten, 2020 Henschel Verlag; ISBN 978 3 89487 817 7). Ingrid Wanja

 

Allegorisches aus Wildbad

Kontinuierlich veröffentlicht NAXOS Live-Mitschnitte vom Festival ROSSINI in WILDBAD. Jetzt erschien aus dem Jahre 2018 die Cantata Le nozze di Teti e di Peleo, welche Rossini 1816 aus Anlass der Vermählung von Karl Ferdinand von Artois, Herzog von Berry, mit Maria Carolina, Nichte des Bourbonenkönigs Ferdinand IV.,  komponierte. Sie handelt von der Hochzeit der Meeresgöttin Thetis mit dem Helden Peleus und wurde in Neapel mit einer illustren Sängerbesetzung uraufgeführt, welche die virtuosen Anforderungen der Komposition bravourös umsetzte. Dabei waren die Sopranistin Isabella Colbran als Cerere sowie die Tenöre Andrea Nozzari als Giove und Giovanni David als Peleo.

In Bad Wildbad wirken unter Pietro Rizzo, der die Virtuosi Brunensis mit spürbarer Rossini-Erfahrung leitet, natürlich keine Sängerstars dieser Ordnung, wohl aber solide Interpreten, die mit spürbarem Engagement am Werk sind. Die Titelrollen singen die italienische Sopranistin Eleonora Bellocci und der türkische Tenor Mert Süngü. Er lässt in seiner Auftrittskavatine („Giusto Cielo“) eine weiche, träumerische Stimme hören, offenbart allerdings im Schlussteil  („Ovunque volgomi“) leichte Höhenprobleme. Im folgenden Duetto mit Teti kann die Sopranistin mit delikaten Tönen aufwarten. Der Amerikaner Joshua Stewart nimmt die zweite Tenorpartie des Werkes, den Giove, wahr. Leider hat Rossini ihm keine Arie zugedacht, aber der Sänger kann mit seiner dunkel getönten, heroisch orientierten Stimme im Terzetto mit den beiden Titelfiguren („Per me regni alfin/Qual suon terribile“) Akzente setzen. Die  Fruchtbarkeitsgöttin Cerere wurde der spanischen Sopranistin Leonor Bonilla anvertraut. Sie lässt sogleich in ihrem Auftrittsduett mit Giunone, Schutzgöttin der Ehe, eine Stimme von reizvoll melancholischem Timbre hören und kann nach danach auch in ihrer Arie „Ah non potrian resistere“ mit sicheren Spitzentönen punkten. In deren Schlussteil, der das Thema von Angelinas Finalrondò aus der Cenerentola vorweg nimmt, beweist sie zudem ihr bravouröses Vermögen. Die renommierte italienische Mezzosopranistin Marina Comparato komplettiert die Besetzung als Giunone. Dem Chor fällt nach dem munteren Preludio die erste Gesangsnummer der Azione coro-drammatica zu und der Górecki Chamber Choir, Kraków (Mateusz Prendota) absolviert sie mit sprühendem Elan (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Bernd Hoppe

Ruth Falcon

 

An Ruth Falcon, die am 9. Oktober starb, erinnere ich mich genau – an ihre Strauss´sche Kaiserin und dto. Arabella in den 80ern, dann an einiges in Holland und auch an Einspringerin in Berlin an der DOB. Ich hatte sie durch Sänger-Kollegen kennengelernt. Sie war eine sehr liebenswürdige, mollige Person mit einem strahlenden Lächeln und der sprichwörtlich professionell-liebenswürdigen amerikanischen Wesensart. Und sie besaß eine schön, gut geformte und tragfähige lyrische Sopranstimme. Ihre Arabella neben David Pitman-Jennings bleibt mir in Erinnerung (Hamburg?), weil sie eine so cremige Sopranstimme zeigte, die eine ideale Figaro-Contessa eignete. Leider sang sie auch zu groß: Turandot war nichts für sie. Sie ist auf manchen Schallplatten zu hören, aber nur in Nebenrollen, so als eine der Walküren bei Haitink/ EMI und  Dohnanyi/ Decca, als Lola live bei Orfeo und als eine der Ungeborenen live bei Sawallisch/Orfeo. Ihre Arabella war bei Naxos herausgekommen und ist eigentlich das überzeugendste Zeugnis dieser schönen Stimme. G. H.

Zu ihrem Tode schreibt die englische Wikipedia: Ruth Falcon (born November 2, 1942; died October 9, 2020) graduated from Loyola University of the South (BM, in 1964) and Tulane University (MFA, in 1971) and debuted with the New Orleans Opera Association as Frasquita in Carmen, in 1968, opposite Norman Treigle as Escamillo. She made her first appearance with the New York City Opera as Micaëla in that same opera, in 1974. She went on to appear as the Contessa Almaviva in Le nozze di Figaro and Donna Anna in Don Giovanni, with the City Opera. She studied with Marinka Gurewich in New York City.

She sang the first of her eleven appearances with the Metropolitan Opera in 1989, as the Empress in Die Frau ohne Schatten. In 1992, the soprano portrayed Chrysothemis in Elektra (conducted by James Levine), and, in 1996, sang the title role in Turandot (with Angela Gheorghiu as Liù). In the Met’s 1996-97 season, she made her final operatic appearances, as Gertrud in Hänsel und Gretel (with Jennifer Larmore and Dawn Upshaw, conducted by Sir Andrew Davis), a performance that was broadcast.

Falcon also appeared at Covent Garden, Paris Opéra, Wiener Staatsoper, Bayerische Staatsoper, Deutsche Oper Berlin, Teatro la Fenice, Teatro Colón, Opéra de Monte-Carlo, and Aix-en-Provence Festival.

Her discography includes a recording of Beethoven’s Ninth Symphony, conducted by Lord Menuhin (1990). Falcon became a highly successful pedagogue, and was on the faculty of The New School’s Mannes School of Music. Among her celebrated students are Ainhoa Arteta, Danielle de Niese, Sondra Radvanovsky, Nadine Sierra, and Deborah Voigt. Miss Falcon died in 2020, at the age of seventy-seven. (Quelle en.wikipedia.org/ Foto Ruth Falcon als Elisabetta/ Don Carlo/ Loyola University New Orleans)

Wiener Schmäh

 

In schöner Selbstgefälligkeit verkündete Jonas Kaufmann während seines eigenmoderierten Konzerts im Wiener Konzertsaal, er verfüge über den berühmt-berüchtigten Wiener Schmäh, was nicht alle dort ansässigen Kritiker so sahen, der aus Berlin stammende maßt sich kein Urteil an, staunt lediglich darüber, wie weitgespannt, von Wien bis Tirol und darüber hinaus bis bella Venezia,  sich Mein Wien“ erstreckt. Es handelt sich wohl eher um in irgendeiner Weise mit Wien verbundene Komponisten, die „the World’s greatest Tenor“, wie es auf dem Cover heißt, zu Gehör bringt, so dass auch die Rosen in Tirol ihre Berechtigung haben und die Geigen auf Balkanisch „Hab mich lieb“ flüstern dürfen, mit „O Königin du“ die Stadt in der Lagune, nicht die an der Donau gemeint ist. In dem als Zugabe abschließenden Kreisler-Chanson Der Tod ist ein Wiener scheint der weanerische Ton am besten getroffen zu werden, ansonsten singt der Tenor in angenehm lässiger, weil sich der Potenz und Geschmeidigkeit seiner Stimme sicher, Haltung durchaus operettengemäß, mal auch, so bei  den Zwei Märchenaugen wie ein Opern-Schmetter-Tenor, mit gut gestütztem Piano in der Nacht in Venedig, pfeift auf das Heurigenlokal und setzt Schmelz und Schmalz für „Wien, nur du allein“ ein. Für das Wiener Blut und die Lustige Witwe hat er in Rachel Willis-Sorensen nicht nur eine charmante Gesangspartnerin mit süßem, weichem Sopran, sondern kann zum Vergnügen des Publikums auch ein paar Tanzschritte zum gelungenen Abend beitragen. Die Sängerin kann sich dann mit dem Vilja-Lied mit zusätzlichen hohen Tönen über besonders viel Beifall vom animierten Publikum freuen. Viel ist vom Prater, in dem wieder die Bäume blühen, zu vernehmen, einiges davon im charmant dargebotenen Kommentar auch direkt aus dem dortigen Riesenrad, aber auch Sievering, wo nur der Flieder blüht, oder das kleine Café in Hernals werden in Wort und Ton gewürdigt. Für den Eisenstein und seine plumpe Anmache ist Jonas Kaufmann einfach zu charmant, beim Tragik vermeidenden „Sag beim Abschied leise Servus“ ganz in seinem Element. Das Orchester, die Prague Philharmonia unter Jochen Rieder ist etwas behäbig, aber zuverlässig und ein guter Begleiter. Ein angenehm herzerwärmender Abend ist jedem Betrachter des reichhaltigen Programms der DVD gewiss (Sony 19439734009). Ingrid Wanja   

Unbekannte Mondwelten

 

Immer wieder wartet NAXOS mit staunenswerten Neuveröffentlichungen von veritablen Raritäten auf – jetzt mit einer echten portugiesischen Oper. Ihr Titel – Il mondo della luna – lässt sofort an Joseph Haydns Vertonung des Librettos von Carlo Goldoni (1777) denken. Auch der portugiesische Komponist italienischer Abstammung Pedro António Avondano, der von 1714 bis 1782 lebte, stützte sich für seine Version, die 1765 während der Karnevalsaison in Salvaterra uraufgeführt wurde, auf diese Vorlage. Sie erzählt von dem reichen Kaufmann Buona Fede und seinen Töchtern Clarice und Flaminia, die von dem angeblichen Astrologen Ecclitico und dem Kavalier Ernesto geliebt werden. Da die beiden Bewerber von Buona Fede abgewiesen werden, greifen sie zu einer List, wollen mit seiner Hilfe eine Reise zum Mond unternehmen. Nach einem verabreichten Schlaftrunk erwacht Buona Fede in einem Garten, der in eine phantastische Mondlandschaft verwandelt wurde. Verkleidet überreden ihn Ernestos Diener Cecco und Buona Fedes Zofe Lisetta,  der Doppelhochzeit zuzustimmen.

Die Aufnahme entstand im September 2017 in Lissabon und nutzt eine gekürzte Fassung, welche 1994 im Teatro Sao Carlos der portugiesischen Hauptstadt herauskam (8.660487-88, 2 CD). Das 2005 von Marcos Magalhaes gegründete Ensemble Os Músicos do Tejo musiziert unter seinem Leiter auf historischen Instrumenten. Schon in der viersätzigen Sinfonia entfacht er musikantischen Schwung und die Blechbläser können sich besonders profilieren.

Das rein portugiesische Ensemble führt der Bassist Luis Rodrigues als Buona Fede an, dem das erste Solo zufällt, die Cavatina „Ho veduto una ragazza“ – eine buffoneske Nummer, in welcher der Sänger mit lautmalerischer Eloquenz aufwartet. Ihr folgen seine Arien „Ho veduto un bon marito“,„Ho veduto dall’amante“ und „La ragazza col vecchione“ von ähnlichem Charakter.

Die Soprane Susana Gaspar und Carla Caramujo singen seine Töchter Clarice und Flaminia. Letztere kann in ihrer beschwingten Auftrittsarie („Ragion nell’alma“) mit leichter, rescher Stimme gefallen, während die Erstgenannte  in „Son fanciulla da marito“ mehr Farbe und corpo, aber auch strenge Töne hören lässt.

Deren Liebhaber sind die beiden Tenöre Joao Pedro Cabral als Ernesto und Fernando Guimaraes als Ecclitico. Dieser führt sich mit der schwärmerischen Arie „Un poco di denaro“ ein und lässt dabei eine angemessen muntere Stimme hören. Ersterer zeigt in „Qualche volta“ eine eher schmales Volumen. Das Buffo-Paar geben der Bassist Joao Fernandes als Cecco und die Sopranistin Carla Simoes als Lisetta. Sie hat mit „Una donna come me“ eine Arie von reizvollem Melos, kann aber grelle Momente nicht vermeiden. Er kann in der Arie „Un avaro suda e pena“ ein buffoneskes Kabinettstück abliefern und dabei verblüffende Kopftöne einsetzen. Beide Paare haben im 3. Akt noch innige Duette, bevor das Finale mit „Buona Fede tondo il cerchio della Luna“ alle sieben Interpreten zu einem heiteren Abgesang vereint. Bernd Hoppe 

 

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Martin Essinger

 

Mit großem und Bedauern und einer gewissen Erschütterung hörte ich vom Todes des Journalisten und Dramaturgen Martin Essinger, einem lieben Freund aus jenen alten Tagen, als wir mit unserem maroden Mercedes durch Italien reisten und bei ihm und seinem Schweizer Freund in Bergamo (citta alta!) Station machten, auf dem Wege nach Triest, Pesaro oder Rom. Seine außerordentliche Bescheidenheit und seine Freundlichkeit kommen wir wieder ins Gedächtnis, wenn ich auf sein Foto mit seinem zögernden Lächeln vor mir blicke. Martin war ein unendlich kluger Mann, zurückhaltend und vielleicht auch ein wenig zu schüchtern, um stets fest seine Meinung zu sagen. Seine unerhörte Bildung war ein Fels jeder Unterhaltung, seine Genauigkeit und seine vorsichtige Neugier amüsierten mich gelegentlich. Martin war ein milder Mann der leisen Worte, ein besonders lieber und herzlicher. Wir hatten uns aus den Augen verloren, lange Jahre nichts mehr voneinander gehört. Eine gemeinsame, fürsorgende Freundin hielt mich auf dem Laufenden und berichtete von seinem Leiden, seinem physischen und mentalen Niedergang. Die Nachricht von seinem Tod am 9. Oktober (2020) brachte ihn mir wieder vor Augen: ein reizender, hochliebenswerter Mann. Ruhe aus, Martin. G. H.

 

 Martin W. Essinger, 1953 geboren in Reichenbach/Odenwald, arbeitete bis 1979 als Industriekaufmann bei CIBA GEIGY. Abitur am Abend­gymnasium Mannheim, Studium in Heidelberg. Während dieser Anstellung als Buchhalter: Abendgymnasium in Mannheim mit Abitur-Abschluss. Studium Germanistik, Geschichte, Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg. Eigenfinanzierung des Studiums durch Arbeit am Stadttheater als Programmheftverkäufer, Logenschließer, Pförtner, Statist, Regie- und, sowie als Nachtportier in einem Hotel. Während der Studienzeit Regie-Hospitanzen am Nationaltheater Mannheim bei Ruth Berg­haus und bei Harry Kupfer. Hochschulabschluss (Thema der Promotion: Wackenroders Einfluss auf die Musikanschauung der Romantik). Zweitstudium Musikwissenschaft und Philosophie. Beginn einer Habillitation zum Thema Die Hosenrolle in der Operngeschichte. Nach Tätigkeit als Musikdra­maturg in Kassel und Freiburg Wiederaufnahme der Habilitation.

Seit 1987 Musik- und Kunstkritiker für Tageszeitun­gen (u. a. Die Welt und Mannheimer Morgen) und Opernzeitschriften (u. a. Opernwelt, der alte Orpheus, Crescendo, Opernglas und Neue Zeitschrift für Musik). Veröffentlichungen vor allem zur italienischen Oper der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Charles Gounod. CD-Booklets. Mitarbeit an großen Reihenwerken (u, a. das Neue MGG). Von 1991 bis 1993 Musikdramaturg am Staats­theater Kassel, anschließend in gleicher Position in Freiburg, Bielefeld und zuletzt in Bonn.  Dazu war er auch als Buchautor Tätig, so der Märchenroman Pauline und die Albtraumhexe. Nach langer und schwerer Krankheit verstarb er im Oktober 2020 ebenfalls in Bonn. OBA

Michele Carafas „Masaniello“

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In jüngster Zeit hat der französische Komponist Daniel Esprit Auber reichlich fortune, aufgeführt und auch eingespielt zu werden. Seine Muette de Portici erreichte sogar Dessau und die kleineren Theater in Deutschland; die Pariser Opéra gab 2012 eine prachtvolle Vorstellung davon, und selbst wenn man mit June Anderson nicht glücklich wird ist doch die ältere EMi (und nun Warner) Aufnahme ein gültiges akustisches Dokument mit diskutabler Besetzung (auch Alfredo Kraus ist da nicht wirklich der Tenor zum Träumen; und Fans haben natürlich weitere Live- und Radioaufnahmen der Oper, die in London oder Paris mehrfach gegeben wurde). Dennoch – Auber ist – wie nun auch mit der zweiten der Naxos-Ouvertüren-CD – gut bedient.

Carafas „Masaniello„: Der Komponist Michele Carafa/ Stich von Maurin/ Wikipedia

Aber es gibt ja noch einen anderen Masaniello, eben jenen von Michele Carafa von 1827, der sich nach anfänglichen Aufstieg nicht gegen den Konkurrenten Auibers durchsetzen konnte. Er galt aber lange als die erfoilgreichere Oper dieses Sujets, so wie Carafa in seiner Zeit zu den wirklichen Größen der italienischen und französischen Oper gehörte.

Im wie stets hochinformativen Programmheft zur Muette de Portici an der Pariser Opéra-Comique 2012 fanden wir einen spamnnenden Artikel des Lyoneser Musikwissenschaftlers Olivier Bara über eben Carafas Masaniello, den wir mit der liebenswürdigen Werlaubnis des Autors hier in unserer Die vergessene Oper in eigener deutscher Übersetzung durch Ingrid Englitsch wiedergeben. Wie spannend doch die Welt der Oper ist – hat jemals jemand etwas von Carafas Masaniello gehört? Wir nicht, müssen wir gestehen. G. H.

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Olivier Bara – der andere Masianello: Die Rivalität zwischen “Grand-Opéra” und “Opéra-comique” ist alt. Geht sie doch auf die Epoche der “Spectacles forains” zurück, als Vaudevilles und “Comédies en ariettes” bitter mit der Musikakademie um das exklusive Recht, auf der Bühne zu singen, kämpften. Man kannte auf verschiedenen Theatern einige “Doubletten”finden, zuerst als Parodien: zum Beispiel die von Favart 1740 parodierte musikalische Tragödie Pyrame et Thisbé.Aber die Verdopplungen werden zu Duplikaten, wenn dasselbe Thema an der Opera und der Opéra-Comique behandelt wird, auf der einen Seite im großen Stil, auf der anderen Seite im mittleren Stil: so beim berühmten Fall des Pré aux clercs von Hérold (1832), der vier Jahre vorher durch seine auf den Religionskriegen basierende Handlung die Huguenots von Meyerbeer vorwegnimmt. So ist es auch der Fall bei Masaniello von Michele Enrico Francesco Carafa di Colobrano, der am 27. Dezember 1827 am Théâtre Feydeau (Opéra Comique) zwei Monate vor La Muette de Portici von Auber an der Académie royale de musique entstand. Dasselbe Thema: die neapolitanische Revolte von 1647, dieselben historischen Hauptgestalten: Thomas Aniello, Masaniello genannt, dieselbe Handlungsentwicklung: das Scheitern des Volksführers vor dem Hintergrund des Vesuvausbruchs. Beachten wir einen Größenunterschied, der der Opéra Comique den Vorteil der musikalischen Wahrheit sichern hätte müssen: Der Komponist von Masaniello ist der Neapolitaner Michele Carafa de Colobrano, aus dessen Feder das Erlebte die Feuerwerke des Pittoresken transzendieren hätte müssen.

Carafas „Masianello“/ zeitgenössische Darstellung des Fischeraufstandes in Neapel/ L´oro del popolo

Konspiration und Aufruhr: Man hat diese wichtige Figur der Geschichte der romantischen Opéra comique vergessen. Carafa, dessen Gabriella di Vergy von 1816 dem rossinischen Otello in Neapel die Stirn geboten hat. Das Théâtre Feydeau hielt sich an ihn 1821, weil es seine Musik „italianisieren“ wollte, um der Konkurrenz des Théâtre Italien mit seiner Rossiniwelle entgegen zu treten. Wenn auch die Belcantoattacke mit einer unglücklichen Jeanne d’Arc, die Carafa seinem Lehrer Cherubini gewidmet hat, nicht gegriffen hat, kam der Erfolg 1822 mit Le Solitaire (122 Vorstellungen während der Restaurationszeit), dann mit „Le Valet de chambre“ nach einem Libretto von Scribe. Zwei komische Opern und zwei Misserfolge später übernahm Carafa das Libretto des Vaudevillisten Moreau und Lafortelle Masaniello ou le Pêcheur napolitain, ein durch sein historisches und politisches Thema, seine Länge ( 4 Akte) durch sein lokales neapolitanisches Kolorit, für die Opéra Comique gefährliches Werk und den eruptiven Höhepunkt der Handlungsentwicklung  für die Opéra Comique gefährliches Werk, auch durch die Werkbezeichnung „historisches Drama“ (Barba, 1828).

Hat sich das Théâtre Feydeau entschlossen, direkt in Konkurrenz mit der Opéra zu treten und sich mit seinem großen „Opernbruder“ auf einen Wettlauf einzulassen, indem es seinen Masaniello unmittelbar vor dem Werk von Scribe und Auber auf die Bühne brachte? Hat es sich nicht auch auf einen Kampf mit dem Odéon eingelassen, das die Musik von Carafa wegführte, indem es seine milanesische Oper I due Figaro auf Französisch adaptierte? Die Presse von 1827 delektiert sich an diesem Konspirationsklima und nimmt die Kulissengespräche ebenso wie die Publikumsgespräche auf: „Die Kulturwelt hat sich in eine Arena verwandelt, wo unterhalb der Gladiatoren eine ganz spezielle Spezies kämpft und deren Hauptverdienst in ihrer Geschicklichkeit besteht, sich dessen zu bemächtigen, was die Beute der anderen ist“, schreibt der „Courrier des théâtres“ anlässlich der „zwei Masaniellos“ (siehe 12. Oktober 1827). Wer hat wen kopiert? „Wir nicht“, protestieren die beiden Librettisten der Operand Comique am nächsten Tag in derselben Zeitung: Zuerst einmal sei das Thema historisch und gehöre daher allen, weiters wurde unser Drama ab 1825 geschrieben, so behaupten sie und versuchen, öffentlich zu suggerieren, dass Eugène Scribe und Germain Delavigne die wahren Plagiateure seien. In Wahrheit stützen sich alle auf dieselben Quellen: Le Duc de Guise à Naples, ou Mémoires sur les révolutions de ce royaume en 1647 et 1648, herausgegeben vom Grafen von Pastoret im Jahr 1824. Ein musikalisches Drama Masaniello, the fisherman of Naples wurde übrigens von Henry Bishop 1825 in London herausgebracht.

Carafas „Masaniello„: Zoé Prevost war die erste weibliche Hauptdarstelling der Uraufführung/ Stich von Henri Grévedon/ BNF

Die vier Libretisten schlachten eine Melodie der Zeit aus, die politisch dem Liberalismus angehört. Das ultraextreme Ministerium von Villèle wird immer mehr angefeindet. Sie wird flüsternd nach dem Sieg der Liberalen in der Deputiertenkammer verbreitet. Zur gleichen Zeit sind auf den Bühnen die „revolutionären“ Themen in Mode: die Verteidigung der Bürgerrechte und der Kampf gegen den Unterdrücker werden gefeiert, 1827 und vor allem 1828 in Guillaume Tell von Puxérécourt am Théâtre de la Gaîté, in Les Trois Cantons am Vaudeville, in „Guillaume Tell“ von Pichat am Théâtre-Français, im „Guillaume Tell“ von Grétry, der von der Opéra Comique wieder aufgenommen wurde, vor dem von Rossini, 1829 an der Opéra. In dieser Vervielfachung der  Guillaume Tell (der von der Abschwächung der Zensur unter dem Ministerium Martignac profitiert) findet sich eine teilweise Antwort auf das Geheimnis des Zwillingswesens des Masaniello: Das Theaterleben, das noch keine genauen Kriterien der künstlerischen Urheberschaft kennt, speist sich von gängigen Themen und nährt so, im Feuer des kulturellen Augenblicks, die Phantasie des Zusehers.

Carafas „Masaniello„: Louis-Auguste Hué war der erste Masianello/ BNF

Ein Vesuv verschattet den anderen. Im Übrigen unterscheidet sich, wenn man die beiden Libretto genau liest, der Masaniello von Moreau und Lafortelle klar von der Muette de Portici von Scribe und G. Delavigne: Der Vergleich ist faszinierend, so sehr erlaubt er, das Genie von Scribe gegenüber den beiden Herstellern am Théâtre Feydeau zu erkennen. Die letzteren malen das historische Material in den  engen Formen der Opéra-Comique, was ihre  Vorgehensweise und ihre Couplets betrifft. Scribe hingegen nutzt nicht nur die dramatischen Potentiale, sondern auch die visuellen, klanglichen und spektakulären des Themas aus, indem er zusätzlich die Titelfigur der Stummen erfindet, eine Gelegenheit, Pantomime und Tanz in das dramatische und musikalische Geschehen einzubinden. Dadurch verwischt er die hervorstechenden Konturen eines gewagten politischen Themas, indem er, da wo die Librettisten Carafas vervielfachen,  den Diskurs, entsprechend den Zensurwünschen, implizit hält mit Anspielungen auf die heilige Vorsehung, die die Volksrevolten bestrafen kann. Dieser dramaturgische und ideologische Unterschied wurde von den Zensoren erkannt, die die ungeschickte Freizügigkeit, mit  der das Libretto der Opéra Comique das Thema der neapolitanischen Revolte behandelt, der hohen Geschicklichkeit Scribes gegenüberstellen, mit der er jede direkte Anspielung vermeidet. „Die Ruhe des Staates hängst so sehr davon ab, wie unsere Aufgaben mit Vertrauen und Unterwerfung erfüllt werden, folglich soll nichts an diesem Thema die Geister aufwiegeln, man müsse einen solchen Gegenstand sehr vorsichtig behandeln und am Theater sei es noch besser, an nichts zu rühren“, kommentiert die Zensur angesichts von „Masaniello“. Sie erkennt aber dennoch den belehrenden Charakter des Werks von Moreau und Lafortelle: der Tod des Helden am Schluss (in einer Opéra Comique unüblich), der durch die Menge der Revoltierenden getötet wird, stellt ein Beispiel der konservativen Tugenden dar. Das bietet einen Beweis der Gefahr der Revolutionen und des Nachteils, den es mit sich bringt, aus seiner Sphäre herauszutreten“, beruhigt sich der Zensor. Er erlaubt die Muette der Opéra Comique unter der Bedingung, dass Formulierungen wie „zu den Waffen greifen“ oder, schlimmer, „diese Schurken von Steuereintreibern“ gestrichen werden. Die Muette erscheint den Zensoren sogar inoffensiv dank ihrer Titelgestalt: Diese wendet die Handlung vom Politischen mehr in die intime Sphäre. „Die Gefahr für die legitime Autorität, der Volksaufruhr, die Schreie der Revolution, alles verliert sich und wird vergessen beziehungsweise vermischt es sich mit dem Interesse an einer Person. Diese Person ist eine Frau und sie ist stumm. (…) Sie ist es, auf die alle Blicke gerichtet sind, die alle Herzen berührt. Es gibt kaum etwas, das die Gefahren des Themas geschickter umgeht.“ Die Zensoren waren blind dafür, dass, wie man weiß, es Aubers Muette de Portici ist, die durch die heimtückischen Rhythmen ihrer Barcarolen und den kriegerischen Elan ihres „Amour sacré de la patrie“ die belgische Revolution von 1830 auslösen wird.

Carafas „Masaniello“ der angeblich originale Masianello auf einem Bild von Onofrio Palumbo, 1647/ Wikipedia

Die am Rande der künstlerischen Geschichte verbliebene Opéra-Comique von Carafa hatte zweifellos auch andere Schwächen als nur das Libretto. Die Partitur des Neapolitaners erscheint rau in ihren Rhythmen, eher knapp in ihren Melodien, zu verhalten in ihrem dramatischen Elan durch die Aufeinanderfolge geschlossener Nummern, auch wenn einzelne herausgenommene Stücke einen echten kommerziellen Erfolg hatten, wie die Couplets von Notre-Dame du Mont Carmel. Die Regie der Opéra vom Regisseur Solomé, die von Ciceri nach einer Reise nach Neapel gemalten Dekorationen  lassen die Aufführung in visueller Bescheidenheit verharren trotz der für den Vesuv angewandten technischen Verbesserungen, mit denen man dem „Konkurrenz-Vesuv“ gleichkommen wollte. Es ist auch anzumerken, dass es der Titelrolle im Gegensatz zur Interpretation von Adolphe Nourrit an Eklat, Biss und Kraft gefehlt hat. Der leichte Tenor Ponchard in der Rolle des neapolitanischen Fischers hat nur ein kleines Stimmchen, beklagt die Presse. Die „Muette de Portici“ hat „Masaniello“ verdrängt. Die Oper von Carafa hatte allerdings mehr als 60 Aufführungen in zwei Jahren, ein heftiger, aber vergänglicher Erfolg aufgrund der Ähnlichkeiten der beiden Werke. Der Titel verschwindet rasch von den Ankündigungen nach 1829, während das Werk von Scribe und Auber die neue Form entwickelt, die unter der Julirevolution eine glänzende Zukunft hat: die große romantische historische Oper, die bald darauf Rossini (Guillaume Tell), dann Halévy (La Juive) und Meyerbeer (Les Huguenots) zur Vollendung bringen werden. Die ästhetische Revolution an der Opéra Comique ist unter der Restauration nicht Masaniello, es ist die Dame blanche von Scribe und Boieldieu,die Matrix der Meisterwerke des „mittleren Genres“ des 19. Jahrhunderts.

Der Autor und Musikwissenschaftlr Olivier Bara/ institution-ville-geneve

Ein kleiner Trost für Carafa: Sein Masaniello hatte in der Provinz eine ansehnliche Karriere, wobei er von seinen kleinen Proportionen und der Einfachheit, mit der er in Szene gesetzt werden konnte, profitierte: wenige Statisten, ein weniger „anspruchsvoller“ Vesuv und keine Tanzrolle. Masaniello oder die Muette der Armen? Olivier Bara/ Übersetzung Ingrid Englitsch

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Wir danken dem Autor Olivier Bara , der Professor und Musikwissenschaftler an der Universität Lyon ist, für die sehr freundliche Genehmigung zum „Nachdruck“ seines Artikels aus dem Programmheft zu Aubers Muette de Portici an der Pariser Opera-Comique 2012. 

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Evvivano i Litiganti

 

Im Jahre 1834 erinnerte sich der über 70jährige Luigi Cherubini an die frühen Ereignisse seines Musikerlebens, die er in die Feder eines Sekretärs diktierte. In der daraus resultierenden Notice biographique würdigte der Greis einen heutzutage fast vergessenen Komponisten, der sich seiner angenommen hatte: „Im Jahre 1778 verlieh Leopold II., der Großherzog der Toskana, (…) Cherubini ein Stipendium, das dem jungen Komponisten erlaubte, sich nach Bologna zu begeben, wo der berühmte Sarti weilte, unter dem er seine Ausbildung verfeinern wollte. Sarti freundete sich mit seinem Schüler an und gab ihm hervorragende Ratschläge, die ihn in der Wissenschaft des Kontrapunkts und in der Ästhetik (style idéal) stärker machten“ (meine Übersetzung). Cherubini berichtet darüber hinaus, dass Giuseppe Sarti (1729-1802) ihn auf Reise mitnahm, und ihm sogar erlaubte, Stücke für die Nebenrollen zu verfassen, um ihn üben zu lassen oder wenn er wegen Termindrucks eine Aushilfe brauchte. Diese Eindrücke müssen fürwahr prägend gewesen sein, wenn Cherubini sich veranlasst fühlte, mehr als 50 Jahre später herzliche Worte für seinen Lehrer zu finden. Daran, dass Sartis Musik, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts überall in Europa gespielt wurde, nach und nach vergessen wurde, konnte auch er nichts ändern. Mozart und Da Ponte auch nicht: in der Schlussszene des Don Giovanni spielen nämlich die „amici cari“, die Don Giovanni zur Erhöhung seiner Tafelfreuden eingeladen hat, auch eine Melodie aus Sartis Dramma giocoso Fra i due litiganti il terzo gode („Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte“), das 1782 an der Scala uraufgeführt worden war und sich auch im Wien des Jahres 1787 einer großen Beliebtheit erfreute. Das Zitat in Mozarts Oper sorgte dafür, dass zumindest der Name von Sarti nicht ganz aus dem Horizont der Musikliebhaber verschwand. Die Bühne eroberten die Opern von Giuseppe Sarti jedoch nicht zurück, und in den letzten 30 Jahren bleib es bei mehr oder weniger überzeugenden Einzelversuchen, etwa für Giulio Sabino (Ravenna 1999), Enea nel Lazio (St. Petersburg 2001) sowie Armida e Rinaldo (unter anderem in Sartis Geburtsort Faenza, 2012). Hinzu kamen mehrere wagemutige Produktionen von universitären und freien Operngruppen, die keine Spuren in der Rezeption seiner Werke hinterlassen haben. Dabei schätzten Publikum und potente Geldgeber der Zeit Giuseppe Sarti sehr hoch. Er war Kapellmeister in Kopenhagen und Sankt Petersburg, wohin ihn Katharina II. 1784 berufen hatte (Sarti starb 1802 in Berlin auf der Rückreise nach Italien, nachdem er der Kaiserin als Opern- und Kirchenkomponist, u. a. auch von Stücken für die orthodoxe Liturgie, getreu gedient hatte). Trotz des großen Ruhms unter den Zeitgenossen fehlt es nach wie vor an einer umfassenden modernen Monographie zu diesem bedeutenden Komponisten, auch wenn er immer wieder ins Blickfeld der Forschung geraten ist. Man erinnert sich etwa an Kongressakten von 1986 und an das Buch von Roland Pfeiffer zu Sartis opere buffe von 2007.

Es ist dementsprechend sehr zu begrüßen, dass die Edition Argus in ihrer Reihe „Forum Musikwissenschaft“ einen weiteren, elegant gestalteten Sammelband zu Sarti veröffentlicht, der Beiträge versammelt, die auf Tagungen aus den Jahren 2014 und 2015 gehalten wurden. Es sind 21 Aufsätze auf Deutsch und Englisch, in denen anerkannte Spezialisten und Nachwuchskräfte (unter anderem Martina Grempler, Roland Pfeiffer, Christin Heitmann und Dörte Schmidt) jeweils einen Aspekt von Sartis Schaffen, manchmal auch ein einziges Werk (etwa Le gelosie villane, Fra i due litiganti il terzo gode und Giulio Sabino) zum Objekt ihrer gelehrten Betrachtungen machen. Besonders interessant wirken die Ausführungen zu Sartis Beziehung zur ambrosianischen Tradition (Mariateresa Dellaborra; Sarti war von 1779 bis 1784 Domkapellmeister in Mailand) oder zu seinem langen Aufenthalt in Russland (Marina Ritzarev, Bella Brover-Lubovsky). Der Band wird durch drei Beiträge zu digitalen Editionen abgerundet (Joachim Veit, Johannes Kepper und Kristin Herold).

Man vermisst schmerzlich ein Register der Quellen, der Werke und der Namen, was für ein wissenschaftliches Buch eigentlich zur Standardausstattung gehört, zumal in einem Band, der die „Überlieferung“ im Untertitel nennt. Es handelt sich hier trotzdem unmissverständlich um eine Publikation von Fachleuten für Fachleute. Wer sich den gelegentlichen trockenen und beinahe solipsistischen Vortrag einiger dieser Autoren antut, bekommt die seltene Gelegenheit, Informationen aus erster Hand über einen der wichtigsten Komponisten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu gewinnen, und sehnt sich danach, einen der großen Erfolge Sartis einmal wieder in einer würdigen szenischen Produktion erleben zu können. Michele C. Ferrari

 

Giuseppe Sarti. Ästhetik, Rezeption, Überlieferung. Herausgegeben von Christin Heitmann, Dörte Schmidt und Christine Siegert. Schliengen : Edition Argus 2019, 328 Seiten, ISBN 978-3-931264-42-0

Unter Mayas

 

 

Man darf sich nicht von dem düsteren Cover abschrecken lassen. Auch nicht von dem Untertitel Ein kultisches Drama für Tanz, Sologesang und Chor, den der Schönberg-Schüler Egon Wellesz (1885-1974) seinem Werk Die Opferung des Gefangenen gab. Man hört in der auf Capriccio als Ersteinspielung von 1995 vorgelegten CD (C5423) eine höchst originelle, ekstatische, ungemein farbig instrumentierte freitonale Musik, die eine immense Sogkraft und hämmernde Intensität entwickelt und deren motorische Strecken nicht verleugnen, dass sie für Tänzer konzipiert ist. Der österreichisch-britische Komponist, der nach seiner Emigration ab 1938 einen Lehrstuhl in Oxford innehatte und in seiner neuen Heimat als Musikwissenschaftler und Pädagoge hoch geachtet und geehrt wurde – nach dem Zweiten Weltkrieg überhäufte in auch seine Geburtsstadt Wien mit Auszeichnungen – teilt eine ähnliche Biografie mit seinem fünf Jahre jüngeren Landsmann Hans Gál, der in Edinburgh eine neue Wirkungsstätte fand. Wie Wellesz‘ bedeutendstes Bühnenwerk, die 1999 von Gerd Albrecht wiederaufgeführten Bakchantinnen von 1931 – der nicht mit ihm verwandte Marc Albrecht leitete 2003 eine konzertante Aufführung bei den Salzburger Festspielen – ist die Opferung des Gefangenen im Grunde ein Chorwerk, in dem er expressionistische Klanggesten mit sakraler Bedeutungsschwere verband. „Als Vorlage diente Wellesz, der dieses Werk auch und im Besonderen mit dem avantgardistischen Tänzer und Choreographen Kurt Joos entwickelte, ein archaisches Drama der Maya“, in dem Eduard Stucken den Untergang des Aztekenreiches schildert: „Ein Prinz wird nach verlorener Schlacht als Gefangener an den Hof des siegreichen Königs gebracht. Höhnend fragt ihn der Sieger, ob er gekommen sei, die wunderbaren seines Landes zu genießen, seine prächtigen Königsgewänder anzulegen, mit der schönen Prinzessin zu tanzen, oder mit seinen furchtlosen Kriegern den Kriegstanz auszuführen. Im Bewusstsein seines nahen, unabweisbaren Endes fordert der Prinz als dies als Gunst, und in vier großen Tänzen, die das Spiel im Spiel bilden, empfängt er die Früchte, tanzt er in den Königsgewändern und dann mit der Prinzessin und zuletzt mit den Kriegern des Königs. Nach jedem dieser Tänze lässt der Prinz den siegreichen König jedoch verächtlich wissen, dass all das nicht mit seiner Macht konkurrieren können. Ihm ist klar, dass die Stunde des Sterbens da ist. Mit einem fünften Tanz von den Bergen und den Tälern seiner Heimat Abschied nehmend, ergibt er sich sein Schicksal“.

Es ist immer wieder erstaunlich, wie aufregend es in den 1920er Jahren abseits der Metropolen in den Opernhäusern zuging. Die Opferung des Gefangenen kam 1927 in Magdeburg heraus, es dirigierte Eugen Szenkar, der sich sehr für die Musik seiner Zeitgenossen und insbesondere auch Wellesz einsetzte, die Ausstattung stammte von dem stilbildendenden Ausstatter der Berliner Staatsoper Panos Aravantinos. Das Werk ist mehr als eine Fußnote, dennoch blieb die im Wiener Konzerthaus von Friedrich Cerha mit exemplarischem Nachdruck geleitete Aufführung (bereits 1995 erstmals bei Capriccio erschienen)  mit dem vorzüglichen ORF Orchester und dem Wiener Konzertchor folgenlos. Der seinerzeit knapp 30jährige Wolfgang Koch singt den Feldherrn mit der hier angemessenen Stentorstimme. Kraftvoll, wütend und verschwenderisch stellt er seinen Bariton aus. Dagegen kommen der Tenor Robert Brooks und der Bass Ivan Urbas als Schildträger des Prinzen und Ältester des Rates nicht an.  Rolf Fath 

 

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Bühnenwirksam

 

Nicht das rechte Zutrauen in die Bühnenwirksamkeit des allerdings als Oratorium konzipierten Werks von Rossini hatte wohl die holländische Regisseuse Lotte de Beer, als sie 2017 Mosè in Egitto in Bregenz inszenierte, allerdings nicht auf der Seebühne, für die es sicherlich nicht populär genug war. Sie ließ die Oper quasi auf drei Ebenen spielen, zum einen mit dem Sängerensemble, des weiteren auf einer Bühne für die Marionetten der Theatre Company Hotel Modern, die vor allem in den Massenszenen wie die des Durchschreitens des Roten Meeres auf einer Riesenscheibe „aktiv“ wurden, und schließlich mit drei „Technikern“, die in Arbeitskleidung auf der Bühne allerlei richteten, verbesserten und eingriffen, wenn ihnen irgendwas gegen den Strich ging. Die Letzteren allerdings rissen die Zuschauer immer wieder aus der Verzauberung, in die die Sänger das Publikum durch hatten versetzen können. Einen ähnlichen Verfremdungseffekt hatte das zeitweilige Erstarren der Handelnden, und ein Marionetten-Insekt gab zusätzliche Rätsel auf. Ganz klar aber war, dass die kenternden Boote und die im Wasser treibenden Flüchtlinge eine Anspielung auf Zeitereignisse darstellten. Mit wenigen Versatzstücken kam die Bühne von Christof Hetzer aus, der auch für die Kostüme, Weiß für die Ägypter, gemischt lumpig für die Israeliten, verantwortlich war.

Am Pult des „Hausorchesters“ der Bregenzer Festspiele, der Wiener Symphoniker, stand der mit dem Rossini-Repertoire höchst vertraute Enrique Mazzola, den ebenfalls tüchtigen Prague Philharmonic Choir leitete Lukás Vasilek, beide leisteten pesarowürdige Arbeit.

Nicht ganz so gut war es um die Solisten bestellt. Für die Titelpartie brachte Goran Juroc zwar eine imposante Erscheinung mit, auch einen warm timbrierten Bass mit guter Tiefe, der sich betont legatofreundlich gab, im Verlauf der Vorstellung aber etwas an Kraft einbüßte und zudem eine Schwäche bei den hohen Tönen offenbarte. Sein Gegenspieler war der Faraone von Andrew Foster-Williams mit schlankerer, aber dunklerer Stimme exakter Konturen, der machtvoll auftrumpfen konnte. Mandy Fredrich war die Amaltea mit ebenmäßig geführter Stimme, die die Ensembles überstrahlen konnte, die schöne, anspruchsvolle Partie der Elcia wurde von Clarissa Costanzo mit feinem lyrischem Sopran gestaltet, von dem sich im Duett der beiden die frische Stimme von Dara Savinova als Amenofi abhob. Einen bärbeißigen Osiride sang Sunnyboy Dladla mit durchdringendem, aber nicht besonders stilsicherem Tenor, der streckenweise überfordert wirkte, auch wenn er immer wieder mit sicheren Höhen erfreute. Als Tenorino offenbarte sich der Aronne von Matteo Macchioni, in der Rolle des Aronne, einen charaktergerechten Charaktertenor hatte Taylan Reinhard für den Mambre. Das Stück verdient wegen seiner mitreißenden Melodien mehr Aufmerksamkeit und vor allem zahlreichere Aufführungen (C-Major 744808). Ingrid Wanja    

 

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Wie aktuell!

 

Es geht überwältigenden los: mit Gongschlägen, Rasseln, Ganztonskalen, federnden Sechzehntel-Sprungfedern und brillant eingeworfenen Hornpassagen à la Richard Strauss. Das Münchner Rundfunkorchester unter Ulf Schirmer spielt diesen Orientalismus-Traum von Leo Fall mit einer gehörigen Portion Bombast; und die wirkt hier klanglich opulenter als alle früheren Aufnahmen der Rose von Stambul, wo das Orchester nie so durchhörbar von der Tontechnik eingefangen wurde. Chapeau!

Und gleich in der ersten Szene dann, in der die weibliche Hauptfigur Kondja Gül, Tochter des Kamek Pascha, in ihren Frauengemächern in Istanbul erwacht, fallen die Sätze, die daran erinnern, wie aktuell diese Operette von 1916 ist: Denn in ihrem Introduktionssolo beklagt Kondja, dass sie einst „ein liebes kleines braunes Mädchen“ gewesen sei, dass „auf Bälle durfte“ und „Feste, Tennis und Flirt“ genoss. Doch dann hieß es eines Tages plötzlich: „Du trägst jetzt den Schleier!“ („Ich war nicht mehr als eine grau verschleierte Puppe“). Kondja begehrt auf gegen diese Verschleierung aus „Sitte und Tradition“, die „der Prophet“ verordnet hat. Und als ihre Freundin Midili Hanum erscheint und im Two-Step davon singt, dass in Paris die Frauen in Cafés flirten und sich nicht im Haus verbergen müssen, weil sie „frei von unserer konservativen Tradition“ den Frühling genießen können, da schließen sich alle diese jungen türkisch-muslimischen Frauen (im Chor) zusammen zu einem mitreißenden Protestmarsch, der in der Zeile mündet: „Von Reformen, ganz enormen, träumen wir am Bosporus!“ Sie alle fordern „Fort der Schleier!“ und heraus „aus dem Dunkel“.

Kemal Atatürk setzte das dann alles tatsächlich in den 1920er-Jahren in der Türkei um und modernisierte das Land. Bis Erdogan kam und Jahrzehnte später (erfolgreich) versuchte, diese Bewegung wieder umzudrehen. Seither wird über die Religion und Islam viel gestritten und diskutiert, nicht nur in der Türkei. 

Zur Erinnerung: Als 2019 das Frankfurter Museum für Angewandte Kunst die Ausstellung „Contemporary Muslim Fashions“ zeigte, worin es u. a. um Tschadors, Niqabs, Burkas, Schleier und Kopftücher ging, entbrannte wütender Protest. Der Vorwurf lautete, es würde gezeigt, dass islamische Frauen die Verhüllung nicht als freiwilliges religiöses Statement tragen würden, stattdessen seien vermeintlich nur westliche stereotype Vorurteile zur Unterdrückung von Frauen reproduziert worden. Weswegen sich in sozialen Medien Shit-Stürme erhoben, die die Schließung der Ausstellung forderten, die Absetzung des Museumsdirektors usw. Anlässlich einer im Rahmen der Ausstellung geplanten Konferenz, wo über islamische Mode inkl. Verschleierung diskutiert werden sollte, gab es wiederum massiven Gegenwind zur Frage: Wer darf sich eigentlich zu diesem Thema äußern?

Was das mit der Rose von Stambul und dieser neuen cpo-Aufnahme aus dem Prinzregententheater? Ein befreundeter Regisseur hat in den letzten Jahren wiederholt versucht, an einem westdeutschen Theater die Rose von Stambul zu inszenieren. Doch die Intendanz und Dramaturgie erklärten ihm, die Geschichte im Stück „sei nicht seine“, er sei nicht „berechtigt“ sie auf die Bühne zu bringen, weil die Themen „anderen gehörten“. Im Klartext: türkischen bzw. muslimischen Frauen. Er als weißer, nicht-muslimischer deutscher Mann müsse sich also von dieser Operette fernhalten! (Vermutlich hatte die Intendanz Sorge vor Empörungswellen, wie sie über das Museum in Frankfurt schwappten.)

Solche Identitätspolitikdiskussionen sind auf allen Ebenen sichtbar, auch in der Oper(etten)nwelt: Wer „darf“ Aida und Otello singen? Ist Der Mikado „rassistisch“ oder Die Geisha? Werden darin nur überholte und „verletzende“ ethnische Stereotype wiederholt? Muss das alles weg? Oder zumindest dekonstruiert und problematisiert werden?

Beim Münchner Rundfunkorchester ist man von solchen Fragen scheinbar unberührt. Jedenfalls kann man konstatieren, dass Dirigent Ulf Schirmer ein weißer nicht-muslimischer Mann ist und sich bei seiner Besetzung der „türkischen“ Rollen niemand findet, der erkennbar etwas mit der Türkei oder dem Islam zu tun hat: Matthias Klink singt den Achmed Bey, Kristiane Kaiser die Kondja Gül, Magdalena Hinterdobler die Midili, Eleonora Vacchi die Bül-Bül, Christoph Hartkopf die Exzellenz Kamek Pascha (Vater von Kondja). Und dann wäre da noch Hanne Weber als Djamileh. Könnte man sagen, Die Rose von Stambul sei „ihre“ Geschichte? Sind sie „berechtigt“ sie zu erzählen? Und wenn sie sie schon erzählen, haben sie dann etwas zu sagen zu all den explosiven Themen?

Im lesenswerten Essay vom Leo-Fall-Biografen Stefan Frey im Booklet ist nirgends auch nur in einem Nebensatz die Rede davon, was für Debatten in den letzten Jahren zum Thema Verschleierung geführt wurden. Und dann geht’s im Stück ja auch darum, dass Kondja von ihrem Vater zwangsverheiratet wird mit einem türkischen Mann, den sie nicht kennt und noch nie gesehen hat. Dass beispielsweise 2019 Sandra Maischberger den Film Nur eine Frau produziert hat, bleibt unerwähnt, ein Film über den sogenannten „Ehrenmord“ an der Berlinerin Hatun Sürücü, die von einem ihrer Brüder getötet wurde, weil sie den von ihrer Familie ausgewählten Ehemann verließ, abends tanzen ging, das Kopftuch ablegte und sich einen Liebhaber nahm. Die ARD strahlte den erschütternden Film kürzlich aus.

Wäre es bei so viel Zeitbezug nicht mindestens angebracht, den Text von den „Reformen, ganz enormen“ von denen die Protagonistinnen der Rose von Stambul träumen so klar und explosiv rüberzubringen, wie er von Julius Brammer und Alfred Grünwald geschrieben bzw. von Leo Fall komponiert wurde? Oder soll die maximale Textundeutlichkeit und sprachliche Apathie von Kristiane Kaiser (Kondja) und Magdalena Hinterdobler (Midili) die Spuren verwischen, damit niemand mitbekommt, dass es hier um aufregende Dinge geht, die viele Menschen im Jahr 2020 immer noch bewegen?

Beide Damen singen extrem gepflegt, sind angenehm anzuhören, aber sie sind niemals die aufmüpfigen Charaktere, die sie laut Textbuch sein sollen. Es gibt von der Berliner Erstbesetzung 1917 eine Truesound-Transfer-CD: Wenn man hört, mit welch unendlichen Nuancen und mit welcher Kessheit Fritzi Massary da als Kondja vom „Glück nach der Mode“ singt, von dem sie träumt (nach westlichem Vorbild, statt nach islamischer Tradition), oder wenn man hört, wie quietschend-rebellisch Molly Wessely als Midili zu ihrem selbstgewählten westlichen Liebhaber sagt „Fridolin, ach wie dein Schnurrbart sticht“, als sie ihn entgegen „Anstand und Sitte“ küsst, da spürt man, was dieser Neuaufnahme gründlich fehlt. Nämlich ein Gespür dafür, dass es hier nicht nur um „gehobene“ Wunschkonzertmusik geht.

Die Wunschkonzertnummer aller Wunschkonzertträume ist natürlich das Duett „Ein Walzer muss es sein“: Vergleicht man die 1917 demonstrierte Tempoflexibilität mit der neuen cpo-Aufnahme, auch die Leichtigkeit, mit der sich Massary und Albert Kutzner in einem vollkommenen Rausch hineinsteigern, dann merkt man, wie pedantisch Matthias Klink und Kristiane Kaiser unter Ulf Schirmer diese Nummer gestalten – obwohl in München die vollständige Spielszene aufgenommen wurde, in der Achmed seiner Verlobten Kondja das Walzertanzen beibringt, bevor er sie in der Hochzeitsnacht vergewaltigen will (oder sagen wir: gegen ihren Willen die Ehe gewaltsam konsumieren möchte). Womit wir schon beim nächsten Aufregerthema wären.

Fritzi Massary sang damals mit durchaus feministischem Furor im Kostüm einer Orientalin gegen solche Zustände an, die auch in Deutschand zu Zeiten des Kaiserreichs herrschten. Noch 1966 urteilte der 4. Zivilsenat am Bundesgerichtshof: „Die Frau genügt ihren ehelichen Pflichten nicht schon damit, dass sie die Beiwohnung teilnahmslos geschehen lässt. Wenn es ihr infolge ihrer Veranlagung oder aus anderen Gründen, zu denen die Unwissenheit der Eheleute gehören kann, versagt bleibt, im ehelichen Verkehr Befriedigung zu finden, so fordert die Ehe von ihr doch eine Gewährung in ehelicher Zuneigung und Opferbereitschaft und verbietet es, Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen.“ Wenn eine Frau sich in Deutschland an die Polizei wandte, um eine Vergewaltigung anzuzeigen, hatte sie zuerst eine Frage zu beantworten: In welchem Verhältnis stehen Sie zum Täter? – Wir sind verheiratet. – Na, dann gehen Sie nach Hause. Daran änderte sich erst 1997 (!) etwas.

Matthias Klink tritt in die Fußstapfen von vielen berühmten Vorgängern. An Hubert Marischka als Uraufführungssänger 1916 wird sich vermutlich kaum jemand erinnern (es sind keine Aufnahmen von ihm überliefert, nur Fotos in Atatürk-Outfit), aber an Rudolf Schock und Fritz Wunderlich muss man schon denken, wenn man die beiden berühmtesten Tenorschlager dieser Operette hört: den betörenden Walzer „O Rose von Stambul nur du allein, sollst meine Scheherazade sein“ und die schwungvoll aufblühende „Serenade“. Bei beiden breitet das Münchner Rundfunkorchester einen Klangteppich aus, der atemberaubend ist. Und Klink beschreitet ihn vorsichtig, mit angenehmen Pianoeffekten. Aber ohne das Draufgängertum Schocks und ohne den sengenden Glanz Wunderlichs. Es hätte Klink gut getan, sich Albert Kutzner von 1917 anzuhören und sich von ihm einige Gestaltungsdetails abzulauschen, mit denen er eine interessante Alternative zu Schock/Wunderlich hätte darstellen können. Vielleicht wäre es auch Aufgabe des Dirigenten, so etwas mit seinen Solisten zu erarbeiten? (Nur so als Anregung.)

Andreas Winkler singt einen braven Buffo, bei dem nichts grotesk quiekt (wie bei Eugen Rex 1917). Und wenn Winkler im zweiten Akt als Frau verkleidet in den Harem eindringt und singt „Ich bin die Lilly vom Ballett und finde alle älteren Herrn so nett“, dann müsste das doch deutlich amüsanter sein als hier. In Freys Fall-Biografie sieht man ein Foto von Ernst Tautenhayn als Lilly in Wien 1916, und man merkt allein an der Pose, dem Dekolleté und dem Grinsen, das hier mehr drin steckt an Wirkung. Besonders in den im Falsett gesungenen Refrain-Passagen.

Warum man schließlich in München für die Sprechrolle des Kamek Pascha den Bariton Christof Hartkopf gewählt hat, der viel zu jung klingt und vor allem viel zu charakterlos (in der Sprechstimme), bleibt ein Rätsel. Und als reimender Schweizer Hotelangestellter (im 3. Akt) wirkt Michael Glantschnig in einer weiteren Sprechrolle wie eine Notlösung, nicht wie ein komisches Elementarereignis. Hat der Bayerische Rundfunk keine guten Sprecher mit Schwizerdütsch-Talent?

Auf der neuen Doppel-CD gibt’s genug Dialoge, um die Handlung detailliert verfolgen zu können, auch wenn sie wenig theatralisch vorgetragen werden. Immerhin lockern Live-Lacher des Publikums die Sterilität der Dialogszenen ab und zu auf (Dialogregie: Ralf Eger).

Von der Klangqualität ist diese Neuaufnahme jener von Werner Schmidt-Boelke dirigierten von 1966 weit überlegen, obwohl Elfie Mayerhofer als Kondja und Rudolf Christ als Achmed durchaus reizvoll sind. Die Gesamtaufnahme unter Franz Marszalek hat Fritz Wunderlich als Achmed und Gretel Hartung als Kondja. Ein wichtiges Zeitdokument, aber natürlich auch meilenweit entfernt von Massary-Tönen, von denen Oscar Bie im Berliner Börsen-Courier 1917 schrieb: „Wie sie dem Geliebten sich weigert, wie sie am Walzer erwacht, wie sie mit den Kindern wiesenthalhaft (aber viel besser) tändelt, wie sie Lebensfreude in zurückhaltender Lust ausstreut, das sind Momente unvergesslicher Gestaltungskunst.“

Um Die Rose von Stambul ohne „unvergessliche Gestaltungskunst“ kennenzulernen, ist diese neue cpo-Ausgabe perfekt. Dass Ulf Schirmer sich mit den Mitteln von BR Klassik und des Münchner Rundfunkorchesters so gar nicht um „Gestaltung“ schert in seiner Leo-Fall-Konzertreihe, kann man tragisch finden. Denn so schnell wird es sicher keine Neuaufnahme des Stücks geben, mit einem derart grandiosen Orchester. Kevin Clarke ǀ Operetta Research Center

 

Donizettis“L’Ange de Nisida“

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Lange war der Donizettis Ange de Nisida so etwas wie Das Phantom der Oper. Man ahnte, dass es in irgendeiner Form existierte, doch keiner hat es je gesehen Nun erblickt der L’Ange de Nisida, Gaetano Donizettis für das Théâtre de la Renaissance 1839 geschriebene  Oper, beim Donizetti Festival in Bergamo 2019 erstmals nach 180 Jahren das Licht der Bühne und n un bei Dynamic als DVD (Bluray 57848, leider ohne Libretto, für solche, die von Untertiteln iriitiert sind wäre ein Libretto in der Hand eine Hilfe). 97% der Oper konnte Candida Mantica, die die Edizione besorgte, im Lauf ihrer zehnjährigen, von der handschriftlichen Partitur in der Bibliothèque Nationale de France und einer Arbeitsausgabe des Librettos aus der Hand von Gustave Vaëz in den Archives Nationales de Paris ausgehenden Recherche aufspüren. Doch eben nicht alles. So passte es, dass sich die Festivalleitung entschloss, das unvollständige Werk in dem immer noch unvollständigen, seit Februar 2018 als große Baustelle befindlichen Teatro Donizetti zu spielen und den Spielort, der für 18 Millionen Euro – so war die Planung vor Corona – bis im Herbst 2020 rekonstruiert, erweitert und technisch auf den neusten Stand gebracht werden soll, als Cantiere del Teatro Donietti auszuweisen, was so viel wie „Baustelle“ heißt und an Henzes Cantiere Internazionale d’Arte in Montepulciano denken lässt. Auf der Baustelle wurde also eine Oper gespielt, die bis vor Kurzem noch selbst eine Baustelle war und erst 2018 in London konzertant aufgeführt und von Opera Rara mitgeschnitten wurde. Die Story der Wiederentdeckung wurde in operalounge.de umfangreich geschildert:

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Bergamo Donizetti Festival 2019: „L’Ange de Nisida“/ Szene/ Foto Walter Vitale

Festzuhalten ist nochmals, dass es sich bei L’Ange de Nisida um keine Vorstudie zu La Favorite handelt, sondern – wie jetzt eindrucksvoll in der dritten und letzten Aufführung am 21. November zu erleben war – um ein vollgültiges Werk, das eine eigene Struktur und vor allem Atmosphäre besitzt und mit den historischen Gegebenheiten des Theaters, für das es geschrieben wurde, verknüpft ist. Das Théâtre de la Renaissance besaß ein eigenes künstlerisches Profil, wie es den Pariser Theatern durch Dekrete Napoleons vorgeben war – also französisch- oder italienischsprachige Werke heiteren oder ernsten Zuschnitts, mit oder ohne Sprechtexte – und war bestimmt, sogenannte opéra de genre in zwei Akten, ohne gesprochenen Dialog und in der Manier der italienischen Oper zu spielen. Eine Definition, die einigen Spielraum zuließ. Auf jeden Fall sollten es keine grand opéras und keine opéra comiques mit gesprochenen Dialogen sein und durften dem Théâtre Italien nicht ins Gehege komme. Der große Erfolg der französischen Lucie de Lammermoor brachte Donizetti zwei weitere Aufträge für das Théâtre de la Renaissance ein, darunter L’ange de Nisida mit einem Textbuch von Gustave Vaëz und Alphonse Roger. L’ange war am 27. Dezember 1839 fertig gestellt und wurde im Januar 1840 der Zensur vorgelegt. Dann begannen die Proben, die nach dem Bankrott des Theaters im Mai 1840 abgebrochen wurden mussten. Man könnte sagen, dass sei nicht so schlimm gewesen, hatte doch Donizetti für L’ange offenbar auf vorhandenes, um 1834 entstandenes Material für eine nie vollendete Adelaide zurückgegriffen und seine Librettisten gebeten, ihre Verse der Musik anzupassen. Das Libretto der Adelaide ist unbekannt, doch Donizettis Korrespondenz lässt vermuten, so Mantica, dass zu den Vorlagen Claudine de Tencins Les mémoires du Comte de Comminge und das viele Librettisten beeinflussende Drama Les amants malhereux ou Le Comte de Comminge von Baculard d’Arnaud gehören. Mantica nennt L’ange, der unter der neutralen Bezeichnung opéra en quatre parties angekündigt wurde, folglich eine hybride Oper aus Traditionen des französischen Dramas des genre sombre und seiner italienischen Opernadaptionen mit Spuren der opera semiseria und des französischen romantischen Dramas wie Hugos Marion Delorme, in dem es eine ähnliche Figur wie den Bassbuffo Don Gaspar gibt. Nach dem Abbruch der Proben schien es aussichtslos, die Oper, die aufgrund ihrer Anlage für keine der Pariser Bühne in Frage kam, zu recyclen. In Italien hätte die Zensur Donizetti ein Strich durch das Libretto gemacht. Die Geschichte des Königs von Neapel und seiner leidenschaftlichen Beziehung zu einer ihm anvertrauten Waise, die er mit einem jungen, ihm zu Dank verpflichteten Soldaten vermählt, um dem Bann der Kirche zu entgehen – das ging gar nicht. Also musste eine komplette Umarbeitung her, wie es Donizetti bereits mit der Adelaide gemacht hatte. Das aber wäre die Geschichte der Favorite.

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L’Ange de Nisida spielt 1470 in Neapel und auf der kleinen vorgelagerten Insel Nisida, die für den König zu einer Liebesinsel wurde. Die Comtesse Sylvia de Linarès ist des Königs Objekt der Begierde. Leone de Casaldi ist ein einfacher Soldat, der sich in eine unbekannte Fremde verliebt. Erst nachdem er erkennt, die Mätresse des Königs geheiratet zu haben und deshalb glauben muss, Sylvia habe ihn bewusst betrogen und in die schmachvolle Heirat mit ihm eingewilligt, entscheidet er sich fürs Kloster. Wir erkennen also in L’ange zumindest in Teilen die Vorlage zur Favorite.

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Ganz und gar eigen ist Don Gaspar, der Gefolgsmann des Königs und Helfer der Verliebten, eine arglos, heiter gelöste Figur mit den typischen Plapperfiguren des Buffos. Roberto Lorenzi singt den Kanzler mit der wendigen Belcore-Hurtigkeit des erfahrenen Parlando-Komikers und hinreichen profunder Bass-Seriosität, so dass diese Figur in einer interessanten Schwebelage gehalten wurde. Anderes als London spielte Bergamo nur originalen Donizetti, wie ihn Mantica auf 470 Seiten vorgefunden hatte, verzichtete auf die Zutaten von Martin Fitzpatrick, also die wenigen fehlenden Rezitative sowie das Prélude und führte stattdessen mit dem instrumentalen Andante, welches den Auftritt Leones begleitet, direkt in die Oper ein. Der südkoreanische Tenor Konu Kim ist mit seinem strahlend durchhaltestarken, schlank emphatischen und durchaus schön gefärbten und stilsicher geführten Tenor die Entdeckung des Abends. Kim hat etwas feurig Draufgängerisches, das dem Leone de Casaldi gut ansteht, leider wird er von Francesco Michelis Regie teilweise dazu angehalten ein tölpelhaftes, einfältiges Landei zu geben. Im Lauf des Abends verliert Kim etwas von seiner stimmlichen Eleganz, wird sein Tenor im Forte etwas plärrend. Die junge Russin Lidia Fridman, die im Sommer in Martina Franca erfolgreich in Manfroces Ecuba einsprang, erzielt einen großen Erfolg als Sylvia. Ihr Sopran schmeichelt nicht, der Ton ist ein wenig opak und in der Höhe fest, doch sie verfügt über schillernde Farben und überzeugt zunehmend durch Ausdruck und gestalterische Dichte, so in ihrer Arie im dritten Akt, für deren fehlende Cabaletta Mantica auf eine frühere, bislang unbekannte und in der Bibliothek der Opéra aufgefundene Fassung von Léonors Arie aus der Favorite zurückgriff. Für den Fernand d’Aragon bringt der französische Bariton Florian Sempey schöne Diktion und Ausstrahlung und einen großen Bariton mit. Die breite, halsige Tongebung und der gelegentlich plumpe, etwas leiernde Ausdruck werden durch klangliche Opulenz und Intensität ausgeglichen, etwa wenn er im Quartett Ende des zweiten Aktes auf dem Rücken liegend zum sich herabsenkenden Kronleuchter blickt und „Ô mon ange j’implore“ sing. Federico Benettis Bass reicht (noch) nicht aus, um die eindrucksvolle Figur des Mönchs auszuschöpfen. Jean-Luc Tingaud leistet mit Orchestra e Coro Donizetti Opera eine überzeugende, in den instrumentalen Solopassagen, etwa des Horns, detailkundige Aufführung, die sicherlich aufgrund des ungewöhnlichen Raums mit einigen Alkstikproblemen zu kämpfen hatte.

Bergamo Donizetti Festival 2019: „L’Ange de Nisida“/ Szene/ Foto Walter Vitale

Oper auf der Baustelle heißt, dass die Zuschauer in den – teilweise mit Rigipsplatten ausgekleideten und notdürftig mit roten Vorhängen zu den Gängen hin verhängten – Logen und auf der Bühne saßen und das leer geräumte Parkett zur Spielfläche wird, auf der Donizettis Notenblätter verstreut liegen oder auf die Notenseiten projiziert wird. Das Orchester bleibt, mit dem Rücken zum Zuschauerraum und der Dirigent in diesen schauend, im Orchestergraben; der Chor ist im vierten Rang postiert und wirft seine Notenblätter ins Parkett, sobald die Noten gesungen sind. Die Inszenierung von Francesco Micheli weist in ihrem Wechsel zwischen Symbolik, Sylvia mal mit Engelsflügeln und mal in ein riesiges Korsett gepfercht, von dem der Mönch Feten herunterreißt, und modernem Alltag in den zeitlos weiß schwarzen Kostümen der Protagonisten, auf den Werkstattcharakter der Aufführung hin, während Magherita Baldoni mit ihren Kostümen im Hochzeitsakt ein fabelhaftes, irgendwie fast chinesisch anmutendes Mittelalter gefaltet hat mit prächtigen, weit geschnitten Papierkostümen wie aus buntscheckigen Tapetenresten. Der vierte im Kloster spielende Akt findet zwischen den zerfetzten Papierkostümen und Resten statt. Unsere französischen Nachbarn würden ihn wohl als „sublim“ bezeichnen. Tatsächlich ist die Überlegenheit, mit der Leones Romanze, die Gesänge der Mönche und das Duett von Sylvia und Leone bis zum finalen „Dieu du pardon, que nos prières portent cette âme jusqu’à toi!“ verschmolzen sind, von außerordentlicher stilistischer Geschlossenheit. Er ist auch ein bisschen länglich. Aber da war beim Livebesuch 2019 auch schon fünf Minuten vor Mitternacht und man ging essen. Rolf Fath

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.