Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Reynaldo Hahns „L’Île du Rêve“

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Kenner erinnern natürlich, wenn sie den Namen Reynaldo Hahn hören, sofort die wunderbaren Aufnahmen seiner mélodies gesungen von Bidu Sayao oder Maggie Teyte. Vor allem erstere ist da unerreicht mit ihrem gleichsam in poesiegetränkter Luft schwebenden Lied „Si mes vers avaient des ailes“, den Flügelschlag der melancholischen Liebe wie einen Hauch der Ewigkeit festhaltend: eine meiner absoluten Lied-Aufnahmen. Mit Reynaldo Hahn (* 9. August 1874 in Caracas/ † 28. Januar 1947 in Paris) hat man das Ende einer Ära vor sich. Eine Ära zwischen der traumatischen, verlorenen Niederlage 70/71 und vor dem drohenden Weltkrieg 14/18: eben dieser Moment des wie vor einem Gewitter innehaltenden, in Verdrängung verharrenden Zeitgefühls.

Dazu passt Reynaldo Hahn mit seinen locker geschäumten Operetten wie Ciboulette, MozartMalvina oder Brummel, in Frankreich (und eigentlich nur da) vor dem Großen Vaterländischen Krieg und nach der schmerzlichen Niederlage bei Sedan bis in die heutigen Siebziger viel aufgeführt, ein Muss jeder Provinzbühne. Und mit reizenden Pathé-LPs dokumentiert, wo solche Größen wie Géori Boué oder Alain Vanzo die Ehre der französischen Opéra Lyrique hochhalten.

Jaja, die Jungs vom französischen MIlitär: Poster zur Truppen-Stärkung um 1920/ Wiki

Man kann sagen, dass der Südamerikaner Reynaldo Hahn fast bespiellos die Stimmung jener Zwischenkriegsjahre in Frankreich eingefangen hat. Verdrängend gewiss und angesichts der schon durch Sedan/Versailles prekären finanziellen und sozialen Umstände natürlich Fluchtpunkte der Unterhaltung auf den Bühnen der Hauptstadt und nach dem Krieg in der Provinz. Eine „polynesische Idylle“! Boy meets girl on lonely island – Perlenfischer mit heiterem Ausgang, könnte man sagen (und das Sujet ist ja schon von Bizet und anderen Komponisten bedient worden, ebenso malerisch von Gauguin und Kollegen, man hielt in Frankreich die Kolonien präsent, zu lange). Gounods oder Saint-Saens Opernstoffe oder die der Zeitgenossen gruben tief in der französischen Geschichte, um Glorreiches auf die schmerzenden Wunden der Besiegten zu streichen. Hahn dagegen bietet aufschäumendes französisches Lebensgefühl, vive l´amour und o la la und all sowas. Jenes eben, weswegen deutsche oder britische Adels- und Fabrikanten-Familien ihre Jungs nach Paris schickten, um l´amour und weltläufige Lebensart kennen zu lernen. Bevor sie zu Hause ihre in Korsetts gezwängten Bräute von Stand heiraten mussten. Jahre zuvor hatte Offenbach mit seinem vie parisienne (1866) eine ähnlich hektische, die Realität verdrängende Lockung des französischen Amüsierbetriebes der Funambules geschildert.

Wie Alexandra Maria Dielitz in ihrem nachfolgenden Artikel  (aus dem Programmheft des nun  beim Palazetto Bru Zane vorliegenden Mitschnitt. der Hahn-Opera-Lyrique L´ile du rêve (1893) vom Münchner Rundfunkorchester im Januar 2020 mit einer ganz fabelhaften équipe vorliegenden Aufnahme) ausführt, ist diese „Polynesische Idylle“ von 1898 fast schon erheiternd exotisch im setting (und flott unterhaltsam, wie man auf der 1-CD-Aufnahme mit wie stets fabelhafter Ausstattung nachhören kann). Der nur rund 20 Jahre zurückliegende Krieg (70/71) scheint 1898 vergessen, die Reparationen schmerzen zwar noch, aber das Nachtleben der Boulevards mit seinen mehgr oder weniger eleganten Besuchern wird davon nicht berührt. Die politische Situation ist fatal, gewiss, und da zieht dunkles Gewölk auf, dto. gewiss. Aber warum sich nicht amüsieren und bei Champagner die eingeborenen Polynesier bei ihrem frivolen Treiben bestaunen? Wozu hat man die Kolonien? Das lenkt ab vom Alltag. Um die Ecke gibt´s die Mädels für die Herren mit Ausgang, und die fashionablen Damen sind entweder keine oder fahren diskret in der Caleche mit den Müttern nach Hause.

Im Folgenden also Reynaldo Hahns entzückende Idylle. Alexandra Maria Dielitz breitet das Panorama der Entstehungszeit vor uns aus. Vive l´exotism, vive la belle époque (Reynaldo Hahn: L’Ile du Reve mit Helene Guilmette, Cyrille Dubois, Anaik Morel, Artavazd Sargsyan, Ludivine Gombert, Choeur du Concert Spirituel, Münchner Rundfunkorchester, Herve Niquet; 1 CD Bru Zane, DDD, 2020). G. H.

 

Hahn „L´ile du rêve“, Paris Théatre Athenée 2005/ Foto Odile Motelet

Und nun Alexandra Maria Dielitz: Die Musen tragen keine Brille.  Der Künstler, der die Pariser Salonkultur der Belle Époque wie kaum ein Zweiter verkörpern sollte, kam 1874 in Caracas zur Welt. Als jüngster Sohn einer baskischen Venezolanerin und eines jüdischen Kaufmanns aus Hamburg verbrachte Reynaldo Hahn die ersten drei Jahre seines Lebens mit einer großen Geschwisterschar auf dem elterlichen Landgut El Paraiso in Venezuela. Vater Karl Hahn hatte sich dort ein riesiges Vermögen erworben, war zum engen Berater des Staatspräsidenten aufgestiegen und hatte als leidenschaftlicher Musikliebhaber den Bau des Opernhauses in Caracas gefördert. Nach einem politischen Umsturz kehrte die Familie 1878 nach Europa zurück und ließ sich in Paris nieder – ein komfortabler Startpunkt für die erstaunliche Wunderkind-Karriere, die Nesthäkchen „Nano“ bald einschlagen sollte. Sechsjährig debütierte Reynaldo Hahn im Salon Prinzessin Mathildes, der Nichte Napoleons I., mit einigen Offenbach- Couplets, bei denen er sich selbst am Klavier begleitete. Mit acht Jahren komponierte er, mit zehn begann er sein Studium am Pariser Konservatorium und wurde Schüler der namhaftesten Komponisten seiner Zeit: Charles Gounod, Camille Saint-Saëns und Jules Massenet.

Hahn „L´ile du rêve“, Théâtre Atenée Paris 2005/ Foto Odile Motelet

Der Schöpfer von Manon und Werther galt als unangefochtener Star der französischen Oper, doch auch Massenets heute weitgehend vergessene Liedkompositionen waren bei den Zeitgenossen überaus beliebt. Er schrieb nicht weniger als 233 „mélodies“ – jene schwerelosen Kunstlieder der Belle Époque, wie wir sie auch von Berlioz, Gounod, Fauré, Chausson, Duparc oder Debussy kennen. Im Gegensatz zum deutschen Lied der Romantik mit seinen schlichten Naturempfindungen von klaren Bächlein und Lindenbäumen hielt sich die „mélodie“ lieber in den „künstlichen Paradiesen“ des Symbolismus auf. Von Gautier, Verlaine, Rimbaud, Baudelaire und Mallarmé stammten die Verse über verbotene Sehnsüchte, morbide Amouren, charmante Mätressen, Opiumfantasien oder die „Blumen des Bösen“, die – in elegante Melodik und raffinierte Harmonik überführt – das Miniatur-Gesamtkunstwerk des Fin de Siècle darstellten. Nicht zuletzt ging es dabei um die Kultivierung einer spezifisch französischen Gattung, die sich von teutonischen Wagner-Dünsten genauso emanzipieren sollte wie von allzu sonnigem Belcanto italienischer Provenienz. Die 1871 gegründete Société Nationale de Musique ging sogar programmatisch gegen die Vorherrschaft der Oper im zeitgenössischen Musikleben vor und förderte die nationale Renaissance von Symphonik, Kammermusik und Lied. Als Teil dieser neuen Ars gallica gelangte die „mélodie“ vom halbprivaten Salonflügel auch in den öffentlichen Konzertsaal – meist, nachdem der Komponist ihr für diesen großen Auftritt nachträglich ein klangvolles Orchestergewand angepasst hatte.

Hahn „L´ile du rêve“: der Librettist Pierre Loti/ Wikipedia

Es verwundert nicht, dass der literaturbegeisterte Reynaldo Hahn auf den Spuren seines Lehrers Massenet zunächst das Lied als ideale Gattung für sich entdeckte. 13-jährig vertonte er mit Si mes vers avaient des ailes ein Gedicht von Victor Hugo und landete damit einen Schlüssel-Hit der Belle Époque. Ende 1896 wurde im Salon des berühmten Schriftstellers Alphonse Daudet sein Liedzyklus Les chansons grises nach Versen von Paul Verlaine uraufgeführt – in Anwesenheit des zu Tränen gerührten Dichters. Der Titel ist sehr bewusst dem Gedicht Art poétique (Dichtkunst) entlehnt, in dem Verlaine mit seiner Forderung nach „Musik vor allen Dingen“ („De la musique avant toute chose!“) eine Art poetologisches Manifest formuliert: Das „graue Lied“ steht für die schwebend feinen Nuancen des Ausdrucks, für die sinnliche Wahrnehmung der Sprache, für die Bedeutung des Wortklangs – just für jene musikalischen Schwingungen der Lyrik, die Reynaldo Hahn als „musicien littéraire“ (Marcel Proust) intuitiv erfasste. Der für gewöhnlich kaum musikinteressierte Autor Edmond de Goncourt lobte Hahns Lieder denn auch als „wahre Juwelen der Poesie“. Für den Journalisten Albert Flament waren sie nicht einfach eine „Melodie auf die Worte, sondern vielmehr die Seele der Worte selbst“. In der Tat entwickelt sich die vokale Linie bei Hahn stets mit größter Natürlichkeit aus einem intimen Konversationston zu emotionalen Aufschwüngen und biegsamer Melodik. „Die wahre Schönheit des Singens“ bestand für Reynaldo Hahn denn auch „im perfekten Zusammenklang von Sprech- und Singstimme, das heißt von Melodie und gesprochenem Wort, die miteinander verschmelzen und eine geheimnisvolle Verbindung eingehen“. Die transparente Klavierbegleitung drängt sich dabei nie in den Vordergrund, schafft aber schillernde harmonische Räume und überrascht bisweilen mit ungewöhnlichen Akkorden oder Bewegungsveränderungen, die sich eng an der Wortbedeutung orientieren.

Hahn „L´ile du rêve“/ Illustration zur Uraufführung/ BNF

Der im Sinne einer oberflächlich sentimentalen Ausdrucksform oft verwendete Begriff „Salonmusik“ zielt am Wesen der „mélodies“ genauso vorbei wie an der zeitgenössischen Institution der Salons. Wenn Gräfin Greffulhe, Prinzessin Polignac oder Madame Lemaire an bestimmten Wochentagen in ihren mondänen Stadtpalais Hof hielten, trafen sich dort Diplomaten, Mäzene und Wissenschaftler, Literaten, Maler, Theaterdirektoren, Komponisten und Interpreten zum geistigen Austausch. An solchen Orten der Eleganz und Extravaganz, der Konversation und Inspiration herrschte das perfekte Klima zur Entfaltung einer Künstlernatur wie der Reynaldo Hahns, die Eigenschaften des Dandys und des Denkers in sich vereinte. Das „Schwere und Langweilige“ suchte er zwar „um jeden Preis zu vermeiden“, denn „die Musen tragen keine Brille“; doch loten seine Vertonungen die anspruchsvollste zeitgenössische Lyrik mit einer Suggestivkraft aus, die sich auch auf heutige Hörer überträgt. Ohne im Mindesten den Unterhaltungswert von Kunst in Frage zu stellen, war Hahn in der Lage, sein Publikum zutiefst zu berühren – offenbar auch als Interpret: Mit einer Zigarette im Mundwinkel saß er lässig am Klavier und sang seine Lieder mit leichtem, beweglichen Bariton, von dem sogar einige Aufnahmen erhalten sind. Viele Zeitgenossen berichten von seinem charismatischen Auftreten, das jedes Getuschel im Raum sofort verstummen ließ. Marcel Proust formulierte die magische Wirkung von Hahns Kunst besonders poetisch: „Niemals seit Schumann drang musikalischer Ausdruck […] zu einem solchen Grad menschlicher Wahrheit und absoluter Schönheit vor. Jede Note ist ein Wort – oder ein Schrei! Den Kopf leicht zurückgelehnt, während dem melancholischen, leicht verächtlichen Mund in rhythmischer Flut die schönste, traurigste und wärmste Stimme entströmt – so umarmt dieses,geniale Musikinstrument ‘namens Reynaldo Hahn die Herzen und lässt die Augen feucht werden in jenem Bewunderungsschauer, der uns erzittern lässt […] wie das leise und feierliche Wogen der Ähren im Wind.“

Am 23. März 1898 wurde mit L’île du rêve Hahns erstes Bühnenwerk an der Pariser Opéra- Comique uraufgeführt. Geschrieben hatte er seine „polynesische Idylle“ bereits während des Studiums bei Jules Massenet, dem die Partitur gewidmet ist. Exotische Stoffe waren damals en vogue, und besonderer Beliebtheit erfreuten sich die autobiografisch gefärbten Romane des französischen Marineoffiziers und Reiseschriftstellers Julien Viaud: Der 1888 veröffentlichte Bestseller Madame Chrysanthème lieferte die Vorlage für André Messagers gleichnamige Oper und für Puccinis Madama Butterfly; der acht Jahre ältere Roman Le mariage de Loti hatte bereits Léo Delibes zu seiner Indien-Oper Lakmé inspiriert, bevor Reynaldo Hahn ihn – diesmal am Originalschauplatz Tahiti – zur Grundlage seines Theaterdebüts erwählte. Vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Imperialismus wird in all diesen Fällen eine Geschichte erzählt, die sich so oder so ähnlich etliche Male tatsächlich abgespielt haben mag. Koloniale Verhaltensmuster und europäische Überlegenheitsdünkel prägen die „Zeitehen“ westlicher Offiziere mit ihren „kleinen Bräuten“ in überseeischen Paradiesen; uneheliche Kinder, gebrochene Herzen, bisweilen auch Selbstmorde der Zurückgebliebenen sind die Nebeneffekte der patriotischen Mission.

Hahn „L´ile du rêve“/ Illustration zur Uraufführung/ BNF

Auch was sich auf Hahns „Trauminsel“ abspielt, ist vorhersehbar: Der französische Marineoffizier Georges de Kerven verfällt auf Tahiti dem Zauber der schönen Mahénu, die ihn in einer Blumenzeremonie auf den einheimischen Namen Loti tauft. Kennenlernen, Liebesglück und Abschied, das ist im Wesentlichen der Inhalt der drei kurzen Akte. Der lächerliche alte Chinese; die einst von Lotis Bruder verlassene und seither geistig umnachtete Téria; die kluge Prinzessin Oréna, die Mahénu dringend davon abrät, Loti auf sein Schiff zu folgen („Die Blumen unseres Landes welken auf dem Boden des Exils“) – sie sind nicht mehr als episodische Unterbrechungen eines einzigen, traurig verklingenden Liebesduetts. Und das gestaltete Hahn als träumerischen Gesang einer unstillbaren Sehnsucht, als unendliche Melodie eines scheinbar ewigen Sommers, als melancholisches Wiegen sinnlicher Harmonien. Bei den Uraufführungsrezensenten herrschte Uneinigkeit darüber, ob die meditative Grundhaltung und tendenzielle Monotonie dieser Musik auf die Einseitigkeit des kompositorischen Talents oder die Ereignislosigkeit der Handlung zurückzuführen seien. In der Tat gibt es nicht den Schatten eines dramaturgischen Gegenspielers – selbst Mahénus Adoptivvater zürnt dem fremden Verführer nicht, so beschäftigt ist er mit stiller Bibellektüre! Statt eines äußeren Bösewichts gibt es nur die innere Notwendigkeit der Trennung, um die alle Beteiligten vom ersten Takt an wissen, was jedoch dank des Zaubers der Verliebtheit nur allzu gerne verdrängt wird. Und dieses leise Zerrinnen einer Illusion konnte kaum einer treffender vertonen als Reynaldo Hahn.

Hahn „L´ile du Rêve“: Kolonialismus-Ausstellung in Marseille 1906/ Poster/ OBA

Dass er durchaus in der Lage war, kontrastierende musikalische Akzente zu setzen, bewies Reynaldo Hahn in den folgenden Jahren zur Genüge: etwa durch seinen poetischen Klavierzyklus Le rossignol éperdu, sein brillantes Klavierkonzert, sein exotisches Ballett Le Dieu bleu für die legendären Ballets russes sowie seine fulminanten Operetten der Zwischenkriegsjahre. Sein Meisterwerk La Ciboulette wird in Frankreich noch heute gespielt. Bei der musikalischen Komödie Mozart konnte er sein neu entdecktes Talent für die leichte Muse mit seiner alten Leidenschaft für das Salzburger Genie verbinden: „Bach mag ich nicht, Palestrina finde ich langweilig, aber Mozart bete ich an als bewundernswerte Mischung aus Finesse, Tiefe und Naivität.“ Hahn, der sich übrigens auch als Mozart-Dirigent einen Namen machte, erblickte in dessen Œuvre das erstrebenswerte Ideal, tiefen Ausdruck mit einer gewissen Leichtigkeit und Eleganz der Form zu verbinden. Der Schauspieler und Dramatiker Sacha Guitry schrieb die Szenen über den Paris- Aufenthalt des jungen Mozart, den seine Gattin Yvonne Printemps als Hosenrolle darstellte. Er selbst gab den Grafen Grimm, der das von der französischen Damenwelt allzu abgelenkte Genie schließlich zum Komponieren nach Salzburg zurückschickt. Das Pasticcio aus Neukomposition und Mozart-Zitaten war so gelungen, dass Komponistenkollege André Messager in Le Figaro schrieb, man könne nur erahnen, „wo die Nahtstelle“ zwischen beiden liege.

Hahn „L´ile du rêve“: Les amants Marcel Proust und Reynaldo Hahn/ Org. Franc.

Auf drer Suche nach der verlorenen Liebe: Reynaldo Hahn und  Marcel Proust. Mai 1894: Bei einer musikalischen Soirée in Madame Lemaires Pariser Salon zieht Reynaldo Hahn am Klavier wie gewohnt die Bewunderung aller Gäste auf sich. Auch die eines Literaturstudenten der Sorbonne, dessen Name – Marcel Proust – noch gänzlich unbekannt ist. Die Hausdame bemerkt die Anziehungskraft zwischen den jungen Männern und lädt beide auf ihr Renaissance- Schlösschen in Réveillon ein. Hier entdecken Hahn und Proust nicht nur ihre gemeinsame Passion für Literatur, Musik und Malerei, sondern beginnen eine leidenschaftliche Liebesbeziehung. Sie reisen in die Bretagne und nach Venedig, genießen ihre Zweisamkeit fern vom Pariser Gesellschaftsleben und inspirieren sich gegenseitig: Hahn vertont Prousts Quatre portraits de peintres, Proust verewigt seinen Geliebten im Romanfragment Jean Santeuil. Nach zwei Jahren jedoch kommt es zum Zerwürfnis, Proust wendet sich einem neuen Liebhaber zu. Doch das Ende der Affäre ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, die ein Vierteljahrhundert überdauern wird.

Die Musikjournalistin Alexandra Maria Dielitz ist  die Autorin des nebenstehenden Artikels. Sie ist Redaktionsmitglied der BR-Musikredaktion und der nmz/ Foto nmz

Ein umfangreicher Briefwechsel – teilweise in einer kindlich-zärtlichen Geheimsprache – zeugt vom innigen Interesse, das jeder für die künstlerische Entwicklung des anderen hegt. Proust fehlt bei keinem Konzert des Freundes, Hahn vermittelt Verlegerkontakte, liest Korrekturfahnen und gibt literarische Ratschläge. Als der Dichter aufgrund seines Asthmas sein Krankenzimmer in der Rue Hamelin nicht mehr verlassen kann, ist es neben der treuen Haushälterin Célèste vornehmlich Hahn, der ihn über die künstlerischen und gesellschaftlichen Ereignisse in Paris auf dem Laufenden hält und somit nicht unwesentlich zur Entstehung des monumentalen Romans À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) beiträgt. Proust schreibt gegen den Tod an und erliegt schließlich einer Lungenentzündung – Hahn weicht nicht von seiner Seite und teilt der Zeitung Le Figaro am 18. November 1922 mit, „dass unser teurer Marcel Proust heute Abend um halb sechs Uhr verstorben ist“. Im selben Jahr veröffentlicht Hahn seine letzte Liedersammlung, dann wendet er sich vermehrt der Instrumentalmusik zu – als ob er mit Proust auch seine Liebe zur Poesie verloren hätte. Alexandra Maria Dielitz

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Wir danken der Autorin und Frau Doris Sennefelder vom Münchner Rundfunkorchester für die freundlioche Genehmigung zur Textübernahme. Abbildung oben: Palazzetto Bruzane. ( Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei https://www.note1-music.com/shop/)

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Aus dem Cuvilliéstheater

 

Im 1753 eröffneten, 1944 ausgelagerten und 1958 an anderer Stelle der Münchner Residenz eröffneten und nach seinem Erbauer, dem bayerischen Hofbaumeister François de Cuvilliés, genannten Cuvilliés-Theater sang Juan Diego Flórez Mitte 2018 neun der zentralen Tenorarien Mozarts. Darunter zuletzt als Reminiszenz an den Ort der Uraufführung, wo Idomeneo, mit dem Mozart dem Tenor erstmals eine tragende Partie gab, auch Idomeneos „Fuor del mar“, ein Bravourstück, in dem der Kreterkönig mit dem Toben des Meeres die Konflikte in seinem Herzen beschreibt. An diesem Abend passt alles: vom festlichen Rahmen über das auf Originalinstrumenten spielende, an der Zürcher Oper entstandene Orchestra La Scintilla unter Riccardo Minasi (solistisch mit den Don Giovanni-, Le nozze di Figaro-, La clemenza di Tito– und Idomeneo-Ouvertüren vertreten) bis zum geschmackvollen Outfit des Tenors, einer mit braunrotem Hemd, Fliege und Hose kombinierten bordeauxfarbenen Samtjacke.

Flórez beginnt mit Ferrandos gefühlvollem „Un‘ aura amorosa“, dessen wiegende Schwärmereien und hoch schwingende kurzen Noten er im energischen Fluss elegant bindet. Das gilt auch für die beiden Szenen des Don Ottavio, dem Flórez ein wenig mehr an Feuer, Energie und virilem Temperament als gemeinhin gibt, der für Wien nachkomponierten Arie „Dalla sua pace“ als verinnerlichtes Seelenbild, doch vor allem dem großen Rondo und den lang gesponnenen Koloraturen von „Il mio tesoro“. Fehlende Koloraturfertigkeit kann man ihm ebenso wenig vorwerfen wie mangelndes Stilgefühl. Schade, dass Flórez nicht alle drei Arien Belmontes singt, eine Abfolge von schwierigen Szenen, dafür immerhin die koloraturengespickte, im italienischen Stil geschriebene, leider häufig gestrichene Baumeisterarie „Ich baue ganz auf deine Stärke“, die er mit Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit , wenngleich nicht ganz reinem Deutsch singt. In der großen Konzertarie „Misero! O sogno“, die Mozart seinem ersten Belmonte im Jahr nach der Entführung für eine Benefizkonzert konzipierte, fehlt es Flórez‘ Tenor im Rezitativ vielleicht ein wenig an Gewicht, doch er formuliert die Gedanken eines Gefangenen an seine Geliebte mit angenehm abgetönter Zartheit und gewinnt im aufgewühlten Schlussteil der Arie „Aura, che intorno spiri“ eine Dramatik, die die Kerkerszene des Florestan vorwegnimmt. Mit der entsagungsvoll entrückten Aria di bravura des Kaisers Titus „Se all’impero“ , dessen Güte quasi nicht mehr von dieser Welt ist, und der mit erlesenem Geschmack ziselierten Bildnisarie des Tamino, die das Erwachen der Liebe beschreibt, feiert Flórez die beiden letzten Opern Mozarts, bevor er den Abend, der gerne auch noch länger hätte dauern können, mit dem als leidenschaftlich italienische Bravourarie präsentierten Prunkstück „Fuor del mar“ krönt (C Major DVD 754808) . Rolf Fath

 

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Informationsreich und mutig

 

Da hat Christian Thielemann in seinem neuen Buch, passend zum 250.Geburtstag Ludwig van Beethovens,  über 250 Seiten lang den Leser beeindruckt, bewegt, begeistert, erschüttert, um Wissen bereichert. Und dann schreibt er auf Seite 253: „Deshalb bin ich auch immer für den Frack als Berufskleidung“ Was daran verwerflich ist? Nun, das Cover zeigt einen versonnen blickenden, in seine Aufgabe vertieften Christian Thielemann im Konzert, gekleidet in ein dunkelgraues Etwas, ein Jackett mit Stehkragen oder einen Gehrock, aber ganz und gar keinen Frack. Ob das schlimm ist und alles, was er geschrieben hat, entwertet, ungültig macht? Mitnichten, es erleichtert den Leser geradezu, dass auch ein Wissender wie Thielemann sich einen kleinen Lapsus erlaubt, nachdem er den Leser in schwindelerregende Höhen der Beethoveninterpretation entführt hat. Meine Reise zu Beethoven ist das Buch betitelt, und die Stationen dieser Unternehmung sind die neun Sinfonien, wobei eingestreut in die Chronologie nicht nur weitere Werke wie der Fidelio, die Missa solemnis, Klavierkonzerte und Streichquartette sind, sondern auch Fragen wie die nach dem „deutschen Klang“ oder eine wiederholte Auseinandersetzung mit den „historisch Informierten“.

„Unter Mitwirkung von Christine Lemke-Matwey“ ist das Buch entstanden, die zum Glück sprachlich wohl nichts geglättet hat, denn die direkte, manchmal etwas flapsige, eine bedeutende sprachliche Bandbreite von der lässigen Umgangssprache („ran an die Neunte“, „der geht nicht so schnell kaputt“) bis zur Fachsprache umfassende Form ist einer der Vorzüge des dadurch sehr persönlich, sehr impulsiv wirkenden und den Leser direkt ansprechenden Buchs. Nicht selten betätigt sich der Dirigent als Wortschöpfer, so mit „lebensweltlichen Themen“, mit „mendelssohnöses“. Das Jungenhafte, das ihm in seinem Auftreten geblieben ist, kennzeichnet bisweilen auch seine Ausdrucksweise, so wenn er vom „Zur-Schnecke-Machen“ schreibt. Bildhaft wird die Sprache, wenn er meint, der Trauermarsch in der Eroica dürfe nicht klingen, als wenn ein dicker Mann den Sarg beschwere.

Thielemann scheut sich nicht, aus gewissenhaften Beobachtungen, aus Erfahrungen, die er in seiner mittlerweilen auch schon recht langen Dirigentenlaufbahn gemacht hat, Apodiktisches, aber durchaus Nachvollziehbares und Nachprüfbares zu verkünden, so wenn er bei den „Heutigen“ „das Authentische“ vermisst, wenn er meint: „Man wird immer freier und damit immer treuer“, „Ohne Transzendenz ist keine Kunst möglich“, „Beethoven wahrt die Form, indem er die Interpreten ermutigt, sich darin zu verlieren“. Immer wieder stößt man auf Sätze, die man sich merken möchte, will sie fundamental für das Verständnis von Musik zu sein scheinen und wohl auch sind. Und man bewundert den Mut zum Bekenntnis, den der Verfasser immer wieder offenbart, ohne mit einem Auge auf die etwaige Reaktion der Political-Correctness-Polizei zu schielen. Diesen Hang zur unbekümmerten Geradlinigkeit hat Thielemann vielleicht auch der verehrte Komponist gegeben, denn ganz zum Schluss kann man lesen:“Wer sich  mit Beethoven beschäftigt, dem kann nicht mehr viel passieren“.

Neben dem Bekenntnishaften gibt es in Thielemanns Buch vieles andere zu entdecken, so natürlich Interpretationen der neun Sinfonien, deren letzte genau wie die einzige Oper Fidelio nach Meinung des Verfassers das Manko einer verlogenen Utopie aufweist, wenn sich in der Oper zwar das Schicksal des Ehepaars, nicht aber der Menschheit zum Guten wendet, wenn  in der Ode an die Freude gilt: „Die Musik ist hysterisch, weil sie ihre eigenen Zweifel nicht los wird“. Außerdem ist sie schwierig zu singen und dazu für die Solisten undankbar. Seltsam, aber nach einigem Überlegen nachvollziehbar mutet der Ratschlag an, möglichst früh als Dirigent mit der 9. zu beginnen, um sie „in den Sand zu setzen“, denn „für Beethoven muss man jung sein“.

Sehr jung war Thielemann selbst, dessen erste Begegnung mit dem Komponisten die als Schulkind mit der Egmont-Ouvertüre war. Er lässt den Leser teilnehmen an der Entdeckung des Komponisten und auch an der Einschätzung der Dirigenten, deren Aufnahmen er hörte. Dass Wilhelm Furtwängler der am meisten Verehrte ist, wird den Leser nicht überraschen, auch über Toscanini, Karajan und viele andere kann er vieles Interessante und Nachvollziehbare lesen und nicht erstaunt darüber sein, dass der Dirigent bei „vielen Heutigen das Authentische“ vermisst, dass er den „Konzeptmusikern“ die „Instinktmusiker“ gegenüberstellt, bedauert, dass viele Orchester „den Kontakt zu Beethoven verloren“ haben. Die Schreibweise Symphonien könnte etwas bedeuten, muss es aber nicht, wohl aber ein rätselhaft erscheinender Satz wie „Im deutschen Dunkel lockt die alte Wiener Helligkeit“, der etwas damit zu tun haben könnte, dass die Wiener Philharmoniker sich nicht von ihren alten Instrumenten trennen mögen, Modernisierungen verachten. Die Beschreibung des dunklen deutschen (und bei Un-Informierten verpönten)  des feinen, süßen, das Wiener Flair ausmachenden Klangs, die Ausführungen über die Sitzordnung im Orchester, die Gegenüberstellung zweier gegensätzlicher Beethoveninterpretationen, der wagnerischen der Überwältigung und der Mendelssohnisierung, die Luzidität bedeutet, sind weitere Themen des Buches, das sich auch dem Menschen Beethoven widmet. Da bezieht Thielemann klare Position, wenn er meint, die seidenen Unterhosen von Wagner seien ihm mehr zuwider als die Grobschlächtigkeit, derer Beethoven oft geziehen wurde.

Das Buch überwältigt durch seine Vielseitigkeit, die Fülle von Themen, die angeschnitten und hier längst nicht alle berücksichtigt werden, durch den klaren Standpunkt, den der Autor bezieht, und durch das liebevolle Engagement für den Gegenstand seiner Betrachtung. Es gehört Mut dazu, Positionen auch zu heiklen Themen zu beziehen und ein ganz besonderer dazu, einzugestehen: „Meine Angst ist immer, dass ich denke, ich habe den Funken nicht“.  Damit stünde der Dirigent in einer Reihe mit der Neunten, von der er meint:“Die Musik ist hysterisch, weil sie ihre eigenen Zweifel nicht los wird“. Und damit ist er in keiner schlechten Gesellschaft (275 Seiten, C.H.Beck 2020; ISBN 978 3 406 75765 5). Ingrid Wanja         

Vergessene

 

Hans Rott (1858-1884), Zeitgenosse und Bekannter von Anton Bruckner, Gustav Mahler und Hugo Wolf, ging gerade wegen seines tragischen kurzen Lebens in die Musikgeschichte ein. Die Uraufführung seiner ersten Sinfonie im Jahre 1989, über ein Jahrhundert nach Rotts Tod, war eine kleine Sensation und führte zu einer gewissen Rott-Renaissance. Zumindest dieses großangelegte Orchesterwerk wurde seither einige Male eingespielt, so unter anderem von Leif Segerstam und Paavo Järvi. Wirklich ins Konzertrepertoire gelangte die durchaus für sich einnehmende Sinfonie freilich nicht.

Das Label Capriccio wagt sich nun an die erste Kompletteinspielung der sämtlichen Orchesterwerke von Rott, die mit Vol. 1 ihren Anfang nimmt (Capriccio C5408). Bestritten wird dieses ambitionierte Projekt vom Gürzenich-Orchester Köln unter dem britischen Dirigenten Christopher Ward, derzeit Generalmusikdirektor am Theater Aachen. Es sind vornehmlich Frühwerke, denen sich diese Erstveröffentlichung der Reihe widmet, auch wenn sich bei einem Komponisten, der gerade etwa fünf Jahre wirklich komponierte, eine solche Einteilung nur mit Vorbehalten vornehmen lässt. Die Hamlet-Ouvertüre von 1876 – die einzige Weltersteinspielung auf dieser CD, rekonstruiert von Johannes Volker Schmidt – verweist auf den starken Einfluss Richard Wagners, folgt aber wohl auch dem Vorbild Liszts, der eine gleichnamige Tondichtung bereits 1858 schrieb. Rott stand tatsächlich vielmehr im Lager Wagners denn im Umfeld von Johannes Brahms, der seinerzeit sinfonisch das Maß aller Dinge darstellte in Wien, Rotts Heimatstadt. Bereits im Vorspiel zu Julius Cäsar, im Folgejahr entstanden und wohl wiederum mit Shakespeare-Bezug, zeigt sich trotz fragloser wagnerischer Anklänge ein eigener Personalstil. Bei beiden Werken ist unklar, ob sie als eigenständige Konzertouvertüren, als Auftakte zu einer Bühnenmusik oder gar als Operneinleitungen gedacht waren. Die nur teilweise erhalten gebliebenen beiden Suiten B-Dur (1877) und E-Dur (1878) – Aufgabenstellungen während Rotts Zeit am Wiener Konservatorium – wirken im direkten Vergleich deutlich leichtgewichtiger und weniger ambitioniert. Das bedeutendste auf der dieser Veröffentlichung enthaltene Stück ist zweifellos das knapp 15-minütige Pastorale Vorspiel F-Dur, welches 1880 entstand, im letzten Jahr vor des Kompinisten nervlichem Zusammenbruch, der mit seiner Einweisung in die Psychiatrie enden sollte. Hier deutet sich das volle Potential Rotts an, weist das Opus doch bereits in die musikalische Zukunft, ansatzweise an Mahler oder gar Richard Strauss erinnernd. Daniel Hauser

 

Zu den zahlreichen in Vergessenheit geratenen, zu Lebzeiten aber höchst erfolgreichen Komponisten der Spätromantik wird man den Wiener Julius Bittner (1874-1939) zählen müssen. Selbst Kennern der klassischen Musik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dürfte er kaum mehr etwas sagen. Tatsächlich war Bittner in erster Linie Jurist, bis 1920 als Richter in Wolkersdorf im niederösterreichischen Weinviertel tätig, anschließend bis 1922 als Beamter im Justizministerium. Erst danach widmete er sich ausschließlich der Komposition. Am bekanntesten sind wohl noch seine Opern Der Musikant,  Der Bergsee (1911) sowie Das höllisch Gold (1916; daraus gibt es eine eindrucksvoll gesungene Arie von Margarete Klose/ G. H.), wobei es von beiden keine moderne Einspielung gibt (von ersterer aber zumindest eine Gesamtaufnahme des Österreichischen Rundfunks aus den frühen 1950er Jahren, die Lust auf mehr macht). Dass sich das britische Label Toccata Classics nun Bittners Schaffen annimmt, ist in jedem Falle zu begrüßen. Offenbar ist eine Serie seiner Orchestermusik geplant, wie diese als Vol. 1 bezeichnete und nun vorgelegte Toccata-CD nahelegt (TOCC 0500), die Weltersteinspielungen seiner Sinfonischen Dichtung Vaterland (1915) sowie seiner Sinfonie Nr. 1 in f-Moll (1923) beinhaltet. Der sinfonische Bittner war bisher gänzlich unbekannt – und wie sich nun herausstellt: völlig zu Unrecht.

Es ist beinahe ein Armutszeugnis für die österreichische Orchesterlandschaft, dass ein Orchester und ein Dirigent aus Russland nun in die Bresche springen: Das Sibirische Sinfonieorchester ist wahrlich so ziemlich das letzte, an welches man in diesem Zusammenhang denken würde, und doch meistert es seine Aufgabe mit Bravour. Dies mag an der begnadeten Leitung des Dirigenten Dmitry Vasiliev liegen, der mit demselben Klangkörper bereits einige hochinteressante Einspielungen für dasselbe Label vorlegte (darunter Weltpremieren von Woldemar Bargiel).

Die fast zwanzigminütige Tondichtung Vaterland, im zweiten Jahr des Ersten Weltkrieges entstanden, zeigt sich als ernstzunehmender Gattungsvertreter in der Liszt-Nachfolge und mit deutlichen Anklängen an Wagner und auch Bruckner. Die patriotische Grundstimmung, die dieses Werk auszeichnet, ist freilich im zeitlichen Kontext zu betrachten und nicht unähnlich der beinahe zeitgleich entstandenen Ouvertüre Aus ernster Zeit seines Landsmannes Felix Weingartner. Sein Österreich-Patriotismus verbunden mit seinem Katholizismus sollte Bittner Jahre später nach Hitlers Machtergreifung noch gewisse Probleme bereiten. Tatsächlich ist so etwas wie religiöse Konnotation in dieser Sinfonischen Dichtung spürbar, die apotheotisch mit dem von der Orgel intonierten Choral Ein‘ feste Burg ist unser Gott siegessicher ausklingt.

Besonders die erste Sinfonie, entstanden kurz nach seiner Pensionierung, verdeutlicht sodann, dass Bittner weit mehr war als bloß ein primärer Opernkomponist. Es ist erstaunlich, wie zahlreich die Anklänge an so unterschiedliche Komponisten wie Brahms, Bruckner, Mahler und Franz Schmidt sind, ohne dass man das Gefühl hätte, hier eine plumpe Kopie zu hören; teils an die Grenzen der Tonalität gehend, diese aber nie überschreitend. Ist der Kopfsatz wie eine Hommage an den Brahms’schen Klassizismus, gemahnt der langsame, tief vergeistigte zweite Satz mit seinem kathedralartigen Charakter deutlich an den Meister von Sankt Florian. Im Scherzo tun sich starke Assoziationen zu Mahler auf – die Grundstimmung wechselt gleichsam abrupt ins Weltliche. Dies nimmt im explosiven Finalsatz noch zu, in welchem sich marschartig-militärische Abschnitte mit lyrischen Passagen abwechseln. Einem Feuerwerk gleich wird die Sinfonie fulminant beschlossen.

Der Klang der Einspielungen aus der Philharmonie in Omsk, Sibirien, ist ausgezeichnet eingefangen, geradezu spektakulär, so dass man auch den Tontechnikern allen Respekt aussprechen darf. In summa eine höchst willkommene Bereicherung der Diskographie um randständiges Repertoire. Man darf auf eine baldige Fortsetzung dieser neuen Reihe hoffen, gibt es orchestral doch noch einiges aus Bittners Œuvre zu heben, darunter seine zweite Sinfonie und Schauspielmusiken zu Shakespeare-Dramen (Aufnahme 2018). Daniel Hauser

 

Wer weiß wirklich etwas über den Brahms-Freund Ignaz Brüll? 1846 im mährischen Prossnitz geboren und bereits in der Kinderzeit nach Wien umgezogen, lebte und wirkte er bis zu seinem Tod 1907 u.a. als Klavier-Pädagoge und schließlich als künstlerischer Direktor der Horakschen Klavierschulen. Im Oeuvre des eng mit Johannes Brahms befreundeten Komponisten überwiegen Opern, von denen Das goldene Herz, seine 1875 in Berlin uraufgeführte, erfolgreichste Oper, vielleicht manchen bekannt ist. Demgegenüber treten seine zahlreichen Kompositionen für Klavier solo sowie Weniges im Bereich der  Kammermusik und Sinfonik in den Hintergrund. Daher ist es durchaus verdienstvoll und lohnend, die deutlich romantische Züge aufweisende  Musik dieses Komponisten der Vergessenheit zu entreißen. So sind bei CAMEO CLASSICS die e-Moll-Sinfonie op. 29, zwei freundlich-reizvolle Serenaden, die „Macbeth“-Ouvertüre und das Violinkonzert op. 41 erschienen. Der britische Dirigent Marius Stravinsky, in Berlin als Ballett-Dirigent nicht unbekannt, und Michael Laus, viele Jahre Chefdirigent in Malta, haben sich mit dem Belarusian State Symphony Orchestra und dem Malta Philharmonic Orchestra der genannten Werke mit ihren herkömmlichen Satzfolgen angenommen. Dabei fällt die beachtliche Qualität aller Instrumentengruppen in beiden Orchestern auf, mit der die unterschiedlichen, teilweise auch aparten Klänge in Lyrik und Dramatik erreicht werden. Das Violinkonzert präsentiert der Solist Ilya Hoffmann mit technisch gut beherrschter Virtuosität; im eher sanften „Molto moderato“ kostet er die schön ausgespielten Melodiebögen genussvoll aus (CC9103/4, 2 CD).  Gerhard Eckels

 

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Effektvolles Pasticcio

 

Ganz anders als Händels Tamerlano kommt Il Tamerlano von Antonio Vivaldi daher. So ist das äußerst effektvolle Werk ein Pasticcio, bei dem Vivaldi nur die Rezitative neu komponiert hat. Die Arien stammen sämtlich aus anderen Werken wie z.B. Olimpiade, Il Giustino, Semiramide oder Farnace und von weiteren zeitgenössischen Komponisten wie Riccardo Broschi, Geminiano Giacomelli oder Johann Adolf Hasse. In der 1735 in Verona uraufgeführten Tragedia per musica geht es um den Tartaren-Herrscher Tamerlano (auch bekannt als Timur), der den türkischen Sultan Bajazet besiegt und zusammen mit seiner Tochter Asteria gefangen genommen hat. Diese liebt den griechischen Prinzen Andronico, einen Verbündeten Tamerlanos. Doch auch Tamerlano begehrt Asteria und löst ihretwegen seine Verlobung mit Irene, der Prinzessin von Trapezunt. Um diese zu entschädigen, beschließt er, sie mit Andronico zu vermählen und den beiden die Herrschaft über das eroberte Byzanz zu überlassen. Der empörte Bajazet will seine Tochter unter keinen Umständen mit seinem Feind verheiratet wissen. Asteria willigt schließlich in die Hochzeit ein – doch nur zum Schein, denn sie beabsichtigt, Tamerlano zuvor zu ermorden. Ihren ersten Anschlag gibt sie selbst auf, und einen zweiten vereitelt Irene. Angesichts der drohenden Demütigung seiner überführten Tochter tötet Bajazet sich selbst und ermöglicht so das erlösende Happyend, in dem Asteria und Andronico endgültig zueinander finden und Tamerlano sich wieder Irene zuwendet.

Von Vivaldis Pasticcio ist jetzt bei naive eine ausgezeichnete Studio-Aufnahme aus Ravenna erschienen. Das inhaltsreiche Beiheft enthält neben dem dreisprachigen Libretto in inhalts- und kenntnisreichen Artikeln des renommierten Musikwissenschaftlers Reinhard Strohm zahlreiche Einzelheiten zum Werk, seiner Entstehung, der Herkunft der Arien und vieles mehr. Bereits die dreisätzige Sinfonia aus einer unbekannten Vivaldi-Oper macht die hohen Qualitäten der Accademia Bizantina aus Ravenna deutlich: Der kompetente Dirigent Ottavio Dantone sorgt für überaus klare, schlanke Tongebung und stringentes Vorwärtsgehen, wobei  die makellose Bläser-Intonation erfreut. Ein durchweg vorzügliches Ensemble gibt den vielen Farben und Emotionen der jeweiligen, im Ganzen gut aufeinander abgestimmten Kompositionen erfolgreich Gestalt. In der Titelpartie hört man den Counter Filippo Mineccia, der ausgesprochen ausdrucksstark dramatisch aufzutrumpfen weiß, ohne je die Kontrolle zu verlieren, aber ebenso eindringlich mit weicher, abgerundeter Stimmführung imponiert. In der Partie der begehrten Asteria erlebt man die französische Altistin Delphine Galou, die mit ihrer hellen, ungemein beweglichen, in allen Lagen ansprechenden Stimme die vielen, auch besinnlich anmutenden Melodiebögen sehr gut aussingt. Kurz vor Schluss entwickelt sie in der von Vivaldi möglicherweise für die Mailänder Fassung 1727 verfassten Arie Svena, uccidi, abbatti, atterra Dramatik pur, wenn Asteria darum bittet, getötet zu werden. Bruno Taddia macht als häufig aufbrausender Bajazet Eindruck; der erfahrene Sänger weiß seinen flexiblen Bariton mit großen Umfang sicher zu führen, wobei auch bei ihm festzustellen ist, dass ihm die barocke Singweise mit ihren vielen Koloraturen und Verzierungen keine Probleme bereitet.

Marina de Liso als Andronico singt ihre vier Arien, dabei zwei aus Siroe re di Persia von Hasse, mit weichem, in allen Lagen abgerundetem Sopran, der wie selbstverständlich auch über die nötige Virtuosität verfügt. Irene ist bei  Sophie Rennert sehr gut aufgehoben; mit ihrem hellen, in allen Lagen kräftigen, durchweg intonationsreinen Mezzo beherrscht die junge österreichische Sängerin die Virtuosität der Partie aufs Feinste und kann die Freude Irenes über die erneute Zuwendung Tamerlanos wunderbar zum Ausdruck bringen. Schließlich lässt als Idaspe Arianna Vendittelli ihren hellen, schlanken Sopran in einer Arie aus Vivaldis Il Giustino schön aufblühen und erweist sich in der Arie Anch’ill mar par chesommerga aus Semiramide als geradezu bravourös.

Im kurzen, positiv gestimmten Schlusschor vereinen sich alle sechs Solisten und beschließen damit eine bemerkenswert niveauvolle Gesamtaufnahme des außergewöhnlichen Vivaldi-Pasticcios (naive OP 7080, 3 CD). Gerhard Eckels

Spiel mit Männer-Klischees

 

„The best a man can be“, behauptet die Gilette-Werbung, die Mariame Clément ihrer Bregenzer Inszenierung von Massenets Don Quichotte im Juli 2019 vorschaltete. Ein scheinbar erregter Zuschauer springt aus einer der ersten Reihen auf, was habe Werbung mit der Oper zu tun. Dann erst nähert sich durch die Reihen des immer noch hell erleuchteten Zuschauerraum der Ritter von der traurigen Gestalt in seiner Rüstung und nimmt den Zuschauer als Sancho mit auf die Bühne und setzt sich dort in eine Zuschauerreihe, um sich ein historisches Spektakel altbackener Drei Musketiere-Prägung mit hübschen Posen an der Rampe, betriebsamer Chor-Neckerei und einem spanischen Dorfplatz wie aus dem Bilderbuch anzusehen. So könnte es bei der Uraufführung 1910 auch auf der Bühne in Monte-Carlo ausgesehen haben, als Schaljapin den Don Quichotte kreierte. Ein Spiel im Spiel. Und ein Spiel mit Männer-Klischees. Cléments ständige Ausstatterin Julia Hansen macht die Ausflüge ihrer Meisterin und ihres Helden in ein Badezimmer, Ghetto und Büro wie stets mit ingeniöser Bilderflut mit. Mehrfach verblenden Clément und Hansen in der Comédie héroique historische und zeitgenössische Bilderwelten in einer verspielten, aber auch technisch aufwändigen und prätentiösen Inszenierung, die auf der DVD (Unitel 754008) vielleicht nicht in ihrer ganzen Vielfalt zu erfassen ist. Vorhang runter. Rodriguez und Juan unterhalten sich, auf ihre Smartphones starrend, in den Zuschauerreihen auf der Bühne, dann endlich taucht Don Quichotte auf seinem Gaul in der Szenerie auf. Da hat man dann schon vergessen, dass der Werbespot mit richtigem und falschen Männerverhalten einen Beitrag zur Metoo-Debatte liefern sollte.

Der athletisch schlanke Gábor Bretz, der als Spiderman richtig gute Figur macht, ist anfangs der runzelig eingefallene Don Quichotte. In seiner Sérénade des ersten Aktes, „Quand apparaissent les étoiles“, noch etwas schwach sehnsuchtsvoll, doch bald kann er einige Farben seines edel lasierten und expansiven hohen Basses ausspielen, am besten im heroischen „Je suis le chevalier errant“ am Ende des dritten Aktes, wozu die bösen Jungs ergriffen nicken. Insgesamt erreicht der vielseitige Bretz in dieser Aufführung, die ihn mit einem ständigen Kostümwechsel in Trab hält, mit durchgehend schönem Ton nicht seine gewohnte Qualität. Die Dame seines Herzens ist die mit dunkelschwerem Timbre und schwerfälliger Eleganz ausgestattete Russin Anna Goryachova. David Stout gefällt als wandelbarer Sancho.

Im zweiten Akt macht sich Nassrasierer Quichotte im Badezimmer fertig, während sein auf dem Klodeckel hockender Begleiter Kommentare ins Internetz stellt. Nach dem Duschen nimmt Quichotte, bewaffnet mit Spraydose, Klobürste und -Deckel den Kampf mit dem Ventilator und einem sprudelnden Wasserhahn auf. Kabarettistisch, kurzweilig, albern. Dann schlägt er sich beim Wechsel an den Stadtrand – „We could be heroes“ steht an der Mauer – in der Begegnung mit einer Gang den Kopf blutig. Da hilft kein Spiderman-Kostüm. Für den Ausflug ins Ghetto hat Clément den Prague Philharmonic Choir Jeans, Hoodies und Caps übergezogen. Das ist die schwächste Episode. Schließlich resigniert Pollunder- und Brillenträger Quichotte im Großraumbüro, verkriecht sich unter seinem Schreibtisch. Hansen hat wieder gut gearbeitet und Teeküche, die vielen Arbeitskojen und den Galskasten für die Chefin auf die breite Bühne gestellt. Neben den feschen, ihre Chefin beflissentlich umwuselnden Bürohengsten (Léonie Renaud und Vera Maria Bitter als Pedro und Garcias in unkleidsamen Anzügen, Paul Schweinester und Patrik Reiter als Rodriguez und Juan) kann sich der ältliche Angestellte wenig Hoffnung auf Chefin Dulcinée machen, die sich bei einer Feier ein Bärtchen anklebt und mit „Ne pensons qu’au plaisir d’aimer“ den Angestellten eine Showeinlage liefert. Schließlich das Sterben des Don Quichotte auf einer Bühne auf der Bühne, das sich Dulcinée aus einer Sitzreihe wie im Kino anschaut. Das ist alles ein wenig viel, unterstreicht aber den episodenhaften Charakter der fünf Akte, an deren feingliedriger Struktur sich Daniel Cohen mehr aufreibt als die alle Einfälle bunt verschachtelnde Clément. Die Regisseurin hat aber bald den roten Faden, ihr Thema – welches eigentlich? – und ihren Helden aus Blick verloren. Man achtet in dieser wendig assoziierenden Aufführung, einfach weniger auf die Musik, denn selbst in den Préludes und Entreactes lassen die Wiener Symphoniker nicht durch besonders farbenreiches Spiel aufhorchen.  Rolf Fath

 

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Strenge Winde im Royalen Schloss

 

Als Hofkomponist Ludwig XV. schuf Jean-Philippe Rameau eine Vielzahl von Bühnenwerken unterschiedlicher Gattungen von der Tragédie lyrique über das Opéra-ballet bis zur Comédie lyrique. Seine letzte Kreation – Les Boréades – stammt aus dem Jahre 1762. Ein Jahr später begannen die Proben in Versailles, die allerdings abgebrochen wurden. Und durch den Tod des Komponisten1764 geriet das Werk gar in Vergessenheit. Erst 1982, also mehr als zwei Jahrhunderte später, wurde es in Aix-en-Provence uraufgeführt, nachdem es 1975 in London konzertant erklungen war. Im Jahr der szenischen Premiere brachte John Eliot Gardiner mit seinen English Baroque Soloists bei Erato eine Einspielung der Tragédie lyrique heraus. Nun erschien in der Collection Château de Versailles Spectacles  eine Neuaufnahme, die im Januar dieses Jahres in der Opéra Royal de Versailles aufgezeichnet wurde (CVS026, 3 CDs mit – erstaunlicher Weise – sogar deutscher Textbeilage, dazu das Libretto mehrsprachig in einer luxuriösen Ausgabe: ah les Francais).

Verantwortet hat sie Václav Luks mit dem von ihm gegründeten Barockorchester Collegium 1704. Die reiche Erfahrung des  tschechischen Dirigenten im Barockrepertoire ist hier in jedem Moment hörbar. Schon in der einleitenden Ouverture und den später folgenden vielfältigen Ballettnummern bis zur letzten Contredanse sorgt er für faszinierende Momente mit einer reichen Farbskala, überwältigender rhythmischer Verve und dynamischer  Vielfalt. Man vernimmt graziöse, auftrumpfende, dramatische, heitere, stürmische,  galante Stimmungen. Das Werk bietet neben Tanz, Divertissement, Gesang und Spiel die Möglichkeit für spektakuläre Bühneneffekte, die sich auch in der Komposition  widerspiegeln, beispielsweise in einer brausenden Sturmmusik. Das musikalische Spektrum mit seinen Tänzen, Chören, Rezitativen und Airs ist ungemein abwechslungsreich. Das Werk hat keinen allegorischen Prolog, beginnt mit einer die Jagd beschreibenden Ouverture mit entsprechendem Geschmetter der Hörner.

Die Heldin des Stückes ist Alphise, Königin von Baktrien, die einen Fremden mit Namen Abaris liebt, jedoch einen Nachfahren aus dem Geschlecht der Boreas, Calisis oder Borilee, heiraten muss. Ihre Weigerung beschwört den Zorn des Gottes der Nordwinde, Boree, herauf. Er entführt sie in sein unterirdisches Reich. Abaris’ Bemühungen, sie zu retten, werden von der Muse des Gesangs, Polymnie, und dem Gott des Lichts, Apollon, unterstützt. Letzterer eröffnet, dass Abaris sein Sohn sei, den er mit einer Nymphe hatte, die ihrerseits eine Tochter des Boreas war. Damit steht der Hochzeit der Liebenden nichts mehr im Wege.

In Versailles singt Deborah Cachet die zentrale weibliche Rolle. Ihr Sopran lässt schon im ersten Air, „Suivez la chasse“, den typisch säuerlichen, bohrenden Klang der französischen Barocksängerinnen hören. Ihre Vetraute Sémire ist gleichfalls eine Sopranpartie, hier mit Caroline Weynants besetzt, die noch strenger klingt.  Der renommierte französische Tenor Mathias Vidal ist als Abaris mit individuellem, expressivem Tenor zu hören. Bemerkenswert, wie er den vehementen Ausdruck der Ariette „Fuyez, reprenez vos chaînes“ am Ende des 4. Aktes dank seines stimmlichen Totaleinsatzes trifft. Und mit der Ariette gaie„Que l’amour embellit la vie“ fällt ihm am Schluss der Tragédie auch das letzte Solo zu, das er mit zärtlichen, vor Glück trunkenen Tönen vorträgt. Seine beiden Kontrahenten um die Gunst der Königin sind Benedikt Kristjánsson als Calisis mit schmeichelndem Tenor und Tomás Selc als Borilee mit weichem Bariton. Dem Gott Borée verleiht Nicolas Brooymans energische Töne. Die Besetzung wird komplettiert von Lukás Zeman als Apollon mit klangvollem und Benoît Arnould als dessen Grand-Prêtre mit sonorem Bassbariton sowie Pavla Radostová als Polymnie mit jugendlich-lieblichem Sopran. Mit der Contredanse très vive endet das Werk in jauchzendem Übermut. Bernd Hoppe

 

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Sperrig

 

Ich halt es nicht mehr aus!“, singt die Titelheldin in Berthold Goldschmidts Oper Beatrice di Cenci, die, zum ersten Mal in deutscher Sprache, 2018 bei den Bregenzer Festspielen aufgeführt wurde. Dieser Satz ist dem Betrachter der DVD da längst mehrere Male durch den Kopf gegangen angesichts der zwar historisch verbürgten, aber trotzdem oder gerade deswegen unmöglichen Handlung um einen tochterschändenden Vater, gatten- und vatermordende Frauen, heuchlerischen Liebhaber, bestechlichen Kardinal, gnadenlosen Papst und obendrauf noch zwei Auftragsmörder. Zwar wird in Opern oft, aber meistens schön, dazu nach dem Ausleben von Lust und Liebe gestorben, in diesem Werk und dieser Inszenierung von Johannes Erath aber sind selbst die mordenden Opfer von Anfang an durch ihr Leiden so deformiert, die Heldin der Puppe gleich, die sie von Anfang bis Ende in den Armen hält, dass man ihr Schicksal weniger mit Anteilnahme als mit einer Mischung aus Ekel und Mitleid verfolgt. Großartig, aber halt auch eher Abscheu als Bewunderung erregend sind die Kostüme von Katharina Tasch, die die zu Karikaturen von Renaissancemenschen verkommene Hofgesellschaft ausgestattet hat, deren Text zwar von Mitleiden spricht, deren Verhalten jedoch ambivalent ist. Auch die Bühne, insbesondere der Turm, in dem die Gefangenen schmachten, ist von Katrin Connan phantasievoll gestaltet worden, alles in allem sind da Könner am Werk gewesen, die ein Publikum zu fesseln verstehen, selbst wenn die Geistlichen durchweg mit Sonnenbrille oder die Pistole, die von Hand zu Hand geht, natürlich nicht passen. In Johannes Debus und den Wiener Symphonikern stehen außerdem Interpreten zur Verfügung, die die von Schreker, Mahler, der Spätromantik beeinflusste Musik zur Geltung zu bringen wissen. Die Kameraführung konzentriert sich auf die jeweils singenden Personen, was allerdings manchmal zur Folge hat, dass man nicht weiß, woher nackte Körper, die auf einmal in der Ecke liegen, oder andere Überraschungen nun eigentlich kommen.

Gut ausgewählt ist das Sängerensemble, an der Spitze Gal James als Beatrice, marionettenhaft wie ihre Puppe und zunehmend dem Wahnsinn verfallend, mit üppigem, stets weich bleibendem Sopran, sei es in der schönen Klage zu Beginn des zweiten Akts, im „War es böse, was ich tat?“ oder im Lebewohl vor ihrer Hinrichtung. Einen angemessen androgyn klingen Mezzosopran hat Christina Bock für ihren Bruder Bernardo, der als Einziger der Familie überlebt. Angenehm warme Stimmfarben steuert Dshamilja Kaiser als Stiefmutter Lucrezia bei. Die angemessene Härte in der Stimme hat Christoph Pohl für den Vater Francesco Cenci. Einen flachen, scharf klingenden Tenor, der aber die Zwielichtigkeit der Figur gut hörbar macht,  setzt Michael Laurenz für den falschen Fuffziger von Orsini ein, der sich hier immerhin mit dem Pistol selbst richtet. Den geldgierigen Kardinal Camillo singt mit eherner dunkler Stimme Per Bach Nissen. Mit schneidendem Charaktertenor gibt Peter Marsh den blutrünstigen Richter. Der bewährte Prague Philharmonic Choir unter Lukáš Vasilek  darf sich über elegante Kostüme für den Schlusschor freuen, der mit dem Requiem so ziemlich das einzige versöhnliche Element in der fürchterlichen Geschichte ist. (C – Major 751408). Ingrid Wanja    

 

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Händels mythische Frauen

 

Ein reizvolles Programm mit Händel-Arien hat die Sopranistin Margriet Buchberger für ihre Debüt-CD bei Perfect Noise zusammengestellt, die im Juli 2019 in Wuppertal aufgenommen wurde (PN 2004). Der Titel Witches, Queens & Heroines verspricht einen spannenden Rundblick über die berühmten Figuren des Komponisten. Er beginnt mit der Medea aus Teseo und deren Arie „Morirò“. Das Timbre der Interpretin ist nicht sonderlich individuell, aber schon im ersten Beitrag fällt die Flexibilität der Stimme auf, was sie besonders für virtuose Arien prädestiniert.

Aus Alcina gibt es sogar drei Auszüge – zwei Arien der Titelheldin („Ombre pallide“ mit gekonnten Ausflügen in die Extremhöhe und das schmerzliche „Ah! mio cor“ mit existentiellem Ausdruck) sowie eine von ihrer Schwester Morgana. Ihr „Credete al mio dolore“  zeigt die empfindsame Seite der Figur. Sehr populär ist die Cleopatra in Giulio Cesare. Deren Arie „Da tempeste il legno infrato“ ist eine Herausforderung an das virtuose Vermögen der Interpretin und Margriet Buchberger wird ihr mit einem stupenden Koloraturfeuerwerk beeindruckend gerecht.

Dann folgen recht unbekannte Damen – zunächst die Adelaide in Lotario mit ihrer übermütigen Arie „Scherza in mar la navicella“, deren muntere Interpretation besonders gelungen ist.

Aus Siroe ist Laodice mit der Arie „Or mi perdo“ zu hören, die in ihrer melancholischen Stimmung einen reizvollen Kontrast bildet.

Danach treten die Titelheldin aus Atalanta mit „Al varco“ und die Melissa aus Amadigi di Gaula mit „Ah, spietato!“ auf und komplettieren diesen abwechslungsreichen Reigen der Händelschen Gestalten.

Das Ensemble Il Giratempo unter der Konzertmeisterin Zsuzsanna Czentnár begleitet die Solistin mit reicher Farbskala und vielfältigen dynamischen Abstufungen. Bernd Hoppe

Home singing mit Gefühl

 

Ber der neuen Sony-CD Selige Stunde von Jonas Kaufmann freut man sich darüber, dass die Stimme das Grobkörnige, Preis für die letzten hochdramatischen Partien, anscheinend verloren hat, im Piano gut trägt und für die zarten Gebilde geschmeidig genug ist. Nicht home office, aber home singing und für seinen Begleiter Helmut Deutsch home playing waren das Gebot der Stunde, wollte man nicht gänzlich untätig bleiben. Die wundersamsten Gedichte in deutscher Sprache wie Goethes Wanderers Nachtlied und Eichendorffs Mondnacht sind in der bekanntesten Vertonung, der von Schumann und Schubert, auf der CD versammelt, aber auch sonst Lieder, die jedem Freund dieser Gattung vertraut sind, ja sogar Volksliedcharakter haben wie Ännchen von Tharau oder Das Veilchen.

Bei Schuberts Musensohn klingt die Stimme noch etwas fleischig verquollen, das Piano hauchig, als sei die Aufnahme zu einem ungünstigeren Zeitpunkt entstanden als der Rest der CD. Die beiden Beethoven-Lieder hingegen erfreuen mit einer innig-sanft gesungenen Adelaide und einer die Stimmung exakt treffenden Zärtlichen Liebe. Dabei wird deutlich, dass es dem Pianisten eher um das Durchhalten einer Grundstimmung geht, dem Tenor um den Wechsel der Farben je nach Stimmung, das Herausheben oft sogar einzelner Worte wie „flöten“ oder „rauschen“.

Der Volksliedton des Ännchen wird gut getroffen, schwebend schlank kann sich der Tenor durch Mendelssohns Auf Flügeln des Gesanges bewegen, auf „in seligem Traum“ schön aufblühend. In Griegs Ich liebe dich herrscht eine große Ernsthaftigkeit vor mit einer intensiven Steigerung zum Schluss, andächtig erklingt Liszts Es muss ein Wunderbares sein mit der Heraushebung des Wortes „Tod“. In Schuberts Der Jüngling an der Quelle klingt das „ach“ bewegend, sind die leisen Seufzer tatsächlich solche. Gänsehaut macht der dramatische Schluss von Bohms Still wie die Nacht, eine inbrünstige Beschwörung, agogikreich gestaltet. Endlich die Tenorfanfare strahlen lassen kann Kaufmann beim „heilig, heilig“ von Srauss‘   Zueignung, weniger bekannt ist Zemlinskys Selige Stunde, die der CD ihren Namen gab.

Ein raffiniertes An- und Abschwellen des Klangs ins Fast-Nichts erfreut bei Chopins In mir klingt ein Lied, in Wolfs Verschwiegene Liebe befreit sich die Stimme  auf „frei“ von jeder Zurückhaltung, während „schön wie die Nacht“ noch dem „verschwiegen“ verpflichtet zu sein scheint.  Sanfte Intervallsprünge kennzeichnen die Interpretation von Dvoraks Als die alte Mutter, Strauss‘ Allerseelen variiert sehr schön das „einst im Mai“, endet in einem Ton der Entsagung. Hier wie noch stärker in Tschaikowskis Nur wer die Sehnsucht kennt wird deutlich, wie weniger eine einheitliche Stimmung wiedergegeben werden soll, als dass auf jede einzelne Nuance eingegangen wird. Rokokohaft mit leichtem Schritt wird Mozarts Veilchen durchmessen, unbekümmert plaudernd, behänd vom Klavier begleitet, erklingt dessen Sehnsucht nach dem Frühling. Ein feiner Schatten der Betrübnis liegt über Schuberts Die Forelle, wenn am Schluss das muntere Fischlein der Verlierer ist. Vollkommene Stimmbeherrschung ist die Voraussetzung für eine gelungene Mondnacht, ehe weitgespannt auch die Stimme wirken darf. Von schöner zärtlicher Schlichtheit schließlich ist Brahms‘ Wiegenlied, berührend Wolfs Verborgenheit,  bis hin zum Crescendo des „balde“ trifft das auch auf  Wanderers Nachtlied zu. Mit Mahlers Ich bin der Welt abhanden gekommen, unheimlich durch die Verzierungen auf „gestorben“, endet eine CD, die das Vermögen hat, ihrem Hörer selige Stunden zu bereiten, auch wenn es nicht durchweg Romantic songs sind, die sie auf sich vereint (Sony 19439783262). Ingrid Wanja  

Aufarbeitung

 

Ein Buch, das über 325 Seiten hinweg den Intellekt des Lesers aufs Höchste beansprucht, ihn mit einer Fülle von Fakten konfrontiert, ihn (den ehemaligen West-Berliner) in eine untergegangene Welt entführt und ihm dann auf der letzten Seite ganz unerwartet das Herz berührt, ist Eckart Kröplins Operntheater in der DDR,   zum 30.Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschlands vom Henschelverlag herausgegeben. Fremd erscheint der (ehemaligen BRD-) Rezensentin ein Staat, in dem die Oper und ihre Aufführungen höchstes Politikum sind, wo erbitterte Auseinandersetzungen um ideologische und ästhetische Positionen geführt werden, jeder Satz eines Librettos und jeder Takt eine Komposition argwöhnisch daraufhin geprüft werden, ob sie auf dem Boden der letzten, von der Sowjetunion gut geheißenen Parteilinie stehen, nicht nur über die Zukunft einer Partitur, sondern auch über das Schicksal ihres Schöpfers von einem Politbüro, dessen Mitgliedern Oper grundsätzlich schon suspekt sein kann, entschieden wird. Und doch heißt es auf der letzten Seite, nach dem „Untergang“ der DDR habe sich bei  Opernleuten (und wohl nicht nur bei ihnen) ein Gefühl der „Heimatlosigkeit“ eingestellt, weil die „Reibungsfläche“ fehlte, an der man sich bisher abgearbeitet hatte, um seine künstlerischen Pläne durchzusetzen.

Von tiefer Liebe zur Oper generell erfüllt ist der Verfasser, insbesondere zu der, die er in den Häusern der DDR erlebt hat, deren Verwirklicher den schmalen Grat „Zwischen neuer Ästhetik und politischen Dogmen“ (so der Untertitel)  wandeln mussten, seien sie Librettisten oder Komponisten, Intendanten oder Regisseure gewesen, die sich bedingungslos anpassten oder opponierten, daran wuchsen oder zugrunde gingen.

Im Vorwort stellt sich der weit über die Grenzen der alten DDR hinausbekannte und international renommierte Autor vor, schildert knapp seinen Weg zur Oper vom Studium  der Musikwissenschaft in Leipzig, über die Dozententätigkeit, die als Dramaturg und schließlich als stellvertretender Intendant der Semper-Oper in Dresden (operalounge.de ist ihm ohnehin verpflichtet, weil er liebenswürdiger Weise uns Texte zum „Nachdruck“ überlassen hat/ G. H).

Im Grußwort von Siegfried Matthus werden bereits die beiden Pole erwähnt, um die es in weiten Teilen des Buches geht: um das Theater der Verfremdung am Berliner Ensemble unter Bert Brecht und das realistische Einfühlungstheater unter Walter Felsenstein an der Komischen Oper Berlin.

Der Autor ist bei der Beschreibung des Opernlebens in der DDR chronologisch vorgegangen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, wobei innerhalb dieses Zeitraums die jeweilige allgemeine politische Entwicklung, abhängig von der in der Sowjetunion, sich im Verhalten zur Oper niederschlägt, nur in den Achtzigern mag die SED sich Perestroika und Glasnost nicht anschließen, verharrt vielmehr in Erstarrung. Innerhalb dieser chronologischen Gliederung gibt es eine nach Spielstätten, beginnend jeweils mit Berlin und damit  mit Staatsoper und Komischer Oper, dann sich Leipzig und Dresden widmend und schließlich die gar nicht provinzielle Provinz in Augenschein nehmend.
Da die SED, beeinflusst von Ideen wie der Shdanows von den Schriftstellern als Ingenieuren der menschlichen Seele, in der Kunst generell und damit auch in der Oper ein Mittel zur Erziehung der DDR-Bevölkerung zu sozialistischen Menschen sah, nahm sie massiv Einfluss auf deren Gestaltung. Kröplin schildert sehr eindrucksvoll zwei „Fälle“, die darüber Aufschluss geben: den Kampf um Brecht/Dessaus Lukullus-Oper und das Ringen um eine deutsche Nationaloper, die Hanns Eisler mit seinem Faust-Projekt, das den Doktor mit dem Bauernkrieg verbinden sollte, schaffen wollte. Die Abhängigkeit der Künstler von der jeweiligen politischen Richtung zeigt sich dann auch darin, wie nach der Stalinnote von 1952 mit der Aufgabe des Nationalstaatsgedankens die von der Notwendigkeit einer Nationaloper einhergeht. Da das Buch sich der Oper in der DDR widmet und nicht der Gesamtnachkriegsgeschichte, ist verzeihbar, dass der Inhalt der Stalinnote etwas sehr knapp und damit zu Missverständnissen einladend wiedergegeben wird.

Eindrucksvoll werden die vielen Möglichkeiten für die Bevölkerung der DDR, am kulturellen Leben teilzunehmen, dargestellt, immer wieder sind in den Text lange Listen von „Kulturschaffenden“ eingestreut, viele Namen enthaltend, die ebenfalls im Westen einen guten Klang hatten. Es wird auch klar herausgestellt, dass man in Ost und West von Anfang an getrennte Wege ging: im Westen auf der Suche nach Neuem, dem Nachholen in der Nazizeit verpasster Entwicklungen, im Osten der Tradition verhaftet, sich dem Kampf gegen den „Formalismus“ widmend. Eine gleich starke Verachtung trifft nur noch den „Kulinarismus“.

Charakterisiert sind die Jahre 49 bis 61 durch die ästhetische Neuorientierung, 61 bis 71 durch die Aufgabe des Nationalstaatsgedankens, 71 bis 80 durch eine scheinbare Liberalisierung nach der Ablösung Ulbrichts und die 80er zwischen dem ersten Erscheinen von Solidarnost und dem offenen Protest mit dem Dresdner Fidelio inmitten von Mauern und Stacheldraht.

Die Geschichte der Oper in der DDR ist auch eine ihrer Regisseure, von Felsenstein und seinen Schülern Herz und Friedrich, später Kupfer, von Riha und Berghaus. Sie ist eine ihrer Dirigenten wie Kleiber (der Rücktritt nach dem Entfernen der Inschrift über dem Portal der Staatsoper wird nicht ausgepart), Konwitschny, Suitner, Masur, Blomstedt und anderer, ihrer Säger, der deutschen und nach dem 13. August der vielen aus dem Ostblock. Natürlich werden diejenigen nicht ausgespart, die die Kulturpolitik des SED-Staates zu verantworten hatten wie Becher, Abusch, Girnus, Hager und Konsorten, und gleichermaßen einen Schauer über den Rücken jagen dem Leser deren Verlautbarungen wie das schriftliche Bemühen der künstlerischen Macher, ihre Vorhaben zu verteidigen, ihnen zumindest den Anschein sozialistischer Korrektheit zu verleihen. Und nicht einmal kommt dem Leser angesichts der dann oft stupenden Ergebnisse der Gedanke, erst aus dem Kampf gegen Widrigkeiten erwachse das überzeugendste Kunstwerk, falls es nicht bereits im Vorfeld „versandet in engstirniger Ideologie“.

Das Buch befasst sich auch mit der Literatur, die die Opernarbeit begleitete, so werden „Theater der Zeit“, „Sinn und Form“ oder „Material für Theater“ angemessen gewürdigt, nicht zuletzt der bereits 1945 gegründete Henschelverlag. Es entstehen viele neue Opern, die abgesehen z.B. von einigem von Udo Zimmermann, heute nicht mehr aufgeführt werden. Sie sind es aber wenigstens wert, in diesem gehaltvollen Buch erwähnt zu werden, sogar ein unvollendet gebliebenes Werk Brechts und Dessaus, an dessen happy end sich herausstellen sollte, dass das wahre Glück der Kommunismus sei. In den letzten Jahren der DDR entwickelt sich nach Kröplin Kunst immer mehr zur Gegenwelt der realen Misere.

Noch vor Chereau wird der Ring in Leipzig durch Herz zur Kapitalismuskritik, Spas Wenkoff singt in Dresden Tristan und bald in Bayreuth, und hier wie anderswo im Westen sind Sänger wie Adam, Schreier, Vogel, Büchner, Freier, Lorenz, Priew, Tomowa-Sintow oder Goldberg gefragt und beliebt.

Ganz nebenbei erfährt man, dass Felsenstein, nachdem er aus der Reichskulturkammer ausgeschlossen worden war, von Heinrich George an seinem Theater beschäftigt wurde. Das schien nach 1945 keine Rolle mehr gespielt zu haben.

Bei der Schilderung des Werdegangs von Götz Friedrich kommt mit der Erwähnung von Stanislawski noch ein weiterer Antagonist zu Brechts Verfremdungstheater ins Spiel, in dessen „poetischer Wahrheit“ Wirklichkeit und Künstlichkeit einander aufheben sollen. Gegen einen Sowjetmenschen war kein Einwand denkbar und damit die „ästhetische Weiterung“ ideologisch abgesichert.

Im letzten Teil des Buches wird der Umgang der DDR mit Mozart und Wagner betrachtet, die „politische Brisanz in der Mozart-Rezeption“ und der Streit darum, ob Wagner ein Revolutionär oder Reaktionär gewesen sei. Ein kurzer Blick nach Westen beweist dem Leser, dass es bereits damals  auch mit Wieland Wagner oder Robert Wilson andere Regiehandschriften gab als die realistische oder die verfremdende.

Die 80er täuschen mit der Eröffnung von Gewandhaus, Konzerthaus am Gendarmenmarkt und Semperoper, mit der Rehabilitierung von Preußentum und Bismarck (Rückversicherungsvertrag mit Russland!) Prosperität vor, aber dahinter versteckt sich mühsam die „finale Agonie“.

Das an Fakten überaus reiche Buch, das zusätzlich sympathisch wird durch das Engagement des Autors für seine Sache, das den Leser in seinen Bann zieht und ihn bereichert um Wissen und Verständnis entlässt, wird vervollständigt durch einen Anhang, der wichtige Operninszenierungen auflistet, ein Literaturverzeichnis, ein Personenregister und einen Bildnachweis umfasst (360 Seiten, 2020 Henschel Verlag; ISBN 978 3 89487 817 7). Ingrid Wanja

 

Allegorisches aus Wildbad

Kontinuierlich veröffentlicht NAXOS Live-Mitschnitte vom Festival ROSSINI in WILDBAD. Jetzt erschien aus dem Jahre 2018 die Cantata Le nozze di Teti e di Peleo, welche Rossini 1816 aus Anlass der Vermählung von Karl Ferdinand von Artois, Herzog von Berry, mit Maria Carolina, Nichte des Bourbonenkönigs Ferdinand IV.,  komponierte. Sie handelt von der Hochzeit der Meeresgöttin Thetis mit dem Helden Peleus und wurde in Neapel mit einer illustren Sängerbesetzung uraufgeführt, welche die virtuosen Anforderungen der Komposition bravourös umsetzte. Dabei waren die Sopranistin Isabella Colbran als Cerere sowie die Tenöre Andrea Nozzari als Giove und Giovanni David als Peleo.

In Bad Wildbad wirken unter Pietro Rizzo, der die Virtuosi Brunensis mit spürbarer Rossini-Erfahrung leitet, natürlich keine Sängerstars dieser Ordnung, wohl aber solide Interpreten, die mit spürbarem Engagement am Werk sind. Die Titelrollen singen die italienische Sopranistin Eleonora Bellocci und der türkische Tenor Mert Süngü. Er lässt in seiner Auftrittskavatine („Giusto Cielo“) eine weiche, träumerische Stimme hören, offenbart allerdings im Schlussteil  („Ovunque volgomi“) leichte Höhenprobleme. Im folgenden Duetto mit Teti kann die Sopranistin mit delikaten Tönen aufwarten. Der Amerikaner Joshua Stewart nimmt die zweite Tenorpartie des Werkes, den Giove, wahr. Leider hat Rossini ihm keine Arie zugedacht, aber der Sänger kann mit seiner dunkel getönten, heroisch orientierten Stimme im Terzetto mit den beiden Titelfiguren („Per me regni alfin/Qual suon terribile“) Akzente setzen. Die  Fruchtbarkeitsgöttin Cerere wurde der spanischen Sopranistin Leonor Bonilla anvertraut. Sie lässt sogleich in ihrem Auftrittsduett mit Giunone, Schutzgöttin der Ehe, eine Stimme von reizvoll melancholischem Timbre hören und kann nach danach auch in ihrer Arie „Ah non potrian resistere“ mit sicheren Spitzentönen punkten. In deren Schlussteil, der das Thema von Angelinas Finalrondò aus der Cenerentola vorweg nimmt, beweist sie zudem ihr bravouröses Vermögen. Die renommierte italienische Mezzosopranistin Marina Comparato komplettiert die Besetzung als Giunone. Dem Chor fällt nach dem munteren Preludio die erste Gesangsnummer der Azione coro-drammatica zu und der Górecki Chamber Choir, Kraków (Mateusz Prendota) absolviert sie mit sprühendem Elan (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Bernd Hoppe

Ruth Falcon

 

An Ruth Falcon, die am 9. Oktober starb, erinnere ich mich genau – an ihre Strauss´sche Kaiserin und dto. Arabella in den 80ern, dann an einiges in Holland und auch an Einspringerin in Berlin an der DOB. Ich hatte sie durch Sänger-Kollegen kennengelernt. Sie war eine sehr liebenswürdige, mollige Person mit einem strahlenden Lächeln und der sprichwörtlich professionell-liebenswürdigen amerikanischen Wesensart. Und sie besaß eine schön, gut geformte und tragfähige lyrische Sopranstimme. Ihre Arabella neben David Pitman-Jennings bleibt mir in Erinnerung (Hamburg?), weil sie eine so cremige Sopranstimme zeigte, die eine ideale Figaro-Contessa eignete. Leider sang sie auch zu groß: Turandot war nichts für sie. Sie ist auf manchen Schallplatten zu hören, aber nur in Nebenrollen, so als eine der Walküren bei Haitink/ EMI und  Dohnanyi/ Decca, als Lola live bei Orfeo und als eine der Ungeborenen live bei Sawallisch/Orfeo. Ihre Arabella war bei Naxos herausgekommen und ist eigentlich das überzeugendste Zeugnis dieser schönen Stimme. G. H.

Zu ihrem Tode schreibt die englische Wikipedia: Ruth Falcon (born November 2, 1942; died October 9, 2020) graduated from Loyola University of the South (BM, in 1964) and Tulane University (MFA, in 1971) and debuted with the New Orleans Opera Association as Frasquita in Carmen, in 1968, opposite Norman Treigle as Escamillo. She made her first appearance with the New York City Opera as Micaëla in that same opera, in 1974. She went on to appear as the Contessa Almaviva in Le nozze di Figaro and Donna Anna in Don Giovanni, with the City Opera. She studied with Marinka Gurewich in New York City.

She sang the first of her eleven appearances with the Metropolitan Opera in 1989, as the Empress in Die Frau ohne Schatten. In 1992, the soprano portrayed Chrysothemis in Elektra (conducted by James Levine), and, in 1996, sang the title role in Turandot (with Angela Gheorghiu as Liù). In the Met’s 1996-97 season, she made her final operatic appearances, as Gertrud in Hänsel und Gretel (with Jennifer Larmore and Dawn Upshaw, conducted by Sir Andrew Davis), a performance that was broadcast.

Falcon also appeared at Covent Garden, Paris Opéra, Wiener Staatsoper, Bayerische Staatsoper, Deutsche Oper Berlin, Teatro la Fenice, Teatro Colón, Opéra de Monte-Carlo, and Aix-en-Provence Festival.

Her discography includes a recording of Beethoven’s Ninth Symphony, conducted by Lord Menuhin (1990). Falcon became a highly successful pedagogue, and was on the faculty of The New School’s Mannes School of Music. Among her celebrated students are Ainhoa Arteta, Danielle de Niese, Sondra Radvanovsky, Nadine Sierra, and Deborah Voigt. Miss Falcon died in 2020, at the age of seventy-seven. (Quelle en.wikipedia.org/ Foto Ruth Falcon als Elisabetta/ Don Carlo/ Loyola University New Orleans)

Wiener Schmäh

 

In schöner Selbstgefälligkeit verkündete Jonas Kaufmann während seines eigenmoderierten Konzerts im Wiener Konzertsaal, er verfüge über den berühmt-berüchtigten Wiener Schmäh, was nicht alle dort ansässigen Kritiker so sahen, der aus Berlin stammende maßt sich kein Urteil an, staunt lediglich darüber, wie weitgespannt, von Wien bis Tirol und darüber hinaus bis bella Venezia,  sich Mein Wien“ erstreckt. Es handelt sich wohl eher um in irgendeiner Weise mit Wien verbundene Komponisten, die „the World’s greatest Tenor“, wie es auf dem Cover heißt, zu Gehör bringt, so dass auch die Rosen in Tirol ihre Berechtigung haben und die Geigen auf Balkanisch „Hab mich lieb“ flüstern dürfen, mit „O Königin du“ die Stadt in der Lagune, nicht die an der Donau gemeint ist. In dem als Zugabe abschließenden Kreisler-Chanson Der Tod ist ein Wiener scheint der weanerische Ton am besten getroffen zu werden, ansonsten singt der Tenor in angenehm lässiger, weil sich der Potenz und Geschmeidigkeit seiner Stimme sicher, Haltung durchaus operettengemäß, mal auch, so bei  den Zwei Märchenaugen wie ein Opern-Schmetter-Tenor, mit gut gestütztem Piano in der Nacht in Venedig, pfeift auf das Heurigenlokal und setzt Schmelz und Schmalz für „Wien, nur du allein“ ein. Für das Wiener Blut und die Lustige Witwe hat er in Rachel Willis-Sorensen nicht nur eine charmante Gesangspartnerin mit süßem, weichem Sopran, sondern kann zum Vergnügen des Publikums auch ein paar Tanzschritte zum gelungenen Abend beitragen. Die Sängerin kann sich dann mit dem Vilja-Lied mit zusätzlichen hohen Tönen über besonders viel Beifall vom animierten Publikum freuen. Viel ist vom Prater, in dem wieder die Bäume blühen, zu vernehmen, einiges davon im charmant dargebotenen Kommentar auch direkt aus dem dortigen Riesenrad, aber auch Sievering, wo nur der Flieder blüht, oder das kleine Café in Hernals werden in Wort und Ton gewürdigt. Für den Eisenstein und seine plumpe Anmache ist Jonas Kaufmann einfach zu charmant, beim Tragik vermeidenden „Sag beim Abschied leise Servus“ ganz in seinem Element. Das Orchester, die Prague Philharmonia unter Jochen Rieder ist etwas behäbig, aber zuverlässig und ein guter Begleiter. Ein angenehm herzerwärmender Abend ist jedem Betrachter des reichhaltigen Programms der DVD gewiss (Sony 19439734009). Ingrid Wanja   

Unbekannte Mondwelten

 

Immer wieder wartet NAXOS mit staunenswerten Neuveröffentlichungen von veritablen Raritäten auf – jetzt mit einer echten portugiesischen Oper. Ihr Titel – Il mondo della luna – lässt sofort an Joseph Haydns Vertonung des Librettos von Carlo Goldoni (1777) denken. Auch der portugiesische Komponist italienischer Abstammung Pedro António Avondano, der von 1714 bis 1782 lebte, stützte sich für seine Version, die 1765 während der Karnevalsaison in Salvaterra uraufgeführt wurde, auf diese Vorlage. Sie erzählt von dem reichen Kaufmann Buona Fede und seinen Töchtern Clarice und Flaminia, die von dem angeblichen Astrologen Ecclitico und dem Kavalier Ernesto geliebt werden. Da die beiden Bewerber von Buona Fede abgewiesen werden, greifen sie zu einer List, wollen mit seiner Hilfe eine Reise zum Mond unternehmen. Nach einem verabreichten Schlaftrunk erwacht Buona Fede in einem Garten, der in eine phantastische Mondlandschaft verwandelt wurde. Verkleidet überreden ihn Ernestos Diener Cecco und Buona Fedes Zofe Lisetta,  der Doppelhochzeit zuzustimmen.

Die Aufnahme entstand im September 2017 in Lissabon und nutzt eine gekürzte Fassung, welche 1994 im Teatro Sao Carlos der portugiesischen Hauptstadt herauskam (8.660487-88, 2 CD). Das 2005 von Marcos Magalhaes gegründete Ensemble Os Músicos do Tejo musiziert unter seinem Leiter auf historischen Instrumenten. Schon in der viersätzigen Sinfonia entfacht er musikantischen Schwung und die Blechbläser können sich besonders profilieren.

Das rein portugiesische Ensemble führt der Bassist Luis Rodrigues als Buona Fede an, dem das erste Solo zufällt, die Cavatina „Ho veduto una ragazza“ – eine buffoneske Nummer, in welcher der Sänger mit lautmalerischer Eloquenz aufwartet. Ihr folgen seine Arien „Ho veduto un bon marito“,„Ho veduto dall’amante“ und „La ragazza col vecchione“ von ähnlichem Charakter.

Die Soprane Susana Gaspar und Carla Caramujo singen seine Töchter Clarice und Flaminia. Letztere kann in ihrer beschwingten Auftrittsarie („Ragion nell’alma“) mit leichter, rescher Stimme gefallen, während die Erstgenannte  in „Son fanciulla da marito“ mehr Farbe und corpo, aber auch strenge Töne hören lässt.

Deren Liebhaber sind die beiden Tenöre Joao Pedro Cabral als Ernesto und Fernando Guimaraes als Ecclitico. Dieser führt sich mit der schwärmerischen Arie „Un poco di denaro“ ein und lässt dabei eine angemessen muntere Stimme hören. Ersterer zeigt in „Qualche volta“ eine eher schmales Volumen. Das Buffo-Paar geben der Bassist Joao Fernandes als Cecco und die Sopranistin Carla Simoes als Lisetta. Sie hat mit „Una donna come me“ eine Arie von reizvollem Melos, kann aber grelle Momente nicht vermeiden. Er kann in der Arie „Un avaro suda e pena“ ein buffoneskes Kabinettstück abliefern und dabei verblüffende Kopftöne einsetzen. Beide Paare haben im 3. Akt noch innige Duette, bevor das Finale mit „Buona Fede tondo il cerchio della Luna“ alle sieben Interpreten zu einem heiteren Abgesang vereint. Bernd Hoppe 

 

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)