Auf keinen Fall endgültig abschrecken lassen von der weiteren Lektüre des dickleibigen Bandes mit dem Titel Hitler. Macht. Oper. sollte sich, wen nach dem Lesen des Kapitels über das „Sounddispositiv nationalsozialistischer Führerinszenierung“ der Mut verlassen hatte, sich auch die restlichen 580 Seiten zu Gemüte zu führen. Sehr vielseitig und auch über weite Strecken hinweg für den „Normal“leser verständlich ist das dickleibige Ergebnis eines zwischen 2016 und 2019 stattgefunden habenden Projekts des Forschungsinstituts für Musiktheater der Universität Bayreuth gemeinsam mit dem Staatstheater Nürnberg und dem Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände. Wissenschaftler aus den Bereichen Musik, Musikwissenschaft und Geschichte befassten sich mit dem Thema, in welcher Weise sich die Nationalsozialisten der Musik, insbesondere der Oper, bedienten, um die Menschen zu beeinflussen. Sowohl thematisch wie methodisch ging man dabei über die Grenzen des Themas sowie über die reine Wissensvermittlung hinaus, indem man zum Beispiel auch Reiseführer der Stadt Nürnberg heranzog oder in den Räumen des Dokumentationszentrums in Form eines Reenactment des Riefenstahl-Films Triumph des Willens Erhellendes dazu beitragen wollte, worauf die Faszination gewisser Veranstaltungen der Nationalsozialisten sowie ihrer Darstellung im Film beruhte.
Der Untertitel des Buches lautet Propaganda und Musiktheater in Nürnberg 1920 bis 1950, Stoff ist also nicht nur die Nazizeit, sondern auch die der Weimarer Republik und die der Nürnberger Prozesse, ehe das Opernhaus, eines der wenigen nicht zerstörten, aus der Hand der Amerikaner wieder in die der Nürnberger zurück gegeben wurde. Nicht nur diese Kontinuität, sondern natürlich besonders die Wagner-Oper Die Meistersinger von Nürnberg und Hitlers Faible für Komponisten und besonders dieses Werk, auch die Tatsache, dass die fränkische Stadt die der Reichsparteitage war, dass sie als eine besonders deutsche galt und besonders stark zerstört aus dem 2. Weltkrieg hervorging, machten sie zu einem interessanten Untersuchungsgegenstand.
Jedem Kapitel vorausgestellt ist eine Zusammenfassung in englischer Sprache, mit deren Lesen man sich aber nicht begnügen sollte, denn sie ist extrem knapp und verzichtet natürlich auf interessante Details, die das jeweilige Kapitel erst lesenswert machen.
In der Einführung der vier Herausgeber wird der Zusammenhang zwischen den drei Begriffen erläutert, der Weg Hitlers zur Oper kurz nachgezeichnet, die Musik als Propagandamittel, zugleich aber als etwas durchaus Subversives gekennzeichnet, hervorgehoben, dass in den Jahren 33 bis 45 es durchaus unerwünscht war, dass nationalsozialistische Symbole auf der Bühne gezeigt wurden. Bereits hier wird auf die Meistersinger eingegangen, wenn das Verhältnis Sachs- Stolzing verglichen wird mit dem Hindenburg-Hitler am Tag von Potsdam. Auch seien Feste und Umzüge hier wie dort anzutreffen, und die Idee einer Volksgemeinschaft verbinde ebenfalls Meistersinger wie 3. Reich miteinander. Parallelen gibt es für die Verfasser auch zwischen Festwiese und der Gestaltung der Reichsparteitage, und dass die letzte Aufführung im Nürnberger Stadttheater vor der Schließung am 31.8.44 die Götterdämmerung war, gibt ebenfalls zu denken.
Der erste große Block des Buches widmet dich „Ästhetik und Propaganda“. Im Kapitel „Hitler, Wagner und die nationale Sinnsuche“ befasst sich Gerwin Strobl mit der Ineinanderverzahnung von Wagnerverehrung und Politik, so wenn Hitler den Autobahnbau mit einem „Fanget an!“ beginnen lässt. Der Verfasser warnt zurecht davor, die Wagnerschwärmerei als auf Deutschland beschränkt zu sehen, sieht es als bemerkenswert an, dass sich Hitler nie auf Wagners Judenhass bezog, betont, dass sein Wagnerbegeisterung und sein viel später einsetzender Judenhass nichts miteinander zu tun haben. Interessant sind auch die Ausführungen darüber, warum sich Goethe und Schiller (der erste Parteitag der NSDAP nach dem Aufhaben des Verbots fand in Weimar statt) oder Richard Strauss ( im Text Strauß) nicht als Galionsfiguren eigneten. Der faktenreiche und ideologiefreie Beitrag zieht das Fazit, die Oper von der klassenlosen, von einem Künstler geführten Gemeinschaft der Meistersinger habe sich als „Wohlfühldroge“ bestens geeignet.
Hans Rudolf Vaget befasst sich mit Deutschland-„Meistersingerland“ und der Festwiese als Vorahnung der Reichsparteitage. Er räumt mit der weit verbreiteten Meinung auf, Beckmesser sei in der Nazizeit als Jude dargestellt worden, spricht allerdings von einer „unterschwellig antijüdische(n) Stoßrichtung der Beckmesser-Figur“.
„Von der Gralsburg zum Lichtdom- Auf dem Weg zum nationalsozialistischen Gesamtkunstwerk“ nennt Tobias Reichert seinen Beitrag, was primitiver klingt, als es das Kapitel dann ist, das Thomas Mann, Adorno und Joachim Fest als Zeugen heranzieht und von der „Ästhetisierung des politischen Lebens“ durch den Faschismus, bzw. durch den kunstverliebten „Führer“ handelt, von den Rauscherfahrungen, die sowohl der Bayreuthbesucher wie die der des Reichsparteitags machen konnte, wobei nicht verschwiegen wird, dass eher die Strapazen als der Rausch bei den Beteiligten dominierten. Daran konnte auch der Lichtdom zum Erscheinen Hitlers nichts ändern. Es werden die Versuche beschrieben, durch musikalische Genüsse, die allerdings nie aufgeführte „Feierstunde“ von Friedrich Jung, in der der Verfasser Parallelen zu den Aufzügen der Gralsritter erkennen will, ein angenehmes Klima zu schaffen.
Den Abschluss dieses Blocks bildet Evelyn Annuß‘ „Beitrag Telefunken-Meistersinger. Richard Wagner und das Sounddispositiv nationalsozialistischer Führerinszenierung“, die sich auf den französischen Botschafter Francois-Poncet beruft, der den Einzug der Zünfte auf die Festwiese mit den Geschehnissen am 1. Mai 1933 auf dem Tempelhofer Feld vergleicht. Teilweise als eigene Erkenntnis, teilweise als Zitat werden kühne Behauptungen aufgestellt wie die, durch die Versenkung des Orchesters in Bayreuth würde „der Chor als szenische Figur weitgehend verdrängt“.
Der zweite große Block widmet sich dem Thema „Inszenierung und Propaganda“, und seine Beiträge befassen sich explizit mit dem Stadttheater Nürnberg und seinen Meistersinger-Aufführungen, was natürlich auch eine willkommene Hinwendung zum Konkreten bedeutet.
In Silvia Biers Beitrag über das Stadttheater der Dreißiger, der auch von der Befragung von Zeitzeugen lebt, geht es um die drei Dimensionen, die ästhetischen Mittel, den Kontext und Rezeption und Dokumentation, ganz konkret auch um die Umgestaltung des Innenraums im Jahre 1935, wozu auch die Einrichtung einer Führerloge gehört. Als interessant erweist sich auch die Betrachtung der „Blätter der Städtischen Bühnen Nürnbergs“, oft mit antisemitischem Leitartikel, ansonsten aber ohne ideologische Bezüge. Ein weiterer Abschnitt ist der Spielpangestaltung gewidmet, die Deutsches bevorzugt, aber Italienisches und Slawisches nicht ausschließt, eher zeigt sich Nationalsozialistisches in der Bühnengestaltung, aber eher verhüllt im Naturalistisch-Monumentalen. Eine Ausnahme sind die Meistersinger von Reichsbühnenbildner Benno von Arent mit dem Fahnenwald der Festwiese. Ausführlich und damit nachvollziehbar und mit den entsprechenden Abbildungen, die auch den fließenden Übergang von der Bühne zum Parkett zeigen, wird hier nachgewiesen, wie man die „Erlebnisgemeinschaft“ zu inszenieren versuchte.
Thomas Kuchlbauer weist in seinem Beitrag darauf hin, dass Hitler nie der historische, eher noch der Sachs von Lortzing nahe stand. Er betrachtet auch den Einfluss der Nazis auf die Theaterkritik, in der häufig von Sachs als dem „lenkenden und führenden Menschen“ u.ä die Rede ist. Interessant ist, dass die Lortzing-Musik dem Sachs entrissen und einem Kotzebue-Text aufgepfropft wurde. Mit diesem Artikel und den Beiträgen davor ist der Leser längst dem unverdaulichen Soziologendeutsch entkommen, das ihn in einem der Anfangskapitel verstört hat.
Auch das nächste Kapitel, das sich Wieland Wagners erstem Ring widmet, ist von Anno Mungen so interessant wie anschaulich geschrieben, schildert anschaulich das Verhältnis des Wagner-Enkels, der sich zunächst nur als Bühnenbildner betätigt, zu Hitler, der nach Meinung des Verfassers in Wieland und dem Sohn des Bühnenbildners Roller Ersatzsöhne sieht. Hier wie auch an anderer Stelle wird deutlich, dass die Wiener Moderne durchaus auf Bühnen Nazideutschlands geduldet wurde. Im Anhang befindet sich ein „Gutachten“ von Rudolf Hartmann über die Walküre vom 12.10.1943, im Unterschied zu anderen Quellen gut lesbar.
Der dritte Block nennt sich schlicht „Akteure und Propaganda“ und bringt an erster Stelle ein Lebensbild des Verwaltungsinspektors Georg Ukherr, schildert dessen Aufstieg, der auch dank des Bekenntnisses zum Nationalsozialismus erfolgt und sein Entnazifizierungsverfahren, begnügt sich aber nicht mit dem Einzelschicksal, sondern problematisiert die unterschiedlichen Möglichkeiten der Geschichtsschreibung, die der Wiederbelebung einer Aufführung durch die Theaterwissenschaft. Der Autor Daniel Reupke zeigt anhand des Einzelschicksals, wie heikel das Thema Entnazifizierung war, warum sie nicht die Erwartungen erfüllen konnte, die man anfangs hatte. Dieser Beitrag kann besonders deswegen gefallen, weil er Konkretes und Abstraktes sinnvoll miteinander verbindet.
Wolfram Pyta befasst sich mit Bühnenbildnern der Nazizeit, hier hätte man sich Abbildungen gewünscht, Jasmin Goll dem Frauenbild in Strauss‘ Frau ohne Schatten, was ein wenig deplatziert wirkt, da das Stück bereits 1919 uraufgeführt wurde. Zwar ist die im Frosch gepriesene Mutterschaft auch für die Nazis erstrebenswert, aber ansonsten war ihnen das Stück wohl eher fremd. In der Nürnberger Aufführung war denn auch nichts von Nazi-Ideologie zu spüren.
Im vierten Block, der Raum und Propaganda zusammenführt, geht es handfester zu mit Martin Otts Vergleich der Nürnberger Stadtführer durch des deutschen Reiches Schatzkästlein, von der ersten Ausgabe 1906 an bis zur zwölften im Jahre 1934. Sehr interessant ist, wie sich der Blick auf die Stadt wandelt so wie der Weg, der vorgeschlagen wird, um sie zu erkunden. Anschaulich bleibt es auch bei Sebastian Werrs Beitrag über Hitler und die Theaterarchitektur, und man nimmt verwundert zur Kenntnis, wo er überall seine Hände im Spiel hatte, so in der Städtischen Oper Charlottenburg, die zum Deutschen Opernhaus wurde, im Schillertheater, der Volksbühne und dem Admiralspalast- und das sind nur die Berliner Eingriffe. Durchweg soll an die Stelle von Jugendstilelementen Klassizistisches treten, viele Fotos beweisen es. Dem Nürnberger Haus gilt natürlich sowohl Hitlers wie des Autors Aufmerksamkeit. Sebastian Gulden und Silke Ludwig haben sich diesem Abschnitt gewidmet.
Dass Hitler auch für die besetzten Länder plante, beweist das Kapitel „Von der „Akropolis“ zur „Baracke““ von Stefan Heinz, in dem es um ein geplantes Opernhaus in Luxemburg geht.
Im fünften Block, der sich etwas ungeschickt „Musiktheater und Nationalsozialismus ausstellen“ nennt, fragt sich Christiane Plank-Baldauf, ob man den Schrecken überhaupt ausstellen könne und dürfe, erwähnt mögliche Konzepte wie natürlich das in Nürnberg, aber auch das im Münchner Dokumentationszentrum 2015 oder Majdanek in Lublin. Seit 2001 gibt es die Ausstellung „Faszination und Gewalt“ in einem teils Ruine seienden Gebäude auf dem ehemaligen Gelände der Reichsparteitage. Martin Schmidl äußert sich zu Erlebnisdesign und Atmosphären-Design, Gabriele Nutz und Daniel Reupke schreiben über die Theaterbibliothek und ihre Funktionen.
Den letzten Teil des Buches bildet die Schilderung der Performance, bestehend aus dem Miteinander von Identität und Abweichung in der Wiederholung mit dem Zweck, den Riefenstahl-Film zu entlarven, zu entzaubern, anschließend gab es ein Publikumsdiskussion, die ebenfalls abgedruckt ist.
Die letzten Seiten des Buches offerieren eine Auswahlbibliographie, ein Abkürzungs- und ein Abbildungsverzeichnis und einen Überblick über die Autoren ( 596 Seiten, Königshausen & Neumann 2020; ISBN 978 3 8260 6701 3). Ingrid Wanja