Paukenschlag zur Gesamtaufnahme

 

Anton Bruckners Achte, zuweilen als Apokalyptische bezeichnet, ist für manch einen die Krönung im Œuvre des „Meisters von St. Florian“. Tatsächlich handelt es sich bei diesem 1887 in seiner Erstfassung fertiggestellten Werk um die letzte vom Komponisten vollendete Sinfonie. Wie so häufig bei Bruckner, ist die Fassungsfrage evident. Die Letztfassung von 1890 hat sich sowohl im Konzertsaal als auch diskographisch mit gutem Grund durchgesetzt, auch wenn die Urfassung ebenfalls ihre Meriten hat.

Der führende deutsche Bruckner-Dirigent Christian Thielemann wagt sich nun für Sony mit den Wiener Philharmonikern an eine Gesamteinspielung der Bruckner’schen Sinfonien, wobei die Gesamtheit hier, wie in nahezu allen Zyklen, in Anführungszeichen gesetzt werden sollte. Einzig und allein der russische Dirigent Gennadi Roschdestwenski hat tatsächlich wirklich alle existierenden Fassungen einer jeden Bruckner-Sinfonie irgendwann eingespielt. Solche Ambitionen hat man in Wien sicherlich nicht, wird es also bei den klassischen neun Sinfonien in den gängigen Fassungen belassen. Den Anfang macht also ausgerechnet die monumentale Sinfonie Nr. 8 c-Moll, als wollte man bereits zu Beginn einen Paukenschlag setzen (Sony 19439786582). Selbstredend handelt es sich keinesfalls um eine Erstbeschäftigung Thielemanns mit diesem Opus magnum. Bei Profil/Hänssler erschien bereits vor einem Jahrzehnt eine großartige Einspielung mit der Staatskapelle Dresden aus der Semperoper vom September 2009, die man aus der Rückschau gleichsam als inoffizielles Thielemann’sches Antrittskonzert als dortiger Chefdirigent betrachten kann. Thielemann sprang damals im letzten Moment für Fabio Luisi ein und gewann mit einem Schlage die Herzen der Dresdner. Die Neuaufnahme entstand beinahe auf den Tag genau zehn Jahre später, bei öffentlichen Konzerten im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins am 5. und 13. Oktober 2019. Es handelt sich also in beiden Fällen streng genommen um Aufführungsmitschnitte, wenn auch um professionell produzierte. Da wie dort entschied sich der Dirigent für die 1939 entstandene Edition von Robert Haas, welche sich bis heute mit jener Edition von Leopold Nowak (1955 bzw. 1972) in etwa die Waage hält. Tatsächlich hat sich Thielemann auch schon der Nowak-Edition bedient, so mit den Münchner Philharmonikern im Jahre 2007 und mit den Berliner Philharmonikern im Folgejahr. Nun sind die Unterschiede in den beiden Editionen allerdings nicht derart gravierend wie bei anderen Bruckner-Sinfonien. Ein Blick auf die Spielzeiten zeigt, dass er sich tempomäßig treu geblieben ist: Für  den Kopfsatz benötigt er mit den Wienern mit 15:42 praktisch exakt genauso lange wie einst in Dresden, das Scherzo fällt mit 15:35 gerade siebzehn Sekunden flotter aus und das Adagio mit 26:26 eine halbe Minute zügiger. Im Finalsatz schließlich bringt er es in Wien auf 23:45, womit er zwanzig Sekunden mehr braucht als in Dresden (abzüglich des dortigen Applauses). Alles in allem also vernachlässigbare temporale Unterschiede. Nun ist es alles andere als ein Geheimnis, dass sowohl die Wiener Philharmoniker als auch die Staatskapelle Dresden eine immense Bruckner-Tradition vorzuweisen haben. Nur sehr wenige andere Klangkörper können da mithalten. Von daher ist die genuine Eignung als Bruckner-Orchester in beiden Fällen unbestritten. Und doch gibt es Unterschiede. Klanglich sind beide Aufnahmen sehr natürlich eingefangen, Störgeräusche sind nicht zu beklagen. An der Donau klingt es etwas wärmer als an der Elbe; man könnte auch sagen: weicher. Es nimmt nicht wunder, dass daher besonders der himmlische langsame Satz von diesem Zugang profitiert. Hier ist Thielemann mehr auf Linie mit Carlo Maria Giulinis vielgerühmter Einspielung mit den Wiener Philharmonikern denn mit Karl Böhms expressiverer Lesart mit demselben Orchester (beide DG). Das angriffslustige Scherzo wird in der älteren Thielemann-Aufnahme mit der Dresdner Staatskapelle eine Spur schärfer akzentuiert als in Wien. Ihren Höhepunkt erreicht die achte Sinfonie im Schlusssatz. Bruckner sprach beim gewaltigen Auftakt zum selbigen von einer musikalischen Umsetzung des 1884 erfolgten Drei-Kaiser-Treffens in Skierniewice bei Brünn zwischen Kaiser Franz Joseph I. von Österreich-Ungarn (dem dieses Werk auch gewidmet ist), dem Deutschen Kaiser Wilhelm I. und Zar Alexander II. von Russland. In diesem Satz tritt die Verschiedenartigkeit beider Aufnahmen am stärksten zutage. Während die Pauken in Dresden furchteinflößend dräuen, grollen sie in Wien vergleichsweise vornehm und zurückhaltend. Dies wird in der Reprise nochmal deutlicher, die mit der Staatskapelle viel infernaler herüberkommt. Die Dresdner Blechbläser gehen aufs Ganze, während die Wiener Kollegen mehr auf Wohlklang setzen. Beides hat seine Berechtigung. Zur letzten Bewährungsprobe wird sodann freilich die mysteriöse abschließende Coda, welche alle Hauptthemen der vier Sätze zugleich erklingen lässt. Hier vermisst man in der Neueinspielung aus Wien ein wenig das allerletzte Fünkchen Durchschlagskraft. In dieser Hinsicht sei der Verweis auf die maßstäbliche, in ihrer Klarheit womöglich unerreichte Aufnahme des Sinfonieorchesters des Norddeutschen Rundfunks unter Günter Wand aus dem Lübecker Dom von 1987 gestattet (RCA). Die Sony-Neuerscheinung ist gleichwohl als im Ganzen überzeugend zu bezeichnen und darf Bürge stehen für das zu erwartende gleichbleibende hohe Niveau des im Entstehen begriffenen Bruckner-Zyklus Christian Thielemanns mit den Wiener Philharmonikern. Daniel Hauser