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Denkt man an die bedeutendsten lebenden Wagner-Dirigenten, so kommt man an ihm nicht vorbei. Christian Thielemann hat sich in den letzten Jahrzehnten unweigerlich als der wichtigster Wagner-Interpret aus dem deutschsprachigen Raum etabliert. Mittlerweile liegen auch beinahe alle Opern des Bayreuther Kanons unter seinem Dirigat entweder als CD oder als DVD bzw. Blu-ray vor. Mit den Meistersingern von Nürnberg, dieser großartigen Abhandlung Richard Wagners über die Kunst an sich, hat er sich schon vor zwei Jahrzehnten eingehend auseinandergesetzt. Zwischen 2000 und 2002 übernahm er die (letzte) Wolfgang-Wagner-Produktion bei den Bayreuther Festspielen (übrigens zudem sein dortiges Debüt). Im Jänner 2008 folgte eine Aufführungsserie an der Wiener Staatsoper, die auch verfilmt wurde (Unitel). Auf eine altmodische Einspielung der Meistersinger in CD-Form mussten sich Wagnerianer indes bis 2020 gedulden. Nun erst erscheint ein Mitschnitt von den Osterfestspielen Salzburg 2019 mit der Staatskapelle Dresden in der gleichnamigen Edition bei Profil/Hänssler unter Thielemanns Leitung (PH 20059).
Tatsächlich besitzt die Sächsische Staatskapelle Dresden, so ihr voller Name, eine Wagner-Tradition wie nur ganz wenige andere Klangkörper und wurde vom Meister höchstselbst auch als „Wunderharfe“ geadelt. Bereits in der Vergangenheit entstanden mehrere Aufnahmen der Meistersinger von Nürnberg, so schon 1938 der dritte Aufzug unter Karl Böhm, gefolgt von zwei Gesamtaufnahmen unter Rudolf Kempe von 1951 (BASF) und unter Herbert von Karajan in der berühmten Ost-West-Coproduktion von 1970 (EMI). Seither verging ein halbes Jahrhundert und ist Thielemann seit fast einem Jahrzehnt Chefdirigent dieses Orchesters.
Vergleicht man die Neueinspielung mit den älteren Interpretationen Thielemanns, so fällt ein etwas beschwingterer, schlankerer Zugriff auf. Besonders wenn man seine alten Bayreuth-Mitschnitte gegenüberstellt, wird dies deutlich; eine Tendenz, die sich bereits in Wien andeutete, in Salzburg aber noch ausgeprägter erscheint. Schien der Dirigent vor zwei Jahrzehnten noch primär der deutschen Nationaloper nachzuspüren, geht sein heutiger Ansatz darüber hinaus, stellt das weihevolle Pathos hintan, ohne freilich dem Irrtum zu erliegen, dies sei allein durch „Tempo machen“ möglich. Mit knapp viereinhalb Stunden Spielzeit vermeidet Thielemann auch heute ein überzogenes Hetzen. 2002 brauchte er sogar noch beinahe fünf Stunden. So ganz stellt sich die Magie von einst indes nicht ein.
Von der damaligen Wiener Besetzung von 2008 ist einzig Adrian Eröd als Beckmesser auch elf Jahre später in Salzburg vertreten. Sein Rollenportrait, das aus dem Stadtschreiber keine Witzfigur macht, ist vielleicht sogar noch ausgefeilter als damals. Gemein ist allen Thielemann’schen Meistersinger-Aufnahmen, dass sie leider keinen idealen Hans Sachs aufweisen. Weder Robert Holl in Bayreuth (der mit der Höhe zu kämpfen hatte) und weniger noch Falk Struckmann in Wien (dem im Schlussmonolog gar einmal die Stimme wegbrach) konnten vollauf zufriedenstellen. Der in der vorliegenden Einspielung eingesetzte Georg Zeppenfeld ist für den Sachs eigentlich etwas zu leichtgewichtig, hat aber zumindest keine Höhenprobleme. In den großen Monologen hält er sich auffallend zurück, wohl auch um seine Kräfte bis zum Schluss aufzusparen. Womöglich wächst er in den kommenden Jahren noch besser in diese anspruchsvolle Rolle hinein. Bei Klaus Florian Vogt, dem Stolzing, scheiden sich seit jeher die Geister. An die bedeutendsten Interpreten des Walther wird man nicht denken dürfen, so auch noch René Kollo unter Karajan. Aber auch mit Johan Bohta in Thielemanns Wiener Filmfassung kann Vogt nicht mithalten; dazu ist die Stimme schlichtweg zu klein und muss sich gar vor dem David von Sebastian Kohlhepp in Acht nehmen. Die übrige männliche Besetzung ist soweit ordentlich; auffallend gut Levente Páll im überschaubaren Part des Kothner. Wie so häufig im heutigen Wagner-Gesang, lässt die Wortdeutlichkeit teilweise zu wünschen übrig, so etwa beim Pogner des ansonsten angenehm timbrierten Vitalij Kowaljow. Dass in den Meistersingern die Männer im wahrsten Sinne des Wortes den Ton angeben, wird in der Neueinspielung unfreiwillig betont, da die weiblichen Charaktere seltsam blass bleiben. Weder die Eva von Jacqueline Wagner noch die Magdalene von Christa Mayer, beide recht bieder, werden nachhaltig in Erinnerung bleiben. Daniel Hauser