Keine Angst vor dicken Büchern. Auch von dem Titel Musik und Gesellschaft mit der einschüchternden Unterzeile Marktplätze. Kampfzonen. Elysium und dem kecken Text auf der Banderole, der die beiden insgesamt mehr als zweieinhalb Kilo schweren Bände umspannt, „Grundlagentexte und Streiflichter zu tausend Jahren Musik- und Sozialleben. Aus der Vogel-, Zentral- und Froschperspektive“ darf man sich nicht abschrecken lassen. Von der „Tanzlust und Tanzwut“ im frühen 11. Jahrhundert bis zum „Musikleben im Ausnahmezustand“ im Jahr 2020 reichen die Texte der mehr als hundert AutorInnen, welche die Herausgeber Frieder Reininghaus, Judith Kempe und Alexandra Ziane in den beiden rund 1400 Seiten umfassenden Bänden versammelt haben, wovon der erste „Von den Kreuzzügen bis zur Romantik“ und der zweiten „Vom Vormärz bis zur Gegenwart“ reicht, und die der Verlag Königshausen & Neumann dem Thema entsprechend ausgesprochen wertig und würdig gestaltet und klug und aufwendig illustriert hat. „Um noch halbwegs handlich auszufallen“, was ein charmanter Euphemismus angesichts der gewichtigen Bände ist, „wurde diese Anthologie im Wesentlichen auf die Breitengrade zwischen Amsterdam und Athen bzw. die Regionen zwischen London oder Lissabon d Amsterdam begrenzt sowie die letzten tausend Jahre“, so die Herausgeber.
Nach einer Ouvertüre, bestehend aus zwölf Grundlagentexten, folgen „in zehn Kapiteln 409 Texte, die jeweils von zeitlich (annähernd) genau zu lokalisierenden Ereignissen, Werken oder Leistungen im Musikleben ausgehen und von diesen Ansatzpunkten aus auch orts- und zeitübergreifende Zusammenhänge beleuchten. Diese Essays werden stets von Stichwörtern zu politischen, militärischen, technischen, zivilisatorischen und kulturellen Begebenheiten im jeweiligen Jahr eingeleitet“. Auch das hört sich komplizierter an als es tatsächlich ist.
Und es liest sich interessanter als man vermuten würde. Im Grunde ist „Musik und Gesellschaft“ ein Lesebuch, in dem man nicht unbedingt dem Zeitenstrahl folgen muss, sondern das man auch an irgendeiner Stelle aufschlagen könnte, um sich fest zu lesen, beispielsweise bei der „Steuerung und Zensur von Musik“ im frühen 13. Jahrhundert, wo uns ein Pfeil mit dem Stichwort „Russische Kunstfreiheit“ zu Pussy Riot und Serebrennikov ins Jahr 2019 verweist. Es ist unmöglich, diese Texte in einem Zug zu lesen. Vermutlich auch unnötig, da die Bände dann ins Regal wandern und nie wieder angeschaut würden.
Gehen wir zur Frühzeit der Oper, also ins Jahr 1637, wo Arnold Jacobshagen von der „Finanzierung des Musiktheaters in der Frühzeit der Oper“ und der Eröffnung des Teatro San Cassiano als erstes öffentliches Opernhaus in Venedig und dem bis ins 19. Jahrhundert reichenden System der Logenverpachtung als Motor für die wirtschaftliche Existenz der Oper berichtet. In vorangestellten Stichworten erfahren wir, was in diesem Jahr noch geschah – russische Kosaken erobern die osmanische Festung Asow, Aufstand christlicher Bauern in Japan, Gryphius schrieb die Lissaer Sonette und Caldéron de la Barca Herodes – und werden abschließend auf die Finanzierung von Händels Royal Academy in London und, was man als Operninteressierter unbedingt lesen sollte, auf die Opernfinanzierung heute hingewiesen.
Die Themen sind breit gestreut. Ausgehend vom Fall des Johann Rosenmüller nimmt sich Moritz Eggert des Themas „Machtmissbrauch in Geschichte und Gegenwart der Musikwelt“ an und schlägt den Bogen bis zu den jüngsten Vorkommnissen an der Münchner Musikhochschule. Die MeToo-Debatte schlägt auch nochmals bei Mozarts Don Giovanni auf. Es ist von „Neid und Rivalität auf der Opernbühne“, den horrenden Gagen im 18. Jahrhundert und dem Geschäftsmodell mit hohen Männerstimmen, „Caffarelli & Co“, die Rede, viel auch von Librettokunde. Der Fado erhält ebenso Berücksichtigung wie der Marien-Gesang Ave Maria, der von Maria Behrendt, die ihr Thema bei Rossinis Cenerentola wiederaufgreift, bis zu Beyoncé aufschlüsselt wird. Die Texte sind kurz, oftmals nur zwei, drei Seiten lang. Über das Kastratenwesen möchte manch einer sicher mehr erfahren, auch über das Musik- und Opernleben unter Haydn in Eisenstadt oder im Theater bei Fertöd, über Rossini usw.
Der Duktus der Texte ist unterschiedlich, mache scheinen dem Alltagsgeschäft der Feuilletons zu entstammen, beleuchten Episoden und Anekdoten, wie die Entstehung der Marseillaise, Haydns Gott erhalte, Sacre-Uraufführung oder die Textsammlung zur „Klavierseuche“, wobei die Texte von Reininghaus, nicht nur im Fall der Butterfly, seine reiche Rezensententätigkeit einfangen. Ist der Anfang erst gemacht, findet man kein Ende. Rolf Fath
Musik und Gesellschaft. Marktplätze · Kampfzonen · Elysium. Band 1: 1000–1839 Von den Kreuzzügen bis zur Romantik, 704 Seiten; Band 2: 1840 – 2020 Vom Vormärz bis zur Gegenwart, 724 Seiten Einführungspreis € 58,00 bis 31.12.2020, danach € 68,00; Königshausen & Neumann ISBN: 978-3-8260-6731-0