Effektvolles Pasticcio

 

Ganz anders als Händels Tamerlano kommt Il Tamerlano von Antonio Vivaldi daher. So ist das äußerst effektvolle Werk ein Pasticcio, bei dem Vivaldi nur die Rezitative neu komponiert hat. Die Arien stammen sämtlich aus anderen Werken wie z.B. Olimpiade, Il Giustino, Semiramide oder Farnace und von weiteren zeitgenössischen Komponisten wie Riccardo Broschi, Geminiano Giacomelli oder Johann Adolf Hasse. In der 1735 in Verona uraufgeführten Tragedia per musica geht es um den Tartaren-Herrscher Tamerlano (auch bekannt als Timur), der den türkischen Sultan Bajazet besiegt und zusammen mit seiner Tochter Asteria gefangen genommen hat. Diese liebt den griechischen Prinzen Andronico, einen Verbündeten Tamerlanos. Doch auch Tamerlano begehrt Asteria und löst ihretwegen seine Verlobung mit Irene, der Prinzessin von Trapezunt. Um diese zu entschädigen, beschließt er, sie mit Andronico zu vermählen und den beiden die Herrschaft über das eroberte Byzanz zu überlassen. Der empörte Bajazet will seine Tochter unter keinen Umständen mit seinem Feind verheiratet wissen. Asteria willigt schließlich in die Hochzeit ein – doch nur zum Schein, denn sie beabsichtigt, Tamerlano zuvor zu ermorden. Ihren ersten Anschlag gibt sie selbst auf, und einen zweiten vereitelt Irene. Angesichts der drohenden Demütigung seiner überführten Tochter tötet Bajazet sich selbst und ermöglicht so das erlösende Happyend, in dem Asteria und Andronico endgültig zueinander finden und Tamerlano sich wieder Irene zuwendet.

Von Vivaldis Pasticcio ist jetzt bei naive eine ausgezeichnete Studio-Aufnahme aus Ravenna erschienen. Das inhaltsreiche Beiheft enthält neben dem dreisprachigen Libretto in inhalts- und kenntnisreichen Artikeln des renommierten Musikwissenschaftlers Reinhard Strohm zahlreiche Einzelheiten zum Werk, seiner Entstehung, der Herkunft der Arien und vieles mehr. Bereits die dreisätzige Sinfonia aus einer unbekannten Vivaldi-Oper macht die hohen Qualitäten der Accademia Bizantina aus Ravenna deutlich: Der kompetente Dirigent Ottavio Dantone sorgt für überaus klare, schlanke Tongebung und stringentes Vorwärtsgehen, wobei  die makellose Bläser-Intonation erfreut. Ein durchweg vorzügliches Ensemble gibt den vielen Farben und Emotionen der jeweiligen, im Ganzen gut aufeinander abgestimmten Kompositionen erfolgreich Gestalt. In der Titelpartie hört man den Counter Filippo Mineccia, der ausgesprochen ausdrucksstark dramatisch aufzutrumpfen weiß, ohne je die Kontrolle zu verlieren, aber ebenso eindringlich mit weicher, abgerundeter Stimmführung imponiert. In der Partie der begehrten Asteria erlebt man die französische Altistin Delphine Galou, die mit ihrer hellen, ungemein beweglichen, in allen Lagen ansprechenden Stimme die vielen, auch besinnlich anmutenden Melodiebögen sehr gut aussingt. Kurz vor Schluss entwickelt sie in der von Vivaldi möglicherweise für die Mailänder Fassung 1727 verfassten Arie Svena, uccidi, abbatti, atterra Dramatik pur, wenn Asteria darum bittet, getötet zu werden. Bruno Taddia macht als häufig aufbrausender Bajazet Eindruck; der erfahrene Sänger weiß seinen flexiblen Bariton mit großen Umfang sicher zu führen, wobei auch bei ihm festzustellen ist, dass ihm die barocke Singweise mit ihren vielen Koloraturen und Verzierungen keine Probleme bereitet.

Marina de Liso als Andronico singt ihre vier Arien, dabei zwei aus Siroe re di Persia von Hasse, mit weichem, in allen Lagen abgerundetem Sopran, der wie selbstverständlich auch über die nötige Virtuosität verfügt. Irene ist bei  Sophie Rennert sehr gut aufgehoben; mit ihrem hellen, in allen Lagen kräftigen, durchweg intonationsreinen Mezzo beherrscht die junge österreichische Sängerin die Virtuosität der Partie aufs Feinste und kann die Freude Irenes über die erneute Zuwendung Tamerlanos wunderbar zum Ausdruck bringen. Schließlich lässt als Idaspe Arianna Vendittelli ihren hellen, schlanken Sopran in einer Arie aus Vivaldis Il Giustino schön aufblühen und erweist sich in der Arie Anch’ill mar par chesommerga aus Semiramide als geradezu bravourös.

Im kurzen, positiv gestimmten Schlusschor vereinen sich alle sechs Solisten und beschließen damit eine bemerkenswert niveauvolle Gesamtaufnahme des außergewöhnlichen Vivaldi-Pasticcios (naive OP 7080, 3 CD). Gerhard Eckels