Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Offenbachs „Rheinnixen“

Wagner war der umstrittenste Komponist seiner Zeit, Offenbach der erfolgreichste, worauf zuletzt Laurence Senelick mit Nachdruck (s. auch dessen Artikel in operalounge.de) hinwies. Beide waren unstete Reiseexistenzen, Europäer und Exilanten auf die eine und auf die andere Weise. Vor allem aber sind Wagner und Offenbach Antipoden: Man kann dem ersten großen Offenbach-Bio­graphen, Anton Henseler nur zustimmen, als er 1930 schrieb: „Offenbachs Prestis­simo-Galoppaden und Wagners in feierlichem Grave einher­schrei­tender Ernst, Offenbachs parodistische Verhöhnung alter Sagenstoffe und ihre philosophische Durchdringung bei Wagner, das sind nicht nur Gegensätze der Gestaltung, sondern auch der geistigen Haltung, wie sie als äußerste Pole die Möglichkeiten und den Reichtum der Musik nach 1850 umspannen.“  Siegfried Krakauer pflichtete dem in seinem Offenbach-Buch von 1937 bei: „Tatsächlich verkörperten er (Offenbach) und Wagner zwei Welten, die einander ausschlossen.“

Das ist auch der Ausgangspunkt Anatol Stefan Riemers für seine Untersuchung von den Rheinnixen contra Tristan und Isolde an der Wiener Hoifoper im Tectum Verlag Frankfurt. Sein Anliegen ist es, „die divergierenden ästhetischen Konzepte“ der beiden Komponisten herauszuarbeiten, „die sich in profunder Abneigung verbunden“ waren, wie Sven Hartung im Auftakt des Buches betont, dem Riemer ein grundsätzliches Kapitel über das „Verhältnis Offenbach-Wagner“ voranstellt, in dem natürlcih „der Beginn des Schlagabtauschs beider Kompo­nisten“ nicht unerwähnt bleibt: Die Karnevalsrevue („Les Carnaval des Revues“ von Grangé und Gille) in den Bouffes Parisiens, für die Offenbach 1860 eine komische Szene beigesteuert hat: „Le Musicien de l´Avenir“ (der Zukunfts­musiker), in der er Wagner eine lächerliche, kakophonische Sinfonie dirigieren und eine Zukunfts-Tyrolienne singen lässt . Darin nahm er eine clowneske Wagnerparodie auf, die er kurz zu Wagners Ankunft in Paris geschrieben hatte. Wagner gab damals in Paris Konzerte, um Schulden zu bezahlen. Er war ja notorisch pleite, bevor König Ludwig II. in seine Leben trat. In Paris verspottete man Wagner damals als den „Zukunftsmusiker“.

„Tannhauser“ 1861: Wagners Librettist für den 1. Akt und die Übersetzung ins Französische, Charles Nuitter/ Wiki, der auch an der Erstform der geplanten „Fees du Rhin“ beteiligt war.

1863, zu seinem 50. Geburtstag weilte Wagner in Wien. Dort huldigten ihm die kaufmännischen Gesangsvereine und Studenten mit einem Fackelzug. Auf einem weißen, mit Bändern in den deutschen Farben gezierten Atlaspolster wurde ihm ein Lorbeerkranz dargebracht. Das Atlaspolster trug als Aufschrift die in Gold gestickten Worte: ‚Dem verehrten Meister Richard Wagner.“ Es war das erste Mal, dass er als „Meister“ verehrt wurde, was Wagners übergroßem Ego enorm schmeichelte. Er hoffte damals, in Wien seinen „Tristan“ uraufführen zu können. Doch nach 77 Proben wurde das Werk für un­spielbar erklärt. Wagner erhielt, wie der erste Wagnerbiograph, Carl Friedrich Glasenapp berichtet – einen Bescheid der Hofoperndirektion, der ihn tief kränkte: „Man glaube’…für jetzt den Namen »Wagner« genügend berücksichtigt zu haben und finde für gut, auch einen anderen Tonsetzer zu Worte kommen zu lassen.‘ Dieser Andere war Jacques Offenbach.“ Glasenapp schreibt weiter: „Wirklich war bei diesem ein besonderes, eigens für Wien zu schreibendes, neues Werk bestellt worden: die fertige Partitur lag bereits im Pulte Direktor Salvis.“ Offenbachs große romantische Oper „Die Rheinnixen“ hatten in Wien also über Wagners „Tristan“ gesiegt. Durch diese Kränkung wurde Offenbach für Wagner endgültig zum Roten Tuch.

Ernst von Wolzogen, Dichter und Bühnenautor, besorgte in großen Teilen die Übersetzung und Neufassung des Librettos der „Rheinnixen“/ Wikipedfia

Ein Wort zum Titel (der einem on-dit zufolge auf den Wiener kritiker Eduard von Hanslick zurückgeht, der eine publikumswirksame PR-Masche vorschlug…): „Der Rhein“ war spätestens seit Friedrich Schlegel Topos der Utopie des Deutschen: „Nirgends werden die Erinnerungen an das, was die Deutschen einst waren, und was sie sein könnten, so wach als am Rhein.“ Zurecht schreibt Frank Harders-Wuthenow vom Verlag Boosey & Hawkes, der die kritische und praktische Offenbach-Edition Keck herausgibt: „Als Offenbach, sein Librettist Charles Nuitter (eigentlich Truinet, Archivar der Pariser Oper) und sein Übersetzer Alfred von Wolzogen (Vater – Ironie der Operngeschichte – Hans von Wolzogens, dem Herausgeber der Bayreuther Blätter) an den Rheinnixen arbeiten, war der Rhein allerdings längst zur politischen Demarka­tionslinie geworden. …Als der in Köln geborene Offenbach an den Rheinnixen arbeitete, war das Textbuch zu den Meistersingern bereits entstanden, in dem die ‚heilige deutsche Kunst‘ gegen ‚welschen Dunst und Tand‘ ausgespielt wird. Und wer stand für diesen welschen Tand, wenn nicht Offenbach?“

Die Oper, deren ursprüng­licher Titel „Les Fées du Rhin“ lautete und deren originales franzö­sisch­spra­chiges, aber wegen des Wiener Uraufführungsauftrags nicht vollendetes Libretto von Charles Nuitter von Alfred von Wolzo­gen (auch unter Mitwirkung von Offenbach selbst) nicht eben genial für Wien ins Deutsche übersetzt und vervollständigt wurde. Obwohl die Wiener Uraufführung ein großer Erfolg war, verschwand die Oper für 150 Jahre. Mit einer Aunahme: Am 1. Januar 1865 brachte die Kölner Oper das Werk als deutsche Erstaufführung, wie bei der Wiener Uraufführung in einer stark gekürzten dreiaktigen Fassung heraus. Schon nach der zweiten Aufführung wurde das Werk wegen der geringen Besucherzahlen abgesetzt. Die Tatsache, dass ausgerechnet ein in Frankreich reüssierender Jude rheinischer Abstammung für Wien eine Rhein-Romantik-Oper geschrieben hatte, hatte offenbar zu viele Tabus verletzt.

Offenbachs „Rheinnixen“ hatten ihre moderne Erstaufführung in Ljubljana 2005/ Scholz

Im Jahre 1999 wurde beim Verlag Boosey & Hawkes unter dem Herausgeber Jean-Christophe Keck eine Offenbach-Edition in Angriff genommen, zu der auch dieses Werk gehörte. Im Juli 2002 fand in Montpellier unter Friedmann Layer eine konzertante Urauffüh­rung der nun vorlie­genden, vollständigen deutschen Fassung der vieraktigen Oper statt, die ihren Weg auch auf die CD fand. In Deutsch.

Szenisch wurde sie erstmals aus­gegraben in Ljubliana 2005 (die deutschsprachige Aufführung wurde auch in Winterthur, St. Pölten und Bozen gezeigt) sowie Trier 2005, Cottbus 2006, Bremerhaven 2007 und an der New Sussex Opera 2009, Eine weitere deutschsprachige Aufführung gab es unter Marc Minkowski am 1. Dezember 2005 an der Opéra National de Lyon.

Die französische Originalfassung, „die der stellenweise sehr unbeholfe­nen deutschen Übersetzung Wolzogens qualitativ weit überlegen ist“ (Frank Harders-Wuthe­now), ist seit Offenbachs Lebzeiten bis zum 28. 09. 2018 nie aufgeführt worden. Im Vorfeld des Offenbach-Gedenkjahres 2019, wurde auch sie von Jean-Christophe Keck vervollständigt und komplett heraus­gegeben. Keines der großen europäischen Opernhäuser, zumal die hauptstädtischen, hat sich dafür interessiert, diese nie aufgeführte Fassung der Oper uraufzuführen. Immerhin, die Opéra de Tours und das Stadttheater Biel  brachten „Les Fees du Rhin“ 2018 erstmals in einer gemeinsamen Produktion auf die Bühne (über erstere wurde in operalounge.de berichtet).  Es scheint bemerkenswert, dass die so lautstark akklamierte französische Fassung kein internationales Echo gefunden hat und dass es ein französisches und ein schweizerisches Stadttheater waren, die die Ehre des Franzosen Offenbach hochhielten. Weder der Palazetto Bru Zane noch eine namhafte CD-Firma haben sich interessiert.

Die einzige offizielle Aufnahme der „Rheinnixen“, zudem in deutscher Sprache,“ ist der Mitschnitt aus Montpellier unter Friedemann Layer von 2002 bei Accord (vergriffen)

„Die Rheinnixen“ sind eine eindeutig pazifistische, vaterländische Oper des im französischen Exil lebenden Offenbach, der Armgard, die weibliche Hauptpartie, zur Symbolfigur deutscher Einigungssehn­süchte (lange vor 1871) macht. Ihr Deutschlandlied, das Offenbach schon 1848 komponiert hatte, wird wie die Feen-Barcarole zum Leitmotiv dieser romantischen Oper: „Du liebes Land, Du schönes Land, Du schönes, großes deutsches Vaterland.“

Es wird wie die Feen-Barcarolen-Ouvertüre, die später auch in die Oper „Les contes d´Hoffmann“ eingeht, zum Leitmotiv dieser patriotischen  Oper (des im Exil lebenden Deutschen Offenbach), die von einem friedlichen, geeinten  Deutsch­land träumt (so wie auch der im Exil lebende Wagner immer von einem utopischen Deutschland „als reinem Metaphysicum“ träumt).  Frauen (Feen) siegen in dieser Oper über Männer (Soldaten), Liebe triumphiert in ihr über Krieg.

Damit ist die Oper sehr nahe bei Wagner, dessen Frauen ja auch meist Männer erlösen oder über sie triumphieren. „Gleichzeitig, so betont Riemer, sind die „Rheinnixen“ „am stärksten der musikalischen Sprache in den Romantischen Opern Wagners bis zum Tristan annähert.“ Den „Tristan“ hat Wagner allerdings nicht als „Romantische Oper“ bezeichnet, sondern als „Handlung.“ Das Werk ist formal keine Oper mehr, sondern bereits „Wort-Ton-Dichtung“, um nicht zu sagen „Musikdrama“, Wagner mochte das Wort nicht.

Offenbach: „Les Fees du Rhin“ /Szene aus der Aufführung in Biel nach Toulouse 2019/ Foto Joel Schweizer (operalounge.de berichtete über die Aufführung)

Die Lebenswege der Komponisten Wagner und Offenbach ähneln sich in gewissem Sinne, sie überschneiden sich biografisch sogar, und was ihr Werk angeht, so verschieden es auch ist: Humor Gesellschaftskritik und Träumen von Utopischem zeichnen es in beiden Fällen aus.  Natürlich setzt das Musiktheater von Wagner und Offenbach an entgegengesetzten Enden an und arbeitet mit konträren Mitteln. Aber es ist doch in beiden Fällen europäisches Musiktheater von Rang, das aus der Romantik kommend, Gegenwart kritisiert und von Besserem träumt, das Gesellschaft und Politik, Staat und Machtinstitutionen, bürgerliche Moral und Religion in Frage stellt. Beide – Wagner wie Offenbach – glaubten an das Gute im Menschen, deshalb stellten sie den Menschen in seiner ganzen Schäbigkeit, Niedertracht und Bösartigkeit dar. Der eine – Offenbach – schuf aus diesem Widerspruch Komödien, der andere – Wagner – Tragödien.  Der eine – Wagner – brachte Monstren, psychopathologische Extremfälle auf die Bühne. Der andere – Offenbach – Menschen wie Du und ich, Menschen von der Straße. Aber unter der Oberfläche vermeintlicher Wohlanständigkeit ließ er immer wieder das Monströse, oder sagen wir: die Abgründe des sogenannten „Normalen“ augenzwinkernd durchscheinen.

Die Marschrouten und die Methoden der beiden antipodischen Komponisten waren natürlich grundverschieden: Offenbach zielte auf gesellschaftliche Aktualität, auf´s Hier und Heute, heiter-satirisch, antiken Mythos parodierend und damit eine neue Gattung kreierend, eben die „Offenbachiade“, um den Begriff von Karl Kraus zu benutzen. Seine mit allen kompositorischen Wassern gewaschene Musik zeichnete sich durch eine Kompositionsweise aus, die sich aus Einflüssen der Synagogalmusik, der jüdischen Spielmannsmusiken, der Kölner Karnevalsmusik, der Opera buffa, der Opéra comique und der französischen zeitgenössischen Musik speiste und daraus eine sehr eigene, unverwechselbare  Tonsprache entwickelte, die die Brüchigkeit der modernen urbanen Welt durch wechselnde, geistreich kontrastierende wie rhythmisch mitreißende und humoristisch persiflierte Stilidiome zum Ausdruck brachte.

Offenbachs „Rheinnixen“ in der Erstaufführung in moderner Zeit in Ljubljana 2005/ Scholz

Wagner komponierte im pathetischen Rückgriff auf die Traditionslinie Gluck, Beethoven und Weber. Seine Werke waren Musiktheater im Sinne einer Schillerschen moralischen Anstalt und zielten aufs nachrevolutionäre gesellschaftliche Übermorgen. Er zog musikalisch eine Summe der Oper des 19. Jahrhunderts, deren traditionellen Formen er in spezifisch „deutschem“ Musikidiom fortsetzte, zum absoluten spätromantischen Höhepunkt führte und im „Tristan“ überwand.  Heiter-satirisches Musiktheater war seine Sache nicht. Seine Sache war die Oper, die er für sich als „Wort-Ton-Dichtung“, im Sinne eines Gesamt­kunstwerks neu definierte.  Offenbachs Musik (mit ihrem lustgewinnbringenden Hang zu Bewegung, zum Mecha­nischen und Spieluhrenhaften, ja Tänzerischen) fuhr seinem Publikum sprichwörtlich in die Beine. Wagners Musik erschien Vielen, wie der Maler Franz von Lenbach einmal bekannte, wie „ein Lastwagen zum Him­mel­reich“. Der kluge Friedrich Nietzsche schätzte Wagner vor allem als „Orpheus“ alles heimlichen Elendes“, wusste sich aber auch für „Sankt Offenbach“, wie er ihn einmal in einem Brief an Erwin Rohde (1868) nannte, zu begeistern. Da liest man: „Wenn man unter Genie eines Künstlers die höchste Freiheit unter dem Gesetz, die göttliche Leichtigkeit, Leichtfer­tigkeit im Schwersten versteht, so hat Offenbach noch mehr Anrecht auf den Namen »Genie« als Wagner. Wagner ist schwer, schwerfällig: nichts ist ihm fremder als Augenblicke übermütigster Vollkommenheit, wie sie dieser Hanswurst Offenbach fünf-, sechsmal fast in jeder seiner bouffonneries erreicht.“ So geschrieben im Nachlass der Achtzigerjahre.

Autor Riemer untersucht in seinen akkuraten Studien, die im Wesentlich auf seiner Frankfurter Inauguraldissertation von 1919 basieren, „stilistische Merkmale von Offenbachs Kompositionstechnik“ heraus zu arbeiten, um eine „Forschungslücke zu verkleinern.“

Seine Analysen beziehen sich vor allem auf die „der Erinnerungsmotivik“ sowie die „Chorbehandlung“ und die „Rollendarstellung der ‚Bösewichte‘“ sowie „das Verhältnis und die Wechselwirkung von Parodistischem und Wahrhaftigem. Schon die legendäre Eminenz unter den Musikwissenschaftlern Carl Dahlhaus, auf den sich Riemer bezieht, forderte: Es wäre an der Zeit, eine Geschichte des Erinnerungsmotivs zu schreieben, die sich von dem Zwang befreit, um Wagners Leitmotivtechnik zu kreisen.“ Riemer nimmt Dahlhaus beim Wort.

Das Buch ist sehr gelehrt, der Autor hat mit großem Fleiß eine immense Literaturmenge gesichtet und in minutiöser Präzision seine formalen Analysen betrieben. Und doch er hat auch Humor. Beispielsweise erwähnt er, dass gut drei Wochen vor der Münchner Uraufführung des „Rheingoldes“ am 22. September 1869 das Münchner Neue Fremden Blatt ein Wiener Bonmot zitiert: „das Rheingold (von Wagner) sei überhaupt gegen die Rheinnixen (von Offenbach) rein nix, und umgekehrt diese gegen jenes rein gold.“ Wagner contra Offenbach, das ist das Thema seines Buches.  Sein Resümee:  Offenbach sei unbedingt aufzuwerten. Immerhin belegt er beispielhaft am Beispiel der Rheinnixen, die der Offenbachspezialist Peter Hawig als „Kompendium des Offenbachschen Gesamt­schaffens“ bezeichnet, „Offenbachs planvolle und ausgeklügelte Themen­konzeption“, zu schweigen von seinem „Melodienreichtum“ und seiner „rhythmischen Erfindungsgabe“.

Schon der Musikschriftsteller Paul Becker stellte 1909 in seinem kleinen, aber feinen Offenbachbuch fest: „Die Plastik der Offenbachschen Rhythmen übertrifft die Leistungen aller seiner Vorgänger in der parodistischen Literatur – sie ist es, die ihn zum Meister der musikalischen Satire erhebt. …Der Witz des Offenbachschen Rhythmus…… bildet den Wesenskern des Künstlers… Sein sicherstes Wirkungsmittel … war sein rhyth­misches Sprachvermögen… In der Fähigkeit, das gesungene Wort mit der Tanzgebärde zu verbinden, liegt eines der tiefsten Geheimnisse von Offenbachs Kunst.“

Abgesehen von wenigen Diskussionspunkten (Riemer schreibt beispielsweise auf S. 246 „von weit über hundert Opern“ Offenbachs. Er meint wahrscheinlich weit über 100 Werke, die meisten sind allerdings keine Opern, sondern Werke des heiter-satirischen Musiktheaters) ist dieser sehr  gründliche Vergleich von Wagner und Offenbach außerordentlich aufschlussreich und gereicht Letzterem zur Ehre. Nach wie vor wird Offenbachs Musik ja weit unterschätzt, obwohl schon Gioacchino Rossini den aus Köln stammenden Pariser den „Mozart der Champs-Élysees“ nannte. Offenbach erfand die „Offen­bachiade“ und hatte als konkur­renz­loser und unübertroffener Meister der musikalischen Satire die ganze Welt in­fiziert.

Dieter David Scholz ist renomierter Musikjournalist und Autor zahlreicher >>Bücher über musikalische Themen/ operacomique

Nach Biografien des  Dirigenten und Komponisten Alexander Ritter und des Geigers  August Wilhelmj (Konzertmeister und Organisator von Wagners Bayreuther Orchester, eine Besprechung des neues Buches über den Komnponisten Ritter folgt zeitnah in operalounge.de) hat der Richard Wagner-Verband Frankfurt am Main eine weitere, wichtige Publikation ermöglicht, die ein erhellendes Licht wirft auf einen bislang zu Unrecht unterschätzten Komponisten und Zeitgenossen Wagners. Dieter David Scholz

Anatol Stefan Riemer: „Die Reinnixen“ contra „Tristan und Isolde“ an der Wiener Hofoper Studien zu Jacques Offenbachs Großer romantischer Oper aus dem Jahre 1864. Frankfurter Wagner Kontexte Band 3 Tectum Verlag, Frankfurt a.M., 294 Seiten, gebunden; ISBN 978-3-8288-4538-1 . Ein Literaturverzeichnis rundet das Buch ab, das mit zahlreichen Notenbeispielen und Grafiken aufwartet.  Leider gibt es kein Register und kein Namensverzeichnis. D. D. S.

Dazu auch die Betrachtungen von Boris Kehrmann in operalounge.de (Offenbachs Grand Opéra … apropos der Erstaufführung der Fees du Rhin in moderner Zeit in Tours (in der Ergänzung durch Christophe Mirambeau in Toulon 2018, namentlich zur Zweisprachigkeit und zu den  Problemen des Librettos. Abb. oben Kaiser Franz Joseph wurden die Wiener „Rheinnixen“ gewidmet/ Wikipedia) G. H.

Ein italienischer Gentleman und seine Familie

 

So ganz stimmt der Titel Franci, Stirpe canora (Die Francis, eine singende Sippe) nicht, denn Carlo Franci, der nach Untertitel die Geschichte von Vater Benvenuto, Onkel Tommaso, Schwester Marcella und Tochter Francesca sowie seine eigene erzählen soll, ist gar kein Sänger gewesen, sondern Dirigent, Komponist und nicht zuletzt Maler. Wobei außerdem nicht zutrifft, dass er der eigentliche Autor des Buches ist, denn auf das Interview mit ihm, das Maurizio Tiberi  geführt hat, entfallen gerade einmal 40 der insgesamt gut 380 Seiten des Buches.

Dieser Teil ist allerdings der mit Abstand interessanteste, ihm geht jedoch ein langes Vorwort voraus, in dem Tiberi in selbstverliebter Manier davon berichtet, mit wie vielen und mit welchen berühmten Sängern er bereits zu tun hatte, zu denen auch der allerdings zu seiner Zeit allerberühmteste Bariton Benvenuto Franci gehörte, von dem er zwei Platten herausgab und den er noch persönlich kennen lernte, wenn auch erst in sehr vorgeschrittenem Alter und wenig mitteilungsfreudig, denn „il passato è passato“. Immerhin erfährt der Leser, dass die Francis aus Pienza stammen, das der ältere Bruder Benvenutos, Tommaso Franci, Tenor war, aber nur wenige Jahre lang sang und dann der Familie zur Last fiel. Zwei Zeitungsausschnitte mit Kritiken über seinen Duca fallen denn auch wenig schmeichelhaft aus.

Auch Carlo Franci, der den Autor auf seinem Landgut nahe Città della Pieve empfing, kurz nachdem er zum allerletzten Mal und zwar das Orchester des Frankfurter Opernhauses dirigiert hatte, sieht sich erst einmal einem Schwall von Fakten gegenüber, die ihm sein Interviewer über seine Familie zu berichten weiß. Es gelingt ihm dann, darüber zu berichten, wie  und auf welchen Umwegen er zur Oper kam, als Kind erlebte, wie Richard Strauss, Mascagni und Giordano das Wirken seines Vaters in ihren Opern zu schätzen wussten, wie er den Reiz der menschlichen Stimme und besonders den der Mezzosoprane erst entdecken musste. Überraschendes erfährt der Leser über Christina Deutekom, Marilyn Horne, Katia Ricciarelli, Renato Bruson, Denia Mazzola, die nicht verneinen konnte, dass er der einzige Dirigent ist, mit dem sie nicht gezankt hat.  Dafür stellt er ihr das Zeugnis aus, dass sie zwar eine schlechte Sängerin, aber eine große Künstlerin sei.

Der ersten Filmmusik mit erst 19 Jahren für einen Streifen mit Gina Lollobrigida folgen viele andere, besonders im antiken Zeitalter spielende, so dass bis heute noch Tantiemen fließen.

Obwohl die Eltern wollen, dass er Jura studiert, wird Carlo Franci Dirigent, hat sein Debüt mit Hänsel und Gretel, mehr als deutsche Opern (obwohl er der Verfasserin einmal anvertraute, sein Traum sei Strauss‘ Elektra) aber haben deutsche Opernhäuser eine bedeutende Rolle in seiner Laufbahn gespielt. Bewegend war offensichtlich der Abschied von den Frankfurtern, insgesamt, weiß er deutsche Orchester sehr, deutsche Dirigenten („eins, zwei, drei….“) weniger zu schätzen. Deutschland  bzw. Berlin und die Deutsche Oper bescherten ihm das spektakulärste Opernereignis mit einem Otello, der mit 45 Minuten Applaus und Domingo als klavierspielendem Canzonensänger sehr spät in der Nacht endete. Dabei erwähnt Franci nicht, dass dem Tenor vom Haus drei Dirigenten zur Auswahl vorgeschlagen wurden und dieser Franci wählte, und er irrt, wenn er meint, Pavarotti hätte versucht, diesen Rekord mit einem Edgardo zu schlagen. Es war der Nemorino.

Eine andere bedeutende Wirkungsstätte war Südafrika, dem er treu blieb, als andere Künstler das Land boykottierten, wo er durchsetzte, dass Schwarze die Generalproben besuchen durften, wohin er Orff-Instrumenten aus Deutschland zur musikalischen Erziehung der Schwarzen einführte und das ihn erst jetzt enttäuschte wegen der dort inzwischen herrschenden Korruption.

Nahe Verwandte genießen in den Ausführungen von Franci keinen besonderen Schutz, so wird von der lunga decadenza des zu lange gesungen habenden Vaters ebenso gesprochen wie von der voce stretta der Schwester. Was Franci damit meint, Domingo seit nur von der Stimme, aber zum Glück nicht vom Charakter her Tenor gewesen, bleibe unerforscht, keinen Zweifel aber lässt das Attribut matto für Bonisolli aufkommen, der in St. Gallen aus „bella figlia d’amore“  verschwand.

Über den Vater gibt es auch viel Anekdotisches zu berichten, so der Streit mit Lauri Volpi im Tell um eine Collinetta, von der beider herunter singen wollten, oder der Umstand, dass der Dirigent in Argentinien geboren wurde, weil die schwangere Mutter den Vater begleiten musste, damit der nicht die gesamte Gage seiner Leidenschaft, dem Pokerspiel, opferte. Aber nicht nur der Dirigent bedient den Interviewer mit Neuigkeiten, das geschieht auch umgekehrt, wenn letzterer mitzuteilen weiß, dass Benvenuto Franci in Toti Dal Monte verliebt gewesen sei.

Das Interview gerät trotz der selbstverliebten Vorgehensweise von Tiberi zu einer Fundgrube von nicht nur Anekdotischem, sondern durchaus auch Grundsätzlichem, dass eine Reihe seltener oder bisher noch nie veröffentlichter Fotos eingestreut ist, macht es noch wertvoller. Inzwischen kann es als eine Art Vermächtnis des Dirigenten angesehen werden, dem danach, obwohl er sich mit Gedanken an eine Masterclass trug, nicht mehr viel Zeit vergönnt war.

Die sich anschließende Chronologie ist umfangreich, aber nicht vollständig, was im Vorwort dazu zugegeben wird.

Das nächste Kapitel ist Benvenuto Franci gewidmet, handelt von einem Besuch bei dem bereits dementen Bariton, dessen Tochter von einem Koffer mit Materialien über die Karriere zu berichten weiß, der von der Mutter irrtümlicherweise weggeworfen wurde. Immerhin treibt der Verfasser bei einem Freund in Wien noch einiges Material auf, dazu kommen wenig interessante Forschungsergebnisse über die Ahnenreihe und schließlich noch Zeitungsausschnitte über die Vorstellungen, an denen Benvenuto mitwirkte, angefangen von Lodoletta 1917 als absolutes Debüt.

Wenn man das alles zur Kenntnis nimmt, staunt man erst einmal darüber, wie vielseitig der Bariton, der auch in Tenorhöhen und Basstiefen ohne Mühe gelangte, war, denn er sang auch Pizarro, Telramund, Barack, als letztes Rollendebüt Hans Sachs in Palermo unter Tullio Serafin, aber vor allem auch, wie reich das Repertoire der Opernhäuser in den Zwanzigern und Dreißigern war, wie armselig dagegen das der heutigen Theater.

Als Tamagno dei baritoni wurde Franci gehandelt, die Bösewichter, er sang auch die Uraufführung von La Cena delle Beffe, waren seine bevorzugten Rollen, aber auch Escamillo. In Berlin sang er 1929 den Luna, 1941 spielte er im Bunker des Hotels Kaiserhof Poker, 1948 sang er noch den Don Carlo mit La Callas als Leonora. Ein doppelter Schädelbruch konnte seine Karriere nicht beenden, erst ein Sturz 1956 in Palermo. Danach war er noch eine Art direttore artistico, wurde in Rom von der Tochter betreut.

Wie vielen Sängern er Vergangenheit geht es auch Benvenuto Franci, dessen Stimme auf Platten nicht so wiedergegeben wird, wie sie die im Ohr hatten, die ihn noch auf der Bühne erlebt hatten. Ihm wurde die schönste mezza voce di baritono nachgesagt, aber auch ein markerschütterndes Forte, allerdings machte sich wohl auch in den letzten Jahren ein Registerbruch bemerkbar. Eine ausführliche Discografia ab 1920 enthält Aufnahmen von Phonotype Columbia, später der Società Nazionale del Grammofono.

Zahlreiche Fotos, Karikaturen und Zeitungsartikel geben einen Einblick nicht nur in die Karriere Francis, sondern in das Opernleben in Italien ganz allgemein.

Von Tommaso Franci, dem Tenor, gibt es, da wenig überliefert ist, nur eine Chronologie ebenso von Marcella Franci, die immerhin 1944 in Rom mit Ferruccio Tagliavini und Tito Gobbi an der Seite in Rom in Gounods Faust die Margherita sang.

Von Francesca Franci, renommierte Mezzosopranistin selbst, berichtet Tiberi pikiert, dass sie ihm kein Interview gewährte, was zumindest dann nicht verwundert, wenn man sich die Rückseite des Buches ansieht, die Maurizio Tiberi im doppelten Sinne hemdsärmelig zwischen einem sehr trübsinnige aussehenden Carlo und einer übertrieben lachenden Francesca Franci zeigt. So sind dem Mezzosopran auch nur eine Cronologia teatrale und eine Discografia, beide unvollständig, gewidmet. Die dem Vater zugedachte ist vollständiger, aber nicht perfekt, ihm ist zusätzlich eine Filmografia gewidmet und auch als Komponist wird er gewürdigt mit der Ansicht der CDs, die Mittelalterliches und Afrikanisches als Stimulans hatten. Daneben gibt es viele Aufnahmen aus dem Fenice. Auf den Maler Carlo Franci wird mit  www.carlofranci.it verwiesen.

Ein doppeltes Namensregister und ein zweiseitiger Artikel, der einem „amico“ gewidmet ist und eigentlich in dem Buch nichts zu suchen hat, beenden das zwar stellenweise recht konfuse, aber dank der Mitwirkung Carlo Francis überaus interessante Buch (Tima Club, kein ISBN, verfügbar bei Bongiovanni, Bologna, www.bongiovanni70.it). Ingrid Wanja

Hommage an la Francesina

 

Der berühmten französischen Sängerin Élisabeth Duparc, genannt La Francesina, widmet die belgische Sopranistin Sophie Junker bei APARTÉ ein Recital, das den Titel Handel´s Nightingale trägt und im Juni 2019 in Lyon aufgenommen wurde (AP233). Duparc war in London zunächst ein Star in Werken von Hasse und Riccardo Broschi (an der Seite von Farinelli), bevor sie sich dem Schaffen Händels zuwandte und 1741 seine erste Deidamia wurde. Zuvor war sie 1738 im Faramondo die Clotilde – eine Partie, die sich durch hohe Virtuosität auszeichnet. Sie kreierte auch diverse Rollen in seinen Oratorien: die Titelrolle in Semele, 1744, Nitocris in Belshazzar, 1745, Michal in Saul, 1739, Iole in Hercules, 1745, und Asenath in Joseph and his Brethren, 1744. Nicht weniger als zwölf Hauptpartien komponierte Händel für seine Muse. Duparc verfügte über einen hellen, lyrischen Sopran, starb 1778, nachdem sie in ihren letzten Lebensjahren der Vergessenheit anheim gefallen war.

Viele ihrer Rollen finden sich auch auf dem Album von Sophie Junker, das mit Asenaths „Prophetic raptures“ aus dem 2. Akt von Joseph and his Brethren beginnt. Junker ist gleichfalls ein lyrischer Sopran mit leuchtender Höhe und delikater Tongebung, nimmt die Arie mit beherztem Zugriff und jubilierender Koloratur. Es folgt die Arie „What passion“ aus der Ode to St. Cecilia’s Day, in welche die Solistin lyrisches Potential und empfindsamen Ausdruck einbringen kann.

Aus Deidamia sind zwei kontrastierende Arien der Titelheldin zu hören – „Và, perfido!“ aus dem 2. und „Nasconde l’usignol“ aus dem 1. Akt. Erstere ist geprägt von energischer Attacke, die zweite von heiterem Duktus mit zwitschernden Tönen.

In Semeles Hit „Myself I shall adore“ kann Junker die Flexibilität ihrer Stimme ausstellen und gleichermaßen mit legato– wie staccato-Koloraturen brillieren. Ioles „My father!“ aus Hercules zeigt die Möglichkeiten der Sopranistin, eine dramatische Situation mit Verfärbungen des Tones auszudrücken. Clotildes „Mi parto lieta“ aus Faramondo ist ein munteres Stück, in welchem der Sopran aufstrahlt und bezaubert. Michals „In sweetest harmony“ aus Saul atmet himmlische Ausgewogenheit, in welcher sich die Stimme noch einmal von ihrer schönsten Seite zeigen kann. Das Programm beendet Romildas bewegende Arie „Nè men con l’ombre d’infedeltà“ aus Serse, in der die Solistin ein letztes Glanzlicht setzt.

Das Orchester Le Concert de l’Hostel Dieu, das unter der animierenden Leitung von Franck-Emmanuel Comte die Solistin kompetent begleitet, steuert mehrere Instrumentalbeiträge bei – die stürmische Sinfonia aus Belshazzar, die gewichtige  Overture zu Semele und die wiegende Musette aus The Occasional Oratorio, erweist sich dabei als versierter und vielseitiger Klangkörper. Bernd Hoppe

Beginn einer Reihe

 

Noch sechs bis sieben Bände über das Musical sollen im Abstand von ungefähr anderthalb Jahren diesem einen mit dem Titel Musicals – Geschichte und Interpretation folgen, denn Wolfgang Jansen hat seinen Einzug in die deutschsprachigen Lande von Anfang an verfolgt und sich unüberhörbar zum Fürsprecher dieser in Deutschland lange umstrittenen Gattung gemacht. Ab 1992 erschienen seine Betrachtungen über 25 Jahre hinweg, im ersten Band geht es um die Unfähigkeit der Operette, sich weiter zu entwickeln, wodurch ein Freiraum für die neue, aus Amerika kommende  Gattung entstand.

Im Vorwort wird allerdings darauf hingewiesen, dass es nicht nur um das Musical, sondern um das „populäre Musiktheater“ geht und zwar um gattungsgeschichtliche Zusammenhänge, einzelne Spielstätten und Werke und um die Arbeitsbedingungen der Künstler. Da das Buch in sich abgeschlossene Aufsätze enthält, kann es nicht ausbleiben, dass es manchmal zu Wiederholungen kommt, doch enthält jedes der Kapitel genug Neues, um seine Aufnahme in den Band zu legitimieren.

Der Verfasser unterschlägt nicht das Entstehen neuer Musikwerke wie Feuerwerk oder Doktor Eisenbart, führt aber auch aus, dass sie Eintagsfliegen blieben, und tritt mit seinen Arbeiten der damals allgemein herrschenden Meinung entgegen, dass die deutschen Bühnen, die „Unfähigkeit zum Musical“ auszeichne. Zwar habe es bis 1955 kaum Musicals zu erleben gegeben, doch ab 1955, nach dem Erscheinen von Kiss me, Kate! auf deutschen Bühnen, ändere sich das schlagartig. Der Autor stellt sich auch die Frage, warum der amerikanische Kurt Weill im Nachkriegsdeutschland nicht recht Fuß fasste und sieht einen der Gründe darin, dass er durch die Dreigroschenoper eng an Brecht geschmiedet schien und dass das dem Ansehen seines Werkes in Westdeutschland nicht dienlich gewesen sei.

Ein eigenes Kapitel ist den Begriffen Operette- Musicalette- Musical gewidmet, in ihm wird erläutert, inwiefern sich die Unsicherheit über das Profil der neuen Gattung auch in den vielen Bezeichnungen ausdrückt.

Als wesentlich für die Schwierigkeiten bei der Etablierung der neuen Gattung sieht Jansen auch die Tatsache an, dass es nach 1945 keine unbestrittene Metropole für die leichte Muse mehr gab. Daran änderte auch der Versuch Willi Kollos nichts, sie mit „Berlins 1. Musical-Theater“ einzuführen. Jansen bezieht  natürlich auch die Bemühungen „kleinerer“ Städte um neue Stücke ein, so die Kassels um Weills Lady in the Dark .

Der Verfasser berücksichtigt in seinen Betrachtungen auch Österreich und die deutschsprachige Schweiz, so die Aufführung von Porgy and Bess 1945 in Zürich. In Wien setzte sich Marcel Prawy besonders für das Musical ein, übersetzte vom Amerikanischen ins Deutsche, und in beiden Fällen tauchte das Problem auf, wie man die sehr unterschiedlichen Idiome in Street Scene oder Porgy und Bess und seine Sprache der Schwarzen angemessen übersetzte. Jansen macht das dem Leser durch Beispiele, in denen Original und Übersetzung einander gegenüber gestellt werden, deutlich. So entfalten die Gastspiele amerikanischer Truppen noch am ehesten Authentizität, wird Oklahoma! 1951 im Titania Palast erwähnt und auch nicht verschwiegen, dass solche Tourneen ein Teil des Umerziehungsprogramms der Amerikaner darstellten, auf der anderen Seite von der DDR-Presse heftig bekämpft wurden. Allerdings irrt der Verfasser, wenn er meint, Furtwängler habe bei der Wiedereröffnung des Schiller-Theaters in Westberlin die Berliner Symphoniker dirigiert. Es waren natürlich die Philharmoniker.

Interessant zu lesen ist die Passage über die Wirkung von Adornos Meinung über den amerikanischen Kurt Weill, ebenso die Kämpfe um die Wiener Volksoper, wo Marcel Prawy Chefdramaturg war und nacheinander Kiss me, Kate!, Wonderful Town und Annie, get your gun! herausbrachte, in die Schweiz führt die Erwähnung von Cole Porters Can Can in Basel.

Ein großer Teil des Buches ist dem ersten Erscheinen des jeweiligen Musicals auf einer deutschen Bühne gewidmet, insbesondere von My Fair Lady im Berliner Theater des Westens und der West Side Story, deren Entstehungsgeschichte in drei Etappen nachvollzogen wird.

Themen mehr am Rande wie die Anfänge des schwyzerdeutschen Musicals oder die Geschichte der Vinyl-Platte zeigen, wie vielseitig das Buch ist, das auch das Wirken Rolf Kutscheras im Theater an der Wien nicht außer Acht lässt, Harald Juhnke, Theo Lingen, Vico Torriani und viele andere Revue passieren lässt.

Viele Leser werden sich noch an My Fair Lady in der Berliner Kantstraße erinnern, ein unvergleichlicher Triumph und eine Art Trostpflaster für den kurz davor vollzogenen Mauerbau. So ausführlich wie interessant berichtet der Verfasser von den Anfängen, d.h. den Verhandlungen um die Erlaubnis der Erben Shaws, seinen Pygmalion als Vorlage zu benutzen, vom Scheitern mehrerer Komponisten an dem Stoffe, von der Uraufführung mit Rex Harrison und Judy Andrews, und auch die Baugeschichte der Städtischen Oper Berlin fehlt nicht. Der Autor scheut sich nicht zu behaupten, dass „ das populäre Musiktheater der Bundesrepublik anders aussehen“ würde, wenn es diese Aufführung nicht gegeben hätte. Nun- immerhin gab es eine „Musical-Luftbrücke“ für westdeutsche Besucher, die sich die Aufführung nicht entgehen lassen wollten. Obwohl der Fair Lady mit Annie, get your gun! mit Heidi Brühl ein Misserfolg folgte, begann nach Meinung des Verfassers, und dem kann man wohl kaum widersprechen, der Siegeszug der Gattung in Deutschland.

Es folgen nach diesem sehr ausführlichen Kapitel noch solche und kürzere über Gershwins Girl Crazy, Rio Reisers Beat Opera und Anatevka wie Man oft La Mancha. Man kann gespannt sein, was Wolfgang Jansen über die ihnen folgenden Werke zu sagen hat (308 S., 2020 Waxmann Verlag; ISBN 978 3 8309 4159 0). Ingrid Wanja

Erstmals auf CD

 

Wie in Endlosschleife rollten ab den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts Pietro Metastasios Geschichten dysfunktionaler Familien zuerst über die italienischen und rasch auch europäischen Bühnen. Die Zuschauer konnten sich in diesen barocken Opernnovelas vieler Grundmuster sicher sein: grausame Väter, gestörte Beziehungen zu Töchtern und Söhnen, Zwangsheiraten aus dynastischen Gründen, Todesurteile, vertauschte Kinder usw. Solche Standardsituationen überschrieb auch Christoph Willibald Gluck in seinen ersten italienischen Opern, die nahezu alle ausschließlich die Erfolgsmuster Metastasios nutzten. 1737 war er nach Mailand gekommen und debütierte nach Ausbildung durch Sammartini dort 1741 in dem für einen Opernkomponisten nach den Maßstäben der Zeit „reifen“ alter von 27 Jahren mit Artaserse. Nach einem Abstecher nach Venedig kehrte er 1743 mit dem zehn Jahre zuvor durch Caldara erstmals und in den folgenden Jahren von einem Dutzend weiter Komponisten vertonten Demofoonte nach Mailand zurück. Nun liegt Glucks dritte Oper erstmals auf CD (3 CDs Brilliant Classics 95283) vor.

Alan Curtis war dafür 2014 mit dem von ihm 35 Jahre zuvor gegründeten Barockensemble Il Complesso Barocco und einem handverlesenen Ensemble in das nahe Vicenza gelegene Lonigo gereist, um das dreiaktige dramma per musica zu beleben. Titelheld Demofoonte ist der König von Thrakien, der nach einem Gebot des Apoll eine Jungfrau opfern will. Seine Wahl fällt auf Dircea, die Tochter seines Fürsten Matusio. Dircea ist bereit heimlich mit Demofoontes Sohn Timante verheiratet, der vom Vater aus dem Feld zurückgerufen wird, damit er die phrygische Prinzessin Creusa heiratet. Timantes Bruder Cherinto liebt Creusa. Nachdem zum dramatischen Höhepunkt am Ende des zweiten Aktes Timante und Dircea nahc Bekanntwerden ihrer Heirat zum Tode verurteilt werden, lösen sich im dritten Akt durch plötzlich aufgetauchte Briefe die Konflikte auf: Dircea ist Demofoontes Tochter, Tigrane der Sohn des Matusio, Creusa entdeckt ihre Liebe zu Cherinto.

Nach der von Curtis aus Ipermestra entlehnten dreiteiligen Sinfonia entwickelt sich diese Geschichte in einer Folge von schätzungsweise zwei Dutzend Arien, dem Duett Dircea – Timante am Ende des zweiten Aktes und einem Chor am Ende der Oper über drei Stunden in den Bahnen feiner Gesangskunst, die jeden Freund barocker Opern entzücken muss. Im Mittelpunkt stehen der damals gerade erst 20jährige amerikanische Countertenor Aryeh Nussbaum Cohen als Timante, der sich mit „Sperai vicino al lido“ tapfer und fast kriegerisch zeigt – es folgt eine entsprechend martialische Marcia – und die von dem Star-Kastraten Carestini kreierte Partie mit draufgängerischer Verve, interessantem, nicht rundem, Timbre singt. Die umfangreiche Begleitung und die Situationen durch aufregendes Orchesterspiel durchgehend erhellende Orchestersprache malen die 24 Spieler des Complesso Barocco prachtvoll aus. Mit schöner Farbe, einem silbrig feinen Vibrato singt Sylvia Schwartz die Dircea. Ihr umfangreiches Duett mit Timante „La destra ti chiedo“ schöpft ganz aus dem Reichtum einer Gefühlswelt, die Händel erschlossen hatte. Romina Basso verleiht dem Timante-Bruder Cherinto mit ihrem dunklen, recht herben und dabei sehr individuellen Mezzosopran und energisch scharfen Rezitativen ein Gesicht. Im Zusammenspiel mit der anderen Mezzosopranistin, der weichen und von Ann Hallenberg mit erlesenen Koloraturen gesungenen Creusa, ergeben sich reizvolle Kontraste. Der Bariton Vittorio Prato spielte als Matusio damals schon seine eloquente Bühnenpersönlichkeit aus, als Demofoonte steht Tenor Colin Balzer, wenngleich in der virtuosen Arie à la Händel „Perfidi! Già che in vita“ nicht überfordert, doch farblos, ein wenig im Abseits, und Nerea Berraondo bleibt mit splissigem Mezzo als Anführer der Palastwachen eine Randfigur. Rolf Fath

Aus Esterházys Truhen

 

In ihrer Esterházy Music Collection gibt ACCENT als Vol. 2 ein Oratorium von Gregor Joseph Werner mit dem Titel Der Gute Hirt heraus (ACC 26502, 2 CDs). Die Aufnahme entstand im Januar 2019 in Budapest als Produktion der Orfeo Music Foundation mit Unterstützung des Ungarischen Kulturministeriums.

Nach seiner Uraufführung 1739 in Eisenstadt ist das in der Musikbibliothek Joseph Haydns wieder entdeckte Werk nun erstmals in moderner Zeit zu hören. Der österreichische Komponist war wahrscheinlich ein Schüler von Johann Joseph Fux und stand fast 40 Jahre im Dienste der Esterházy-Fürsten. Gegen Ende seines Wirkens wurde ihm ein junger Assistent zur Seite gestellt, der kein Geringerer war als Joseph Haydn. Dieser fertigte Abschriften von Werken Werners an und bewahrte sie in seiner eigenen Musikbibliothek auf, woraus auch der Erhalt des Guten Hirten resultiert.

Die Komposition gehört zur Gattung des Sepolcro-Oratoriums, welche in der Karwoche aufgeführt wurden und das Begräbnis Jesu Christi darstellten. Von den fünf Personen der Handlung tragen einige pittoreske Namen, welche an das Personal in den Opern von Reinhard Keiser erinnern. Da finden sich neben dem Guten Hirten (der Countertenor Péter Bárány) Das Verlorene Schäflein & Das Wider Gefundene und Sehr Dankbare Schäflein, besetzt mit der Sopranistin Àgnes Kovács. In ihrer Auftrittsarie „Nun ihr, Blumen auf den Feldern“ lässt sie eine jugendlich-muntere Stimme mit sicherer Höhe hören. Sie beendet den Actus Primus mit der lebhaften Arie „Hinweg mit der Melancholie“, in der sie auch ihre Virtuosität ausstellen kann. Der Counter führt sich mit der getragenen Arie „Das Hirschlein nicht so schnell“ ein, deren klagender Duktus sein larmoyantes Timbre noch unterstreicht. In seiner Arie zu Beginn des Actus Secundus, „Auf, auf, mit hurtig schnellem Lauf“, kann sich die Stimme vorteilhafter darstellen.

Der Gute Hirt in Inänlichen Alter (der Tenor Zoltán Megyesi mit kultiviertem Vortrag in der kantabel wiegenden Arie „Steinhartes Felsenherz“), der Pilger (der Bassist Lóránt Najbauer mit flexibler Stimmgebung, aber auch der Fähigkeit zu liedhafter Lyrik) und das Echo (die Sopranistin Adriána Kalafszky) komplettieren die Besetzung. Das Orfeo Orchestra musiziert unter Leitung von Györgyi Vashegyi inspiriert und kontrastreich, wie es schon in der Introductio zu hören ist, die gewichtig einsetzt und sich dann zu hurtigem Fluss wandelt. Der Purcell Choir wartet in zwei Nummern am Ende des Werkes (Chorus deren Hirten und Chorus deren Schäflein) mit feierlichen und freudvollen Tönen auf. Bernd Hoppe

Reizvolle Melange

 

Bereits wenige Tage vor dem oben beschriebenen Abend wurde am 25. Januar 2020 die nun  vorliegende Aufführung von Jaromir Weinbergers Frühlingsstürmen mitgeschnitten (Naxos Bluray NBD0122V). Fast genauso groß wie die Freude darüber, dass fast auf den Tag genau 87 Jahre nach der Uraufführung im damaligen Admiralspalast dieses Werk greifbar ist, ist die Freude über die kluge Berliner Dramaturgie, die Barrie Kosky an seinem  (noch) Haus vertritt – und die ein bisschen an einstige Versuche der Berliner Staatsoper mit Busonis Brautwahl oder Milhauds Christophe Colombe  während der Ägide von Georg Quander erinnern. Toll.

Das Stück wirkt in Koskys Interpretation zunächst zerfledert und buntscheckig: wie gewohnt „von allem etwas“. Kosky nennt es ein „phantastisch kompliziertes kulturelles Artefakt“. Vor diesem „Artefakt“ hat der inszenierende Hausherr zu viel Achtung, oder er schreckt zurück. Auf jeden Fall wirken die Szenen im russischen Hauptquartier in der nordchinesischen Mandschurai, die bereits so redeselig ausgefallen sind wie es sonst nur die dritten Akte jeder Operette sind, doch etwas öde und umständlich. Kosky fehlen ganz offensichtlich die tanzenden Girls und Boys; die Mädels dürfen sich dann doch u.a. in einer netten Chinoiserie zeigen. Und chinesische Drachen nebst Lampions fehlen auch nicht.

Immerhin ist der großartige Stefan Kurt in der Homolka-Rolle des Katschalow ein soignierter russischer General, der zarte Komik mit Geschmack verbindet und später ergreifend traurig-komisch Lenskys Arie zelebriert. Den Glanz einer Operettendiva verbreitet Vera-Lotte Boecker als Lydia bei ihrem Auftrittslied, „Nehmt euch, ihr Männer, vor Frauen in Acht“, nicht nur stimmlich, sondern vor einem chinesischen Zauberwürfel mit leichtem Glamour in Szene gesetzt auch szenich. Problematisch Tansel Akzeybek in der Rolle des als chinesischer Diener verkleideten japanischen Majors Ito. „Allein der Name Richard Tauber zog die Menschen ins Theater“, hieß es damals. Das wird diesmal nicht der Fall sein. In der Premiere scheint Akzeybek in seiner Auftrittsszene noch nervös, doch auch in den Duetten mit Lydia „Frühling in der Mandschurai“ verziehen sich die dunklen Wolken nicht bzw. klingt „Traumversunken, liebestrunken“, wozu eine rote Showtreppe ins Nirgendwo führt und die tanzenden Damen die Straußenfedern schwingen, zu bodenschwer. Man merkt den Modulationen an, dass sie für Tauber geschrieben waren. Und wird enttäuscht; auch bei den uncharmanten Kopftönen im Schlager „Du wärst für mich die Frau gewesen“. Gelungener beider „musikalische Szene“ zu Beginn des zweiten Teils. Alma Sadé und Dominik Köninger sind als Tatjana und Roderich so quirlig wie es sich für das zweite Paar gehört. Weinbergers sich machtvoll aufbäumender Musik mit ihren interessanten Eintrübungen und retrospektiven Vermischung der Gattungen und Stile, in der man schon den Abgesang auf eine Epoche zu spüren meint, präsentiert Jordan de Souza als reizvolle Melange. Rolf Fath

An- und Einsichten

 

Dass er ein vorzüglicher Sänger ist, wusste man seit langem, dass aber der polnische Tenor Piotr Beczała auch ein mutiger Mann ist, kann man feststellen, wenn man sich in sein Buch In die Welt hinaus, Untertitel Ein Opernleben in drei Akten vertieft. In diesem geht es nicht nur um das Entdecken der Stimme, um deren Ausbildung, um erste und weitere Erfolge, um die Höhepunkte einer Künstlerkarriere, obwohl die Gliederung sich streng an den Aufbau einer Oper mit Ouvertüre, erstem bis drittem Akt einschließlich eines Intermezzo hält, sondern auch um Politik, sei es die im kommunistischen, sei es die im heutigen Polen, um moderne und traditionelle Regie oder um Sprachregelungen, die es durchaus nicht nur in Diktaturen zu geben braucht. Allerdings ist der Untertitel insofern nicht glücklich gewählt, als er unterstellt, die sängerische Laufbahn sei inzwischen abgeschlossen, was nicht nur hoffentlich, sondern auch offensichtlich nicht den Tatsachen entspricht.

Es fängt eigentlich ganz konventionell an mit der Schilderung eines Tosca-Abends, an dem das Publikum ein doppeltes Da Capo nach „E lucevan le stelle“ erzwingen möchte, in der Journalistin und hier Interview-Partnerin Susanne Zobl in recht blumiger, nicht immer korrekter Sprache („Ein Rauschen wog mir entgegen.“) die Gefühle des Sängers zwischen Triumph und Verantwortungsbewusstsein beschreibt, ihn mitteilen lässt, er wolle mit dem Buch „etwas von seiner Energie vermitteln“.     

Es folgt eine Schilderung der Kindheit und Jugend im kommunistischen Polen, wobei nichts von Ostalgie anklingt, sondern schonungslos darüber berichtet wird, wie es kaum einmal genügend Fleisch und Butter, dafür aber willkürliche Verhaftungen, so auch den Vater betreffend, gab, Der deutsche Leser, und die Originalsprache des Buchs ist das Deutsche, erfährt etwas über die Lieblingslektüre Karl May, über das Singen bei den Pfadfindern, den Einblick ins Designer- und Schneiderwesen, der dazu führt, dass ihm „kein Kostümbildner etwas vormachen“ kann. Bereits hier wird deutlich, dass der Sänger ein kritischer Beobachter des Theaterwesens ist, wenn er beklagt, dass Bühne und Kostüme Unmengen kosten dürfen, aber „bei der Gage wird um hundert Euro gefeilscht.“

Nicht nur für die Theaterlandschaft hat sich der polnische Tenor seinen kritischen Blick bewahrt, sondern auch für die politischen Zustände in seinem Heimatland, dessen jüngste Entwicklung er zutiefst bedauert, sie in Richtung auf eine dem Kommunismus ähnliche Diktatur steuern sieht. In die chronologische Schilderung seiner beruflichen Entwicklung, mit dem Singen in einem Madrigalchor beginnend, und seiner Beziehung zu seiner späteren Ehefrau Kasia, die ihre eigene Karriere beendete, um der seinen dienlich zu sein,  fließen immer wieder Betrachtungen über interessante Themen ein. So äußert er sich über die Unvereinbarkeit von Solisten- und Chorgesang, die unterschiedliche Sängerausbildung in Polen und im „Westen“, das beste Verfahren beim Lernen einer Fremdsprache oder das Bild vom Opernsänger: „Der kommt nicht rein, der tritt auf“.

In den Anfangsjahren verfügt Beczała zwar über ein Tenortimbre, nicht aber alle hohen Noten. Inzwischen hat er die längst, aber leider verrät uns das Buch nicht, wie es dem Sänger gelang, dahin zu kommen.

Auch der Pole hatte Begegnungen mit arrivierten Künstlern, die ihm den richtigen Weg wiesen. In seinem Fall ist es Sena Jurinac, die ihn zu Mozart und weg von dem in Polen von ihm geforderten schwereren Fach führte.

Es geht chronologisch weiter mit dem ersten Festengagement in Linz, womit auch die ersten Regiezumutungen verbunden sind, die der Tenor mit Humor zu schildern weiß, so wie er voller Wärme über den Dritten im Ehebunde, den Hund, der ihnen zugelaufen ist,  schreibt. Diskussionswürdig ist sicherlich die Behauptung, ein Liebespaar im realen Leben sei auch das überzeugendere Liebespaar auf der Bühne, nachdenkenswert der Vergleich von in Linz unwillkommenen Polen mit heutigen Wirtschaftsflüchtlingen, auffällig die an mehreren Stellen des Buches wiederkehrende Bewunderung für die Inszenierungen von Otto Schenk, so als Einspringer für Gösta Winbergh in der Wiener Zauberflöte. Damit setzt auch die Kritik an „konstruierten Produktionen“ ein, die es dem Sänger unmöglich machen, das Beste aus sich herauszuholen und dem Publikum zu vermitteln. Das hat nichts damit zu tun, dass Beczala „süchtig nach Harmonien“ ist, das bezieht sich nur auf die Musik, sondern darauf, dass „Auswüchse“ von Regie dazu führen, dass man sich in konzertante Aufführungen flüchten muss.

In einem weicht Piotr Beczała von der Meinung vieler Kollegen ab, wenn er sich nicht den Grundsatz, es gebe keine kleinen, unwichtigen Rollen, zu eigen macht, sondern einen Cassio für sich rundweg ablehnt,  auch Zweifel an der Kompetenz der Besetzungsbüros laut werden lässt. Befremdlich mag es auf manchen Leser  wirken, dass er nicht nur den Müllerburschen im Schubert-Zyklus, sondern auch Idomeneo, Hoffmann, Don Carlo als „kranke Typen“ ablehnt und sie nicht singen mag. Hier und in einigem anderem wagt sich der Tenor weiter vor als die meisten seiner Kollegen, so auch im Urteil über den Betrieb an der Mailänder Scala, an der er als Alfredo sein erstes und einziges Buh erlebte.  Ein Paradies für Sänger scheint hingegen die MET zu sein. Zustimmen werden ihm nicht nur die Tenöre darin, dass er die meisten Proben für zu lang und oft nur den skurrilen Einfällen der Regisseure geschuldet hält.

Abenteuerlich war der Weg des Sängers zu Lohengrin, den er schließlich unter Thielemann sang, über diese Figur, die Sichtweise des Sängers auf sie, hätte man gern erfahren. Stattdessen gibt es einiges über Autos, über den Freund Sean Connery oder Halka in Wien zu lesen. Auch Piotr Beczała wurde nicht ganz von den so gefürchteten geplatzten Blutgefäßen im Stimmapparat verschont, und trotz des Rückzugs in das polnische Refugium ereilte ihn das Corona-Virus. Inzwischen ist er längst wieder gesund, konnte dieses Buch schreiben und studiert seine nächsten, hoffentlich bald in einer coronafreien Welt zur Aufführung gelangenden neuen Partien Radames, Manrico, Parsifal und Calaf.   Der Anhang besteht aus Rollenverzeichnis, Soloalben, Bildnachweis und Personenregister (250 Seiten, Amalthea Verlag 2020; ISBN 978-3990501856). Ingrid Wanja

Agogisches Raffinement

 

In einer Live-Aufnahme aus der Pariser Opéra-Comique von 2017 bringt AliaVox Marin Marais’ Tragédie lyrique Alcione von 1706 heraus (AVSA 9939, 3 CDs). Zu hören ist die Version von Jordi Savall, dem renommierten katalanischen Musiker und Dirigenten, der sich mit seinem Ensemble Le Concert des Nations der Einspielung von Marc Minkowski von 1989 bei Erato stellen muss. Aber Savall, der in seinen Konzertprogrammen oft der Göttin des Tanzes, Terpsichore, huldigt, ist ein Meister im Erfassen von rhythmischem Drive, agogischem Raffinement und der Entfaltung dynamischer Kontraste. So sind denn auch die zahlreichen Tanzeinlagen – Marche, Menuet, Bourée, Sarabande, Gigue, Chaconne – die Höhepunkte der Einspielung:  überwältigend in ihrer Vitalität und ihrem Esprit. Spektakulär sind die Tempête-Szenen mit dem Einsatz des Donnerbleches.

Der Prolog der fünfaktigen Oper huldigt in der Person des Apollon, der in einem Gesangswettbewerb den Frieden besingt und damit gewinnt, König Ludwig XIV.  Im 1. Akt will Ceix, König von Trachis, die Tochter des über die Winde herrschenden Aiolos, Alcione, heiraten. Drei Personen stellen sich gegen dieses Glück: Ceix’ bester Freund Pelée, der gleichfalls in Alcione verliebt ist, der Zauberer Phorbas und die Zauberin Ismène. Auf dem Höhepunkt der Hochzeitszeremonie legen Furien den Palast in Schutt und Asche. Die folgenden Akte beschreiben Ceix und Alcione in ihrer Leidenschaft füreinander, die bis zu beider Tod geht, so dass Neptune, von solch großer Liebe überwältigt, sie wieder zum Leben erweckt und ihnen die Gabe verleiht, Stürme zu besänftigen.

Die französischen Sänger dieser Einspielung sind in unseren Breiten weniger bekannt. Einzig Lea Desandre in der Titelrolle, die zwischen Sopran- und Mezzo-Partien pendelt, ist durch ihre Zusammenarbeit mit renommierten Barock-Dirigenten wie William Christie, Marc Minkowski und John Eliot Gardiner auch hierzulande ein Begriff. Ihre Stimme ist gleichermaßen delikat wie leidenschaftlich und vermag die Gefühle der Figur eindringlich zu vermitteln. Cyril Auvity lässt als Ceix seinen exquisiten Tenor von zarter Textur hören und ist der Titelheldin ein idealer Partner. Beider Szene im 3. Akt, „C’est toi que j’en atteste“, ist ergreifend in ihrer emotionalen Intensität. Sein Freund Pelée ist ein Bariton, mit Marc Mauillon besetzt, der die zwiespältige Figur plastisch umreißt und dabei auch streng-aggressive Töne einsetzt. Den Apollon singt Sebastian Monti mit weichem, typisch französisch getöntem Tenor. In der Besetzung finden sich außerdem der Bariton Lisandro Abadie als Phorbas, die Sopranistin Hasnaa Bennani als Isméne, der Bass Antonio Abete als Neptune u.a. Bernd Hoppe

Angelo Mori

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Im Alter von 86 Jahren verstarb der Sänger Angelo Mori, Sohn italienischer Auswanderer nach Frankreich und deshalb 1934 in Toulouse geboren. Der Vater, dem selbst eine musikalische Ausbildung verwehrt worden war, wünschte sich diese für den begabten Sohn, meldete ihn bei einem Concorso für neapolitanische Canzonen in Mailand an, bei dem er sich die Achtung von Tito Schipa ersang, die Vorstellung auch für die Aufnahme in die Scuola di Teatro des Fenice in Venedig scheiterte zunächst wegen der technischen Mängel und trotz der  Schönheit des Materials, das auch Aureliano Pertile hatte aufhorchen lassen. Dessen Klavierbegleiter Arturo Merlini war zugleich der erste Lehrer Moris gewesen. Marcello del Monaco, Bruder des Tenors Mario, der damals nicht immer zum Vorteil aufstrebender Tenöre deren Vorbild war, unterrichtete den jungen Sänger, der sich hin- und hergerissen zwischen den Anforderungen des Fenice, wo man ihn für einen lyrischen, einen Mozarttenor hielt, und del Monacos sah, der aus ihm zumindest einen Spintotenor machen wollte. Der zweite Anlauf in die Scuola del Fenice war von Erfolg gekrönt, und während parallel dazu die vier Jahre Schulung beim Maestro dei Tenori Marcello del Monaco weiterliefen, erfolgte bereits das Debüt in Malipieros I Mondi celesti ed infernali. Seine Partnerin war Magda Olivero. Als sein eigentliches Debüt allerdings gilt die Rolle des Duca an der Seite von Renata Scotti und Cornell MacNeil in Venedig. Marcello Del Monaco blieb ihm stets, wie spätere Interviews zeigen, immer „il mio grande maestro“, hatte er doch mit Erfolg den größten Defekt der jungen Stimme, die Passaggioprobleme ,erkannt und behoben.  Zudem hatte er  nicht nur das richtige Ohr für Stimmen, sondern auch das Auge für Erfolgsaussichten, die von der Optik abhingen, wenn er meinte: “Per fortuna lei non è una figura impossibile“.  Angelo Mori sang dann  an allen großen Bühnen Italiens, auch an vielen Opernhäusern Europas, darunter die Deutsche Oper Berlin und eine einzige Vorstellung als Duca an der Staatsoper Wien, in den USA ( amerikanische Erstaufführung von Giovanna d’Arco) und auch sonst in Übersee. Sein Repertoire umfasste die meisten Verdi-Rollen, auch Belcanto wie Verismo und Unbekanntes wie Mascagnis Silvano oder Donizettis Marin Faliero (davon gibt es eine Aufnahme). Seine besten Jahre waren die von 1960 bis 1975, er gab seine letzte Bühnenvorstellung 1884, trat in Konzerten noch bis 1998 auf. Zuletzt lebte er auf seinem italienischen Landgut, wo er im . Dezember 2020 verstarb. Außer dem Marin Faliero gibt es noch eine Aufnahme von La Forza del Destino bei Fratelli Fabbri. Ingrid Wanja

Roland Hermann

 

Der Bariton Roland Hermann  (* 17. September 1936 in Bochum; † 17. November 2020 in Zürich) erhielt seine musikalische Ausbildung in Deutschland, Italien und den USA. Seine Gesangslehrer waren Paul Lohmann und Margarete von Winterfeld. 1968 holte ihn Ferdinand Leitner an das Opernhaus Zürich, dessen Ensemble er bis 1999 angehörte. Als Opem- und Konzertsänger genießt Hermann internationalen Ruf und gastiert in den USA, Südamerika, Japan, Australien und Europa. Sein Opernrepertoire ist weit gespannt. Unter mehr als 70 Fachpartien sind sowohl die bekannten Rollen des klassischen Repertoires als auch große Charakterpartien in weniger bekannten Opem der Romantik und der Moderne. Als Interpret zeitgenössischer Musik hat sich Roland Hermann einen Namen gemacht und verschiedene Werke zeitgenössischer Komponisten wie Fortner, Halffter, Höller, Kagel, Kelterbom, Krenek, Kurtág oder Zender uraufgeführt. Besondere Bedeutung hat für ihn außerdem das Œuvre von Schönberg, K.A. Hartmann, Orff und B.A. Zimmermann. 60 Tonträgeraufnahmen (u.a. Henzes „Fünf Neapolitanische Lieder“) und etwa 150 Radioproduktionen (mit Henzes „Der Prinz von Homburg“ und „Der Landarzt“) dokumentieren seine umfassende Beschäftigung mit dem Opern-, Konzert- und Liedgesang. Seit 1989 leitet Roland Hermann eine Gesangsklasse an der Staatlichen Hochschule für Musik in Karlsruhe. Quelle Schott/ https://de.schott-music.com/shop/autoren/roland-hermann/ Foto pd)

Selten, aber nun gleich zweimal

 

Beethovens Leonore in einer Aufführung der Opera Lafayette. Einen großen Anlauf nahm die Opera Lafayette, um nach der 2017 gezeigten Produktion von Pierre Gaveaux’ Léonore ou L’ Amour conjugal im Beethoven-Jahr bei Beethovens Leonore anzukommen, die sie im März in New York in dem auf der anderen Seite des Central Parks etwa in gleicher Höhe wie die Met befindlichen Kaye Playhouse vorstellte (Naxos Bluray NDB0121V, zur Leonore von Gaveaux vergl. auch den Artikel in operalounge.de). Gemeinsamer Ausgangspunkt beider Werke ist Jean-Nicolas Bouillys Libretto, das Ferdinand Sonnleitner für Beethoven übersetzte. Als die Oper von Gaveaux 1798 erfolgreich in Paris uraufgeführt wurde, war die Rettungsoper, zu der der Pierre Alexandre Monsignys ebenfalls von der Opera Lafayette 2009 wiederbelebte Le Déserteur den Startschuss gegeben hatte, bereits ein wohlbekanntes Muster, dem Grétry, Lesueur, Cherubini, Boieldieu gefolgt waren, und dem sich zeitgleich zu Beethoven, der im Januar 1804 mit der Arbeit an seiner Leonore begann, in Dresden erneut Paër in Leonore ossia l’amore conjugale zuwandte. Während Paërs Oper bereits im Oktober 1804 herauskam, folgte Beethovens Leonore erst im November des nächsten Jahres, wobei die Premiere am Theater an der Wien, nachdem der Adel die Stadt bereits verlassen hatte und die französischen Truppen und acht Tage vor der Aufführung schließlich Napoleon selbst in Wien eingezogen waren, unter keinem guten Vorzeichen stand.

Gaveaux: „Léonore“ in der Aufnahme der Lafayette Opéra bei Naxos Bluray

Die Urform des Fidelio ist näher am französischen Vorbild, was der Opera Lafayette, die sich seit 25 Jahren der französischen Oper des 17. und 18. Jahrhunderts widmet, entgegenkommen sollte. Die Aufführung der Opera Lafayette ist eine Fleißarbeit. Das Ergebnis eine ordentliche Aufführung, die in Oriol Tomas’ handlicher Inszenierung und Laurence Mongeaus sparsamer Ausstattung szenisch über eine Hochschulaufführung nicht hinauskommt, aber musikalisch ihre Meriten hat. Das Deutsch freilich ist schwerfällig, oft nur passabel – der Chor allerdings singt untadelig – und lässt sich bei Jaquino kaum erahnen, wobei Keven Geddes einen angenehm warmen lyrischen Tenor besitzt. Auch Pascale Beaudins muntere Marzelline, der Tomas als eines der wenigen Requisiten ihren Wäschekorb belässt, ist typgerecht besetzt. Die Singspiel-Szenen und deren Wechsel vom Sprechen zum Gesang scheint der Equipe der Opera Lafayette gut zu liegen. Nathalie Paulins bietet mit ihrem leichten Sopran, der in der Arie etwas aufblüht und nur in der Höhe etwas fest und später gar schrill wird, eine ansprechende Leistung als Leonore. Jean-Michel Richter, dem Will Crutchfied Florestans Szene anhand des verfügbaren Materials für diese Aufführung so rekonstruiert hat, wie sie 1805 geplant gewesen war, ist mit dumpfer Tiefe und brüchigen Übergängen stimmlich wirklich ein Gemarterter, spielt aber so überzeugend, dass man über diese Blessuren hinwegzuhören geneigt ist. Stephen Hegedus als  Rocco, Matthew Scolins als Pizarro mit Hitlerbärtchen und Alexandre Sylvestre als Don Fernando besitzen keine Stimmen, die man oft hören mang. Außerordentlich ist Ryan Brown, der ab der Ouvertüre, Leonore Nr. 2, den Dreiakter sicher und ruhig im Griff hat und mit dem superben, auf Originalinstrumenten spielende Orchester die Stimmungswechsel, etwa in dem sich an das Pizarro-Rocco Duett „Jetzt Alter“ anschließenden Duett Marzelline und Fidelio „Um in der Ehe froh zu leben“, so leicht und anmutig, feinnervig und animierend umsetzt, dass man seinen musikalischen Ausführungen gerne lauscht (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.).  Rolf Fath

 

Und zur Ausgabe von harmonia mundi schreibt Matthias Käther: Ludwig van Beethovens Fidelio gehört zu den wichtigsten und bekanntesten deutschen Opern überhaupt. Weniger bekannt ist, dass Beethoven drei unterschiedliche Fassungen des Werks erstellt hat. Gezeigt wird fast immer die letzte. Jetzt ist eine Neueinspielung der raren, fast nie gespielten ersten erschienen.

Beethovens Freunde fanden Leonore einfach zu lang und schlugen vor, diese zu ändern und zu kürzen. Denn das Premieren-Publikum war gelangweilt. Doch das lag vielleicht auch daran, dass große Teile der Musikwelt  wegen der nahenden napoleonischen Truppen aus Wien geflohen waren. Dirigent René Jacobs meint jedenfalls, die erste Fidelio-Fassung sei die beste. Für ihn ist die Erstfassung von 1805 außerdem die plausibelste, weil sie eine ausgefeiltere Handlung hat als spätere Versionen.

Es bleibt in allen Fassungen die Geschichte von der Ehegattin Leonore, die als Mann verkleidet unter dem Namen Fidelio undercover als Gefängnisgehilfe arbeitet, um ihren Mann da rauszuholen. Eigentlich ist das alles – wie in der Vorlage von Bouilly (dazu auch ein Beitrag in operalounge.de und auch hier) –  sehr simpel gestrickt, aber während in der populären End-Fassung ziemlich schnell klar wird, dass beide gerettet sind, bleibt der suspense in der Urfassung fast bis zum Schluss erhalten; erst ganz am Ende stellt sich heraus, dass beide ein happy end erwartet.

Es gibt bis dahin jede Menge Umstellungen von Nummern, einiges später gestrichene Material ist nun hörbar, deutlich hörbar auch kleinere bis gewaltiger Unterschiede in der Partitur. Das Werk fängt nun wieder, wie bei der Fidelio-Premiere 1805, mit der ausgedehnten Leonoren-Ouvertüre Nr. 2 an. Im Kern sind aber natürlich die großen Hits alle schon enthalten.

Herrlich harsch. Ich finde Jacobs auch deswegen spannend, weil er parallel zur historischen Entwicklung sich fast im selben Rhythmus – nur 200 Jahre später – für  die entsprechenden musikalischen Stile des 18. und frühen 19. Jahrhunderts interessiert hat. Er begann mit dem Spätbarock, entdeckte dann die Welt Mozarts und seiner Zeitgenossen für sich und landet nun bei Beethoven. Dieses Organische seiner Entdeckungsreise kommt der Leonore sehr zugute, selten hört man so klar wie hier die Linien, die von Haydn, Cherubini und Mozart, ja sogar von Salieri zu Beethovens Opernstil führen. Obwohl Jacobs vor allem ein starker Interpret von Vokalwerken ist, zeigt er sich hier paradoxerweise einer der überzeugendsten Orchesterleiter in Sachen Beethoven seit langem. Was er aus dem Freiburger Barockorchester herausholt, ist schon atemberaubend: ein harscher, kratziger, konfliktreicher Beethoven, der aber trotz allem nie knallig wirkt, sondern immer durchsichtig bleibt. Man kann ohne viel Übertreibung sagen: In dieser Aufnahme ist der wichtigste Held zweifelsohne das Orchester – und das hätte Beethoven sicher gefallen.

Solide Sängergarde. Viele Passagen von Leonore und Florestan sind in dieser Urfassung noch teuflischer als im späten FidelioMarlis Petersen in der Titelpartie wird mit diesen Schwierigkeiten besser fertig als Maximilian Schmidt als Florestan, aber da Jacobs hier generell eher Mozart-  als Wagnersänger einsetzt (wie es sich gehört), bleibt der Eindruck großer Stimmigkeit selbst in den schwächeren Momenten erhalten. Anders als in seiner Cosí führt Präzision im Gesang auch nicht zu Anämie und Unsinnlichkeit. Besonders Marlies Petersen nötigt mir beim Zelebrieren der fast unsingbaren Koloraturen größten Respekt ab. Bei den kleineren Rollen fällt die von mir sehr geliebte Sopransitin Robin Johannsen als Marzelline auf, hier durchaus mehr präsentiert als nur eine kleine Buffa-Rolle, eine hochbegabte Sängerin, die wie Jacobs aus der Alten Musik kommt und der Rolle eine quirlige Grazie verleiht (Beethoven: Leonore 1805 mit Marlis Petersen | Maximilian Schmidt | Robin Johannsen | Dimitry Ivashchenko | Zürcher Sing-Akademie | Freiburger Barockorchester | René Jacobs; 2 CD harmonia mundi HMM 902414 15)Matthias Käther

Indisches Pasticcio

 

 Mittlerweile ist die französische Firma naïve in ihrer verdienstvollen Vivaldi-Edition bei Vol. 64 angelangt. Davon widmen sich allein zwanzig Ausgaben den opere teatrali. Die neueste Veröffentlichung – das Opera pasticcio Argippo – ist wieder eine veritable Rarität und Premiere auf dem Musikmarkt (OP 7079, 2 CDs). Die Aufnahme entstand im Oktober des vergangenen Jahres in Mondovi/Italien, fußt auf der Edizione critica von Bernardo Ticci und ist die erste Einspielung in moderner Zeit des 2011 in Darmstadt wieder entdeckten Manuskriptes. Erneut ist Fabio Biondi mit seinem1990 gegründeten Ensemble Europa Galante am Werk und sorgt für ein frisches, Affekt betontes Musizieren, das schon in der pulsierenden Sinfonia zu vernehmen ist. Denn die Musik ist reich an Emotionen – seien sie nun heftig und ungestüm oder zärtlich und galant.

Vivaldis dreiaktige Oper, ein Beitrag zur Mode der Zeit, indische Sitten und Gebräuche auf der Bühne darzustellen, wurde 1730 im Wiener Theater am Kärntner Tor und im Prager Sporkschen Theater aufgeführt. Von den beiden Aufführungen haben sich nur die Libretti und eine Sammlung von Arien erhalten. Wieder gefunden wurden sie in Darmstadt nebst der Partitur einer vollständigen anonymen Oper, einem Pasticcio mit einem Dutzend Arien anderer Komponisten. Sie stammen von Pescetti, Hasse, Porpora, Galeazzi, Fiorè und Vinci.

Die Handlung kreist um Zanaida, Tochter des Großmoguls Tisifaro, die vom Neffen des Königs, Silvero, in der Nacht verführt wurde. Dieser liebt Zanaida und hatte sich als Argippo, König von Cingone, ausgegeben, der mit Osira verheiratet ist. Der Schuldige an Zanaidas Schande soll laut Tisifaro zur Strafe seine eigene Frau töten und Zanaida heiraten. Osira will für ihren Gatten sterben, doch Silvero gesteht seine Tat. Tisifaro verzeiht, so dass am Ende Argippo und Osira wieder vereint sind und Silvero Zanaida heiraten kann.

In de Besetzung sind gestandene und neue Barock-Interpreten vereint. Die Sängerin der Osira beispielsweise, die Sopranistin Marie Lys, ist erst seit kurzem bekannt, nachdem sie mehrere Gesangswettbewerbe gewonnen hatte. Ihr Entree, „Qual disarmata nave“, weist sie als beherzte Interpretin aus, die die Schönheit des Tones zugunsten des Ausdrucks auch zurückstellen kann. Ihre Arie im 2. Akt aus der Feder Porporas, „ Bell’ idolo amato“, aber ist ein Musterbeispiel an barocker Stimmpracht und Klangrede. Besonders delikat klingt der Sopran in der bewegten Arie „Un certo non so che“ und auch die von Pescetti stammende Arie „Mi sento nel core“ lässt die Stimme sich in schönster Harmonie entfalten. Von tiefer Empfindung erfüllt ist „Vado a morir per te“ aus der Feder Fiorès. Mit „Che farai“ fällt ihr das letzte Solo zu, das ihre Souveränität in der exponierten Lage ausstellt. Die ungarische Sopranistin Emöke Barath, der die Titelrolle anvertraut wurde, hat sich gleichfalls erst vor wenigen Jahren einen Platz in der internationalen Spitzenriege gesichert. Die stürmische Auftrittsarie, „Anche in mezzo a perigliosa“, stammt von Galeazzi und gibt der Interpretin Gelegenheit, wilde Koloraturen und Spitzentöne von großem Effekt herauszuschleudern. Rasend ertönt die gleichfalls von Galeazzi stammende Arie „ Da più venti combattutta“, die der Sängerin Gelegenheit zu bravourösen  Koloraturgirlanden bietet. Kontrastierend dazu ist der sanft wiegende Duktus von Pescettis  „Vi sarà stella clemente“.

Marianna Pizzolato zählt seit vielen Jahren zur ersten Garde im Belcanto- und Barock-Repertoire. Ihr Silvero führt sich mit der Arie „Del fallire il rimorso è la pena“ ein, in welcher die Sängerin einen energisch-substanzreichen Ton hören lässt. In der Arie im 2. Akt, „Non temer“, klingt sie rund und in den reichen Koloraturpassagen absolut souverän. Sehr schnell gelang es der französischen Altistin Delphine Galou, sich im barocken Genre zu etablieren und an den großen internationalen Häusern zu reüssieren. Ihre Zanaida sorgt schon in der fulminanten Auftrittsarie „ Se lento ancora il fulmine“ für großen Eindruck dank ihrer rasanten Tongebung und dem vehementen Ausdruck. Auch die Arie im 2. Akt, „Io son rea“, ist von stürmischem Duktus und weist Galou als kompetente Interpretin von dramatischen Situationen aus.

Der Bassist Luigi De Donato, auch er eine Größe im Barockfach, komplettiert die Besetzung als Tisifaro und bringt kontrastierende tiefe Töne von wunderbar resonantem Klang ein. Seine erste Arie, „Rege son che combattuto“, stammt wahrscheinlich von Galeazzi aus dem Jahre 1731. Sein „ Dov’è la morte“ komponierte dagegen Pescetti. „A’ piedi miei svenato“ im 2. Akt wird aber wirklich Vivaldi zugeschrieben. Der Chor „Se d’inganno amor si pasce“ vereint am Ende alle Interpreten in einem feierlichen Gesang. Bernd Hoppe

Fremdheit in der Gesellschaft

 

Im Umfeld der Premiere von Der letzte Gast am Berliner Ensemble im März 2019, in dem er Fremdheit in der Gesellschaft thematisiert, äußerte sich der mit seinem Ensemble Krétakör (Kreidekreis) auch international ausgezeichnete ungarische Regisseur Árpád Schilling, den Ungarns Regierung 2017 zum Staatsfeind erklärt hatte, zum Thema des Fremdsein: Zuallererst bedeutet es eine Art Einsamkeit. Das ist auch im Stück eine sehr wichtige Frage, und wenn ich vom Fremden spreche, bedeutet das natürlich alle möglichen Arten von Fremdsein. Das steht eben nicht nur für die Flüchtlinge. Was mich natürlich auch sehr beschäftigt, ist der Osten, da ist neben Osteuropa auch alles andere, was traditionell Osten ist, dabei. Aus dieser Ostfremdheit geht sehr viel Frustration hervor. Auch wenn wir über Ostdeutsche sprechen sind „Einsamkeit“ und „Frustration“ die Schlüsselbegriffe, aus denen ein gesteigertes Bedürfnis sich zu adaptieren folgt. Das lässt sich auch auf seinen Lohengrin übertragen, der im Oktober 2018 als erste Produktion der Ära Cornelius Meister-Viktor Schoner an der Stuttgarter Oper Premiere hatte und von dem nun eine Folgeaufführung – in der Premiere war Jennifer Davis für Simone Schneider als Elsa eingesprungen – bei BelAir vorliegt (Bluray BAC 475), bei der bereits während des Vorspiels die besonders einfühlsame Kameraführung auffällt. Vorausgegangen war eine durchaus überschaubare Zahl von Opern, darunter Rigoletto und Die Sache Makropulos sowie La Damnation de Faust, die Schilling in München und Basel inszeniert hatte.

Den Kreidekreis finden wir als eines der wenigen dekorativen Elemente wieder auf den Boden der farblos nachtdunklen, nach hinten abfallenden Bühne von Raimund Orfeo Voigt gekritzelt, auf der der Herrenchor in Alltagsklamotten herumlungert, wofür Tina Kloempken Parkas, Joggingteile, Jeans und Kurzmäntel in sämtlichen sozialistischen Grautönen aus den Lagern geholt hatte. Der König und Telramund, schwadronierende Funktionäre, tragen nicht besonders kleidsame Anzüge, die Krawatten sitzen schlecht. Der Heerrufer, eine Art Spielmacher, trägt einen weißen Smoking. Elsa hat einen hellen Trenchcoat, aufregender ist die langmähnige Ortrud im Wildkatzenlook. Insgesamt beklemmende Nachkriegstristesse. Als Wundermann haben sie sich, so scheint es, den erstbesten Fremden auserwählt, den sie in den Kreidekreis drängen. Widerwillig stellt er sich der Herausforderung, schenkt Elsa einen kleinen Schwan aus Plüsch. Schilling fächert die Mechanismen um Aus- und Abgrenzung, Fremdsein und Fremdbestimmung präzise auf, lotet mit messerscharfer Beobachtungsgabe Text und Inhalt aus.  Die Aufführung bezieht ihre durchgehende Spannung aus den Konfrontationen und Begegnungen der vier Hauptfiguren, der intensiven Entwicklung, die sie teilweise durchlaufen, und dem Aufeinanderprall mit den Massen. Wiederum ein Lob für die Kameraführung, die das alles so umsichtig einfängt.

Im Kreidekreis kämpft Lohengrin gegen Telramund. Sofort schlägt sich die leicht zu gewinnende Menge auf die Seite des neuen Helden und grenzt Telramund aus. Schilling zeigt modellhaft gesellschaftliche Verhaltensweise, die Sehnsucht nach Führerpersönlichkeiten, die Dumpfheit der Masse. Ohne eine Zeit konkret zu benennen, ist im hurtigen Kleiderwechsel im zweiten Akt vom grauen Einerlei in die grellbunten Billigfummel, kurzen Hosen und Sportschlapperlooks, dem Rausch des Konsums, ein Hinweis auf die Freuden des Kapitalismus im Nachsozialismus zu erkennen. Ansonsten inszeniert Schilling ein schmucklos tieftrauriges Stück, bei dem die Menge dem Brautpaar einen blauen Teich aus blauen Kleidungsstücken für künstliche Schwäne schenkt, dem Helden aber angesichts der drohenden Katastrophe im Brautgemach schier die Tränen kommen. Schilling arrangiert die amorphe Masse des unter Manuel Pujol erwartungsgemäß auszeichnungswürdig singenden Chores fast unmerklich, setzt aber in den nur scheinbar so locker gewobenen Beziehungen der Figuren auf große Innenspannung. Sicher liegt es auch an Cornelius Meister, dass der Text in seltener Nachdrücklichkeit und Spannung zu erleben ist. Mit dem Staatsorchester und den auf der Bühne wirkungsvoll aufgestellten Trompetern sorgt er auf jeden Fall für jene Dramatik und Deutlichkeit, die im reduzierten Spiel auf der Bühne fehlen mag. Michael König ist der auserwählte Führer, ein von seiner Mission überforderter harmloser Bär mit einem dunkel runden sowohl strahlenden wie geheimnisumflorten Tenor, der zu großer Zärtlichkeit fähig ist, und noch in der Gralserzählung gestalterische Süße aufbietet. Mit weiten, sicher sitzend kraftvollen Linien ist Simone Schneider eine anrührende und wirkungskräftige Elsa, die am Ende von der Menge eingekesselt wird und zum Messer greift. Scharf akzentuiert, trotzig keifend gibt Martin Gantner den Telramund, Goran Juric ist ein aalglatter Heinrich, der die Brabanter mühelos einwickelt, Shigeo Ishino ein gefälliger Heerrufer. Ausgezeichnet die Ortrud der Okka von der Damerau, die die politische Strippenzieherin mit fulminanter Wucht und vokaler Hintergründigkeit erfasst und am Ende einen neuen Helden aus der Menge greift.  Rolf Fath

Max Bruchs Oper „Die Loreley“

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Als konservativer Bewahrer und als vielgeehrtes Bollwerk gegen Wagner wurde der 1920 in Berlin verstorbene und uns nur noch durch sein Violinkonzert in Erinnerung gebliebener KomponistMax Bruch in seiner Zeit gesehen, die er mit seinen 85 Jahren deutlich überlebte und während der er zu seiner eigenen Legende wurde. Er war wie die Komponisten Dorn oder Bungert einer der Wenigen, die nicht dem Wagner-Sog verfielen, und er behauptete sich dagegen erfolgreich. Wir sind heute geneigt, Richard Wagners Bedeutung für seine Epoche zu überschätzen, wenngleich gewiss sein Einfluss aus moderner Sicht übermächtig war. Deshalb ist es so spannend, auf Musiker zu stoßen, die sich erfolgreich seiner Wirkung widersetzten, bei denen – wie die Kritik 1858 zur Uraufführung seiner Jugendoper Die Loreley schrieb – »keine grellen Dissonanzen, keine Tortur des Ohrs durch ewige Vorhalte und  Trugschlüsse, nichts Widriges und Hässliches« herrschten.

Vergessen blieb diese Oper, Die Loreley, weitgehend bis zum November 2014, als sie konzertant beim Münchner Rundfunkorchester (und der Philharmonische Chor Pragunter Stefan Blunier mit Michaela Kaune, Magdalena Hinterdobler, Thomas Mohr, Benedikt Eder, Danae Kantora, Jan-Hendrik Rooterink, Thomas Hamberger und Sebastian Campione als Sonntagskonzert gegeben wurde. In dieser Konstellation ist sie auch nun bei cpo auf 2 CD erschienen und gibt uns wie vergleichsweise Die Nibelungen von Dorn (vergl. operalounge.de) einen hoch informativen Einblick in die noch nicht von Wagner beherrschte Musikszene des mittleren neunzehnten Jahrhunderts.

Rolf Fath beschreibt seine Eindrücke beim Hören der neuen cpo-CD, die wir nachstehend zitieren. Vorher  gibt es den  hochinformativen Text von Florian Heurich aus dem Programmheft zur konzertanten Aufführung. Beiden sowie dem Münchner Rundfunkorchester sei Dank! G. H.

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Und nun Florian Heurich: Max Bruch – ein Hüter der Romantik. Er war ein unerschütterlicher Romantiker, dessen künstlerische Ideale und Weltanschauung sich Zeit seines langen Lebens kaum änderten. Max  Bruch  wurde 1838 in Köln geboren und starb 1920 in Berlin. In dieser Zeitspanne fand jedoch in  Deutschland  und  Europa ein drastischer Wandel statt. Als Kind erlebte Bruch noch die  Revolution von 1848 mit, als alter Mann das Ende des Ersten Weltkriegs, und sein Leben war geprägt durch die politischen und gesellschaftlichen Umstände des Deutschen Kaiserreichs.

In Kunst und Musik verhielt es sich ähnlich. Die Avantgarde der Jahrhundertwende verdrängte mehr und mehr die Romantik des 19. Jahrhunderts. Doch selbst als längst die Neutöner die musikalische Bildfläche betraten, hielt Bruch an seinen frühromantischen Idealen sowie an seinen großen Vorbildern Schumann und insbesondere Mendelssohn Bartholdy fest. Er kämpfte gegen alle modernen Tendenzen, war ein Gegner Wagners und später von Komponisten wie Richard Strauss und Max Reger, die er für Vertreter einer nichtswürdigen »musikalischen Sozialdemokratie« hielt. Den Veränderungen um ihn herum konnte er sich nicht anpassen; er isolierte sich zunehmend, und eine gewisse Verbitterung machte sich breit.

Wegen der enormen Popularität seines Ersten Violinkonzerts wird oft übersehen, dass Bruch darüber hinaus noch fast hundert weitere Werke geschrieben hat – eine Tatsache, die schon den Komponisten selbst besonders ärgerte.  Auch wenn die Oper  eine  untergeordnete Rolle spielt, so macht doch die Vokalmusik in Form von Oratorien, weltlichen Chorwerken und Liedern einen nicht unerheblichen Teil seines Schaffens aus. Erstaunlicherweise ist sogar Bruchs Opus 1 ein Bühnenwerk, das Singspiel Scherz, List und Rache (1858), das er noch  unter  der  Anleitung seines Lehrers,  des angesehenen Musikpädagogen Ferdinand Hiller,  schrieb.  Für die Opernbühne folgten außerdem Die Loreley  (1863) und Hermione (1872).

Gerade die Geschichte um das verführerische, nixenhafte  Zauberwesen, das auf einem Felsen am Rhein sitzt und durch seine Schönheit und seinen Gesang die Männer ins  Verderben  reißt,  war als Inbegriff deutscher Romantik wie geschaffen für den Romantiker Bruch.

„De Loreley“/ St. Goarhausen/ Rheinfelsen/ Postkarte um 1916/ OBA

Der Librettist Emanuel Geibel hatte das Textbuch zu Die Loreley ursprünglich für Felix Mendelssohn Bartholdy, Bruchs großes Vorbild, geschrieben. Das Opernprojekt ging jedoch schleppend voran, Mendelssohn komponierte nur drei Nummern, ehe er starb. Daraufhin lehnte Geibel alle weiteren Anfragen von anderen Komponisten, das Librelto vertonen zu dürfen, ab. Im Herbst  1 860 ließ er den Text jedoch veröffentlichen, und Bruch war einer der ersten Käufer des  Buchs. »Es ist […] begreiflich u. natürlich, dass ich die Geibel’sche Loreley-Dichtung mit Entzücken las u. mich darauf stürzte, wie ein wildes Tier auf seine Beute«, so Bruch, der »in einem Rausch d. Begeisterung« sogleich begann, einige Szenen des Werks zu vertonen. Damit setzte er sich eigenmächtig über das strikte Verbot des Librettisten hinweg; erst verspätet bat er Geibel um die Genehmigung, die dieser jedoch  zunächst verweigerte. Auch  Anfragen  an die Mendelssohn-Nachfahren blieben erfolglos. Dennoch komponierte Bruch weiter an der Oper, die er schließlich dem noch immer zögerlichen Librettisten in Auszügen präsentieren konnte. Auf Vermittlung des Grafen von Stainlein, eines Bruch wohlgesonnenen Musikfreundes, wurde ein Treffen mit Geibel in München arrangiert. Da sich Geibel »die Komposition seiner Dichtung ganz schlicht und volkstümlich  vorstellte«, spielte ihm Bruch »nur die kleineren u. einfacheren Stücke d. Oper« vor. Kurz darauf schreibt Bruch an einen Freund: »Die Loreley ist frei!. .. Geibel sagte geradezu –  ,Ihr Trotz hat den meinen überwunden; wären Sie nicht, trotz meines ausdrücklichen Verbots, mit der Fertigen Oper gekommen, so hätte ich Ihnen die Erlaubnis nie gegeben.«

Hoffnungen, dass die Uraufführung in München stattfinden könne, erfüllten sich nicht, da Franz Lachner, die führende Persönlichkeit des Münchner Musiklebens zu jener Zeit, nicht sonderlich an dem Werk interessiert war. Bei Lachners Bruder Vinzenz, der Hofkapellmeister in Mannheim  war, hatte Bruch mehr Erfolg,  sodass die Premiere  für den  14.  Juni  1863 am  Mannheimer Hof- und Nationaltheater angesetzt wurde. Zu den illustren Besuchern der ersten Aufführungen zählten etwa Anton Rubinstein, Joseph  Joachim  Raff,  Hermann Levi  und Clara Schumann, die später an Bruchs Lehrer Ferdinand Hiller schreibt: »[… ] es sind sehr schöne Momente darin, durchweg Orchester und Chor so meisterhaft behandelt, dass ich es kaum  von einem so  jungen Componisten  begreife.« Emanuel Geibel hingegen war nicht gekommen, da er   Bruchs Komposition skeptisch gegenüberstand: »Jene volksliedartigen Weisen, die mir bei den Worten vorschwebten, werden dem Musiker wohl kaum zu Gebote gestanden haben.«

„Die Loreley“/ Postkarte/ OBA

Als  Bruch  seine  Loreley schrieb, war  er erst Anfang zwanzig. Dass  Mendelssohn  sich  bereits  mit diesem Stück  beschäftigt  hatte, war ihm Ansporn und Bürde zugleich. Das Herzstück der Oper ist die große Beschwörungsszene, in der Lenore, die Hauptfigur, die Rheingeister anruft und ihre Seele für sinnliche und todbringende Schönheit verkauft; sie will sich an dem Pfalzgrafen Ott rächen, der sie betrogen hat.  Dies  ist eine der wenigen Szenen, die schon Mendelssohn vertont hatte, und die erste, die auch Bruch in  Angriff nimmt. Die zentrale Bedeutung, die er diesem Teil der Handlung  beimisst,  zeigt  sich  nicht  zuletzt  daran,  dass er daraus den ganzen Zweiten Akt der Oper macht. In Geibels Textvorlage hingegen  ist  Lenores  Anrufung der  Wassergeister noch Teil des Ersten Akts. Formal ist er als große Szene mit Chor gestaltet, in der sich rezitativische und ariose Passagen abwechseln. Auf einen Einleitungschor der Rheingeister folgt in düsterem b-Moll  Lenores Klagegesang  über ihre verratene Liebe. In einem dialogischen Mittelteil  bittet  Lenore die Geister um Hilfe bei ihrer Rache; als Preis soll sie ihre Liebe opfern und sich mit dem Rhein als Braut vermählen. Eine Stretta, in der sie die Verlobung mit dem Rhein besiegelt, beschließt die Szene. Nicht nur musikalisch, auch dramaturgisch ist dies eine der  interessantesten Stellen der Oper, da sich hier die Wandlung der Protagonistin von der verzweifelt Liebenden zum Geisterwesen und zur Rachefurie vollzieht, die eindrucksvoll mit musikalischen Mitteln nachgezeichnet wird. Bruch und Geibel ziehen alle Register  der Schauerromantik, für die im Bereich des Musiktheaters Giacomo Meyerbeers Robert le diable mit seiner Friedhofsszene oder Carl Marie von Webers Freischütz mit der Szene in der Wolfsschlucht unumstößliche Paradigmen sind.

„Die Loreley“/ Carl Joseph Begas, 1835/ Wiki

Der Erste Akt spielt sich noch in einer weitgehend idyllischen  Atmosphäre ob  –  mit Arien von Otto und Lenore, einem Duett der beiden und vor allem mit stimmungsvollen Chören wie einem Ave-Maria oder einem Winzerlied. Jedoch schon die Erkenntnis Lenores, das sie betrogen wurde, leitet im Aktfinale eine  Wendung ein, die im Zweiten  Akt komplett vollzogen  wird.  Als schillernde, rätselhafte und dabei doch von einer gewissen  Kühle umgebene femme fatale erscheint Leonore dann im Dritten Akt. Mittlerweile ist sie zur Loreley geworden und treibt mit ihrem Gesang, der zentralen  Musiknummer des Akts, Otto und die übrigen Männer in den Wahnsinn. Selbst die Kirche in Gestalt des Erzbschofs, der über die als Hexe Verurteilte Gericht halten soll, ist nicht vor ihrem Verderben bringenden Zauber gefeit. Einen lyrischen Kontrast zur weil ausladenden Titelpartie repräsentiert Ottos Braut Bertha mit ihrer zart-kontemplativen Kavatine im Dritten Akt.

Der Vierte Akt schließlich ist als großes Crescendo gestaltet. Ein Chor der Winzerinnen  und  Winzer  evoziert noch eine trügerische Idylle, ein einfaches Strophenlied von Lenores Vater Hubert schließt sich an. Vor dem großen Finalkomplex steht als erster  Höhepunkt Ottos Verzweiflungsarie. Dabei handelt es sich um eine breit angelegte, dreiteilige Nummer, bei der sich Orgelklang und Mönchsgesang hinter der Szene in Ottos heldentenorale Aufschwünge mischen.

„Die Loreley“/ Postkarte/ OBA

Das Finale selbst beginnt mit einer Orchestereinleitung, in der Friedrich Silchers Melodie »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten« nach dem bekannten Loreley­Gedicht von Heinrich  Heine  zitiert wird und die direkt in Lenores beseelte Liebesklage übergeht. Glutvolle Duettpassagen, in denen Otto seine Geliebte noch einmal für sich gewinnen will und diese nur schwer widerstehen kann, und die Unisono-Rufe der Rheingeister, die Lenore an ihren Schwur erinnern, leiten schließlich in die finale Katastrophe. Otto stürzt sich in den Rhein, und in einem Schlussbild sieht man Lenore, die Loreley, die nun auf immer und ewig mit dem Fluss vermählt ist, mit einer Harfe auf ihrem Felsen sitzen, während die Wassergeister ihr in einem Schlusschor huldigen. Diese letzte Szene zeigt Lenore zum ersten Mal in der Gestalt der Loreley, wie sie  in  der Sage beschrieben wird, nämlich als nixenhafte, blonde Sirene, die von ihrem Felsen aus die Männer mit ihrem Gesang betört und in den Tod reißt.

Der Autor: Florian Heurich ist freier Autor und Musikjournalist, schreibt und produziert Radiofeatures und Reportagen für BR-Klassik und gestaltet das Online-Format Opern.TV sowie die Audio-Podcasts der Bayerischen Staatsoper. Dabei versucht er immer seine Opernleidenschaft, seine Reiselust nach Asien und Lateinamerika und seine Arbeit unter einen Hut zu bringen/ Quelle Bayr. Staatsoper

Bis dahin hat die  Figur  eine  Wandlung durchlaufen vom unschuldigen Mädchen, das  betrogen  wird, über die Rachefurie bis hin zur mythischen, geheimnisvollen Zauberin und Braut des Rheins. Bruch zeichnet diese unterschiedlichen Phasen musikalisch nach, indem Lenores anfänglich eher lyrischer Gesang sich immer dramatischer zuspitzt und am Schluss in den letzten, harfenbegleiteten Phrasen der Loreley einen übersinnlichen, irrealen Charakter bekommt.  Eingebettet ist diese Figur in eine Landschaft, die Spiegelbild ihres jeweiligen Stadiums ist: liebliche Weinberge, ein wildes Felsental, mystisch-romantische Rheinszenerie.

In Geibels  Libretto ist all dies vorgegeben,  und Bruch lässt diesen Stoff, in dem sowohl im  Ambiente als auch in der Handlung alles angelegt ist, was eine »Große romantische Oper« – so der Untertitel des Werks – ausmacht, in eine hochromantische  Tonsprache ,  Dies  ist es auch, was in einer Rezension der Uraufführung, die insgesamt durchaus als Erfolg bezeichnet werden kann, hervorgehoben wird.  Bruch, der  Wagner-Gegner,  wird als Bewahrer einer klassizistisch-romantischen Tradition gefeiert, bei dem es »keine grellen Dissonanzen, keine Tortur des Ohrs durch ewige Vorhalte und  Trugschlüsse, nichts Widriges und Hässliches« gebe. Von seinem Jugendwerk Die Loreley bis zu seinem Tod mit 82 Jahren sollte Bruch, dieser letzte Romantiker, seine künstlerischen Ideale und seinen Kompositionsstil unverändert beibehalten, quasi  als  Hüter einer längst vergangenen Zeit. Florian Heurich

 

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Max Bruch: „Die Loreley“, der Münchner Mitschnitt bei cpo

Und nun Rolf Fath: Ein nobler melodischer und aufblühender Ton durchzieht die stimmungsvolle Einleitung. Man hat allen Grund, wider besseres Wissen, auf eine Rarität der deutschen romantischen Oper neugierig zu sein. Max Bruchs Große romantische OperLoreleyist völlig verschwunden; erst Stefans Bluniers Konzert mit den München Rundfunkorchester vom 23. November 2014 ruft uns in Erinnerung, dass dies die Oper hätte sein sollen, die für Felix Mendelssohn-Bartholdy bestimmt war. Und natürlich gibt es noch die Loreley (1890) des Wally-Komponisten Alfredo Catalani. Man darf sich nach gut 140 Minuten und vier Akten schon ein bisschen wundern, weshalb man dieser fünf Jahre vor dem berühmten Violinkonzert 1863 in Mannheim von Vinzenz Lachner uraufgeführten Oper keine Chance geben wollte. Clara Schumann meinte, „es sind sehr schöne Momente darin, durchweg Orchester und Chor so meisterhaft behandelt, dass ich es kaum von einem so jungen Componisten begreife“.

Die Loreley des 25jährigen Bruch klingt nach Spohr, Schumann, dessen Genoveva ja eine ähnlich volkstümlich legendehhafte Frauengestalt beschreibt, und Mendelssohn, womit auch ihre teilweise mangelnde Dramatik und Bühnentauglichkeit umrissen sind. In der Folge von Marschners 30 Jahre älterem Hans Heilig und den diversen Undinen-Stoffen thematisiert sie die Begegnung eines Menschen mit einem übersinnlichen Wesen, im Fall der von Clemens Brentano um 1800 durch seine Ballade in die Literatur eingeführten  Loreley des Pfalzgrafen Otto mit des Fährmanns-Tochter Lenore, die erst durch die Zurückweisung Ottos und seine Hochzeit mit Bertha von Stahleck von den Rheingeistern zur Braut des Rheines erkoren wird, die Männer verführen und ins Unheil stürzen kann. So geschieht es. Otto bereut, irrt nach Berthas Tod auf der Suche nach der Geblieben umher, findet sie auf einem Felsen sitzend. Als sie ihn endgültig abweist, stürzt er sich in den Rhein. Loreley ist in Emanuel Geibels Text eine starke Frau, die wegen Hexerei angeklagt wird, dem Tod auf dem Scheiterhaufen entgeht, weil es ihr gelingt, die Richter für sich einzunehmen, und die schließlich zur sinnlich-verderberischen Verführerin wird. Bruch hat alles aufgeboten, was die Konventionen der romantischen Oper bereithielten: kräftige Chöre, der Winzerinnen, Rheingeister, der Hochzeitsgäste vor der Kapelle, die an Webers volkstümliche Beispiele erinnern, Arien, Lieder, Kavatine, Gebet, Ensembles, Duette. Die Ensembles und Aktschlüsse sind zudem dramatisch geradezu monumental geschliffen, gegen Ende schwächelt Loreley allerdings ein wenig.

„Loreley“: der Komponist Max Bruch/ Wikipedia

Die cpo-Aufnahme, welche die vier Akte großzügig auf drei CDs verteilt (777 005-2) kann aufgrund der Mitwirkung des Prager Philharmonischen Chors vor allem in den Chorszenen auftrumpfen. Stefan Blunier und das Münchner Rundfunkorchester unternehmen alles, um die vergessene Oper, wenn schon nicht zu retten, so doch zu ihrem Recht kommen zu lassen. Sie kosten die romantische Musik, auch die Soli der Holzbläser und Harfe, vital aus, so im ersten Finale und im kurzen zweiten Akt, dessen einzige Nummer mit Lenore und den Geistern als „Große Szene“ überschrieben ist. Die Titelrolle erweist sich als ausgesprochen dankbar und Michaela Kaune kann die Wandlungen der Lenore-Loreley mit einem lieblichen, dabei unnahbar kühl scheinenden Sopran nachvollziehen, darunter der „Gesang der Loreley“ mit Chor („Siehst du ihn glühen im Brautpokal“). Ausgesprochen eindrucksvoll gerät Thomas Mohr, der 1990 noch die Bariton-Titelrolle des Hans Heilig auf Marco Polo gesungen hatte, der Pfalzgraf Otto, den er heldentenoral hochtourig, viril leidenschaftlich und mit über dem Ensemble des dritten Aktes thronenden Tönen singt.  Magdalena Hinterdobler macht wenig aus der Kavatine der am Boden zerstörten Bertha, Sebastian Campione fällt als Lenores Vater Hubert angenehm auf, Benedikt Eder ist prägnant als Ottos Seneschall Leupold, Jan-Hendrick Rootering als Minnesänger Renald fehl am Platz. Rolf Fath

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.Den vorstehenden Artikel, der im Programmheft anlässlich der konzertanten Aufführung der Oper mit dem Münchner Rundfunkorchesters 2014 erschien, übernahmen wir mit sehr freundlicher Genehmigung des Orchesters/ Doris Sennefelder und des Autors, der Lesern von operalounge.de mit seinen zahlreichen Artikeln zu den in München konzertant aufgeführten Opern kein unbekannter ist. Danke! Abbildung oben: „Die Loreley“ von Carlo Joseph Begas, 1835, Wikipedia

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.