Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Tutti e tre

 

Dass eine Firma die Bestandteile eine Puccinesken Trittico derselben Produktion auf drei Einzel-DVDs (mit einzelnen Bestellnummern) herausgibt, ist wirklich selten – Dynamik denkt wirtschaftstechnisch und tut dies. Also besprechen unsere Korrespondenten nun auch nach Eintreffen die jeweiligen DVDs, hier zusmmengefasst, platztechnisch gesehen… G. H.

Geschmack- und trotzdem eindrucksvoll: In Suor Angelica wird aus dem Einheitsbühnenbild für alle drei Teile des Trittico von Denis Krief, der für die gesamte Optik verantwortlich ist, ein Kirchturm, und während im Tabarro die Silhouette Paris‘, in Gianni Schicchi die von Florenz durch die Öffnungen in den Holzwänden sichtbar werden, ist hier abgesehen von Gittern absolut nichts zu erblicken, das Außerhalb-der-Welt-Sein der Suore unterstreichend. Die notwendigen Requisiten wie Gewürzgärtlein, Sitzgelegenheiten oder die Almosen werden jeweils auf die Bühne gefahren und auf die gleiche Weise wieder von ihr entfernt. Heikel ist natürlich immer die übernatürliche Erscheinung der Jungfrau Maria nebst Engelein, darunter das verstorbene Kind Angelicas. Dafür gibt es hier eine Lösung, die weder verstört wie einst eine zur Zigarettenpause vom Sockel steigende Madonna bei Katharina Wagner noch das Wunder völlig leugnet, indem in gleißendem Licht das Kind der sterbenden Angelica entgegen  schreitet, ohne dass es dieser gelingt, die ausgestreckte Hand zu erreichen. Dazu kann man sich vielerlei denken, der beabsichtigte versöhnliche Schluss wird erreicht, ohne dass die Inszenierung im Kitsch untergeht.

Maria José Siri ist neben der Georgetta auch Angelica, mit rundem, dunkel getöntem Sopran, tragfähigem Piano und nur in der Höhe wenig flexibel. Für sie hat sich die Regie feine Details ausgedacht, so wenn sie sich, nachdem sie vom Tod des Kindes erfahren hat, den Bauch streichelt, als könne sie ihm wieder den Schutz angedeihen lassen, den es im Mutterleib genoss. Auch Anna Maria Chiuri füllte zwei Partien aus, nach der Zia im Schicchi nun die in der Suor, und auch sie hat ihren besonderen darstellerischen Moment, wenn sie den Impuls zu einer zärtlichen Geste gegenüber der Nichte jäh unterdrückt. Gegen den steht ein schneidendes „penitenza“, das der ansonsten angenehm ausgeglichen klingenden Stimme abgerungen wird. Alle Suore sind pure Ohrenweide, insbesondere die Suora Zelatrice von Anna Malavasi. Valerio Galli lässt im Orchester das Wunder erblühen, das sich die Bühne aus gutem Grund versagt. Und dass die Zia Principessa ein Kostüm der vergangenen 50er trägt und nicht eines des 17.Jahrhunderts, spielt überhaupt keine Rolle (Dynamic 37873.). Ingrid Wanja     

 

Solider Durchschnitt: Die Büste des Mannes, der Gianni Schicchi wie auch die Leidensgenossen Francesca da Rimini und Paolo il Bello in seiner Commedia Divina der ewigen Verdammnis anheimgefallen sah, steht, aus weißem Marmor gefertigt, im Sterbezimmer von Buoso Donati, das ansonsten eines der Fünfziger des vergangenen Jahrhunderts zu sein scheint. So erwecken auch die Kostüme den Eindruck, dass man einmal mehr und wie schon so oft mit Erfolg erprobt die Handlung aus dem Jahre 1299 in die Zeit des Neorealismus verlegt hat. Im Hintergrund ist zwar das Florenz der Renaissance in bräunlichen Farben zu sehen, die hölzernen Wände des Zimmers allerdings wirken unangenehm kunstgewerblich und eher den Zwanziger/Dreißigern zugehörig. Versöhnen kann man sich mit ihnen, weil sie Garanten einer guten Akustik sind. Denis Krief ist für die gesamte Optik verantwortlich, die aus dem Teatro Giglio di Lucca stammt, auch in Cagliari zu sehen war und im Theater des Maggio Musicale Fiorentino 2019 aufgenommen wurde. Besonders in den fein charakterisierenden Kostümen zeigt sich sein Können, aber auch in viel Situationskomik, die in der Nahaufnahme allerdings auch penetrant wirken kann.

In die Schar er kompetenten Giannis Taddei, Gobbi, Capecchi, Panerai und zuletzt Nucci reiht sich Bruno de Simone mit viel Buffocharme, Spielfreude in Gestik und Mimik und einem beweglichen Bariton, der die Finessen der Partie auszukosten versteht, ein. Mit warm getöntem, geschmeidigem Sopran singt Francesca Longari die Zugaben-Arie vom babbino caro, sie ist eine eher deftige als zart empfindende Person, so dass man von den großen Diven schon weit mehr Raffinesse gehört hat. Wenig poetisch klingt auch das Loblied auf Firenze, das dem Rinuccio anvertraut ist und das Dave Monaco mit einem Tenor von Allerweltstimbre und mit leicht gepressten Höhen singt. Markant klingt der Simone von Eugenio Di Lieto, elegant ist die Zita von Anna Maria Chiuri, die einen auch in Suor Angelica als Principessa einsetzbaren Mezzo präsentieren kann. Zufriedenstellend sind die weiteren Rollen besetzt, aber festspielwürdig wäre abgesehen von der Titelfigur diese Aufnahme nicht, auch wenn am Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino unter Valerio Galli nichts auszusetzen ist. Aber es ist ja auch November und nicht Mai (Dynamic 37874). Ingrid Wanja

 

Selbstgezimmert: Nach mehr als 30 Jahren legte im November 2019 neuerlich Micheles Schleppkahn in Florenz an. Il Tabarro war der einzige neue Teil des von Denis Krief in Koproduktion mit Cagliari und Lucca gefertigten Trittico, was möglicherweise erklärt, weshalb Dynamic die Ballade von den Seine-Schiffern als Einzelbild aus dem sich erst während seiner Reise von Sardinien in die Toskana zum Triptychon auffüllenden Abend herauslöste und der Nachwelt zugänglich macht (DVD 37872). In Cagliari wurde Suor Angelica noch mit Busonis Turandot gegeben, die anschließend in Lucca durch Gianni Schicchi ersetzt worden war.

Die Schreinerei des Teatro del Maggio Musicale Fiorentino hatte alle Hände voll zu tun, um das längs nach hinten gestreckte Spielviereck zu zimmern, dazu die von Krief ebenfalls entworfenen hölzernen Seitenwände als Kai-Begrenzung, was zu merkwürdigen Situationen führt, weil man denken muss, der seitlich postierte Liedchensänger (schön präsent Dave Monaco) und die Mindinetten stehen in der Seine. Im Hintergrund des zeitlich nicht genau verorteten Geschehens weist ein Horizont auf Paris hin, wie ein aus einem Museum geholtes Seine-Bild, das immerhin Bezug auf die Malerei der Zeit zwischen Monet und Seurat zu nehmen scheint, zu der Puccini ein musikalisches Gegenstück schuf. Auf der Spielfläche ein karges Pflänzchen. Giorgetta und Frugola hocken auf Kisten. Das wirkt alles etwas schnell und preisgünstig zusammengewürfelt. Der Inszenierung, die eine seltsame Distanz zu den tristen Lebensverhältnissen der Pariser Hafenarbeiter um die vorletzte Jahrhundertwende wahrt, fehlt es an Atmosphäre und Detailliebe. Es bleibt dem als Viareggio stammenden Valerio Galli, dem Puccinis Musik damit quasi in die Wiege gelegt wurde, und dem Orchester des Maggio Musicale überlassen, die impressionistischen Farben im grau-braunen Geschehen schillern zu lassen, dem mit kräftigen veristischen Farben durchsetzten plätschernden Impressionismus Gestalt zu geben und die Miniaturen eindringlich zusammenzubinden, während die Akteure reichlich selbstüberlassen wie auf einer Studentenbühne agieren. Michele und seine jüngere Gattin Giorgetta driften nach dem Verlust ihres Kindes als Ehepaar auseinander: Maria Jose Siri – die in Florenz auch die Suor Angelica übernahm – hat die kräftige, in der Höhe allerdings auch sehr steife Stimme, um den Sinnentaumel der Georgetta nachdrücklich in den nächtlichen Himmel zu brennen. Das kleine Vibrato und die eingenebelte Tiefe stören die dramatische Wucht nicht. Den Michele, der am Ende seiner Frau unter dem Mantel die Leiche ihres Liebhabers präsentiert, singt Franco Vassallo mit einem einfarbigen, zwar höhenstark gewaltigen, doch nicht sehr konsistenten Bariton. Den Lover Luigi gibt Angelo Villari mit draufgängerischer Emphase, die das Publikum spontan begeistert, und beachtlichen Spintoqualitäten. Anna Maria Chiuri ist ausgezeichnet als Frugola, die aus kleinen Einwürfen (“Ho sognato una casetta”) einen Charakter entstehen lässt. Schneller als alle Mitwirkenden am Schluss hinter dem Vorhang verschwinden können, ist der Applaus zu Ende. Rolf Fath

 

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Vergessene Griechen

 

Schon lange vor der Gründung von operalounge.de war unser Interesse an griechischen Komponisten groß, eröffenete doch eine Einladung zu Carrers Oper Marathon Salamis und die Bekanntschaft mnit dem Doyen der griechischen Dirigenten, Bron Fidetzis (Musik wissenschaftler von Rang und Pionier für vergessene hellenischen Musik, wie sie dann in Teilen auf dem Label Lyra herauskam), eine ganz neue Sicht auf die Welt der klassischen griechischen Musik, die sich aus der wechselhaften Geschichte des Landes nach der Befreiung von den Osmanen/Türken als eine hochinteressabnte darstellt. Während sich die populäre Musik eher an der Unterhaltungsmusik der einstigen Beherrscher orientiert ist die klassische vor allem der deutrschen (Leipzig, Mendelssohn) und der französischen (Fauré, Duparc, Dubussy etc.) verpflichtet. Die Oper hingegen wurde schon sehr füh von den italienischen Truppen beeinflusst, die auf die zuerst befreiten Inseln aus Venedig und Italien herüberkamen und erst später auf dem Festland Fuß fassten. Über Komponisten wie Samara oder Carrer haben wir in operalounge.de mehrfach berichtet. Spannend ist eben auch die Frage der Klassischen Musiker, wie sie Skalkottas, Kalafati, Kolomiris, Mantzaros oder Hadjikakis (nicht zuletzt auch und fast vergessen der Dirigent Mitropoulos, der selber reichlich komponierte, so die Oper Soeur Béatrice) repräsentieren. G. H.

 

Anders als der in etwa gleichaltrige Dimitri Mitropoulos, der sich insbesondere als Dirigent einen Ruf von Weltgeltung verschaffen konnte, ist der griechische Komponist Nikos Skalkottas (1904-1949) heute weitgehend vergessen, dabei war er neben Mitropoulos der wichtigste Vertreter der Anfänge der Neuen Musik in Griechenland. Im Berlin der 1920er Jahre wirkte Skalkottas zunächst als Gegenvirtuose, um sich alsbald gänzlich der Komposition zu widmen, wo er unter anderem mit Kurt Weill in Berührung kam. Auch als Dirigent trat er in Erscheinung, obschon er dies offenkundig in erster Linie zur Finanzierung seiner Privatstudien tat. Die Rückreise nach Athen im Jahre 1933 fiel Skalkottas schwer, der von Depressionen geplagt wurde. Eine Rückkehr nach Berlin nach Kriegsende sollte aufgrund seines allzu frühen Todes nicht mehr zustande kommen. Kompositorisch ließ er sich keiner Stilrichtung zuordnen und trat besonders in der Kammermusik in Erscheinung. Gleichwohl sind es die größeren Orchesterwerke, die im Zentrum der ihm gewidmeten Neuerscheinung bei Naxos (8.574154) stehen.

Sowohl die Sinfonietta B-Dur von 1948 als auch die Klassische Sinfonie für Blasorchester von 1947 – letztere trotz gleichem Titel nicht an Prokofjew gemahnend – stehen, jeweils viersätzig, formal in der klassischen Tradition. Besonderes die Klassische Sinfonie mit ihrem feurigen Scherzo wäre es wert, öfter gespielt zu werden. Die sehr farbigen Vier Bilder (1948) sind Orchestrierungen aus dem Ballett Das Land und die See Griechenlands und mit Die Ernte, Die Aussaat, Die Weinlese und Das Traubenstampfen bezeichnet. Mit dem filmreifen Altgriechischen Marsch (1946/47) greift Skalkottas schließlich bewusst die antike Vergangenheit seines Heimatlandes auf. Tatsächlich unterscheiden sich alle Stücke in ihrem neoklassizistischen Tonfall von der Atonalität, die sich im früheren Œuvre Skalkottas‘ findet. Es handelt sich sämtlich um Spätwerke, die vom höchst idiomatisch agierenden Staatsorchester Athen (in welchem der Komponist zeitweise spielte) unter der Stabführung von Stefanos Tsialis kongenial umgesetzt werden. Die Klangqualität der 2018 in Athen entstandenen Einspielungen ist tadellos. Eine begrüßenswerte Neueinspielung, welche die Skalkottas-Reihe bei BIS ergänzt. Daniel Hauser

 

Hand aufs Herz: Wem sagte bisher der griechisch-russische Komponist Wassili Kalafati etwas? Er, 1869 auf der Krim geboren, machte sich zu Lebzeiten besonders einen Namen als Kompositionslehrer. Zu seinen Schülern gehörten u. a. Alexander Skrjabin und Igor Strawinski. Selbst ging Kalafati am Sankt Petersburger Konservatorium wiederum bei keinem Geringeren als Nikolai Rimski-Korsakow in die Lehre. Zwischen 1907 und 1929 war er am selbigen Konservatorium als Dozent und ab 1923 als Professor tätig. 1942 starb er im belagerten Leningrad. In Sachen Komposition trug er zu den Genres Oper (Cygany nach Alexander Puschkin, 1939-1941), Sinfonik, Sinfonische Dichtung sowie Orchesterouvertüre jeweils einen Beitrag bei. Zahlreicher seine kammermusikalischen Werke, Klavierstücke und Lieder, obgleich die Diskographie bisher äußerst mager ausfiel. Dies ändert nun abermals Naxos in seiner Reihe Greek Classics mit einer Neuerscheinung der wichtigsten Orchesterwerke (Naxos 8.574132). Auf der gut 81-minütigen Silberscheibe versammelt sind die Sinfonie a-Moll op. 12 (1899-1912), die Polonaise F-Dur op. 14 (1905) sowie die spätere Tondichtung Légende op. 20 (1928). Es handelt sich bei allen um Weltersteinspielungen. Diese werden, technisch auf hohem Niveau, besorgt vom Athens Philharmonia Orchestra unter der Stabführung des griechischen Dirigenten Byron Fidetzis, der für dieses Label schon andere Musik seiner Heimat beisteuerte (namentlich als Champion für griechische Opern: vergl. seinen Namen im Suchregister hier bei operalounge.de/ G. H.).

Wie nun klingt Kalafatis Stil? Fraglos orientiert er sich an der russischen nationalen Schule, wobei man eine besondere Nähe zu Alexander Glasunow feststellen könnte. Im Ganzen also gemäßigte Spätromantik, die stellenweise auch an Wassili Kalinnikow und Sergei Rachmaninow gemahnt, ohne aber deren Genie zu erreichen. Die klassisch aufgebaute viersätzige, etwa 45-minütige Sinfonie reißt nicht eben zu Begeisterungsstürmen hin, dümpelt etwas dahin, ist aber insgesamt grundsolide. Die Glasunow gewidmete kurzweilig-schwungvolle Polonaise kann in gerade sieben Minuten tatsächlich einiges an polnischem Kolorit herüberbringen. Am Interessantesten wohl die ambitionierte Sinfonische Dichtung Légende, die 1928 anlässlich des 100. Todestages von Franz Schubert entstand und Schubert’sche Themen in spätromantischer Manier verarbeitet. Dieses beinahe halbstündige Werk erzielte bei seiner Uraufführung einen beachtlichen Erfolg und kann als bedeutendster Beitrag Kalafatis zur Orchestermusik gewertet werden. Hier hat auch der kompetent agierende Chor des Musikfakultät der Universität Athen unter Nikos Maliaras seinen ziemlich kurzen, aus Vokalisen bestehenden Einsatz.

Die Tontechnik ist auf dem mittlerweile Naxos-üblichen hohen Standard (Aufnahme: Aretemis Concert Hall, Alimos, Griechenland, Jänner 2017 und November 2018). Die Textbeilage ist allerdings, genauso Naxos-typisch, mager. Auch wenn der große Aha-Effekt ausbleibt, doch eine hörenswerte Erweiterung in Sachen (fast) vergessene Komponisten. Daniel Hauser

 

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Peinliche Resteverwertung

 

Alles scheint zu stimmen bei der attraktiven Bluray-Box mit der Aufschrift 100 Jahre Salzburg Festival, auch wenn das nicht der eigentliche Titel der Salzburger Festspiele ist: deutsche, italienische und slawische Oper ist vertreten, der Mitbegründer Richard Strauss sogar gleich mit zweien seiner Werke, die Inszenierungsstile reichen von konventionell bis supermodern, die Musik von Barock mit Händel, der hier einmal mehr als Handel gehandelt wird, bis ins 20.Jahrhundert, was also will man mehr. Dieses: Man hätte sich eine Würdigung gewünscht, die tatsächlich die hundert Jahre der Festivalgeschichte berücksichtigt und nicht nur die letzten 12 Jahre, man hätte sich über Material gefreut, dass nicht durchweg bereits im Fernsehen zu sehen war, und man wäre freudig überrascht gewesen, wenn es als Begleitmaterial nicht nur die alten Booklets, die bereits den DVDs zugeordnet gewesen waren, gegeben hätte. So wird man den Verdacht nicht los, man benutze den feierlichen Anlass des hundertsten Geburtstags des tapferen, auch in diesem Jahr abgespeckt stattgefunden habenden Festivals, um Restbestände noch einmal auf den Markt zu werfen.

Die älteste Aufnahme ist die von Verdis Otello aus dem Jahre 2008 mit Riccardo Muti am Dirigentenpult, ein Garant nicht nur für ein Musizieren voller Italianità, sondern auch bis heute für eine solide Regie ohne modernistische Mätzchen. Beim Simon Boccanegra unter Valery Gergiev vor einem Jahr und damit die jüngste Aufnahme, sah das durch die Inszenierung von Andreas Kriegenburg bereits ganz anders und damit äußerst anfechtbar aus, wie die damals in der Operalounge erschienene Kritik beweist. Stephen Langridge ließ dem Otello zwar mit George Souglides Bühne einen Riesenlaptop und ein ebensolches Smartphone durchgehen, aber es gab auch wunderbare Kostüme und nur wenige skurrile Einfälle wie die Vergewaltigung eines Türkenjungen (wohl von Otello aus dem Meer gerettet) durch drei Puttane und eine zärtlichkeitsbedürftige Donna Bianca, aber insgesamt kaum Schockierendes. Dafür sorgten eher die Sänger mit einem Otello (Aleksandrs Antonenko), dessen zu heller Tenor streckenweise recht ingolato wirkte, einer optisch idealen Desdemona (Marina Poplavskaja), deren Höhen nicht durchweg korrekt waren und einem eher dumpf als düster sich äußernden Jago (Carlos Alvarez). Orchester und Chor allerdings sind pure Pracht.

Es folgte 2009 Händels Oratorium Teodora, für das Christof Loy eine interessante szenische Lösung bereit hatte, mit wenigen Gesten der handelnden Personen dem Zuschauer die Thematik des Stücks klar machte, so wenn der brutale Valens raumgreifend breitbeinig neben der eingeschüchtert die Schenkel aneinanderpressenden Teodora Platz nahm. Christine Schäfer und Bejun Mehta (Didymus) verkörperten puren Barockgesang, Johannes Martin Kränzle imponierend eher ein anderes Fach. Der Salzburger Bachchor und das Freiburger Barockorchester unter Ivor Bolton waren weitere Garanten für Stilsicherheit.

2014 gab es mit Janaceks Die Sache Makropulos in der Regie von Christoph Marthaler eine Produktion, die den Zuschauer gleichermaßen erschauern wie schmunzeln ließ über die beiden Putzfrauen, die das abenteuerliche Geschehen mit ihren Kommentaren begleiteten. Angela Denoke schuf mit der Emilia Marty eines ihres berührendsten Rollenportraits, Anna Viebrock war die dreigeteilte, eindrucksvolle Bühne zu verdanken. Aus dem Jahr 2014 stammen die Aufnahmen von Schuberts Fierrabras und Strauss‘ Rosenkavalier, und niemand hatte geglaubt, dass die Schubertoper einen derartigen Erfolg haben würde. Von Peter Stein als wundersames Rittermärchen mit den zauberhaften Kostümen, leicht stilisierend durch die Farbwahl, von Annamaria Heinreich inszeniert, von Ingo Metzmacher, sonst eher Sachwalter der Moderne, liebevoll musiziert und mit idealen Sängern besetzt, gab die Wahl Festivalleiter Perreira, der sich das Stück gewünscht hatte, recht. Julia Kleiter als Emma, der ganz junge Benjamin Bernheim als Eginhard auf der einen und Dorothea Röschmann und Michael Schade auf der anderen, der heidnischen Seite waren ebenso wie Georg Zeppenfeld als König Karl die Garanten für pures vokales Glück. Und das gab es in diesem Jahr ein weiteres Mal mit Harry Kupfers Inszenierung des Rosenkavalier mit der Traumbesetzung Krassimira Stoyanova, Sophie Koch und Günter Groissböck, inzwischen der Ochs vom Dienst: gemeinsam mit den Stimmen schwelgte das Orchester unter Franz Welser-Möst.

Gleich vier Produktionen stammen aus dem Salzburg des Jahres 2018: eine vergagt-satirische Italiana in Algeri mit Cecilia Bartoli, eine ebenfalls vergagt- aber auch verdüsterte Zauberflöte in der Regie von Lydia  Steier, die in der Operalounge  bereits besprochene Pique Dame und Salome mit der ohne Schleiertanz und Jochanaan-Kopf doch sensationellen Asmik Grigorian.

Es ist durchaus Sehens- und  Hörenswertes in der Box zum Hundertsten- nur die Art und Weise, wie es angepriesen und vermarktet wird, ist ein Ärgernis (C-Major  Unitel unterschiedliche Signaturen). Ingrid Wanja (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

 

Liebe und andere Gefühle

 

„ORLANDO – amore, gelosia, follia“, nennt Filippo Mineccia sein neues Album bei GLOSSA, welches im November 2019 in Brüssel aufgenommen wurde und Ausschnitte aus Opern enthält, die auf Ariostos Epos Orlando furioso basieren (GCD 923523). Die bekanntesten Werke in dieser Sammlung stammen von Georg Friedrich Händel. In seinem Ariodante, uraufgeführt 1735 in London, gibt es die intrigante Figur des Polinesso, dessen zwei Arien „Spero per voi“ und „Dover, giustizia“ dem Countertenor Gelegenheit bieten, sowohl mit virtuosem Gesang als auch mit einprägsamer Charakterzeichnung zu imponieren. Im Orlando (1733, London) ist die Wahnsinnsszene des Titelhelden, „Ah, stigie larve!“, die berühmteste und faszinierendste Nummer. Der Solist formt sie zu einem beklemmenden Psychogramm.

Aus Antonio Vivaldis Orlando furioso (1727, Venedig) stellt Mineccia sogar zwei Personen vor – Ruggiero mit der lyrischen, sanft wiegenden Arie „Sol da te“ und Orlandos dramatisch erregtes „Nel profondo cieco mondo“. Die beiden in ihrer Art sehr unterschiedlichen Titel belegen eindrucksvoll die Ausdrucksvielfalt des Sängers.

Die Anthologie eröffnen zwei Arien des Ruggiero aus Agostino Steffanis Orlando Generoso (1691, Hannover). „Non ha il mar“ wird bestimmt von schmerzlich-expressivem Duktus, „Fa che cessi“ vom erregten Zustand des Helden, der seine Angelica retten will.

Es folgen zwei Ausschnitte aus Nicola Antonio Porporas Serenade  L’Angelica, In der Uraufführung 1720 in Neapel gab der 15jährige Farinelli sein Bühnendebüt. Der Solist stellt wiederum die Soli zweier Personen vor – Licoris berührendes„Ombre amene“ und Orlandos harsches„Da me chè volete“, welches seine wahnhafte Verwirrung schildert.

Im letzten Teil erklingen Szenen aus weniger bekannten Werken. Der neapolitanische Komponist Giovanni Battista Mele schuf die Serenade Angelica e Medoro, die 1747 in Madrid uraufgeführt wurde. Ergastos Arie „Non cerchi innamorarsi“ ist von munter-heiterer Art und so auch vorgetragen – ein schöner Kontrast in diesem Programm.

Auch von Georg Christoph Wagenseil ist ein Ariodante überliefert, der zehn Jahre nach Händels Version in Venedig herauskam. Daraus ist Lurcanios Arie furiose Gewitter-Arie „Ombra cara“ zu hören, in welcher der Interpret wiederum sein virtuoses Vermögen ausstellen darf. Den Abschluss bilden Rezitativ und Arie des männlichen Titelhelden, „Oh, dell’anima mia/Giusti Numi“, aus Giuseppe Millicos Pastoralkantate Angelica e Medoro, die wahrscheinlich 1783 in Neapel zur Premiere kam. In diesem klangvollen Gebet, das sich am Ende zu inbrünstigen Koloraturen steigert, kann Mineccia noch einmal seine Vorzüge zur Geltung bringen.

Das begleitende Ensemble The New Baroque Times vermag unter Leitung seines Konzertmeisters Emmanuel Resche in der Sinfonia zu Steffanis Oper, der Ouverture zu Ariodante und in der Millico-Sinfonia die unterschiedlichen Affekte wirkungsvoll auszustellen. Auch die einzelnen Arien charakterisiert der Klangkörper mit individuellen Farben und dynamischen Schattierungen. Bernd Hoppe

Salzburger Dokument

 

Ganz aktuell von der Mozartwoche Salzburg 2020 veröffentlicht UNITEL auf Blu-ray Disc (803504) eine Produktion aus dem Haus für Mozart mit Georg Friedrich Händels Oratorium Der Messias in der Version von Wolfgang Amadeus Mozart (Wien, 1789). Robert Wilson zeichnet für die Inszenierung, die Bühne und das Licht verantwortlich, was seinen typischen, manierierten Stil von strenger Statuarik einbringt. Die Bühne ist ein leerer, mit Neonröhren eingefasster und hellblau ausgeleuchteter Raum, die Gesichter der Interpreten sind in Wilsons eigentümlicher Manier weiß gekalkt und in asiatischer Art geschminkt. Oft sieht man faszinierende Lichtstimmungen und reizvolle Silhouetten-Effekte, so beim im Hintergrund herein schreitenden Philharmonia Chor Wien (Einstudierung: Walter Zeh), mit kahlen Ästen in den Händen. Das Ensemble singt klangvoll und präzise, sorgt vor allem beim „Hallelujah“ für vokalen Glanz und findet für den Schlusschor „Würdig ist das Lamm“ erhabene Töne. Mehrfach verwendet Wilson architektonische Elemente – in der Luft schwebende Balken oder einen zeitgenössischen Triumphbogen. Ein halbnackter Tänzer (Alexis Fousekis) erscheint mit zwei Bändern wie in der künstlerischen Gymnastik und wirbelt in bravourösen Pirouetten über die Bühne. Auch später, beim Chor „Denn es ist uns ein Kind geboren“, hat er einen vitalen Auftritt mit schnellen Läufen und hohen Sprüngen. Hinten wandelt sich die Szene zu einem wogenden Meer in der Video-Gestaltung von Tomasz Jeziorski.

Musikalisch wird die Live-Aufführung geprägt von Marc Minkowski am Pult des Ensembles Les Musiciens du Louvre. Er findet die Balance zwischen Energie und Meditation. Wunderbar breitet er die Pastorale am Ende des ersten Teiles aus.

Als erster Solist betritt der Bassist José Coca Loza die Bühne, gewandet wie ein japanischer Samurai (Kostüme). Er trägt ein Kind in einem biedermeierlichen Kleid mit Puffärmeln im Arm; ein rätselhaftes Fransenmonster geistert hinten umher. Die Stimme des Sängers ist resonant, der Vortrag allerdings textunverständlich. Seine Arie im zweiten Teil, „Warum denn rasen“,  wird von Minkowski furios eingeleitet, auch der Sänger bemüht sich um stürmischen Ausdruck und rasende Koloraturläufe. Das Video im Hintergrund zeigt ein gewaltiges Eismeer. „Die Posaune erschallt“ am Ende lässt er in pompöser Manier ertönen. Als Schattenriss tritt der Tenor Richard Croft auf, während hinten der Mond hereinschwebt und wandert. Bereits im Rezitativ „Tröste dich“ und in der Arie „Alle Tale“ lässt der Sänger seine baritonal grundierte und in der Höhe intakte Stimme hören – sie ist noch immer ideal für dieses Repertoire. Später muss er leider mit einem alten Mann in chaplinesker Manier herumtänzeln. Bei „Du zerschlägst sie“ im zweiten Teil setzt er in Stimme und Darstellung starke ironische Akzente. Wiebke Lehmkuhl in schwarzem Seidengewand lässt einen hell getönten Alt hören, der in der Arie „O du, der Wonne verkündet“ durch die kultivierte Gestaltung für sich einnimmt. Die Arie im zweiten Teil, „Er ward verschmähet“, singt sie mit Strenge und Anteilnahme. Elena Tsallagova in hellem Kleid komplettiert das Solistenquartett mit klarem Sopran – leider auch sie mangelhaft in der Artikulation, was generell ein Problem dieser Produktion ist. Ihr Duett mit dem Alt „Er weidet seine Herde“ singt sie hier solistisch vor einem kopflosen, auf dem Stuhl sitzenden Mann, was wie ein Zitat aus der Salzburger Salome wirkt. Auch sind ihr mehrere Accompagnato-Rezitative des Tenors und dessen Arien „Schau hin und sieh“ sowie „Doch du ließest ihn dem Tode nicht“ übertragen, was auf Mozarts Version zurückgeht. Leider gibt die Ausgabe (ohne Booklet) über die Unterschiede der beiden Fassungen keine Auskunft. „Wie lieblich ist der Boten Schritt“ ist dagegen eine dem Sopran angestammte Arie, und die Sängerin lässt hier auch den gebührenden Wohllaut hören. Für ihr „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ zu Beginn des dritten Aktes fährt sie – nun ganz in Schwarz – in einem Kahn herein. Und ihr gehört das letzte Solo des Werkes – „Ist Gott mit uns“ –, das sie als Lichtgestalt im Zentrum der Bühne eindringlich formuliert Bernd Hoppe

Mercadante: „I briganti“, 1

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Der hundertfünfzigste Todestag von Saverio Mercadante (getauft 17. September 1795 in Altamura bei Bari; † 17. Dezember 1870 in Neapel) wird von der Musikwissenschaft zum Anlass genommen, in einem groß angelegten Kongress in Neapel, Wien, Altamura und Mailand der musikhistorischen Bedeutung dieses Komponisten nachzuspüren und eine Bilanz der bisherige Forschung zu ziehen. Die Opernhäuser haben das Ereignis (fast möchte man sagen natürlich) verschlafen. Eine Ausnahme bildet das Theater für Niedersachsen in Hildesheim, das Mercadantes Schillervertonung I briganti (coronabedingt mit reduziertem Orchester, aber szenisch und ungekürzt) auf die Bühne bringt. (M. W.)

Deshalb nach dem Amleto apropos der für  nunmehr 2021 geplanten Aufführung in Zürich (s. den Artikel in operalounge.de) um die BrigantiPremiere am 12. September 2020 (hier der link zur Besprechung der Aufführung ebenda) herum noch ein Mercadante-Artikel von Michael Wittmann – nun zu den Briganti (Version Paris 1836). G. H.

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Saverio Mercandate hat 2020 seinen 150. Todestag/ Wikipedia/ Gemälde von Cefaly/ Wiki

Der Komponist in seiner Zeit: Saverio Mercadante war ein anerkannter Komponist, der zu Lebzeiten in einem Atemzug mit Rossini, Bellini, Donizetti oder Verdi genannt wurde. Sein Ruhm basierte vor allem auf seinen zwischen 1819 und 1856 entstandene siebenundfünfzig Opern. Stets hat er dabei für die ersten Häuser und besten Sänger geschrieben. Aber auch die Kirchen- und Orchestermusik nehmen in seinem Schaffen einen für italienische Komponisten des 19. Jahrhunderts ungewöhnlich breiten Raum ein und stehen gleichwertig neben dem Opernschaffen. Sein Ruhm begann zu verblassen, als seine Opern bei der in Italien ja erst in der zweiten Hälfte des 19. Jhds. einsetzenden Ausbildung eines festen Opernrepertoires nicht berücksichtigt wurden. (…)

Der wichtige Impuls für seine Karriere kam in Form einer doppelten Einladung: Zunächst sollte er 1835 erstmals seit 1831 wieder eine Oper (Marco Visconti) für Neapel schreiben. (…) Überdies hatte Rossini, damals Direktor des Theatre italienne in Paris, ihn eingeladen, in der Saison 1835/36 eine Oper für Paris zu schreiben, nachdem dort schon vordem Bellini und Donizetti die Chance erhalten hatten, sich mit neuen Werken vorzustellen.

Der Plan, nach Neapel zu reisen, scheiterte, da zwischenzeitlich in Italien die Cholera ausgebrochen war und die Reise mit erheblichen Quarantäne-Stationen verbunden gewesen wäre. Mercadante fuhr daraufhin kurzentschlossen schon im Sommer 1835 nach Paris, konnte seine bestellte Oper aber erst am 22. März 1836 zur Uraufführung bringen. Die Oper I briganti war nicht eigentlich ein Misserfolg, musikalische Großereignis im Paris der 1830er Jahre, verursacht hatte. Nach Wien 1824 war damit, Mercadante war sich dessen wohl bewusst, auch die zweite Chance zu einer Internationalisierung seiner Karriere gescheitert. Vielmehr ging sie einfach in dem Wirbel unter, den die eine Woche zuvor erfolgte Uraufführung von Meyerbeers Grand´opera  Les hugenots, das  opernmässige Großereignis der 1830er Jahre, unter. Genau wie damals reagierte er erneut mit einer Art kompositorischen Neubesinnung. Am 11. März 1837 präsentierte er an der Mailänder Scala mit Il giuramento jene Oper, die von Anfang an als sein Meisterwerk gegolten hat. Unter dem Einfluss der Pariser Erfahrungen beschritt er dabei gänzlich neue Wege in puncto dramaturgischer Geschlossenheit und psychologischer Ausdeutung der handelnden Figuren. Er verzichtete auf das bis dahin in italienischen Opern übliche Crescendo, die schmetternden Cabaletten und ähnlichen Schaueffekten. Auch der bis dato übliche canto fiorito wurde durch einen von Mercadante so genannten canto dramatico ersetzt. (Recht eigentlich hätte man erwarten können, dass sich Il giuramento dauerhaft im Repertoire etabliert. Wenn dies dennoch nicht der Fall war, so deshalb, weil Amilcare Ponchielli den Stoff zwanzig Jahre später unter dem Titel La gioconda neu vertont hat. Ähnlich erging es Mercadantes Oper Il reggente, dessen Plot wir heute unter dem Titel Un ballo in maschera kennen).

Zu Mercadantes Oper „I Briganti“: Antonbio Tamburini war der erste Massimiliano/ Wikipedia

Diese Entwicklung setzte er in seinen nächsten Werken Elena da Feltre, Le due illustre rivali, Il bravo und La vestale konsequent fort. Mit diesen von ihm so genannten „Reformopern“ stieg er (noch vor Donizetti) nicht nur zum unbestritten bedeutendsten italienischen Opernkomponisten der zweiten Hälfte der 1830er Jahre auf, er hat auch prototypisch vieles vorweggenommen, was man in Unkenntnis seiner Werke heutzutage eher Verdi zuzuschreiben gewohnt ist, auch wenn Verdi die Linie Mercadantes nicht bruchlos fortgesetzt hat. (So gibt es beispielsweise deutlich Unterschiede in der Art der Melodiebildung, in der Verdi Giovanni Pacini, auch eine zu Unrecht vergessene Größe der italienischen Musikgeschichte, deutlich näher steht als Mercadante). Im Übrigen kam der Erfolg für Mercadante gerade zur rechten Zeit: 1837 war sein alter Lehrer Zingarelli gestorben. Mercadante bewarb sich um dessen Nachfolge als Direktor des Konservatoriums in Neapel; sein schärfster Konkurrent war Donizetti. Die Entscheidung fiel erst Anfang 1840 durch den eingestandenermaßen unmusikalischen König Fernando II persönlich, der Donizetti im Rahmen einer Audienz denn auch unumwunden erklärte, dass es ihm herzlich egal sei, wer Direktor eines Institutes sei, dass ihn mehr Geld koste als ein ganzes Infanterieregiment, dass er aber Mercadante als seinem Untertan den Vorzug gegeben habe. (Donizetti war staatsrechtlich gesehen Österreicher).

Für Donizetti war dies der Anlass, seine Koffer zu packen und sich nach Wien und Paris zu orientieren, wo er in seinen letzten Werken noch einmal einen Kreativitätsschub erhielt, die ihn endgültig in den Rang eines Komponisten versetzte, dessen Werke Anspruch auf dauerhafte Gültigkeit haben. Für Mercadante hingegen, der am 1. September 1840 sein neues Amt in Neapel antrat – er sollte es bis zu seinem Lebensende begleiten – ging zwar ein Lebenstraum in Erfüllung, zugleich entfernte er sich aber auch aus dem Zentrum der Opernproduktion in Oberitalien und war fortan gezwungen, sich mit den wenig kunstfreundlichen Bedingungen eines autoritären, ja reaktionären politischen Systems zu arrangieren. In seinen Berufungsverhandlungen hatte Mercadante ein Gehalt durchgesetzt, das in etwa dem Jahreseinkommen entsprach, das er in Novara als Domkapellmeister plus dem Honorar zweier neu komponierte Opern bezogen hatte. Er war damit nicht mehr auf Nebeneinkünfte durch Kompositionsaufträge angewiesen, mithin in der für Italien beneidenswerten Lage eines Komponisten, der sein Schaffen allein seinem eigenen Gutdünken anvertrauen konnte. (…)

Zu Mercadantes Oper „I Briganti“: Friedrich Schiller „Räuber“ lieferten die Vorlage für den Librettisten Crescini/ Wikipedia

Seine erfolgreichste Oper in jener Zeit waren die Orazi e Curiazi von 1846. Er behielt in seinen Opern der 1840er Jahre die Entwicklung seiner „Reformopern“ bei, auch wenn sich dabei ein gewisser Hang zu Breite und Monumentalität einstellte, die ihm den Ruf eintrug, Spezialist für Opern zu sein, die in der Antike und im Rahmen antiker Mythologie angesiedelt waren, gleichsam ein Pendant zu Delacroix´s Historienmalerei.

Die Revolution von 1848 erlebte Mercadante in Mailand, was ihn davor bewahrte, sich ähnlich wie 1820 allzu sehr zu exponieren, wiewohl er zeitlebens seinen liberalen Vorstellungen treu geblieben ist. So unternahm er 1849 den aberwitzigen Versuch, mit Virginia eine Art italienischer Nationaloper zu schreiben, deren Sujet justament jene historisch verbürgte Geschichte ist, die zum Auszug der Plebejer aus Rom und der Errichtung des Volkstribunats führte. Das (voraussehbare) Aufführungsverbot durch König Ferdinand sorgte seinerzeit europaweit für Empörung. 1852 wollte man die Oper dann erlauben, allerdings unter der Prämisse, dass die Handlung nach Ägypten verlegt werden würde. Mercadante hat mit seiner Ablehnung damals mehr Standhaftigkeit bewiesen als Verdi, der einer Verlegung von Un ballo in maschera von Schweden nach Boston zustimmte. Eine Unsitte, die sich ja bis in die Gegenwart gehalten hat.

Mit Verdis Erfolgstrilogie begann sich Anfang der 1850er Jahre die oben zitierte Gewichtung zu dessen Gunsten zu verschieben. Gleichwohl hat Mercadante auch auf diese Entwicklung noch reagiert. Seine letzte Oper Pelagio (1856), die 2005 im nordspanischen Gijon ihre Wiederaufführung erlebte, zeigt, dass Mercadante sehr wohl in der Lage war, seinerseits auf Verdis Neuerungen produktiv zu antworten. Auffällig ist dabei etwa, dass Mercadante immer noch über die weitaus größere Orchestrationskunst verfügte und, sehr im Gegensatz zu Verdi, über solide Kenntnisse der deutschen Romantik. Auffällig aber auch Mercadantes nachgerade obsessives Festhalten am rossini’schen Formenkanon, in dem sich ein gewisser klassizistischer Grundzug des Schaffens Mercadantes ausmachen lässt. Mit seinem der Dramaturgie verpflichteten „far brutto“ hat Verdi in den 1850er Jahren sicherlich Grenzen überschritten, die für Mercadante unüberwindlich waren. Gleichwohl hat Mercadante auch auf die nachfolgende Komponistengeneration eingewirkt, die sich dann ihrerseits gegen das übermächtige Vorbild Verdis durchsetzen mußten. (So ist etwa die Abhängigkeit von Ponchiellis I Lituani von Mercadante unüberhörbar. Und Giacomo Puccini hat noch 1911 bekannt, daß Mercadante La vestale zu den prägenden Eindrücken seiner Jugend gehörten).

Zu Mercadantes Oper „I Briganti“: Giulia Grisi war die erste Amelia/ Wikipedia

Mercadante selbst jedenfalls hielt 1857, also mit 62 Jahren und seinen Kindern im Berufsleben wohl etabliert, die Zeit für gekommen, sich von dem Opernbetrieb zurückzuziehen. (…) Sein letztes vollendetes größeres Werk war eine Messe für Soli, Chor und Orchester. Aber er widmete sich noch einmal der Komposition einer abendfüllenden Oper – eben jenes Marco Visconti, der 1835 unausgeführt geblieben war -, die bis zur Mitte des Finales des ersten Aktes vollendet wurde. Mitten an der Arbeit an diesem Werk traf ihn im November 1870 im Konservatorium ein Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholte. Mercadante starb am 17. Dezember 1870. Sein Begräbnis kam einem Staatsakt gleich.

I Briganti: Als Mercadante im Sommer 1835 nach Paris aufbrach, dachte er an einen Aufenthalt von höchstens drei Monaten. Dass daraus dann mehr als ein halbes Jahr wurde, ist das „Verdienst“ Felice Romanis. Rosini hatte eine opera semiseria erbeten, da Mercadante in Frankreich vor allem durch Elisa e Claudio bekannt war. Mercadante seinerseits seinen bevorzugten Librettisten Romani um ein Libretto gebeten, das dieser ihm auch zusagte, wiewohl er gerade damals von Mailand nach Turin umgezogen war, um dort den Posten des Herausgebers der Gazetta ufficale, also der regierungsamtlichen Zeitung zu übernehmen. In Folge dieses Wechsels stellte er dann auch die Produktion von Opernlibretti ein, die Zusage an Mercadante erfolgte wohl nur noch aus Gefälligkeit. Da Mercadante den Parisaufenthalt aber ursprünglich für das Jahresende 1835/36 geplant hatte, kam nun Romani in Terminschwierigkeiten. Aber anstatt Mercadante eine klare Absage zu schicken, hielt er diesen hin, indem er mögliche Sujets diskutierte (z. B. Il re Teodoro a Venezia). Erst als kurz vor Weihnachten noch immer keinerlei Text vorlag, griff Rossini ein, und Romani erteilte eine klare Absage. So ging der Auftrag an Jacopo Crescini, einem in Paris lebenden italienischen Exilanten und Dichter, der allerdings bis dato noch nie ein Libretto geschrieben hatte.

Zu Mercardantes Oper „I Briganti“: Ankündigung von Schillers Drama „Die Räuber“/ Wikipedia

Crescini hätte, wie er im Vorwort der Briganti schreibt nun gerne eine große historische Oper entworfen, allein, die Zeit war dafür zu knapp. So fiel die Wahl auf Schillers Drama Die Räuber. Dies war aus doppeltem Grund eine kluge Entscheidung: Zum einen ersparte die Dramatisierung eines Theaterstückes gegenüber einer Romanvorlage einen Arbeitsgang des Librettisten; zum andern stand Schillers Stück seit den Tagen der Revolution in Paris auf den Spielplänen der Theater. (In der Tat hatte das Stück Schiller sogar den Titel eines Ehrenbürgers der Revolution eingetragen). Crescini konnte also davon ausgehen, dass jedem Opernbesucher die recht komplexe Handlung vertraut war. Als Konsequenz verzichtete er (anders als Verdi in den Masnadieri) darauf, die Handlung umfänglich zu entwickeln und konzentriert sich ganz auf das tragische Ende. Die Oper besteht aus drei Akten in vier Bildern. Das erste Bild beginnt nach dem Begräbnis des alten Grafen Moor und Corrados (Franz) vergeblichen Werben um Amelia. Das zweite Bild schildert die Rückkehr Ermannos (Hermann) und das Zusammentreffen mit Amelia. Der zweite Akt spielt im Lager der Räuber: nach einem Trinkgelage wird der vermeintlich tote alte Graf befreit und es kommt zum Wiedersehen mit dem Sohn. Der dritte Akt spielt wieder im Schloss: Corrado erhält seine Schlussarie bevor er sich in den tödlichen Kampf stürzt. Der alte Graf tritt auf, es kommt zum Wiedersehen mit Amelia und dann zum Dreiertreffen Graf-Hermann-Amelia. Als sich ein lieto fine anbahnt, fordern die Räuber die Gefolgschaft Hermanns ein. Dieser ersticht Amelia und sich selbst. (Verdi hat dieses Modell später in den Ernani für sich zu nutzen gewusst).

Mit dieser klaren Handlung hatte Crescini ein Libretto vorgelegt, das in seiner Dramaturgie eindeutig nicht an der italienischen, sondern an der zeitgenössischen französischen Oper orientierte. Mercadante, der mit der etwas naiven Vorstellung nach Paris gereist war, dass der Unterschied zwischen italienischer und französischer Oper einfach darin bestünde, dass man in Paris mehr Wert auf eine opulente Ausstattung legen würde, hatte inzwischen sehr wohl erkannt, daß eine Grand’opera mehr war, als eine Abfolge virtuoser Gesangstücke. Und so gliederte er die vier Bilder in sieben große musikalische Nummern, die zwar in sich die traditionellen italienischen Formen wie Scena ed Aria oder Preghiera und Duetto enthalten, die aber von ihm in additiver Weise verwendet und durch auskomponierte Übergänge verbunden wurden. Namentlich den zweiten Akt kann man ohne weiteres als durchkomponiert bezeichnen. (Der später bei Lucca erschienen Klavierauszug hat diese Nummern dann aus verkaufstechnischen Gründen wieder aufgelöst, so daß der avancierte Charakter der Partitur lange unbemerkt blieb). Freilich wäre es falsch, die Bringanti als Abwandlung einer Grand’opera zu bezeichnen. Sie ist und bleibt, was wohl ihr eigenartiges Zwitterwesen ausmacht, auch eine Bel’canto-Oper. Dies ergab sich schon aus der Sängercompagnie, die die gleichen Sänger umfasste, wie Bellinis 1835 uraufgeführten Puritani. Und natürlich waren die Puritani die Messlatte, an der Mercadante sich vor dem Pariser Publikum zu bewähren hatte.

Zu Mercadantes Oper „I Briganti“: Giovanni Battista Rubini war der erste Ermanno/ Wikiedia

Dabei war die Begegnung mit dem berühmten Puritani-Quartett für Mercadante fast so etwas, wie ein Familientreffen. Zwar schrieb er für Giuditta Grisi zum ersten Mal, mit Luigi Lablache hingegen hatte er, wie oben erwähnt, schon im Konservatoriumsorchester zusammengespielt. Arturo Tamburini und Giovanni Rubini hatten zu Beginn ihrer Karriere um 1820 in Neapel gesungen und die Hauptrollen in Mercadantes zweiter (Violenza e Costanza) und dritter Oper (Anacreonte in Samo) kreiert. Mercadante kannte deren stimmliche Möglichkeiten also ganz genau, und die Partitur erweckt den Anschein, als ob er seinen besonderen Ehrgeiz darin gesetzt hätte, den Sängern best- und schwerstmöglich in die Kehlen zu schreiben. Namentlich der Tenorpart ist (zumindest in moderner Stimmung) fast nicht ausführbar. (Und hier dürfte auch der Grund dafür liegen, dass die Oper bis Wildbad 212 (Naxos) nicht wieder gegeben wurde).  Die Uraufführung war durchaus ein großer Erfolg und die Produktion wurde am Ende der Spielzeit auch in London gezeigt. Allerdings stand die Premiere von Anfang an im Schatten von Meyerbeers genau einer Woche zuvor uraufgeführten Huguenots. Da überdies Rossini am Ende dieser Spielzeit nach Italien zurückkehrte, wurde sie in der nächsten Spielzeit in Paris nicht wieder aufgenommen. Gleichwohl erhielt Mercadante noch bis Anfang der 1850er Jahre regelmäßig Anfragen, noch einmal eine Oper für Paris zu schreiben, die er allerdings ebenso regelmäßig ablehnte, da er in realistischer Einschätzung der Pariser Verhältnisse davon ausging, dass für einen dortigen Erfolg eine Vorbereitungszeit von mindestens acht Monaten notwendig sein würde. Eine so lange Abwesenheit war allerdings mit seinen mit seinen Pflichten in Neapel nicht vereinbar.

Der Parisaufenthalt 1835/36 markiert, wie geschildert, den Wendepunkt in Mercadantes Karriere, insofern er sich fortan nur mehr um den italienischen Markt kümmerte. Seine 1837 in Mailand uraufgeführte Oper Il giuramento verarbeitet dabei die Pariser Erfahrungen und weitet diese noch aus. Hatte er mit den Briganti erstmal ein Libretto vertont, das seiner Anlage nach auf ein wirkliches Musikdrama abzielte, so wählte er für Il giuramento mit Gaetano Rossi jenen italienischen Librettisten, der wie kein anderer in Italien eine Vorstellung von diesen Möglichkeiten hatte und der auch Meyerbeers Chefberater in Sachen Libretto war. Darüber hinaus griff Mercadante im Giuramento aber auch in die traditonelle Formensprache ein, etwa indem er die Cabaletten zurückdrängte, die der Entwicklung des Dramas immer wieder entgegenstanden. Vor allem aber propagierte er nun den canto dramatico als Gegensatz zum reinen Belcanto. Das darf man freilich nicht als fundamentalen Gegensatz verstehen: Es ging Mercadante eher um eine Art der Beschneidung des canto fiorito überall dort, wo dieser Gefahr lief, der dramatischen Wahrheit der Handlung zuwider zu laufen. (Die „moderne“ Art etwa Verdi zu singen, ist ja ohnehin das Verdienst, eines Enrico Caruso).

Unter diesen Aspekten hat er dann sich 1837 auch noch einmal die Briganti vorgenommen. Anlass war die bevorstehende italienische Erstaufführung in Mailand. Da die Scala über wesentlich mehr Plätze verfügte als das Pariser Theater, war in jedem Fall eine Verstärkung der Instrumentation geboten. Das im Ricordi-Archiv verwahrte Arbeitsmanuscript Mercadantes zeigt jedoch, wie er die Pariser Fassung quasi Takt für Takt revidierte, um sie seiner neu gewonnen Opernästhetik anzupassen.

Zu Mercadantes Oper „I Briganti“: Moderne Erstaufführung | Neuedition aus den Manuskripten nach Forschungen von Dr. Michael Wittmann erstellt von Florian Bauer für ROSSINI IN WILDBADPremiere am 14.7.2012 in Bad Wildbad / Schwarzwald, Musikalische Leitung: Antonino Foglian, iBachchor Posen/ Tomasz Potkowski, Virtuosi Brunensis, Inszenierung/Bühnenbild: Jochen Schönleber/ Foto Pfeiffer

Mercadantes neuer Stil hat übrigens einen prominente Bewunderer gefunden, nämlich Franz Liszt, der 1837 in Mailand sowohl Il giuramento wie die revidierte Fassung der Briganti hörte und sich dazu nicht nur in Briefen höchst anerkennend äußerte, sondern 1838 auch ein Klavierstück, Reminiscences de La Scala (S458),  komponierte, in dem er Themen aus diesen Opern verarbeitet. Ein weiterer prominenter Zeuge ist: Otto Nicolai, der 1838 die zweite Fassung der Briganti in Turin dirigierte. Auf dem Weg dorthin hatte er bei Mercadante in Novara Station gemacht, um mit diesem die Partitur durchzugehen. Sein Erfolg als Dirigent war danach so groß, dass er selbst den Auftrag erhielt, 1839 für Turin eine Oper (Il templario) zu schreiben, die nach damaligen Verhältnissen ein Welterfolg wurde. Die moderne Erstaufführung dieser Oper (Chemnitz 2008) hat gezeigt, dass Nicolai ebenso wie der junge Verdi von der Kenntnis der Mercadante’schen Reformopern zu profitieren wussten. Überdies – und das ist nicht ohne Ironie – waren es gerade Mercadantes Reformopern, die in den 1860er Jahren der italienischen Meyerbeer-Rezeption den Weg ebneten. Insofern sind sie ein schönes Beispiel dafür, dass selbst in nationalistisch gesonnen Zeiten der Kulturaustausch die Kunst nicht behindert sondern vorangebracht hat. Michael Wittmann

 

Großen Dank an den renommierten Autor Michael Wittmann, der natürlich operalounge.de-Lesern wie auch der Musikwelt namentlich der Belcanto-Periode als hochgeschätzter Musikwissenschaftler und Fachmann gilt. Er fügte seinem (von uns wegen der Überlänge im ersten Teil der biographischen Entwicklung Mercadantes leicht gekürzten) Artikel eine ausführliche Aufstellung der musikalischen Nummern der Oper I Briganti  bei, die den Rahmen unserer Berichterstattung sprengen würde, die wir aber auf Wunsch per mail an Interessenten verschicken.  (Abbildung oben: ein Brigantaccio aus Neapel ca. 1850). Redaktion G. H.

 

Und noch ein PS. von Michael Wittmann im November 2020: Alex Weatherson hat ja dieses Jahr (2020) seine große Pacini-Monographie On-line gestellt. Das ist ein höchst willkommenes Werk und ein schöner Kontrapunkt zum Mercadante-Jahr. Vielleicht können Sie daraus etwas machen und auf beide Publikationen verlinken. Wobei ein Vergleich der Werklisten von Pacini und Mercadante doch sehr plastisch enthüllt, dass Pacini vor allem ein Opernkomponist war. Mercadante ist da viel universeller. Und in Zukunft sollte man sich abgewöhnen, Pacini in einem Atemzuge mit Mercadante zu nennen.  Und ich habe in Wien auf dem Mercadante-Kongreß 2020 gesprochen. Das war sozusagen mein Schlußwort zu Mercadante. Und als Dreingabe habe ich jetzt noch das „Systematische Verzeichnis der Werke Saverion Mercadantes“ ins Netz gestellt, an dem ich mehr als dreissig Jahre gefeilt habe. https://mwmusikverlag.wordpress.com/2020/11/01/mercadante-werk-verzeichnis/

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Lucia Stanescu

 

Rumäniens berühmte Opernsopranistin Lucia Stănescu wurde am 16. Juni 1926 im Dorf Someşul Rece in der Nähe des Apuseni-Gebirges geboren. 1949 machte sie ihren Abschluss am Nationalen Musikkonservatorium von Bukarest und wurde Sängerin der Nationalen Oper von Cluj Napoca, wo sie zwischen 1970 und 1975 zudem als Direktorin amtierte. Seit 1979 lebte sie in Livorno, Italien, und sang dort noch bis 1981 (Aida, Cio-Cio-San, Mimì, Tosca, Suor Angelica). 2012 schrieb sie ihre Autobiographie. Die Lirico-Spinto-Sopranistin, die eine starke künstlerische Persönlichkeit offenbarte, wurde zu einem Musterbeispiel in Sachen Puccini-Rollen, aber nicht nur dort. Ihre lebhafte und flexible Stimme kombinierte sie mit einer magnetischen und überzeugenden Theatralik in jeder Rolle, die sie sang. Die lyrische Künstlerin war eine Person von intellektueller Raffinesse, die sich leidenschaftlich der Musik und ihren Dienern, ob reif oder erst im Studium, engagiert widmete. Die mühsame Arbeit der Stănescu wurde durch ihr Bestreben erreicht, Stimmen im Sinne einer rumänischen Gesangsschule zu formen, die von der Freude am Leben, am Geben und am Sein geprägt war.  Lucia Stănescu ist bereits am 26. September 2020 im hohen Alter von 94 Jahren in ihrer Wahlheimat Livorno verstorben. Maria Pontefredo/ Übersetzung Torsten Knoll

Im Schatten der Grossen

 

Was an dieser neuen Johann-Strauss-Aufnahme von  Eine Nacht in Venedig bei cpo (1 CD 8949859) sofort ins Auge fällt sind die Namen: Über dem Titel stehen in gleichgroßen Lettern Johann Strauss und Erich Wolfgang Korngold. Auf Seite 1 des Booklets sieht man dann Porträts der beiden Herren nebeneinander, wiederum gleichgroß. Mit dem Hinweis, dass auf dieser CD die Operette „in der musikalischen Version“ von Korngold sowie in einer „Librettoversion“ von Ernst Marischka zu hören sei. (Später berühmt geworden über die Sissi-Filme mit Romy Schneider.)

Das klingt erst mal nach irgendwie „neu“ und durchaus passend zum Revival, das Korngolds diverse Operettenbearbeitungen in den letzten Jahren speziell über die Musikalische Komödie Leipzig erlebt haben, von wo Das Lied der Liebe (nach Johann Strauss) und Rosen aus Florida (nach Leo Fall) auf Tonträger stammen. Allerdings sind beide bei Rondeau herausgekommen. Will cpo jetzt auf diesen Korngold-Trend aufspringen?

Während es von den gerade erwähnten Werken zuvor keine offiziellen Aufnahmen gab, ebenso wie von vielen weiteren Operettenbearbeitungen Korngolds (insbesondere die für Max Reinhardt erstellte Adaption der Fledermaus), liegt der Fall bei der Nacht in Venedig anders. Denn von dieser 1883er Erfolgsoperette kursieren fast ausschließlich Aufnahmen, die auf Korngolds Fassung von 1923 basieren. Meist erkennt man sie sofort daran, dass der Startenor darauf „Sei mir gegrüßt du holdes Venezia“ und „Treu sein, das liegt mir nicht“ singt, beides Ergänzungen von Korngold für den damals erstmals ins Operettenfach gewechselten Richard Tauber, der als Herzog von Urbino musikalisch aufgewertet werden sollte – zuvor waren im Stück die Komikerrollen von Caramello und Pappacoda der zentrale Dreh- und Angelpunkt. Womit das Stück in Richtung Comedy gerückt war, statt eine Tenorschnulze-mit-Gondeln zu sein.

Die vorliegende cpo-Neuaufnahme stammt aus der Oper Graz, die Produktion wiederum kommt ursprünglich aus Lyon. Dirigent Marius Burkert schrieb mir, cpo habe gezielt eine Aufnahme der Korngold-Fassung gewollt, auf die auch Bernd Krispin im Booklet deutlich hinweist. Was er – und was cpo – allerdings nicht erwähnen: Um welche Korngold-Version handelt es sich hier eigentlich? Die 1923er Adaption ist die allgemein bekannte und hinlänglich oft aufgenommene – von Schwarzkopf/Ackermann bis Schock/Marszalek, von Wunderlich/Walter bis Gedda/Allers –, während die erweiterte Fassung von 1929 bislang nicht eingespielt wurde. Das ist jene Fassung, mit der das Werk in die Wiener Staatsoper einzog mit Maria Jeritza, Adele Kern, Lillie Claus, Hubert Marischka, Josef Kalenberg, Alfred Jerger und Koloman Pataky. (Was für eine Luxusbesetzung!)

Mit Marischka als Caramello betrat damals erstmals ein Operettenstar, der kein Opernsänger war, die Bühne der Staatsoper. „Er spricht seine Texte deutlich aus, sorgt für Laune und Temperament und fürchtet sich nicht, die Heiligkeit des Hauses dann und wann, durch einen derben Witz zu unterbrechen. Den anderen haftet noch ein wenig Würde an“, hieß es in Das kleine Blatt. Und Adaxl meinte: „Er überraschte mit kräftig ins Haus geschmetterten Tönen, zog virtuos alle Register seiner liebenswürdigen Persönlichkeit und hat vor den meisten Opernsängern die sorgfältige Wortbehandlung und, ein vorbildlicher Tänzer, die Sicherheit in der Bewegung voraus.“ Es war die Rolle, die in Wien 1883 Alexander Girardi kreierte.

Abgesehen von der Besetzung 1929 war der wichtigste Unterschied zu 1923, dass Korngold einige neue Tanzpassagen einfügte, die für opulente Ausstattungsmöglichkeiten sorgten – und die mit Jazzelementen gespickt waren. Schließlich bewegte man sich in den Wilden Zwanzigern!

Die Premiere geriet zum Triumph, Kritik erregten nur einige für Wiener Verhältnisse allzu radikale Neuerungen: „Als gleich am Anfang ein entzückender Straußwalzer sozusagen ‚modern rhythmisiert‘ ertönte, malte sich Entsetzen auf den Gesichtern der Straußmusikkenner, und diese einzige, allerdings unerhörte Geschmacklosigkeit muß unbedingt verschwinden – aber was sonst Neues geschaffen wurde, war wunderbar, war genial.“

Außer vereinzelten Xylophonklängen in den Tanzduetten und ein paar markanten Harfen-Glissandi ist das, was cpo unter Dirigent Marius Burkert nun vorlegt aber nicht die „Entsetzen“ auslösende Staatsopernfassung, sondern die vertraute „alte“ Version. Und mit der begibt sich die neue CD in eine massive Konkurrenzsituation.

Egal wie frisch hier teils aufgespielt wird: Diese ausgeglichene Grazer Besetzung hält in keiner Position einem Vergleich mit Stars der Vergangenheit stand, selbst wenn sie sich (löblicherweise) manchmal deutlich an Vorgängern orientierten. So stattet beispielsweise Lothar Odinius seinen Herzog versuchsweise mit Mezza-voce-Effekten aus und gestattet sich hier und da sogar ein Portamento. Aber vom Schmelz eines Tauber – oder Gedda – ist er weit entfernt, vom Draufgängertum eines Schock (besonders in der ersten Aufnahme von 1953 unter Marszalek) fehlt jede Spur. Und dass man die Nummern des Herzogs mit einer gehörigen Portion Rubato und überhaupt Tempofreiheit gestalten sollte, hat Dirigent Burkert nicht erkannt.

Angenehm frisch und silbrig schimmernd im Tonfall ist der Caramello von Alexander Geller, mit dessen Auftritts-Tarantella so was wie Drive in diese Neuaufnahme kommt (immerhin sind wir da bereits bei Track 5!). Aber Hand aufs Herz: Das Gondellied singt Fritz Wunderlich (1960 unter Fried Walter) berückender. Und wenn man die steinzeitliche Klangqualität in Kauf nimmt: Marcel Wittrisch auf der Reichssender-Berlin-Aufnahme von 1938 lässt als Caramello wirklich die gesamte Konkurrenz hinter sich, inklusive Wunderlich, weil er speziell das Gondellied mit so vielen überraschenden Nuancen gestaltet und dann in den entscheidenden Momenten eine solche Strahlkraft entwickelt, dass man auch heute noch staunend dasitzt und denkt: Ja, so und nicht anders! (Seine Tarantella singt er übrigens auch mit einem derart vorwärtsstürmenden Impetus, einer solchen Textdeutlichkeit, dass ihr Fehlen in Graz schmerzlich auffällt.)

Der dritte Herr in der männlichen Hauptrollenrunde ist Ivan Oreščanin als Spaghetti-Koch Pappacoda, den ich als spaßbegrenzt und unschmissig bezeichnen würde, vor allem wenn man ihn vergleicht mit dem jungen Peter Alexander (bei Marszalek 1953). Und über den quasi nicht existenten Senator Delaqua, hier gesungen von Götz Zemann, lässt sich so gut wie nichts sagen, weil er – ebenso wie alle anderen – keinerlei Dialoge hat. Wodurch der Eindruck eines Wunschkonzerts entsteht (mit musikalischen Nummern ohne Wiederholungen bei den Strophen), nicht der einer dramatisch irgendwie interessanten Handlung.

Wie grandios die Dialoge auch auf Tonträger funktionieren können, demonstriert der Reichssender Berlin: mit echter Dialogregie und mit echten Charakterdarstellern. Die Szenen der Senatoren auf der 1938er Aufnahme (Otto Sauter-Sarto als Delaqua, Carl-Heinz Carell als Barbaruccio und Richard Senius als Testaccio) sind ein echtes Kabinettstück, die drei Herren schaffen es sogar zu NS-Zeiten, politische Anzüglichkeiten über unfähige Politiker zu platzieren. Davon spürt man in Graz nichts, weil diese gesamte Handlungsebene auf der Aufnahme fehlt.

Die Paraderolle des Fischermädchens Annina (unvergessen Elisabeth Schwarzkopf auf ihrer Ackermann-Einspielung bei EMI/Warner!) gibt Elena Puszta mit leicht säuerlichem Sopran und ohne jedwede Textverständlichkeit. Und ohne den Charme des Timbres, den Rita Streich oder Lisa Otto verstrahlen. Von Elisabeth Schwarzkopf mal ganz zu schweigen. Mag sein, dass Puszta auf der Bühne besser wirkte als auf CD, aber für alle, die nur eine neue Nacht in Venedig auf Tonträger kaufen wollen, ist das letztlich gleichgültig.

Gleiches gilt für die Senatorengattinnen, hier von Elisabeth Pratscher angeführt mit „So ängstlich sind wir nicht“, ohne Resolutismus und Witz. Man vergleiche das mit Gisela Litz 1967 unter Franz Allers.

Warum also das Ganze? Musikalisch ist diese Einzel-CD so stark gekürzt, dass von einem umfänglichen Musikgenuss nicht die Rede sein kann. Während Ernst Märzendorfer 1987 als Erster die originale Wiener Fassung nach der damals neuen kritischen Ausgabe eingespielt hat, mit Jeanette Scovotti, Karl Dönch, Wolfgang Brendel et al, fehlt bis heute von der legendenumwobenen Berliner Urfassung weiterhin jede Aufnahme, gleichwohl es auch davon eine kritische Ausgabe gibt. (Die natürlich kostspielig ist, was Leihmaterial angeht; weswegen viele Theater lieber bei Korngold/Weinberger bleiben.)

Auf YouTube findet sich ein kurzes Video zur Grazer-Produktion, wo man sieht, dass der Herzog von Urbino so etwas wie ein Karl-Lagerfeld-Verschnitt ist, allerdings ohne erkennbare homoerotische Momente mit Männermodels, sondern umgeben von hübschen Mannequins. Und einem spielfreudigen Alexander Geller als Leibbarbier. Was genau Eine Nacht in Venedig mit Lagerfeld und der Modelwelt zu tun hat – als Karnelvalsburleske – hat sich mir nicht erschlossen. Aber vielleicht war in Lyon ein Lagerfeld-Double als Herzog eine naheliegende Option?

Wer das umwerfende „Sei mir gegrüßt, du holdes Venezia“-Lied in der ursprünglichen Version hören will, kann sich auf der Simplicius-Einspielung (EMI unter Franz Welser-Möst) die Nr. 12a des Titelhelden zu Gemüte führen: „Der Frühling lacht, es singen die Vögelein“. Es ist die unmittelbare Vorlage, die Korngold und Marischka textlich angepasst haben. Martin Zyseet singt sie live 1999 berückend und vor allem: völlig außer Konkurrenz.

Einen solchen Willen, Operette und speziell Eine Nacht in Venedig neu zu denken, hätte ich mir bei cpo gewünscht. Mit der Berliner Urfassung hätte sich auch dieses ansonsten ausgeglichene Ensemble der Grazer Oper zweifellos profilieren und bewähren können. Für die 1929er Version bräuchte man vermutlich mehr Starqualität, um in die Fußstapfen von Jeritza, Kern, Claus, Jerger und Pataky zu treten. Und einen „modernen“ Hubert Marischka als Caramello müsste man auch erst mal finden. Was aber absolut möglich ist, wenn man außerhalb der gängigen Opernverdächtigen schaut und die Musical- bzw. Schauspiel/Kabarett-Szene berücksichtigt. Aber darin war cpo bisher nie besonders versiert. Und als Postskriptum: Bei der Erstaufführung der Korngold-Fassung 1923 im Theater an der Wien war außer Richard Tauber kein einziger Opernsänger beteiligt, bei den Berliner und Wiener Premieren 1883 auch nicht. Mit einer entsprechenden Besetzung hätte sich auch Graz/cpo auf Tonträger außer Konkurrenz bewegen und auf ganzer Linie punkten können. Aber das muss man auch wollen! Kevin Clarke

Häppchen

 

Häppchenweise genießen sollte man die jeweils etwa drei Seiten langen Beiträge, deren 58 an der Zahl das Buch von Eleonore Büning mit dem Titel Warum geht der Dirigent so oft zum Friseur? ausmachen und das, dem Untertitel nach zu urteilen, „Antworten auf die großen und kleinen Fragen der Musik“ geben soll. Nun gehört die hier zitierte sicherlich eher zu den kleinen, ja eher zu den überflüssigen und vielleicht sogar zu den gar nicht von den Lesern eingereichten, die allwöchentlich in der FAZ am Sonntag in einer wöchentlich erscheinenden Kolumne gestellt wurden und die die Musikkritikerin mal witzig und mal witzelnd, mal tiefgründig und mal abschweifend oberflächlich beantwortet. Bis weit in den Corona-Sommer hinein reichen die letzten Beiträge, so einer nach der Anzahl der Opern von Beethoven, und so dem Jubiläumsjahr des Komponisten gerecht werdend.

Nicht selten stellt die Autorin Behauptungen auf, die sich kaum belegen lassen, wie sie selbst sogleich zugibt, so auch die, dass Friseure immer klein sind, was  sie eigentlich fragen lassen müsste, warum dem so ist- und sie wäre bei der Beantwortung der Frage genau so gescheitert wie bei der auf die eingangs gestellte nach der Häufigkeit des Coiffeurbesuchs. Es geht also nicht immer um ernste, Gehaltvolles erfordernde Themen, sondern oft um reinen Nonsens, der natürlich auch seine Berechtigung hat- und die abschließende, die 58. Frage, Dürfen Stardirigenten Privatjets fliegen, bewegt sich im Grenzbereich zwischen Ernsthaftigkeit und Kabarett.

Wie schillernde Seifenbasen muten viele der Beiträge an, die zu fragiler Größe aufgeblasen werden, um schließlich zu einem Nichts zu zerplatzen, wobei Sprunghaftigkeit zum Gestaltungsprinzip erhoben wird. Man erfährt auch Wissenswertes wie über die mögliche Dauer von Fermaten,    bei „was ist klassisch“ driftet Büning nur ganz am Schluss ab, und scharf und witzig wird die Frage behandelt, ob zwangsläufig Angehörige der Familie Wagner in Bayreuth herrschen müssen.

Manches ist schief, so wenn gefragt wird, wer sich als Erster nach einer Vorstellung verbeugen darf (was ihr als Vorgang an sich wiederholt als Ärgernis erscheint), wo doch der Letzte der Erste, d.h. der „wichtigste“ Künstler ist. Die Zauberflöte soll rassistisch sein, wo doch Papageno so schön sagt:“Es gibt doch auch schwarze Vögle, warum soll es nicht auch schwarze Menschen geben“. Und in den Meistersingern geht es nicht um den Sieg der Genialität über die Regeln, sondern um die Verbindung von beiden. Da wird der  vertrauensvoll mit naiven Fragen sich an den Experten wendende Leser manchmal auf die schiefe Bahn geführt. Über Klaviere und Klavierunterricht hingegen kann er sich bestens unterrichtet sehen oder auch über die Nebensonnen in Schuberts Winterreise. Weniger geschieht das mit der falschen Verwendung des Begriffs „Hasenbrot“ oder der Zuordnung des Edlen Faninal zu den Sopranen, mit dem Prädikat „liebenswürdig“ für Brahms‘ Requiem.

Ihren Wert nicht in einer in der Frage geforderten Information, sondern in der witzigen Art der Darstellung haben Artikel wie die über den Schah und die Zauberflöte, über die Benachteiligung des hohen D gegenüber dem C in der Hörergunst oder auch den Kummerbund.

Mehr Tiefgang hätten trotz des Glossenformats Artikel über die Liebe der Japaner zur klassischen Musik oder die Zwölftonmusik als Holzweg oder Sackgasse verdient. Einigen Mut verlangte die Behauptung, es gebe im Bereich der Oper „homosexuelle Seilschaften“.

Die Empfehlung, nicht mehr als zwei oder drei der kurzen Artikel hintereinander zu lesen, hängt auch mit dem Stil zusammen, der in einer Häufung von Fragen, die keine Antwort finden, in endlosen Aufzählungen von Gleichartigem, die jäh von etwas nicht dazu Passendem unterbrochen werden, in manchmal überbordend Klischeehaften wie den nur einmal in der Woche duschenden Politbarden besteht. Das wirkt zunächst erheiternd, aber zunehmend ermüdend, hängt aber damit zusammen, dass aus vielen kleinen Einzelstücken ein Größeres zusammengefügt wurde. Verschwiegen werden soll nicht, dass das Buch anspruchsvoller ist, als sein Titel vermuten lässt.(225 Seiten, 2020 Benevento; ISBN 978 3 7109 0099 0). Ingrid Wanja

Zu neuen Ufern

 

Eine erstaunliche Entwicklung hat die polnische Sopranistin Aleksandra Kurzak genommen. Nach Partien des lyrischen Koloratursoprans zeigt ihre neue CD bei SONY, aufgenommen im April 2019 in Wien, die Hinwendung zum dramatischen Sopran und sogar Ausflüge in das Fach des Verismo. Desire nennt sich das Porträt (19075883262), aber nicht alle darauf versammelten Partien sind noch Sehnsuchtsobjekte der Sängerin, denn einige von ihnen hat sie bereits auf großen internationalen Bühnen verkörpert – wie die Micaëla in Bizets Carmen in Paris und an der Met. Deren Arie „Je dis“, gesungen mit tiefer Empfindung und leuchtender Stimme, ist der einzige französische Beitrag auf dem Album, das mit seinen fünf Sprachen auch die stilistische Vielseitigkeit der Interpretin beweist. Für die im Original französische Arie der Hélène aus Verdis Les Vêpres siciliennes hat sie die italienische Fassung gewählt, singt also Elenas Siciliana „Mercé, dilette amiche“ – mit Verve und koloraturgewandt. Ebenso wie die beiden anderen Verdi-Heroinen auf der CD – die Elvira aus Ernani und die Trovatore-Leonora – gehört sie noch nicht zu Kurzaks Repertoire. Elviras „Ernani, Ernani involami“ wie Leonoras „D’amor sull’ali rosee“ sind Herausforderungen für einen dramatischen Koloratursopran mit virtuosem Vermögen. Kurzak stellt sich diesen mit beachtlichen Ergebnissen, obwohl man sich für beide Partien einen dunkler getönten Sopran wünschte.

Von Puccini finden sich mit Tosca, Cio-Cio-San und Liù gleichfalls drei Rollen in der Anthologie. Letztere hat sie in London und Wien vorgestellt, die Arie aus dem 1. Akt, „Signore, ascolta!“, berührt ungemein mit ihren schmerzlichen Tönen und ist gesangstechnisch vollkommen. Auch bei der Titelrolle in Madama Butterfly hat sie durch einen Auftritt in Warschau Erfahrungen gesammelt, was die berühmte Arie „Un bel dì“ in ihrem starken Gefühlsspektrum zeigt. Tosca steht auf dem Terminkalender der Sängerin und mit  dem einfühlsamen „Vissi d’arte“ gibt sie einen viel versprechenden Vorgeschmack auf das Debüt. Das italienische Repertoire wird ergänzt durch Adriana Lecouvreurs „Io son l’umile ancella“, das die CD mit sinnlichen Tönen eröffnet, und Neddas „Stridono lassù“ aus den Pagliacci. Während sie die Titelrolle in Cileas Oper für die Zukunft plant, hat sie die Figur in Leoncavallos Tragödie vielerorts gesungen – nach dem Rollendebüt in Zürich an der Met, in Berlin Barcelona und London. Diese Erfahrungen sind bereits in der prägnanten Formulierung des Rezitativs hörbar, und auch die Arie lebt durch den passionierten Einsatz der Interpretin. Nur im hohen Schlusston ist eine leichte Schwankung zu hören.

Verdienstvoll ist der Einsatz der Sopranistin für das slawische Repertoire. In nicht weniger als drei Sprachen stellt sie Frauengestalten aus dem musikalischen Kosmos Tschechiens, Polens und Russlands vor. Während Rusalkas inniges„Lied an den Mond“ aus Dvoráks Oper und Tatjanas leidenschaftliche Briefszene aus Tschaikowskis Eugen Onegin sogar Wunschkonzert-Schlager sind, ist Halkas „O moj malenki“ aus Moniuszkos polnischer Nationaloper selten zu hören. Wie die beiden anderen Partien bringt sie die slawische Seele der Sängerin zum Klingen, ist aber von dramatischerem Zuschnitt. Die Arie zählt zu den Höhepunkten des gelungenen Programms.

Vielseitigkeit beweist auch das Morphing Chamber Orchestra, Vienna, das die Solistin unter Leitung von Frédéric Chaslin begleitet und sich in den unterschiedlichen musikalischen Idiomen kompetent behauptet. Bernd Hoppe

Poster Child

 

Mit seiner im Auftrag dreier Opernhäuser komponierten und 2001 in Dallas uraufgeführten Zola-Oper Thérèse Raquin hat Tobias Picker (* 1954) einen nicht unwesentlichen Beitrag zu neueren amerikanischen Oper geliefert. Zwei Opern waren vorausgegangen, zwei weitere sollten folgen. Darunter immerhin die mit einer großartigen All-Star-Cast 2005 an der Met gegebene American Tragedy. Weitere sind geplant. Daneben hat er sinfonische Musik komponiert, ein Ballett geschrieben. Etwas aus beiden Welten umfasst die Opera Without Words betitelte Naxos-Ausgabe mit zwei jeweils rund halbstündigen Stücken (8.559853). Wobei das „ohne Worte“ nicht ganz stimmt. Zumindest nicht in Bezug auf The Encantadas von 1983. Es handelt sich um ein Melodram für Sprecher und Orchester mit Texten von Herman Melville, der 1854 eine aus zehn Skizzen bestehenden Novelle über seine Reise zu den Galapagos-Inseln bzw. Encantadas veröffentlichte. Den sechs Abschnitte, die sich als die Erinnerungen eines alten Mannes an seine Jugend interpretieren lassen, hat Picker jeweils einen unverkennbare Atmosphäre gegeben, darunter einen parodistischen Walzer für die Pinguine und ein Klaviersolo für den Pelikan im Abschnitt Diversity. Der große John Gielgud (1904-2000) hat das Stück und Melvilles Worte 1999 geadelt und mit dem Houston Symphony Orchestra (Virgin) aufgenommen. Im März 2019 ging Picker in Nashville selbst ins Studio und sprach die sechs Texte zu dem vom von dortigen Nashville Symphony unter Giancarlo Guerrero gelieferten orchestralen Sound.

Gegen die edle Stimme des britischen Jahrhundertschauspielers, die immerhin Alec Guiness mit einer Silbertrompete mit Seidenbelag verglich, kommt der Komponist nicht an. Picker agiert mit wohllautend, gut artikulierender, wenngleich geheimnisloser Stimme. Gielgud spricht Literatur, Picker will packen und erzählen. In der Neuaufnahme klingt das Orchester etwas dominanter, wodurch das illustrative Plätschern und Wüten der Musik fasslicher gerät, die Landschaften in ihrer kompetenten Naturbeschreibung aber doch auch wie Aquarelle im Wartezimmer wirken. Ein amerikanischer Beobachter fand dafür die treffenden Worte, Tobias Picker is a poster child for accessible new music, program music in particular…

Auch das zweite Stück ist „accessible“ bis zur Langweiligkeit. Und irgendwie ist es auch eine Oper, wenngleich sich Opera Without Words im Gewand einer Orchester-Suite versteckt. Das eigentümliche Stück wurde 2016 von Christoph Eschenbach und dem National Symphony Orchestra, das zusammen mit dem Nashville Symphony Orchestra den Auftrag dazu gegeben hatte, aus der Taufe gehoben. Eigentümlich, weil  der Text, der nicht zu hören ist, immerhin von der durch ihren Einsatz für Anatol Ugorski und seit ihrer mit Enzensberger verfassten Hasen-Geschichte Esterházy auch als Schriftstellerin bekannten Irene Dische stammt. Dazu muss man Picker hören, Opera Without Words ist ein Musikdrama über einige faszinierende Menschen, denen ich begegnet bin. Als ich mit diesem Werk begann, machte ich mir Gedanken über Unterschiede und Ähnlichkeiten der Gattungen Orchesterstück und Oper. Ich entschloss mich, an dieses Werk so heranzugehen, als schriebe ich eine Oper. Ich beauftragte eine Librettistin, Irene Dische, und setzte ihr Libretto nicht für Stimmen, sondern für die Instrumente des Orchesters, unbelastet von allen Rücksichten auf Stimmumfang und Gesangstechnik. Nachdem ich die Oper mit Worten abgeschlossen hatte, entfernte ich den Text bis auf wenige Spuren und Reste aus der Partitur. Guerrero und sein Orchester brillieren in dieser unterhaltesamen Suite, die den Instrumenten effektvolle Kommentare zuwirft. Hübsch anzuhören.  Rolf Fath

Ursel Herrmann

 

Ursel Herrmann, am 19. Jänner 1943 im heute polnischen Rynsk (seinerzeit Rheinsberg) geboren, wuchs in der Deutschen Demokratischen Republik auf und studierte an der Freien Universität Berlin, bevor sie zwischen 1980 und 1984 als Dramaturgin am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg engagiert wurde. Während dieser Zeit arbeitete sie auch an der Ausstellung Inszenierte Räume, die im Hamburger Kunstverein gezeigt wurde. Seit 1982 war sie an der Seite ihres Ehemanns Karl-Ernst Herrmann (1936-2018) die weibliche Hälfte eines Regieteams, das Mozarts La clemenza di Tito als Debütprojekt im Théâtre de la Monnaie in Brüssel inszenierte und später für dasselbe Opernhaus La finta giardiniera und Die Entführung aus dem Serail auf die Bühne brachte, die auch bei den Wiener Festspielen vorgestellt wurden. Ihre Brüsseler La traviata wurde später in Düsseldorf und ihre Zauberflöte bei der Salzburger Mozartwoche 1991 wiederbelebt. Von 1992 bis 2001 zählten die Herrmanns zu den wichtigsten Regisseuren der Salzburger Festspiele der Mortier-Ära und schufen fünf neue Produktionen: La clemenza di Tito (1992), La finta giardiniera (1992), die Mozart-basierte Szenenfolge Ombra felice (1994), Les Boréades (1999) und Idomeneo (2000). Mit Ferdinand Raimunds Der Bauer als Millionär nahmen sie bei den Wiener Festspielen 1996 an ihrer ersten nichtmusikalischen Zusammenarbeit teil. Zuvor hatten die Herrmanns zwei Händel-Opern aufgeführt, Semele für die Berliner Staatsoper Unter den Linden und die Innsbrucker Festspiele für Alte Musik sowie Giulio Cesare an der Niederländischen Oper in Amsterdam. Von 1994 bis 2002 unterrichteten Ursel und Karl-Ernst Herrmann auch Bühnen- und Kostümdesign an der Akademie der bildenden Künste in München. Im Nationaltheater inszenierte sie mit großem Erfolg Mozarts Opern La clemenza di Tito (2006) und La finta giardiniera (2008). Ursel Herrmann starb am 27. September 2020 im Alter von 77 Jahren in Berlin. (Quelle Narodni Divadlo Prag/ Übersetzung Daniel Hauser)

 

Auf der Spur der Grossen

 

Die Titelrolle in Donizettis Maria Stuarda hat Diana Damrau im April 2018 am Opernhaus Zürich erstmals szenisch verkörpert, einen Monat später an der Deutschen Oper Berlin auch konzertant vorgestellt. So ist es nur folgerichtig, dass sie für ihr neues Recital bei Erato Szenen aus dieser Tragedia lirica ausgewählt hat. Überraschend aber ist die Einbeziehung der beiden anderen Tudor-Königinnen des Komponisten aus Bergamo – Anna Bolena und Elisabetta (Roberto Devereux) -, denn beide hat die deutsche Sopranistin bislang noch nicht interpretiert. Mit diesem Porträt, betitelt Tudor Queens (0190295280932) und aufgenommen im Juli 2019 in Rom, stellt sie sich einer übermächtigen Konkurrenz mit legendären Vorgängerinnen, von Virginia Zeani und Leyla Gencer über Beverly Sills und Montserrat Caballé bis zu Edita Gruberova und Sondra Radvanovsky.

Für ihr Unternehmen hat sich die Sängerin der Unterstützung renommierter Partner versichert – des traditionsreichen Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia Rom und des Dirigenten Antonio Pappano. Sie sorgen für die nötige Energie und italienische Stimmung, befeuern die Solistin, sich dem Strom der Musik hinzugeben, auch das Risiko nicht zu scheuen, wenn es um Wahrhaftigkeit des Ausdrucks geht.

Das Programm folgt der chronologischen Ordnung der drei Werke und beginnt mit der 1830 uraufgeführten Anna Bolena. Deren ausgedehnte Schlussszene„Piangete vuoi/Al dolce guidami/Coppia iniqua“ weist noch an Rossini erinnernde Verzierungen auf, nimmt aber in der energischen Cabaletta schon den frühen Verdi vorweg. Der Coro dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia Rom (Einstudierung: Ciro Visco) leitet die Nummer mit „Chi può vederla“ atmosphärisch ein. Damraus Stimme ist ein lyrischer Koloratursopran, klingt anfangs sehr jugendlich, fast mädchenhaft, findet aber nach dem verinnerlichten „Al dolce guidami“ und dem elegischen „Cielo, a’ miei lunghi spasimi“ am Schluss bei „Coppia iniqua“ zu einem entschlossenen Aplomb, den man so von ihr bislang nicht kannte.

Im Mittelteil gibt es das Finale aus der 1835 uraufgeführten Maria Stuarda. Bei deren Gran Scena e Preghiera und der Aria del Supplizio – auch diese vom Coro mit dem düsteren „O truce apparato“ stimmungsvoll eingeleitet – spürt man die Erfahrungen der Sängerin auf der Bühne und im Konzert. Sie wartet mit zarten Tönen und subtilen Nuancen auf, lässt feinste piano-Gespinste hören, bringt aber vor allem neben der stimmlichen Faszination das Schicksal der Figur dem Hörer bezwingend nahe. In den wenigen Einwürfen des Leicester fällt der strahlende Tenor von Domenico Pellicola auf.

Die Elisabetta aus dem 1837 in Neapel uraufgeführten Roberto Devereux zum Abschluss stellt die größte Herausforderung für die Interpretin dar, denn die Scena ed Aria finale („Vivi, ingrato/Quel sangue versato“) verlangt stärksten dramatischen Aplomb und hohe stimmliche Agilität. Damrau überzeugt hier wieder mit totalem Einsatz und bedingungsloser Hingabe  – sowohl im kantablen „Vivi, ingrato“ als auch in der leidenschaftlichen Cabaletta. Und angesichts der Tatsache, dass sie die Partie noch nie live verkörpert hat, überrascht der lebendige Eindruck, den sie mit ihrer Interpretation hinterlässt. Die CD markiert einen deutlichen Schritt nach vorn in der Entwicklung der Sängerin. Bernd Hoppe

Mercadantes Oper „I briganti“ , 2

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Saverio Mercadante (1795-1870) ist wohl nur eingefleischten Opernkennern bekannt; denn seine zwischen den Jahren 1819 und 1856 entstandenen 57 Werke für das Musiktheater haben ihn alle nicht überlebt, wenn man von Wiederbelebungsversuchen von Il Giuramento, I due Figaro oder La Vestale ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts absieht.  Umso mehr überrascht das „Räuber-Projekt“, das sich das Theater für Niedersachsen (TfN) zur Eröffnung der Spielzeit nach dem Corona-Lockdown vorgenommen hat. Die Trilogie beginnt mit Mercadantes Fassung des Schiller-Dramas, am folgenden Tag gibt es das „Schauspiel-Original“, und nach einer Woche hat die Interpretation des Donlon Dance Collective Premiere, alles übrigens mit demselben recht düsteren Bühnenbild von Belén Montoliú. (…) In Deutschland wurden I briganti erst 2012 beim Rossini-Festival in Bad Wildbad wieder aufgeführt, sodass die Oper auch aus Anlass des 150. Todestags des Komponisten nun am TfN  zum zweiten Mal hierzulande zu erleben ist, Rezension der Aufführung von Gerhard Eckels (dazu auch zeitgleich der ausführliche Artikel von Michael Wittmannb in operalounge.de).

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(…) Das Bühnenbild besteht aus einem großen ineinander verschachtelten „Klettergerüst“, das in vier Teile auseinander und variabel aufgestellt werden kann, was meist auf offener Bühne durch in medizinische Schutzanzüge gekleidete Bühnentechniker geschieht (Aha, Corona-Gefahr!). Die abstrakten Bilder (also kein Schloss, kein Wald usw.) ermöglichen, die Beziehungen der handelnden Personen näher herauszuarbeiten, was dem Regisseur Manuel Schmitt auch gelingt. Dabei gibt es entgegen dem Text Corona-bedingt keine Umarmungen, kein Anfassen, sondern unnatürlich distanzierte Begegnungen, bei denen „spannende neue Ästhetiken“ entstehen, wie der Regisseur im Programmheft meint. Dazu soll wohl auch gehören, dass die Protagonisten oft sozusagen aus der Handlung heraustreten und sich nebeneinander an die Rampe stellen. Fast alle Handlungsträger tragen zeitlose, schwarze Kleidung, auch von Belén Montoliú entworfen; Ausnahme ist der in blau-gelb gekleidete, junge Schiller (Torben Kirchner), den der Regisseur durch fast alle Szenen wuseln lässt, indem er Texte (der Räuber?) schreibt oder das Geschehen staunend betrachtet. Die Räuberbande ist nicht zu sehen (nur aus dem Off zu hören), für sie treten in historischen Kostümen Figuren aus Schillers Dramen auf, wie beispielsweise die Jungfrau von Orleans, Maria Stuart, Luise aus „Kabale und Liebe“ oder Wilhelm Tell. Außerdem ist befremdlich, dass Ermano am Schluss weder sich noch Amelia, dafür aber Schiller ersticht. Man muss nicht alles verstehen!

Nun zur musikalischen Verwirklichung der Belcanto-Oper: Wegen der Abstandsvorschriften auch im Graben war es nötig, die Zahl der Orchestermitglieder von rund 45 auf etwa die Hälfte zu reduzieren. GMD Florian Ziemen hat selbst eine Fassung für ein kleineres Ensemble von 21 Musikern geschaffen; dadurch ist ein dem musikalischen Original erstaunlich nahe gekommenes Klangbild entstanden. Am Premierenabend sorgte die präzise, stets vorwärts drängende Leitung des GMD für einen trotz der kleineren Besetzung kompakten und zugleich differenzierten Klang, zu dem die zahlreichen, ausgezeichneten Instrumenten-Soli gekonnt beitrugen. Die Sängerbesetzung ist bei den hohen Anforderungen, die Mercadante an das stimmtechnische Vermögen der Protagonisten stellt, alles andere als leicht. Er hatte für dieselben vier Sänger geschrieben, die 1835 Bellinis Puritani aus der Taufe gehoben hatten, dabei der damals berühmte Tenor Giovanni Rubini, mit dem Mercadante befreundet war. Wie es der Mercadante-Spezialist Michael Wittmann ausgedrückt hat, „kannte Mercadante deren stimmliche Möglichkeiten ganz genau, und die Partitur erweckt den Anschein, als ob er seinen besonderen Ehrgeiz daran gesetzt hätte, den Sängern best- und schwerstmöglich in die Kehlen zu schreiben.“

Mercadantes Oper „I Briganti“ nach Bad Wildbad 2012 nun am TFN Hildesheim/ Szene/ Foto Marie Liebig

Daran die Leistungen am Premierenabend zu messen, wäre ungerecht, aber das Ensemble hatte beachtlich hohes Niveau. Da ist zunächst die britische Sopranistin Robyn Allegra Parton als Amelia zu nennen. Sie stellte glaubhaft die unter den widrigen Umständen leidende Frau dar; dass sie zu Corrados Arien im Gerüst herum klettern musste, ist ihr nicht anzulasten. Sie führte ihren tragfähigen Sopran gut abgerundet durch alle Lagen und gefiel durch klare Koloraturgeläufigkeit sowie sichere Höhen; besonders gelungen waren die schön ausgesungenen Lyrismen im 3.Akt. Ihr „Gegenspieler“ Corrado war bei dem US-Amerikaner Zachary Bruce Wilson gut aufgehoben; in seiner Darstellung war Corrado weniger schurkischer Bösewicht als heftig unter Amelias Ablehnung leidender Mann. Der Sänger verfügt über einen markanten Bariton, den er schön auf Linie führte, der in den nicht wenigen Koloraturen sicher war und der durchgehend mit starkem Ausdruck imponierte. Für den jungen Koreaner Yohan Kim war es nun alles andere als leicht, mit der technisch schwierigsten Partie der Oper fertig zu werden; er sang zu eindimensional, indem er bei durchgehender Lautstärke kaum differenzierte. Da die extremen Höhen meist gelangen, teilweise aber nur mit merkwürdiger Kopfstimme, muss man leider feststellen, dass er sich hörbar angestrengt durch seine Partie kämpfte.

Der in Hildesheim in vielen unterschiedlichen Bariton- und Bass-Partien bewährte Uwe Tobias Hieronimi gab den „alten Moor“, hier Massimiliano. Inzwischen weist seine Stimme so starkes Tremolo auf, dass sie einfach nicht belkantistisch klingt, wobei die Stimmführung sonst über jeden Zweifel erhaben ist. In den kleineren Partien ergänzten ohne Fehl Neele Kramer als Amelias Vertraute Teresa, der Südafrikaner Eddie Mofokeng als treuer, für Massimiliano sorgender Bertrando und Julian Rohde als Ermanos Freund Rollero.

Der Chor, meist aus dem Off singend, wenn man von einer Szene absieht, in der einige Choristinnen ebenfalls in medizinischer Schutzkleidung auftraten, entwickelte unter dem im Bühnenhintergrund wirkenden Chordirektor Achim Falkenhausen die in Hildesheim gewohnte ausgewogene Klangpracht.

Insgesamt hat das TfN in diesen schwierigen Zeiten eine tolle Leistung vollbracht, was Intendant Oliver Graf nach dem begeisterten Schlussapplaus dankend hervorhob (Premiere am 12. September 2020/ Fotos Marie Liebig). Gerhard Eckels

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Kein Kanon

 

Seltsamerweise erinnere ich mich noch relativ gut an Griffelkin, das Teufelchen im Teufels-Kindergarten und an seine Großmutter. Nicht vielen Opernbesuchern dürfte es ähnlich gehen. Ein wenig darf man sich wundern, unter den 100 Meisterwerken des 20. Jahrhunderts die 1955 zunächst von der NBC in einer Kurzfassung ausgestrahlte und im folgenden Jahr in Tanglewood szenisch aufgeführte Familienoper, die 1973 in Karlsruhe ihre deutsche Erstaufführung erlebte, eingereiht zu sehen. Selbst Lukas Foss dürfte Opernbesuchern nicht allzu vertraut sein.

Doch Bernd Feuchtner, der weitere Merkwürdigkeiten in sein ungemein profundes, dickes und schweres Werk über Die Oper des 20. Jahrhunderts in 100 Meisterwerken (Wolke Verlag,688 S., zahlr. farb. Abb., geb., 978-3-95593-250-3) aufgenommen hat, versteht es klug und kenntnisreich in das jeweilige Werk einzuführen, dass, egal überzeugt man von seiner Auswahl sein mag, eine dichte und informativ zu lesende Geschichte der Oper entsteht. Der 1922 als Lukas Fuchs geboren Foss „war wie Andreas Priwin ein Berliner Junge, bis man die beiden Wunderkinder mit ihren Familien als jüdisch klassifiziere und vertrieb. So werden sie als Lukas Foss und André Previn erfolgreiche amerikanische Komponisten und Dirigenten.“ Feuchtner entfaltet die nicht unspannende Karriere des Lukas Foss und verweist nebenbei auf die Geschichte der amerikanischen Fernsehoper, die mit Menottis Amahl and the Night Visitors einen ersten Höhepunkt erlebte, an den die Kinderoper Griffelkin anknüpfen sollte. Möglicherweise in Ermangelung von Alternativen steht Griffelkin für das Jahr 1955. Jedem Jahr des vergangenen Jahrhunderts ist ein Werk zugeordnet. Man stößt auf Raritäten und Bekanntes. Es gibt Lücken – nicht nur 1919, wo sich Die Frau ohne Schatten gut ausgenommen hätte. Manche Jahre sind dagegen doppelt und dreifach belegt. Strauss ist nur mit der Elektra vertreten, Puccini mit Madama Butterfly, Britten mit Peter Grimes, Henze mit We come to the river. Man stößt aber auf Brands Maschinist Hopkins (1929) – an anderer Stelle verweist Feuchtner auf John Dews wertvolle Bielefelder Arbeit, der wir diese Ausgrabung verdanken – zwei Jahre davor, also 1927, hätte Kreneks Jonny spielt auf gut reingepasst, dafür gibt es 1927 Schoecks Penthesilea und Korngolds Wunder der Heliane. Daniel Sternefelds Mater dolorosa (1935) überrascht ebenso wie Per Nørgǻrds Der göttliche Tivoli (1983 neben Messiaens Saint Francois) – bei der Auswahl spielt viel Selbsterlebtes und Gesehenes eine Rolle. Egal, ob man beim Aufschlagen Saties Sinfonisches Drama Socrate oder Lou Harrisson Puppenoper Young Caesar erwischt, Feuchtners 20. Jahrhundert erweist sich als formidables Lesebuch. Und immer wieder spricht der erfahrene Bühnenpraktiker, der bei seinen Ausführungen zu der 1970 in einer neu kompilierten Fassung der Peking-Oper vorgelegten Oper über das Dorf Schadjiabang meint, „Die Oper würde ich weder empfehlen noch aufführen wollen. Für nichtchinesische Opernhäuser wäre das auch kaum möglich, denn sie arbeitet mit chinesischen Instrumenten und dem Gesangs- und Instrumentalstil der Peking Oper.“ Es folgt eine instruktive Ausführung über die Peking-Oper. Breite und Internationalität und Stilvielfalt soll abgebildet werden. „Meine Auswahl war subjektiv und erhob nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Sie wollte kein Kanon sein, sondern folgte meinen eigenen Vorlieben“. Das 20. Jahrhundert beginnt für Feuchtner mit Pfitzners Die Rose vom Liebesgarten, am 9. November 1901 in Elberfeld uraufgeführt; der Palestrina von 1917 hat gegenüber Busonis Arlecchino das Nachsehen. Wie Feuchtner im Fall der Rose Kunst- und Musikgeschichte und gesellschaftliche Entwicklungen zusammenpackt, von Elberfeld nach Wien und zu der erfolgreichen Aufführung unter Mahler an der Hofoper steuert, von Klimts Beethovenfries auf Mahlers Reformbewegung kommt und geistes- und literaturgeschichtliches einstreut, beweist den klugen Dramaturgen, der es zudem versteht derart animierend zu erzählen, dass Die Rose vom Liebesgarten plötzlich ganz anders blüht als ich sie in Erinnerung hatte. Die Fotos sind häufig ein wenig grisselig, zur jeweiligen Aufführungsgeschichte hätte man ein paar Zeilen mehr erwartet – so heißt es lapidar über die Zürcher Aufführung, „Als die Rose vom Liebesgarten 1998 in Zürich aufgeführt wurde, meinte der Regisseur sich von dem Werk („ungesunde Mischung von Ideen und Vorurteilen“) wie dem Komponisten („Er ist nicht sonderlich überraschend, dass Pfitzners Tochter Selbstmord beging“) distanzieren zu müssen“. Franz Welser-Möst hatte dirigiert, David Pountney inszeniert und Francisco Araiza und Stephanie Friede die Hauptpartien gesungen, bleiben aber ungenannt. Außerhalb der 100 Operneinführungen gibt es vier Exkurse über den „Weg der Veristen in die Arme von Mussolini“, die „Politische Oper in den USA“, „Oper in Lateinamerika“ und „Berlin, Hauptstadt der DDR“.   Rolf Fath