Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Julian Bream

 

Viele meiner Generation werden sich an den britischen Gitarristen Julian Bream erinnern. Seine LPs auf RCA und anderen Firmen waren in vielen Studentenhaushalten zu finden. Seine unvergleichliche Spielart, sein breites Repertoire zwischen viel Barock aber auch modernem Jazz und (für damalige Verhältnisse gemäßigstem ) Pop machten ihn zu einer Kultfigur einer Zeit vor Joan Baez und Christopher Parkening. Ich erinnere mich gut an die Freude, seine Platten im Berliner British Center auszuleihen, wo ein schütteres altes Ehepaar mir die wunderbaren Aufnahmen empfahl und ich sie ausleihen konnte. Julian Bream war wirklich ein Meilenstein in meiner musikalischen Erfahrung. Nachstehend zwei Würdigungen dieses bedeutenden Musikers. G. H.

 

Der bedeutende Gitarrist und Lautenist Julian Bream ist am vergangenen am 21. 8. 2020  im Alter von 87 Jahren gestorben. Das Repertoire des Briten war enorm weit gespannt und reichte von lange vergessener Musik der Tudor-Zeit über das spanische Repertoire von Sor, Turina oder Albéniz bis zu zeitgenössischen Meisterwerken so bedeutender Komponisten wie Benjamin Britten, Hans Werner Henze und Tōru Takemitsu. Zahlreiche seiner Alben wurden mit Auszeichnungen, darunter dem Grammy, prämiert. „Die Klangschönheit, ruhige Klarheit, trennscharfe Artikulation und Noblesse von Breams Spiel mussten jeden fesseln“, hieß es über ihn in der Süddeutschen Zeitung/ Quelle/ Foto  Sony

 

Und das tapfere Wikipedia schreibt: Julian Bream (* 15. Juli 1933 in London; † 14. August 2020 in Wiltshire) wurde in Battersea/London geboren und wuchs in einer sehr musikalischen Familie auf. Sein Vater, Henry George Bream, spielte Jazzgitarre, und der junge Julian Bream war beeindruckt, als er Musik von Django Reinhardt hörte. Er wurde angeregt, Klavier, aber auch Gitarre zu lernen. Nachdem er eine von seinem Vater besorgte Aufnahme von Tárregas Recuerdos de la Alhambra, gespielt von Segovia, gehört hatte, beschloss er, nicht Cricket-Spieler, sondern Gitarrist zu werden. An seinem 11. Geburtstag erhielt Bream von seinem Vater eine Konzertgitarre geschenkt, deren Spiel er als Autodidakt erlernte. Er gewann mit 12 Jahren einen Juniorenwettbewerb auf dem Klavier, was ihm ermöglichte, Klavier und Cello an der Königlichen Hochschule für Musik zu studieren. Sein erstes Konzert mit der Gitarre gab er 13-jährig 1947 in Cheltenham. Schon als Teenager spielte er als klassischer Gitarrist Filmmusik.

Sein Debüt gab er 1951 in der Wigmore Hall in London. Nach dem Militärdienst, währenddessen er in einer Bigband E-Gitarre gespielt hatte, nahm er seine berufliche Karriere wieder auf und gab für einige Jahre Konzerte auf der ganzen Welt. Zum Programm gehörte eine jährliche Tournee durch die USA und durch Europa.

Bream gehörte zu den Musikern, die in der Neuzeit die Laute wieder populär machten. Mit dem Tenor Peter Pears gab Bream als Lautenist in den 1950er- und 60er-Jahren zahlreiche Liederabende mit Werken englischer Renaissance-Komponisten (John Dowland, Thomas Morley usw.); durch diese Zusammenarbeit und als Lautensolist hat Bream einem großen Publikum die Musik des 16. Jahrhunderts, der Elisabethanischen Zeit, nahegebracht. 1960 gründete er das Julian Bream Consort, in dem er Laute spielte, als eine der ersten Musikgruppen zur Aufführung alter Musik auf Originalinstrumenten. (Ein weiterer Lautenist des Julian Bream Consorts war ab 1975 James Tyler). 1963 musizierte er, live übertragen von der BBC, mit dem indischen Musiker Ali Akbar Khan und bereiste anschließend Indien. 1964 wurde er Officer of the British Empire.

Seine Themenabende waren sehr weitreichend. Er spielte Stücke aus dem 17. Jahrhundert, Werke von Johann Sebastian Bach, die für Gitarre arrangiert wurden, Werke des brasilianischen Komponisten Heitor Villa-Lobos, aber auch populäre spanische Stücke.

Viele Komponisten arbeiteten eng mit ihm zusammen und schrieben ihm Werke auf den Leib, darunter Malcolm Arnold, Benjamin Britten, Leo Brouwer, Peter Racine Fricker, Hans Werner Henze, Humphrey Searle, Tōru Takemitsu, Michael Tippett und William Walton. Ein Beispiel ist Brittens 1963 komponiertes Nocturnal after John Dowland, das John Dowlands Come Heavy Sleep weiterentwickelt, eines der bedeutendsten Stücke für klassische Gitarre. Der Komponist Benjamin Britten hatte bei seiner Arbeit an Nocturnal immer Bream im Hinterkopf. Ein weiteres herausragendes für Bream komponiertes Werk sind die Sonaten der Royal Winter Music von Hans Werner Henze. Breams auf die Gitarre übertragene Interpretationen der Klavierwerke Suite española von Isaac Albéniz und Danza No. 5 aus den Danzas españolas von Enrique Granados gelten als Meilensteine der Interpretationsgeschichte.

Im Londoner Verlag Faber Music gab er die Faber Guitar Series mit Notenausgaben für die Klassische Gitarre heraus. Durch seine zahlreichen Auftritte, Fernseh- und Radioübertragungen wurde Bream zu einer Leitfigur für klassische Gitarrenmusik im 20. Jahrhundert. 1967 veröffentlichte er sein Album 20th Century Guitar.

Für das Fernsehen produzierte Bream 1985 „Guitarra! – A musical Journey through Spain“. Diese Filmserie in acht Teilen über die gesamte Geschichte des Instrumentes wurde in mehreren Ländern gesendet und ist auch auf DVD erhältlich. In diesen Filmen spielt Bream außer der klassischen Gitarre auch Vihuela, Renaissance- und Barockgitarre.

#Eine ausführliche DVD erschien 2003 mit My Life In Music von Regisseur Paul Bahner, die drei Stunden Interviews und Konzerte enthält. Graham Wade bezeichnete sie als „den schönsten Filmbeitrag zur klassischen Gitarre überhaupt“. Sein letztes Konzert gab Julian Bream 2002 in Norwich.

 

Vor neuen Aufgaben

 

Noch kein halbes Jahrhundert Lebens- und naturgegeben noch viel weniger Schaffenszeit hinter sich gebracht und schon Memoiren geschrieben, dazu noch mit dem an Grabesstille gemahnenden Titel Der Klang der Stille!? Philippe Jordan, neuer Generalmusikdirektor der Wiener Staatsoper, zuvor u.a. der Pariser Oper und der Wiener Symphoniker, hat es getan und nicht nur sich selbst damit einen Meilenstein gesetzt, sondern dem Leser auch eine Fülle von Einsichten, Anregungen und eine immense Bereicherung an Wissen, an Möglichkeiten, Musik bewusster zu erleben, geboten.

Dabei ist von der Stille nur kurz am Anfang und danach erst wieder ganz am Schluss in einem recht kurzen , allerdings um so eindringlicher wirkendem Kapitel die Rede, spielt das Biographische eher eine untergeordnete Rolle, ist das ca. 250 Seiten umfassende, von Haide Tenner aufgezeichnete Buch in drei Teile gegliedert: einen chronologischen, relativ kurz die Biographie umfassenden, den umfangreichen zweiten, in Paris und Wien unterteilten, in dem auf die von Jordan aufgeführten Komponisten eingegangen wird, und einen abschließenden dritten, der thematisch gegliedert ist.

Im Vorwort wird bereits von ersten Begegnungen mit klassischer Musik berichtet, dann vom Musikunterricht, vom Eintauchen in eine andere Dimension, der Spannung zwischen der Stille im Publikum und dem Erklingen des ersten Tons der Musik. Schon hier wird deutlich, dass es dem Dirigenten um mehr geht als um seine Biographie und seine Karriereschritte, um die Vermittlung von spirituellen Erfahrungen, die erst durch Musik möglich werden.

Über Zauberflöte, Holländer, Rheingold und Parsifal vollzieht sich das Erleben von Musik, erleichtert dadurch, dass der Vater ein Dirigent ist, aber zugleich auch begrenzend insofern, als der Sohn es vermeiden wird, zu Lebzeiten des Vaters Werke aufzuführen, die er durch diesen  kennen gelernt hat. Andererseits führt der Vater ihn in das Korrepetitorendasein ein mit einem Rosenkavalier am Chatelet. Lernen wird er nicht durch ein Studium, sondern durch Praxiserfahrung, dazu gehören auch Galeerenjahre wie die Verdis, wenn Jordan mit 21 Jahren in Ulm auch als Orchester- und Sängerpsychologe gefragt ist.

Besonders interessant wird es für den Leser, wenn er immer wieder auf Ausführungen stößt, die erkennen lassen, wie unzufrieden der Dirigent, und da wird er nicht der einzige sein, mit Regieleistungen ist, wie er sieht, dass die Arbeit von Orchester und Sängern unter ihnen leiden kann, wie hässliche Kostüme mitentscheidend sein können über den Misserfolg einer Produktion, dass Regisseure überzeugende Exposés einreichen und doch ganz andere Ergebnisse abliefern können. Jordan scheut nicht davor zurück, das in seinem Buch anzuprangern, aber hat offensichtlich, so beweist es die unsägliche Damnation de Faust in Paris, nichts Wirkungsvolles dagegen tun können. Ähnlich ist es um Konflikte, die ungeeignete Sänger auslösen, bestellt.

An dem Buch erfreut nicht nur die sympathisch uneitle, sachliche Darstellung, sondern auch das Eingehen auf technische Fragen, die den Leser interessieren könnten, so die des Auf-den Schlag-Spielen und das Hinter-dem-Schlag-Spielen oder die Charakteristika, die die Besonderheit einzelner Orchester ausmachen, die wesentlich abhängig sein können von den Forderungen der Dirigenten, so Barenboims an die Staatskapelle oder Harnoncourts an die Zürcher. Junge Dirigenten sollten sich des Autors Ratschlag, mit mittleren Häusern und dazu Gastspielen zu beginnen, zu Herzen nehmen.

Den Galeerenjahren folgen die Aufbau- und diesen die Pionierjahre, und es wird deutlich gemacht, welche Bedeutung jeweils jede dieser Epochen für die Entwicklung einer Künstlerpersönlichkeit hat.

Die beiden großen Hauptteile des Buches sind Paris und damit vor allem der Opernmusik und Wien und damit vor allem der konzertanten Musk und ihren hervorragenden Komponisten gewidmet, es werden aber auch Fragen wie Repertoire oder Stagione, Gäste oder Ensemble, Akustikprobleme der jeweiligen Säle oder ihre Baugeschichte erörtert.

Man erfährt viel und freut sich oft, so wenn für Puccini, von manchen verachtet, eine erfolgreiche Lanze gebrochen wird, man wundert sich manchmal, so wenn König Heinrich und die Seinen als kriegslüstern angesehen werden, aber man kann von einem Schweizer nicht verlangen, dass er weiß, aus welchem Grund der deutsche König gegen die Ungarn zog. Man fühlt sich bereichert durch die Ausführungen über das Rubato bei Wagner und Verdi, den französischen und italienischen Carlos, über die Bemerkungen über den Zeitmonolog der Marschallin und vieles andere.

Werdenden Dirigenten ist das Buch ganz besonders zu empfehlen, denn es mangelt ihm nicht an praktischen Ratschlägen, so zu Salome oder Pelléas, und auch die Anmerkungen über den Gebrauch des Taktstocks oder den Verzicht auf denselben sind erhellend.

Über Wagners Antisemitismus lässt sich nicht streiten, wohl aber darüber, ob Kundry, Alberich oder Beckmesser als jüdische Figuren angelegt wurden. Aber auch das zeichnet ein gutes Buch aus, dass es dazu Anlässe bietet, vor allem, wenn es Anspruchvollstes so klar und nachvollziehbar vermittelt, und wer die Meistersinger liebt, wird sich darüber freuen, dass Jordan an Sachsens Ansprache nichts Anstößiges entdecken kann.

Mit den Wiener Symphonikern hat Jordan viel Schubert, Bach, Beethoven, Brahms, Mahler, später auch Bruckner erarbeitet und vermittelt dem Leser, worauf es ihm dabei ankam, so auch darauf, das Orchesterprofil zu schärfen, gemeinsam zu atmen.

Das Buch schießt mit einem Vorausblick auf die neue Wiener Zeit mit der Staatsoper, an der er 7 Monate verbringen, 30 bis 40 Vorstellungen dirigieren wird. Mozart soll ein Schwerpunkt sein, ein Mozartensemble aufgebaut werden, und das Publikum soll jünger werden.

Es folgen noch kurze, aber inhaltsreiche Kapitel zum Handwerk des Dirigierens, zur Frage, ob es um Realisation oder Interpretation von Werken geht, zur Frage, was eigentlich Erfolg ist. Natürlich fehlt auch nicht der Appell, die klassische Musik angesichts von Dauerberieselung und zugleich Verdrängung aus den Schulen stärker zu fördern, und zum Titel zurück geht es mit einem „Ich wünsche uns allen mehr Stille in dieser lauten Zeit!“  (250 Seiten, Residenz Verlag 2020; ISBN 978 3 70173463 4). Ingrid Wanja       

Joseph Martin Kraus: „Aeneas i Cartago“

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Zu den sprichwörtlich unvergesslichen Momenten meines Lebens gehört eine konzertante Aufführung von Aeneas in Carthage, Joseph Martin Kraus´ epische Oper in englisch in der New Yorker Town Hall 1980 mit Elisabeth Söderström als Dido unter der Leitung des Pioniers Newell Jenkins. Allein schon der Beginn mit der unglaublichen, gewaltigen Sturmmusik und dem Aufbegehren der Winde riss mich als junger Mann „vom Hocker“. Und seitdem klingt mir diese Oper im Kopf. Ein rabenschwarzer Versand aus den USA bescherte mir auf Spulenbändern die Mitschnitte aus Stockholm (dto. Jenkins 1979, vorher der 3. Akt. dto. Söderström unter Charles Farncombe) im originalen Schwedisch und gekürzt wie auch die New Yorker Aufführung.

2006 dann kam Stuttgart, szenisch und in passablem neuen Deutsch (Radio) wie ebenso 2011 in Berlin darauf halb-szenisch unter Lothar Zagrosek. Natürlich wiederholte sich der Initialeffekt nicht so ganz und für meine heutigen Ohren, denn die Oper hat auch Längen (und braucht natürlich die Bühne mit allen ihren damals möglichen Zauber-Effekten), aber allein diese irren Ballettmusiken und der erwähnte Prolog rissen immer noch mit. Zagrosek und seine Crews vermittelten in eigens eingerichteten Fassungen doch einen guten Eindruck von der Majestät des Werkes und der unglaublichen musikalischen Erfindung bzw. europäischen Verwandschaft dieses einzigartigen Werkes. Gluck, Piccinni, Sacchini, Salieri  und die napoleonische Truppe grüßen, Spontini, Beethoven und Berlioz sind zu ahnen, Johann Christian Bach ist mit seinen französischen Opern nicht weit, Mozart und sein Idomeneo auch – eine weit nach vorne schauende Oper des Übergangs, in der das Gegenwärtige der damaligen musikalischen Errungenschaften Europas  vereint ist..

Ehrenhalber mit erwähnt: der Dirigent und Musikwissenschaftler Newell Jenkins – einer der Pioniere für Joseph Martin Kraus und Steffani/Foto OBA

Einen Opernführer über Aeneas i Cartago und damit über den beinahe unbekannten Joseph Martin Kraus zu schreiben, ist dringend nötig. Joseph Martin Kraus war ein internationaler Komponist. Aus dem fränkischen Miltenberg am Main stammend (1756 dort geboren), wurde er bei dem als Initiator vieler stilistischer Entwicklungen wichtigen Abbé Vogler in Mannheim ausgebildet (der als Schüler so prominente Komponisten wie Weber oder Meyerbeer hatte und der mit seinem wichtigen schwedischen Werk Gustaf Adolf och Ebba Brahe in einem Opernführer bereits in operalounge.de vorgestellt wurde).

Als ausgebildeter Komponist sieht sich Kraus einer kaum vielversprechenden wirtschaftlichen Situation gegenüber, als er in Göttingen mit dem Schweden Carl Strindsberg zusammentrifft, der ihn überredet, nach Stockholm zu kommen. Aber auch dort hat es Kraus nicht leicht, denn die verstaubte Opernszene ist in fester Hand von anderen Komponisten wie Johann Gottlieb Naumann aus Dresden  von Johan David Zander, Francesco Uttini (dem bezeichnenderweise italienischen Hofkapellmeister), Johann Christian Haeffner u. a.

Drottningholm war der glanzvolle Mittelpunkt der Opernaufführungen für den kunstliebenden Monarchen Gustaf III., durch Verdis und Mercadantes Opern in die Musikgeschichte eingegangen. Gustaf als Herrscher auf einem von Parteien selbstbewussten Adels und reichen Bürgertums nicht unumstrittenen Thron, widmete sich wie Friedrich der Große mit Vorliebe den Künsten, schuf in Schweden ein Gegenstück zum Berliner oder Wiener oder Stuttgarter Hof mit ihrem Kulturzentren. Und so entsprach das neue Drottningholm auch Sanssouci, Schönbrunn oder Ludwigsburg (wollte es zumindest sein). Gustaf war an einer nationalen Kulturszene Schwedens interessiert. Dass er sie mit Zugereisten verwirklichen wollte, entspricht der Tradition des Landes, das ja noch später, zu Zeiten Napoleons, sogar einen französischstämmigen (und bürgerlichen) König erhielt und das stets ein Vielvölkerstaat aufgrund seiner Annektionsgeschichte war. Von einer eigenständigen Musikkultur in Schweden zu sprechen, ist deshalb problematisch.

Joseph Martin Kraus: Ballettmusiken aus der Oper „Aeneas i Cartago“ unter Patrick Gallois  bei Naxos mit einem Cover, das eine Illustration zur Szene widergibt

Kraus jedenfalls tat sich schwer, die Konkurrenz war groß, die Aufträge blieben aus, und er schlug sich mit Auftragskompositionen durch, schrieb heimwehkranke und seine finanzielle und geistige Misere beschreibende Briefe nach Hause, die im Kraus-Museum in Miltenberg liegen. Dann plötzlich, 1779, ändert sich seine Lage, als er Mitglied der Stockholmer Königlichen Musikakademie wird. Mit Hilfe von einflussreichen Freunden, etwa dem Direktor des Königlichen Theaters, Karl von Fersen, gelingt Kraus mit seiner Proserpine auf das Libretto von Kellgren, einem erfahrenen Textdichter, 1781 der Durchbruch, als das Werk in Anwesenheit des Königs aufgeführt wird.

Es gefällt, und von nun an protegiert ihn Gustaf, überreicht ihm die stolze Summe von 500 Reichstalern. Kraus kommt zu Ehrenämtern, wird vom König sogar auf eine musikalische Erkundigungsreise durch Europa geschickt, trifft auf Haydn, Albrechtsberger und den von ihm über die Maßen verehrten Gluck (dessen Orfeo in Stockholm mehr Aufführungen erzielte als in Wien oder Paris). Von seinen Reisen bringt Kraus Informationen über Musikleben und Kultur im Ausland mit, was in seinen musikalischen Stil einfließt. Er wird 1787 Königlicher Musikdirektor. Gustaf und er planen eine große Oper, Aeneas i Carthago, die aber nicht mehr zur Aufführung kommt, denn am 29. März 1792 wird der König von einem Rebell auf einem Maskenball im Schloss erschossen. Kraus komponiert unter dem Eindruck dieses, auch persönlichen Verlustes seine bewegende Trauerkantate auf Gustaf III. und stirbt im Laufe desselben Jahres im gleichen Alter wie Mozart. Erst vier Jahre später kommt Aeneas i Carthago – eine Oper epischen Ausmaßes und ohne Zweifel Kraus‘ Hauptwerk – auf die Stockholmer Bühne.

Der folgende Artikel über die Gustavianische Oper und im besonderen Aeneas i Cartago des eminenten Kraus-Forschers Bertil H. van Boer macht uns mit dem einzigartigen Kultur-Erziehungs-Projekt des schwedischen Königs Gustav III und dieser ebenfalls einzigartigen Monumental-Oper von Joseph Martin Kraus bekannt, die nach ihrem run an der schwedischen Königlichen Hof-Oper 1799 pp. erst wieder im 20 Jahrhundert vorgestellt worden ist – eigentlich auch eine Blamage für die schwedische Kulturszene. Die Musik und die dramaturgisch-musikalische Anlage ist nicht  nur für die Zeit um die französische Revolution herum einzigartig und bemerkenswert. G. H.

Joseph Martin Kraus:  van Boers Studie zu Joseph Martin Kraus bei Indiana University Press (5. September 2014)

Bertil H. van Boer: Ein Gustavianisches Gesamkunstwerk. Die gustavianische Oper wurde in Folge der Bemühungen des aufgeklärten Monarchen eines nördlichen Landes an der Peripherie Kontinentaleuropas, Gustav III. von Schweden, mit dem Ziel geschaffen, ein kulturelles Zentrum zu errichten, das teilweise die neuesten Trends der zentraler  gelegenen europäischen Hauptstädte nachahmte und teils diese unterschiedlichen Strömungen zusammenmischte, um ein bestimmtes kulturelles Umfeld zu synthetisieren, das mit  eben diesen Zentren konkurrieren konnte. Im Mittelpunkt dieser Bemühungen stand Gustavs persönliche Philosophie, eine etwas egozentrische Ideologie, die Schwedens Position als europäische Macht wiederbeleben wollte, welche es während der Stormaktstiden (Großmachtzeit) des vorigen Jahrhunderts innehatte, sowie seine eigene Stellung als absoluter Monarch à la Ludwig XIV. zu festigen, wodurch er der bestimmende Faktor in allen politischen oder kulturellen Belangen wurde. In letzterem versuchte er ein Milieu zu fördern, das die Einheit der Künste betonte und zur Schaffung einer schwedischen Nationaloper führte; trotz der kontinentalen Modelle, auf denen es aufgebaut war, sollte es gleichwohl zu einem tragfähigen nationalen Forum mit einem eigenen Stil und Zweck werden. Um dies zu erreichen, versammelte der König eine Riege namhafter Künstler um sich, von denen jeder ermutigt wurde, das Bestmögliche beizutragen, um neue und revolutionäre kreative Werke hervorzubringen: Der Theoretiker Abbé Michelessi aus dem engen Kreise des Grafen Algarotti sollte Gustavs Berater in allen Bereichen des dramatischen und musikalischen Theaters werden; daneben ausländische Künstler wie der Bühnenbildner Jean Desprez, der Ballettinnovator Anton Bournonville und die Komponisten Joseph Martin Kraus, Johann Gottlieb Naumann, Abbé Georg Joseph Vogler und Johann Christian Friedrich Haeffner aus Deutschland sowie Francesco Antonio Baldassare Uttini, Glucks Nachfolger als Direktor der Mingotti-Theatergruppe, aus Italien. Sie alle wurden ermutigt, nach Norden auszuwandern. Die Librettisten, Schriftsteller, Dichter, Maler und Bildhauer waren jedoch hauptsächlich Schweden, von denen viele unter der direkten Aufsicht des Königs selbst arbeiteten. In der Tat kann gezeigt werden, dass Gustav III. die eigentliche Quelle für viele der Opern und Dramen dieser Zeit war, ein Amateurautor, der zahlreiche Umrisse und Skizzen von Geschichten anfertigte und sich auf etablierte Dichter wie Kellgren stützte, um sie in bearbeitbare Kunstwerke zu verwandeln. Das vielleicht erfolgreichste dieser literarischen Angebote war die Gattung der Opernlibretti, welche die Grundlage für die nationale gustavianische Oper bildeten.

Joseph Martin Kraus: Gustav III. von Schweden Lorenz Pasch (1733 – 1805)/ Wikipedia

Das Phänomen der gustavianischen Oper ist schwer genau zu definieren. Die ersten dieser Opern, an denen Gustav selbst nur am Rande beteiligt war, waren hauptsächlich einfache, populäre Werke; Adaptionen verschiedener Operás-Comiques und Singspiele à la Hiller such as Tillfalle gjor tjufven (Zufall macht den Dieb) und Nu ar hin Ids (das berühmte Der Teufel ist los), die in in zweitrangigen Theatern wie dem Bollhus von Männern wie Carl Stenborg und Carl Envallsson auf die Bühne gebracht wurden. Die zweiten dieser Opern umfassten nationale Dramen wie Gustav Vasa von Naumann, Gustaf Adolf och Ebba Brahe von Vogler sowie kürzere, „nordischere“ Werke wie Olof Ahlstroms Frigga. Die dritten dieser Opern, mit den tiefsten Wurzeln in den großen französischen Dramen von Racine, Marmontel und Quinault kann man in Thetis och Pelee von Uttini, Electra von Haeffner und in den beiden gustavianischen Opern von Kraus, Proserpin und Aeneas i Cartago (auch bekannt als Dido och Aeneas), erblicken. Dieses letzte Werk ist gleichsam die Verkörperung des Gesamtgeistes der gustavianischen Oper; ein komplexes Stück von außergewöhnlicher Länge, das die koordinierten Bemühungen von Librettist, Komponist, Bühnenbildner und Ballettmeister in einem einzigen monumentalen Meisterwerk vereint.

Die Geschichte des Aeneas begann im Sommer 1781. Nach drei Jahren verzweifelter Armut und vergeblichem Kampfes, sich in den schwedischen Musikkreisen zu etablieren, gelang es dem deutschen Auswanderer Joseph Martin Kraus, durch eine private Aufführung seiner Oper Proserpin vor Gustav III. den Posten des stellvertretenden Direktors zu gewinnen. Gleichzeitig stand das neue Opernhaus, das als das beste in Europa konzipiert wurde, kurz vor der Fertigstellung und Kraus erhielt den Auftrag, Aeneas als diejenige Oper zu komponieren, mit der das neue Theater eröffnet werden sollte. Die beabsichtigte Premiere musste jedoch abgesagt werden. Die neue Oper wurde planmäßig mit einem hastig angesetzten Werk von Naumann, Cora och Alonzo, eröffnet, das anstelle von Kraus‘ Werk gespielt wurde.

Joseph Martin Kraus: „Aeneas i Cartago“/ Bühnenentwurf von Louis Jean Deprez/Wikipedia

Erst 1799, etwa sieben Jahre nach dem Tode des Komponisten, fand schließlich die Uraufführung des Aeneas tatsächlich statt. Aufgrund der enormen Länge der Oper – ungekürzt fast sechseinhalb Stunden – wurde der Dirigent Johann Christian Friedrich Haeffner beauftragt, das Werk auf überschaubare dreieinhalb Stunden zu kürzen. Die originalen Bühnenbilder von Desprez wurden verwendet, und all jene der ursprünglich beabsichtigten Sänger, so sie noch lebten und aktiv waren, sangen ihre ihnen zugedachten Rollen: Frau Müller sang Dido, Carl Stenborg den Aeneas, Herr Karsten den Jarbas, Mlle. Stading die Venus und Frau Haeffner die Juno. Berichte über diese erste Aufführung zeigten jedoch, dass Aeneas kein Erfolg war; das Werk war zu komplex, die Striche zu schädlich und die Musik zu schwierig für den populären Geschmack. Obwohl die Oper in den nächsten zwei Jahren insgesamt sieben Mal aufgeführt wurde und jede aufeinanderfolgende Aufführung mehr öffentliche Anerkennung fand, rechtfertigten die Produktionskosten es nicht, die Oper im Repertoire zu belassen. Fredrik Silverstolpe übersetzte das Libretto später ins Französische; in dieser Form wurde es 1805 in St. Petersburg unter Sigismund Neukomm in Konzertfassung aufgeführt. In jüngerer Zeit (1979) wurde in Stockholm und New York unter der Leitung von Newell Jenkins eine gekürzte Version wiederbelebt (1971 nur der dritte Akt und 1997 ebenfalls konzertant in Stockholm mit Elisabeth Söderström und Johnny Blanc, 1980 in englischer Sprache mit Elisabeth Söderström konzertant in New York; zwei deutschsprachige Aufführungen fanden in Stuttgart 2007 szenisch sowie in Berlin 2011 halbszenisch unter Lothar Zagrosek statt/ G. H.).

Nach Kraus‘ Tod im Jahre 1792 kehrte der Librettist Kellgren als Vorwegnahme der Veröffentlichung seiner eigenen vollständigen literarischen Werke erneut zum Aeneas zurück. Diese überarbeitete Fassung bildete die Grundlage für Haeffners Kürzungen und beinhaltete unter anderem eine vollständige Änderung des ursprünglichen Finales.

Joseph Martin Kraus: „Aeneas in Karthago“ Staatsoper Stuttgart 2006/ Martina Serafin als Dido/ Foto Schaefer

Um die monumentalen Proportionen des Werkes zu verstehen, muss die Oper zunächst perspektivisch betrachtet werden. Vorweg ist anzumerken, dass Aeneas über einen Zeitraum von fast einem Jahrzehnt konzipiert wurde. Kraus, ein begeisterter Bewunderer von Gluck und eine Nebenfigur des literarischen Sturm und Drang, bezog nicht nur Stilmerkmale dieser beiden Bewegungen ein, sondern auch die vielen Musikstile, denen er während seiner großen Europatournee 1782-1786 begegnet war. Aeneas muss also als zusammengesetzte Oper gesehen werden; eine Synthese, die mit keiner einzelnen Opernform jener Zeit zu vergleichen ist. Zweitens wurde die Arbeit als Mittel konzipiert, um die Stockholmer Öffentlichkeit mit den Bühnenmaschinen und Bühnenmöglichkeiten des neuen Opernhauses vertraut zu machen. Daher wurde absichtlich jede Art von Szenenwechsel und Spezialeffekt eingebaut; von heftigen Stürmen auf See bis hin zu Erdbeben, von magischen Grotten bis hin zu idyllischen Tempelszenen, von opulenten Palästen bis hin zu massigen Schlachten vor den Stadtmauern. Selbst nachdem die ursprüngliche Absicht der Oper keine Rolle mehr spielte, wurde keiner dieser Effekte aus dem Libretto herausgeschnitten, was die Schwierigkeiten bei der Inszenierung des Werkes noch verschärfte.

Joseph Martin Kraus: „Aeneas i Cartago“ – der Tenor Johnny Blanc sang den ersten Aeneas im 20. Jahrhundert, er war die Standardbesetzung jener Jahre in Stockholm, hier als Nerone/ Wiki

Die Musik spiegelt diese zahlreichen Szenen- und Stimmungsänderungen in der Vielzahl der in der Partitur enthaltenen Stile wider. Als Komponist ist Kraus sowohl einfallsreich als auch innovativ in der Kombination von Techniken und Stilen aus dem übrigen Europa mit seinem eigenen höchst originellen musikalischen Genie: Man begegnet den heftigen Tonverschiebungen und der Tonmalerei des Sturm und Drang, dem majestätischen französischen Chor, dem italienisch-wienerischen Stil von Haydn oder Mozart und der dramatischen Intensität von Gluck. Tatsächlich scheint der einzige fehlende Stil der des beliebten Singspiels zu sein. In gewisser Weise verleiht diese Verschmelzung der Arbeit ein zukunftsweisendes Gefühl und führt zu vielen fortschrittlichen Stilmerkmalen. Ein Beispiel dafür ist der Prolog, in dem die trojanischen Schiffe von Aeolus‘ Stürmen getroffen werden. Der Doppelchor wechselt kontinuierlich von den angeschlagenen Seeleuten zu den wilden Winden, während das Orchester (mit Piccoli, Holzbläsern, Blechbläsern und Streichern, einschließlich geteilter Bratschen, Violoncelli und Bässe) Tonfarben und Motive verwendet, die zuerst in der Ouvertüre zu hören waren. Es wird ein Hintergrund gemalt für diese gigantische Schlacht.

Zu Joseph Martin Kraus: Elisabeth Söderström war dreimal die Dido in den ersten Aufführungen der Oper „Aeneas in Carthago“ in moderner Zeit/ Foto Alchetron, das nützliche Portal für Information

Der größte Teil der Musik in der Partitur ist jedoch intimer konzipiert. Kraus vermeidet die langen konventionellen italienischen Opernarien mit ihrer umfangreichen Koloratur und Stimmdarstellung und ersetzt sie in den meisten Fällen durch einfache, emotionsgeladene, durchkomponierte Arien und Ensembles. Im Gegensatz zu den meisten Opern dieser Zeit verwendet Kraus ausschließlich begleitende Rezitative. Die Qualität variiert jedoch erheblich, von einfachen Saitenakkord-Interpunktionen à la Hasse bis hin zu komplizierten Accompagnati, bei denen die Unterscheidung zwischen Rezitativ, Arioso und Arie den Anforderungen der dramatischen Handlung untergeordnet ist. Nirgendwo wird dies deutlicher gezeigt als im vierten Akt, wo Aeneas versucht, den emotional labilen Pido von seiner eigenen inneren Qual zwischen Liebe und Pflicht zu überzeugen.

eine Kritik folgt, weil der Verla

Joseph Martin Kraus: „Aeneas i Cartago“ – das Buch von Jens Dufner ist eines der wenigen deutschsprachigen Standardwerke zu dieser Oper/ Peter Lang AG 2015/ ISBN-13: 978-3631647196/ 2015;, eine Kritik folgt – der Verlag sah sich lange Zeit ausserstande, ein Presseexemplar bereitzustellen …

In vielen Szenen wird das Rezitativ im Aeneas zu einem integralen Rahmen für die gesamte Szene, einer Grundlage, auf der ein kunstvolles Gebäude aufgebaut ist. Die formale Struktur und Unterscheidung zwischen Dialog und Lied ist für die Schaffung eines musikalischen Abbildes der laufenden Ereignisse von untergeordneter Bedeutung. Diese Auflösung formaler Parameter ist am auffälligsten im Finale des fünften Aktes, wo Dido, als sie Zeugin der trojanischen Flotte unter Segeln wird, sich vor einem schockierten Publikum von Karthagern das Leben nimmt. Dieses Rezitativ erweitert die Definition von Rezitativ mit seiner integralen Begleitung von Streichern und Bläsern bis an die Grenzen. In der Tat ist der Übergang in die Arie so reibungslos, dass er praktisch unbemerkt bleibt, wenn sich die Musik dem unvermeidlichen Höhepunkt von Didos Selbstmord nähert, wobei letzterer musikalisch durch eine „unheimlichen Dissonanz“ dargestellt wird, die eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem Akkord zu Beginn des Finales von Beethovens neunter Sinfonie aufweist. Dieses überraschend fortschrittliche und emotionale Finale mit seinem romantischen Tonfall und Gefühl ist weit entfernt vom konventionelleren Finalchor oder dem lieto fine. Es ist ein adäquater Zenit in einer Oper mit vielen musikalischen Höhepunkten.

Es gibt jedoch ein Problem. Eine der größten musikwissenschaftlichen Fragen zum Aeneas ist, ob Kraus seine Oper tatsächlich fertiggestellt hat. Obwohl die Seiten, die ursprünglich Kraus‘ Finale enthielten, aus der Partitur herausgetrennt wurden, zeigen andere Revisionen von Haeffner im fünften Akt, dass Kraus‘ Nachfolger, weit davon entfernt, der unbeholfene Mann fürs Grobe zu sein, nur wenige tatsächliche Änderungen vorgenommen und die Musik mit großer Sensibilität behandelt hat.

Der Autor: Bertil H. van Boer/ Discogs/ Wikipedia hat weitere biographische Informationen über den renommierten Forscher und Musikwissenschatler.

Es kann jedoch gezeigt werden, dass die Oper ein Werk von monumentalen Ausmaßen ist; ein Bühnenstück, das sowohl die bestmögliche Zusammenarbeit von Komponist, Librettist, Bühnenbildner usw. verkörpert als auch die Philosophie hinter der gustavianischen Oper symbolisiert. Es ist ein Gesamtkunstwerk, wenn auch nicht im wagnerischen Sinne, wo ein Einzelner für jeden Aspekt verantwortlich ist. Der Begriff definiert vielmehr eine Arbeit, die als enge Zusammenarbeit vieler Künstler konzipiert wurde, welche für alle Teile der Produktion verantwortlich sind: Text, Musik, Tanz, Bühnenbild und Rollenbesetzung. Wenn Aeneas unter diesen Aspekten zu betrachten ist, erscheint es notwendig, eine ungeschnittene Fassung in voller Länge zu produzieren. Mit dieser Rekonstruktion ist die Möglichkeit einer Wiederbelebung dieser Essenz der gustavianischen Oper realisierbar geworden. Bertil H. van Boer/ Übersetzung Daniel Hauser

Den Artikel des eminenten Musikwissenschaftlers Bertil H. van Boer übernahmen wir in unserer eigenen Übersetzung aus dem Englischen und mit großem Dank an den Autor aus den „Publikationen der Kgl. Schwedischen Musikakademie N. 45, 1984“ aus Anlass des Symposiums zu „Kraus und das Gustavianische Stockholm“, das im selben Jahr in eben Stockholm in Zusammenarbeit mit der Dresdner Semperoper stattfand. Proserpin von Kraus wurde im Schlosstheater von Drottningholm aufgeführt; im alten Opernhaus gab es Gustaf Wasa von Naumann konmzertant, wonach bei Virgin/EMI auch eine CD-Aufnahme erschien. Zu einer avisierten Aufführung von Kraus´Aeneas i Cartago kam bis es bedauerlicherweise bis heute nicht, wenngleich Naxos daran sehr interessiert war und die meisten musikalischen Dokumente von Kraus im Katalog hat, darunter auch die Ballettmusiken aus der Oper. Ein weiterer Artikel beschäftigt sich mit den Naxos-Aufnahmen zu Kraus. G. H.

Wir danke im Besonderen Bertil van Boer (dem langjährigen Forscher und Champion für die Gustavianische Oper) für seine spontane Liebenswürdigkeit und Großzügigkeit, aber auch dem deutschen Fachmann für Kraus, Jens Dufner. Weiter halfen bei der Vorbereitung Klaus Pietschmann, Frederik Wetterquist (Präsident der Kgl. Musikakademie), Kar-Erik Norrman und viele mehr. Danke an alle. Abbildung oben: „Aeneas bei Dido“ von Guerrin/ Louvre/ Wikipedia. G. H.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Erstmals auf CD und toll dirigiert

 

Mehrere Jahrzehnte Rossini-Renaissance haben den Bewunderern des Komponisten aus Pesaro derart viele Neuentdeckungen und CD-Premieren beschert, dass man kaum glauben kann, dass ein Label noch ein gewichtiges Werk aufstöbern kann, das nie aufgenommen wurde. Das ist aber der kleinen, aber feinen Firma Concerto Classics aus Italien tatsächlich gelungen. Die hier eingespielte, über 45 Minuten lange Kantate La riconoscenza („Die Dankbarkeit“) ist zwar ab 1973 mehrmals aufgeführt worden (zuletzt in Pesaro 2019), aber eine Plattenproduktion folgte dem Live-Erlebnis nie. Sie erscheint jetzt in einer Studio-Aufnahme aus Lugano, wo sie schon 2002 zur Aufführung gekommen war.

Rossini schuf die Kantate unter besonderen Umständen. Er bekam um 1820 den Auftrag für eine Kantate, um die Hochzeit des Sohnes von Maria Luisa, der kurzfristigen Königin von Etrurien (1801-1803) von Napoleons Gnaden und nunmehrigen Herzogin von Lucca, musikalisch auszuschmücken. Zwar kam der vielbeschäftigte Rossini nicht dazu, aber er schrieb eine Kantate anlässlich des Besuchs der Herzogin in Neapel im Jahr 1821. Ironie des Schicksals: bei der Uraufführung im privaten Rahmen war Maria Luisa nicht zugegen (sie hörte sie erst 1822). Der Öffentlichkeit wurde die Kantate am 27. Dezember 1821 vorgestellt, kurz bevor Rossini Neapel in Richtung Wien verließ. Das nicht ganz taufrische Abschiedsgeschenk kam gut an, und Rossini verwendete Teile der Komposition für andere Anlässe (aus dem darauf gründenden Vero omaggio von 1822 findet sich eine Cavatina für Sopran auf der CD). Der Komponist war bekanntlich nicht zimperlich, was die Libretti angeht, weil er sich das wie alle Kollegen im damaligen Wahnsinnsbetrieb, der Opernwelt, gar nicht leisten konnte. Für die Riconoscenza hatte er besonderes Pech. Der Verfasser des Textes war Don Giulio Genoino (1773-1856), ein Geistlicher (bis 1848) und Vielschreiber, der die damalige literarische Welt mit Gedichten, Theaterstücken, Libretti (neben der Kantate für Rossini kennt die Fachwelt noch die Farsa La lettera anonima für Donizetti im Jahr 1822) und Schriften bunten Inhalts überschwemmte. Ein neapolitanisches Schlitzohr war er auch: er bekleidete die gut dotierte Stelle eines Bibliothekars im Innenministerium des Königreichs Neapel, aber man munkelte, dass die Bibliothek gar nicht existierte. Im Vorwort seiner Opere liriche („Gedichte“, Bd. 2, Neapel 1825) spricht Genoino davon, dass seine poetische Ader zeitweise „so fruchtlos und stumpf war, dass kein Mittel war, eine Idee zusammen zu basteln“.

Das muss die Gemütslage gewesen sein, in der er sich befand, als er den Text der Cantata pastorale für Rossini schrieb. Man reibt sich die Augen: Genoino lässt Hirten mit gräzisierenden Namen im bukolischen Ambiente auftreten, um wortreich die Lobeshymne der Widmungsträgerin Maria Luisa anzustimmen. Der peinliche, auch sprachlich banale Text könnte von einem Metastasio-Nachahmer um 1780 stammen. Vierzig Jahre später ist der leere Wortschwall aus der Zeit gefallen. Das hinderte Rossini nicht daran, eine brillante, vergnügliche Partitur zu schreiben, die höchste vokale Ansprüche an die Interpreten stellt.

Dementsprechend braucht man dafür nicht nur stilsichere, sondern auch sehr virtuose Stimmen. Das Ensemble, das hier im Rahmen des von Markus Poschner auf mehrere CD angelegten Rossini Project zu hören ist, bemüht sich redlich, den Schwierigkeiten gerecht zu werden. Das gilt vor allem für die Tenor-Partie. Es ist die einzige Rolle, die Rossini für den berühmten Giovanni Battista Rubini (1795-1854) schrieb, den tenoralen Helden der romantischen Generation, der mit der Uraufführung der Puritani 1835 Operngeschichte schrieb. Rubini hatte mehrere Stücke Rossinis im Repertoire, aber es kam nie zu einer engen Zusammenarbeit, auch wenn die beiden noch bis in die 1850er Jahre Briefe austauschten (vgl. Reto Müllers Besprechung der Edition von Rubinis Korrespondenz in: La Gazzetta 29, 2019, S. 113-121). Um Rubinis Technik glänzen zu lassen, schrieb Rossini einige fiese, stratosphärisch hohe Passagen in die Kantate (Arie „Gratitudine, cara ai celesti“). Edgardo Rocha kommt hier rasch an seine Grenzen, zieht sich allerdings insgesamt ehrenvoll aus der Affäre. Der wendige, aber teilweise schneidige Sopran von Michela Antonucci ringt mehr oder weniger erfolgreich mit der Partie der Argene, während Laura Polverellis tremulierende Mezzo-Stimme das Ende einer würdigen Karriere ankündigt. Mirco Palazzi hat kaum etwas zu singen. Das wirkliche Ereignis ist indes Poschners Leietung. Man kann heutzutage wenige Dirigenten nennen, die das deutsche und das italienische Repertoire des 19. Jahrhunderts mit derartiger Souveränität und unfehlbarem Geschmack interpretieren können. Poschner hat Preise für seinen Brahms und seinen Strauss erhalten und sich auch schon als Beethoven-Dirigent hervorgetan (u.a. mit einer denkwürdigen Serie der Symphonien und Klavierkonzerte mit Francesco Piemontesi in Lugano). Man wird von einem solchen Künstler nicht unbedingt erwarten, dass er sich mit vergleichbarer Begeisterung dem gerade nördlich der Alpen immer noch unterschätzten Rossini widmet. Poschner tut das. Nicht nur die schmissig dirigierte, im Detail schön herausgearbeitete Kantate, sondern vor allem das Eröffnungsstück auf der CD lässt aufhorchen. Die Sinfonia (Ouvertüre mit Chor) von Ermione hat man selten mit solcher Wucht dargeboten gehört, und man darf hoffen, dass der Dirigent in Zukunft den Rossini serio erkunden wird. In der Zwischenzeit kann sich jeder Rossini-Liebhaber diese in ihrer Gesamtheit gelungenen und schön aufgemachten CD con riconoscenza zu Gemüte führen. Michele C. Ferrari

 

The Rossini Project, vol. 2: From Naples to Europe. La riconoscenza, Cantata pastorale; Ermione, Elisabetta, ‚Sinfonie; Ausschnitte aus Il vero omaggio und der Cantata a quattro voci con cori (1823): Michela Antonucci (Sopran), Laura Polverelli (Mezzosopran), Edgardo Rocha (Tenor), Mirco Palazzi (Bass), Coro della Radiotelevisione svizzera, Orchestra della Svizzera italiana, Markus Poschner, CD Concerto Classics 2118 (www.concertoclassics.it)

Absoluter Gewinn

 

Kurz bevor das Berufsbild des Postkutschers dem technischen Fortschritt weichen musste, erwies ihm Adolphe Adam 1836 seine Referenz mit einer komischen Oper, die sechzig Jahre lang bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, als schon längst die ersten Luxuszüge Europa durchquerte, über die Bretter der Opéra Comique ging. Knapp 600-mal. Dann stellte Le Postillon de Lonjumeau seinen Pariser Betrieb ein. In Deutschland erfreute sich der Postillon von Lonjumeau, seit er ein Jahr nach der Uraufführung an der Berliner Hofoper gegeben wurde, besonderer und langer Beliebtheit, die, wie im Fall von Aubers Fra Diavolo und im gewissem Sinn auch Boieldieus La dame blanche, zwei Weltkriege überdauerte. Kaum zu glauben, dass sich die Opéra Comique in Zusammenarbeit mit der Opéra de Rouen erst 2019 auf eines der Schlüsselwerke ihres Repertoires besann. 120 Jahre nach seiner letzten Aufführung bekam der Postillon eine zweite Chance. Dafür hatten der Schauspieler und Regisseur Michel Fau, sein Ausstatter Emmanuel Charles und der seit Aufgabe seines Modeimperiums immer häufiger als Kostümbildner tätige Christian Lacroix an nichts gespart, und sich Fau zusätzlich die Sprechrolle der Kammerzofe Rose gekrallt. Der König selbst, Louis XV., enttäuscht über die Absage von „Castor und Pollux“, gibt sich in einem kurzen Prolog die Ehre und beauftragt seinen Intendanten „Cherchez les voix“, was doppelt Sinn macht, da die die Autoren die Handlung in die Zeit seiner Regentschaft verlegten und Louis XV. der Opéra Comique den Status einer royalen Truppe verlieh und zu dem Stück Land verhalf, auf dem sich die heutige Salle Favart befindet. Man wird das Gefühl nicht los, dass die opulente Aufführung (DVD Naxos 2.110662) mögliche Zweifel an der Tauglichkeit des Werkes durch überbordende Dekors und Kostüme, ziselierte Korsagen und Bordüren, aufgetürmte Rokokoperücken und zeichenstarke Maquillage zu zerschlagen versucht. Dabei hat der Postillon übereifrige Nachsicht nicht nötig. Es handelt sich um perfektes Stück musikalischen Unterhaltungstheater, in dem die Rädchen einer Geschichte um den zum Tenorstar der Opéra aufgestiegenen Postillon Chapelou originell ineinandergreifen und die auf drei Akte verteilten 13 Nummern neben charmierenden Arien und Ensembles, wie die an Rossini erinnernde Bassarie von Chapelous ebenfalls Opernsänger gewordenen Freunds Biju alias Alcindor und das Angst-Terzett „Pendu! pendu!“, vor allem mit dem Tenorschlager „Mes amis, écoutez l’ histoire“ auftrumpft, eine Art Remake von Fra Diavolos berühmter Romanze; beide Werke wurde von Monsieur Chollet kreiert.

Während eines Halts in Lonjumeau entdeckt der königliche Intendant Marquis de Corcy den Postillon mit dem sicheren hohen D und verspricht ihm eine Karriere in Paris. Chapelou verlässt seine ihm soeben angetraute Gattin Madeleine. Zehn Jahre später: Chapelou ist zum Tenorstar Saint-Phar avanciert, Madeleine wurde dank des Erbes ihrer Tante zur reichen Madame Latour. Chapelou erkennt Madeleine nicht, verliebt sich neuerlich in sie und lässt sich sogar zu einer Heirat mit ihr breitschlagen – statt einer Scheinehe wird die Trauung tatsächlich vollzogen. Chapelou, der sich der Bigamie schuldig fühlt, steht größte Ängste aus, bis Madeleine die zweimalige Heirat aufklärt und der Chor nochmals die Weise vom schönen Postillon anstimmt.

Fau hat die schmale Bühne der Opéra Comique in die Auslage einer Patisserie mit rosa und blau beleuchteten Gateaux verwandelt, in der sich der Postillon Chapelou und die Wirtin Madeleine anlässlich ihrer Hochzeit zu Beginn auf einer gigantischen Torte feiern lassen. Das ist allerliebst, pittoresk, und wenn sich Michael Spyres im adretten Postillions-Kostüme adrett dreht und wendet und kokett dessen selbstverliebtes „Il etait beau“ ausstellt, wirkt er, nicht mehr jung, was die aufdringliche Schminke unterstreicht, nicht ganz schlank, ganz so wie Chollet beschrieben wurde, der zwanzig Jahre nach der Uraufführung bei seiner Rückkehr nach Paris neuerlich den Chapelou verkörperte: Formidable Diktion, gezierte Gestik, Eleganz und Stilgefühl im geschmeidig kolorierten (fast schon zu heroischen) Gesang, ein süßes Timbre und eine geschmeidige, nie auftrumpfende Höhe. Ein Gesamtkunstwerk. Die niedliche Kutsche, die himmelwärts stürmenden Pferde, die feinst dekorierten Chöre, ein Bilderbuch ist nichts dagegen. Klar, das ist ein vordergründiges Ausstattungstheater, dessen Feinschliff in den gedrechselten Bewegungen liegt, die aus älteren Molière-Aufführungen der Comédie Française zu stammen scheinen, viele Rampen-Aktionen und ausgedehnte Sprechszenen. Doch was soll‘s. Mit seiner musikalischen Delikatesse und dem reichen Kulissenzauber ist dieser Mitschnitt ein absoluter Gewinn.

Übertroffen werden diese Bilder durch das Fortuny-Rokoko, das sich Emmanuel Charles ausgedacht hat, wo die mit einem Perückenturm belastete Madeleine, jetzt Madame de Latour, in ihrem Salon der Liebe zu Chapelou hinterher trauert. Die etwas spitz herbe Florie Valiquette gewinnt in ihrer Arie dem leichten Sopran einige dramatische Akzente ab, während Michel Fau als Rose, wie die Herrin ein Traum in Pink, prätenziöse Sentenzen beisteuert. Franck Leguérnel ist als Marquis de Corcy, wie stets, von darstellerischer Präsenz, während sein Bariton kaum noch nennenswerte Substanz besitzt. Eine weitere Steigerung und oftmals groteske Überzeichnung erfährt das Dekorationstheater durch das „Theater auf dem Theater“ im zweiten Teil des zweiten Aktes, auf dessen übertriebene barocke Pracht jede historisierend Händel-Aufführung neidig sein könnte, und in der Saint-Phar, ausstaffiert wie einst die teuersten Kastraten, mit seiner kleinen Romance „Assis au pied d’un hétre“ und dem goldenen Kostümgefieder glänzt. Der Belgier Laurent Kubla erweist sich mit robustem Bassbariton in Alcindors witziger Zéphire-Arie über die Chorsänger der Oper („Qui, des choristes du théatre“) als fescher Nebenrollensänger. Im dritten Akt, wo man des Ausstattungsplunders langsam überdrüssig wird und – leider – auch der von Spyres grell ausgestoßenen Höhen in Saint-Phars Grand Air „A la noblese, je m’aille“ kommt als Stütze für das erwähnte Trio noch der unauffällige Bass Julien Clément als Bourdon dazu. Sébastien Rouland und das Orchestre der Opéra de Rouen und der dortige accentus Chor musizieren mit wohltuender Selbstverständlichkeit und lyrischer Feinheit. Das ist französische Oper in Idealbesetzung. Rolf Fath

 

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Leon Fleisher

 

Im Alter von 92 Jahren ist der große US-amerikanische Pianist Leon Fleisher gestorben (Juli 23, 1928 – August 2, 2020) . Seit seinem Schallplattendebüt 1956 glänzte der ehemalige Schüler von Artur Schnabel mit warmen, konturierten Ton bei so unterschiedlichen Komponisten wie Schubert, Liszt, Debussy, Ravel, Rachmaninow oder Copland. Seine Konzerteinspielungen von Beethoven und Brahms – kongenial begleitet vom Cleveland Orchestra unter George Szell – zählen bis heute zu legendären und besten Aufnahmen der Tonträgergeschichte, den „lebendigsten und bewegendsten“ (New York Times) überhaupt. Aufgrund einer Nervenerkrankung konnte Fleisher ab Mitte der Sechziger Jahre seinen rechten Arm nicht mehr benutzen und konzentrierte sich, neben dem Unterrichten, auf Musik für die linke Hand. In den späten Neunziger Jahren gab er wieder Konzerte – dank medizinischer Botoxbehandlung auch mit Werken für beide Hände. (Foto und Quelle: Sony Classical)

 

Dazu auch ein Auszug aus dem vielzitierten Wikipedia: Leon Fleisher begann mit dem Klavierspiel im Alter von vier Jahren. Mit acht hatte er seinen ersten öffentlichen Auftritt. Bereits als Jugendlicher trat er mit den New Yorker Philharmonikern auf. Artur Schnabel nahm ihn in seinen kleinen Schülerkreis auf und beeinflusste seine Spielweise stark.

Bekannt ist Fleisher für seine Aufnahmen in Zusammenarbeit mit George Szell und dem Cleveland Orchestra aus den 1950er und frühen sechziger Jahren. Sie waren das Resultat einer Vertragsvereinbarung mit der Firma „Columbia Masterworks“. Darunter sind die Aufnahmen der Klavierkonzerte von Beethoven und Brahms, daneben des Klavierkonzertes Nr. 25 von Mozart sowie der Klavierkonzerte von Grieg und Schumann, der Symphonischen Variationen von César Franck und von Rachmaninows Rhapsodie über ein Thema von Paganini.

In den 1960er Jahren verlor Fleisher aufgrund einer Erkrankung, die schließlich als fokale Dystonie diagnostiziert wurde, den Gebrauch der rechten Hand weitgehend. Daher verlagerte er den Schwerpunkt seiner musikalischen Tätigkeit auf die Lehre, insbesondere am Peabody Institute der Johns Hopkins University.[2] Außerdem nahm er noch verschiedene Werke aus dem Repertoire für die linke Hand auf. Er trat wegen seiner Einschränkung über dreißig Jahre ausschließlich als linkshändiger Konzertpianist auf. Ab 1998 ermöglichte es ihm die regelmäßige Injektion von Botulinumtoxin (Botox), mit der rechten Hand wieder nahezu ohne Einschränkungen zu spielen.

1992 wurde Fleisher in die American Academy of Arts and Sciences gewählt. 2007 wurde er mit dem Kennedy-Preis ausgezeichnet.

Zuletzt war Fleisher, trotz seines hohen Alters, als Dirigent und Lehrer an mehreren musikalischen Hochschulen tätig. Unter anderem wirkte er am Tanglewood Music Center. Zu seinen Schülern gehörten Jonathan Biss, Yefim Bronfman, Naida Cole, Enrico Elisi, Elena Fischer-Dieskau, Enrique Graf, Hélène Grimaud, Margarita Höhenrieder, Hao Huang, Kevin Kenner, Louis Lortie, Jura Margulis, Stephen Prutsman, Wonny Song, André Watts, Jack Winerock, Moritz Winkelmann, Daniel Wnukowski, Orit Wolf und Einav Yarden.

Im November 2010 erschien Fleishers Autobiografie unter dem Titel My Nine Lives, verfasst gemeinsam mit Anne Midgette, einer Musikkritikerin der Washington Post. (Wikipedia)

Eldar Aliev

 

Nicht einmal 50Jahre alt geworden ist der aserbaidschanische Bass Eldar Aliev (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Tänzer und Choreographen), der von den Nachbarn, die sich regelmäßig um ihn gekümmert hatten, am 4. August 2020 in Mailand tot in seinem Wohnwagen aufgefunden wurde. Nur kurze Zeit hatte er sich des relativen Komforts erfreuen dürfen, hatte zuvor jahrelang auf Parkbänken geschlafen, mal als Clochard in er Via Carnovali, später der Via Mariani gelebt, war wohlgelitten von den Anwohnern, nicht zuletzt wegen seiner Bescheidenheit, die ihn Almosen von mehr als zwei Euro ablehnen ließ, auf einen Geldschein gab er stets das den Münzwert überschreitende Geld heraus.

Ein Geheimnis blieb bis zuletzt, warum die glanzvolle Karriere, die ihn die anspruchvollsten Rollen des italienischen und russischen Repertoires singen ließ, so abrupt beendet wurde, der Umschwung von der Scala auf die Straße sich urplötzlich und ohne nachvollziehbaren Grund vollzog.

In seinem Geburtsort Baku hatte Aliev seine Ausbildung zunächst als Pianist, dann als Sänger erhalten. Sein Lehrer war Anatoli Gussev.  1992 kam er im Alter von 21 Jahren nach Italien, gewann ein Stipendium für das Studium an der renommierten Musikakademie von Osimo in den Marken. Auch den Amici del Loggione del Teatro alla Scala war sein Talent aufgefallen, und sie verhalfen ihm zu einem Preis, der Gesangsunterricht bei keinem Geringeren als Carlo Bergonzi bedeutete. Mit der ersten bedeutenden Rolle verbunden war der Gewinn des „Concorso Toti dal Monte“ 1994 in Treviso, für viele Sänger, da stets mit einem vielbeachteten Auftritt verbunden, das Sprungbrett in eine Karriere. Elda Aliev sang den Don Giovanni unter Peter Maag, ein Jahr später in Rom nach seinem Debut bedeutende Partien wie Banquo, Sparafucile, Timur oder Colline. Auch Triest wurde zu einer seiner bevorzugten Bühnen, hier sang er unter anderem Oroveso und  Filippo. Nach Pesaro wurde er für den Leuthold in Guglielmo Tell gerufen, unter Vladimir Jurowski sang er hier auch den Pharao in Moise et Pharaon. Davon gibt es eine CD, außerdem von Donizettis Parisiana d’Este.

Auch außerhalb Italiens war er gefragt, sang beim Festival von Wexford in Siberia von Giordano. Unter den Linden in Berlin konnte man ihn als Don Giovanni erleben. Die Bühnen der ganzen Welt standen ihm offen, ehe er vor 15 Jahren, so titelte eine italienische Zeitschrift, „dal Teatro alla Scala alla miseria“ wechselte.

Seine Mailänder Freunde haben die aserbaidschanische Botschaft kontaktiert, die dafür sorgen will, dass der Sänger in seiner Heimat würdig bestattet wird (Foto youtube). Ingrid Wanja   

Saint-Saëns: „Le Timbre d’argent“

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Das sei keine Oper, das sei Alptraum, meinte selbst ihr Autor. An keinem seiner Werke hatte Camille Saint-Saens so lange herumgedoktert wie an seiner ersten Oper Le Timbre d‘argent, mit der er sich, längst als Organist und Pianist ein anerkannter Virtuose, den Durchbruch erhoffte. Und dieser war nur auf der Bühne zu erreichen. Das silberne Glöckchen, ein Gegenstand, wie man ihn einst in großbürgerlichen Haushalten oder an Hotelreceptionen zum Herbeirufen des Personals benutzte, ist eine Totenglocke, die, wäre ihm nicht der Erfolg der im gleichen Jahr uraufgeführten Oper Samson et Dalila hilfreich zur Seite gesprungen, durchaus auch das Ende des Opernkomponisten Saint-Saëns hätte einläuten können. Nachdem Le timbre d’argent eine einigermaßen erfolgreiche Uraufführung und immerhin 18 Aufführungen erlebt hatte, der sich Produktionen in Brüssel, Elberfeld, Köln, Berlin, Monte-Carlo und 1914 abermals in Brüssel anschlossen, folgte das endgültige Aus für das Silberglöckchen. Mehr als hundert Jahre später versuchte jetzt die nach 18monatiger Sanierungen wiedereröffnete Opéra-Comique im Verbund mit dem koproduzierenden Palazzetto Bru Zane, der die Opern-Ausgrabung in sein fünftes „Festival Palazzetto Bru Zane à Paris“ 2017 einbettete, dem Stück Leben einzuhauchen. Die gut gemeinte Reaktion der Premierenbesucher kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Saint-Saëns’ „Alptraum“ vermutlich für immer verstummen würde, wenn Palazzetto Bruno Zane, wie auch von den anderen Opern des Festivals, nicht eine CD (BZ 1041, 2 CD mit vielen zweisprachigen Aufsätzen und dto. Libretto, alles nur englisch-französisch, wogegen sich der deutschsprachige Fan wieder einmal wehrt, sind denn die drei deutschsprachigen Länder Europa der größte Kaüferblock…) folgen ließe. Und hört sich das nun prickelnder an?

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Saint-Saëns‘ „Le Timbre d’argent“ an der Pariser Opéra-Comique/ Szene/ Foto Pierre Grosbois

Es ist ein großer Stoff. Halb Faust, halb Pygmalion. Ein Ringen des Teufels mit dem Künstler. Gold und Verführung, Tod und Leid, Sinnenlust und kleines Glück. Alles in einem, ein Kunstgewebe aus deutscher Romantik, dunklem Teufelspiel, Theaterglanz, Phantasmagorien und Künstlertragödie, und der Begeisterung der Franzosen für dunkle, alptraumhafte Szenarien, wie sie auch durch Edgar Allen Poe nach Frankreich gelangten und nicht nur bei Maupassant auf literarische Resonanz stießen. Der Maler Conrad liegt am Weihnachtsabend elend danieder. Er wird vom Freund Bénédict, seiner Geliebten Hélène und dem Arzt Spiridion umsorgt, den er beschuldigt, ihn nicht zu heilen. Haltlos verliebt er sich in die Tänzerin Fiammetta, die lebendig geworden Circé seines Gemäldes, die ihn in vielerlei Gestalt umwirbt und der er immer wieder erliegt. Ebenso wie den teuflischen Verführungen Spiridions, der ihn lockt, das Silberglöckchen zu läuten, um Wohlstand, Gold und Glück im Spiel und in der Liebe zu finden. Bei jedem Läuten stirbt ein Mensch. Was soll’s, meint Spiridion. Als der Vater von Hélène und ihrer Schwester Rosa stirbt, dann auch der gute Bénédict, sträubt sich Conrad, will den teuflischen Gegenstand beseitigen. Spiridion greift zu immer stärkeren Mitteln der Verführung, bis Conrad endlich nach Hélène ruft, wie Tannhäuser nach Elisabeth, „Chère Hélène, c’est toi, toi seule que j’ adore“. Er wirft die verdammte Glocke von sich. Zurück an den Anfang: Alles nur ein Alptraum. Conrad ist geheilt. Der Chor macht alles gut, „Dieu clément jette un regard paternel! Alléluia!“. Der accentusChor serviert diese Bitte um Vergebung wirkungsvoll aus dem Auditorium, wie mehrfach an diesem Abend. Die Chöre, harmonisch raffiniert gebaut, gehören zu den zentralen Momenten der Oper. Ein reiner Opernchor hätte ihnen vielleicht mehr theatralischen Zunder gegeben, gleichwohl singen die accentus-Sänger gerade und klangreich. La damnation de Faust, Les contes d’ Hoffmann, Faust sie alle umgeistern diese Oper, die keinen eigenen Ton findet.

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Es scheint, als ob man Saint-Saëns bewusst ins Messer laufen ließ. Zweimal hatte man ihm den Prix de Rom verwehrt. Einmal war er zu jung, einmal zu alt. Auber soll sich für Saint-Saens eingesetzt haben, so dass ihm Léon Carvalho, Direktor des Théatre-Lyrique, 1864 einen Stoff von Jules Barbier und Michel Carré anbot, den wohlweislich bereits drei andere abgelehnt hatten, darunter Gounod. Saint-Saëns griff natürlich zu. Die Umgestaltung der ursprünglichen Opéra comique in eine Opéra und abermalige Rückführung in eine Opéra comique usw. hing mit den in Aussicht gestellten Uraufführungsorten zusammen. Das Unternehmen platzte. Dann kam der Krieg von 1870. Als die Oper schließlich am 23. Februar 1877 herauskam, waren dreizehn Jahre seit den Anfängen verstrichen. Saint-Saëns war kein Anfänger mehr, sondern ein gestandener Mann von 42 Jahren. Selbstkritisch genug, nahm er bis zu letzten Brüsseler Produktion von 1914, deren Version jetzt an der Opéra-Comique gespielt wurde, über ein halbes Jahrhundert Modifizierungen vor. Das dürfte einzigartig sein. Saint-Saëns wollte alles richtigmachen, packte alles in das Stück hinein. Das ist souverän, meisterhaftes Handwerk, orchestral von ausladender Kunstfertigkeit, etwa die ausgedehnte Ouvertüre, die mit ihren ländlerisch derben und walzend eleganten Anklängen – das Stück spielt in und um Wien – nachvollziehen lässt, weshalb die Zeitgenossen sich auch an Weber erinnert fühlten.

Francois-Xavier Roth und das Orchester Les Siècles spielen den langen Vorspann, dessen Reiz sich auch erschöpft, mit einer magistralen Hingabe, die sie auch während des zwei-einhalb-stündigen Abends im Juni 2017 (aufgenommen wurde am 26 und 27. ) nicht verlässt. Doch nun muss man schon wie Aschenputtels Tauben anfangen, das Gute herauszupicken, die auffallenden Nummern hervorheben. Das sind einige, das keusche Lied des Bénédict „Demande à l’oiseau“, das ebenso schlichte sinnfällige Hochzeitsduett mit Rosa, das rührende, fast einfältige Lied der Hélène „Le bonheur est chose légère“, die elegisch leidenschaftlichen Gesänge des Conrad, deren Anlage und Tessitur genau zwischen Faust und Hoffmann ausgependelt ist, vor allem aber zwei Szenen des Spiridion, die vergessen machen, dass er Bösewicht auch viel Ödes zu singen hat, das coupletgewitzte springlebendige „De Naples à Florence, et de Parme à Vérone“ (klingt das nicht schon nach „We open in Venice“ in Porters Kiss me Kate!) und seine Ballade „Sur le sable brille“. Wenn man anfängt aufzuzählen, zeigt dies auch, wie dürftig die Oper musikdramatisch zusammengeleimt ist, wie es ihr an vokaler Dringlichkeit, an Feuer und Leidenschaft fehlt. Man sehnt sich nach Faust und Hoffmann. Dabei ist eigentlich alles drin, schillernde Orte, eine kräftige Handlung, Figuren, die nach Musik rufen – Fiammetta freilich ist wie in Aubers La muette de Portice eine Tänzerin. Und doch springt der Funke nicht über. Man ist durchgehend interessiert, aber auch gelangweilt.

Saint-Saëns‘ „Le Timbre d’argent“ an der Pariser Opéra-Comique/ Szene/ Foto Pierre Grosbois

Und die vokale Seite?  Anfangs will der graue, schlierige und erschöpfte Gesang von Edgaras Montvidas gar nicht gefallen. Nicht der Einheitston, nicht die gespreizten und angestrengten Höhen und dramatischen Bemühungen; und das Französisch finde ich auch nicht impeccable. Doch die Stimme des litauischen Tenors hat ein Gesicht, als Conrad überzeugt er durch Persönlichkeit. Alles was man sich von einem leichten französischen Tenor an flüssiger Tongebung und Süße der Phrasierung erwartet, kann Yu Shao als Bénédict aufbieten, der zusammen mit der koloratursauberen Edelsoubrette Jodie Davos als Rosa ein bezauberndes Paar abgibt; als Hélène hat die stimmlich etwas steif gewordene Hélène Guilmette fast das Nachsehen. Tassis Christoyannis, wie Montvidas eine Säule der Bru Zane-Produktionen, hat als Spiridion, ein bisschen Mephistophélès, ein bisschen Les contes d‘Hoffmann-Bösewicht, eigentlich eine Paraderolle, die er mit Nonchalance ausfüllt, doch fast auch wie nebenbei. Aber für den Opernfan, namentlich den am französischen Repertoire interessierten, ist es doch gut, diese Aufnahme gehört zu haben – wiederum einmal mehr chapeau für den tüchtigen Palazetto Bru Zane. Rolf Fath

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Hommage an einen Vergessenen

 

Friedhöfe sind – namentlich an heißen Sommertagen – nicht nur für die Erholung unter alten Bäumen in würdiger Ruhe ein Gerwinn (selbst wenn mir da nicht alle zustimmen  werden…). Auch für die Bildung vermitteln sie überraschende Aha-Effekte. Wie unser Daniel Hauser nachstehend schreibt: Wer kennt den Komponisten Woldemar Bargiel, dessen Grab auf dem Friedhof an der Berliner Bergmannstrasse (nähe Südstern, dem Haupteingang)  zu finden ist? Wie manche seiner Kollegen nicht nur auf diesem Friedhof liegt Bargiel versteckt und vergessen.

Woldemar Bargiels Grabstein auf dem Berliner Friedhof an der Bergmannstrasse/ Wiki

Da ragen in Berlin nur Mendelssohns am Mehringdamm und wenige andere heraus (so Leon Jessel auf dem Friedhof an der Berliner Strasse in Berlin-Wilmersdorf), die kennt man wenigstens. Von Leo Blechs Grab bewahrte die Witwe des Literaturwissenschaftlers Wapnewski wenigsten den Stein, der nun diskret neben dem von Peter Wapnewski auf dem Friedhof am Olympiastadion seine Heimstatt behalten hat, nachdem er aus der Reihe der Berliner „Ehrengräber“ getilgt (!!!) wurde. Woldemar Bargiel war uns einen Artikel wert. Und seine Musik stößt bei Daniel Hauser auf Begeisterung. Die Firmen Toccata und Sterling (auch cpo und einige andere Labels) haben seiner, wie manchem anderen Vergessenen, gedacht. Wir auch. G. H.

 

 

Wer kennt heute noch Woldemar Bargiel? Selbst klassik-affinen Zeitgenossen dürfte dieser exotisch klingende Name wenig sagen. Dass Bargiel, immerhin der Halbbruder von Clara und somit der Schwager von Robert Schumann, im 19. Jahrhundert als einer der bedeutendsten akademischen Komponisten aus Deutschland betrachtet wurde, ist genauso Expertenwissen wie die Tatsache, dass zu seinen Schülern u. a. auch der Komponist und Dirigent Leo Blech sowie der spätere langjährige Präsident der Reichsmusikkammer Peter Raabe gehörten. 1828 in Berlin als Sohn eines Gesangs- und Klavierlehrers sowie einer Pianistin und Sängerin geboren, war im das musikalische Gen gleichsam in die Wiege gelegt worden. Er arbeitete als Musiklehrer in seiner Heimatstadt, unterrichtete ab 1859 am Konservatorium in Köln und übernahm 1864 die Musikschule der Tonkunst in Rotterdam, wo er auch seine spätere Frau Hermine Tours kennenlernte. Erst 1874 kehrte er schließlich abermals nach Berlin zurück und folgte einem Ruf zum Professor für Komposition. Diese Tätigkeit übte er in den 23 Jahren bis zu seinem Tode 1897 aus und galt als einer der wichtigsten Kompositionslehrer seiner Zeit.

 

Woldemar Bargiel 1885/ Wiki

Lange hatte die Musikwelt Werke Bargiels vergessen. Erst im letzten Jahrzehnt kam etwas Bewegung in die Sache. cpo legte zwischenzeitlich seine vier Streichquartette sowie das Streichoktett vor, und beinahe zeitgleich brachten Toccata (TOCC 0277) und Sterling (CDS 1105-2) die wichtigsten seiner Orchesterwerke auf den Markt. Dies sind die viersätzige Sinfonie in C-Dur op. 30 (1864), die Ouvertüren zu Prometheus op. 16 (1852; rev. 1854 u. 1859), zu einem von Shakespeares Romeo und Julia inspirierten Trauerspiel op. 18 (1856) sowie zu Medea op. 22 (um 1861) und ferner das Intermezzo für Orchester op. 46 (1880), womit ein knapp 30-jähriger Rahmen abgedeckt ist. Zeitlich lässt sich das Gros der Stücke tatsächlich in die Lücke zwischen Schumanns überarbeiteter vierter Sinfonie (1851) und Brahms‘ erster Sinfonie (1876) einordnen, eine Zeit, in welcher weniger die klassische Sinfonik als vielmehr die sinfonische Dichtung á la Liszt tonangebend war. Bargiel war gewiss kein Neuerer und bewegte sich innerhalb der bis dahin üblichen Formen, insgesamt klassizistischer ausgerichtet als sein Schwager Schumann und mit deutlicheren Anklängen an Mendelssohn und insbesondere Beethoven. Gleichwohl gelang ihm zwischen all diesen Titanen eine eigene Tonsprache, eingewoben in eine handwerklich tadellose Orchestrierung. Die Melodie steht bei Bargiel, hierin nicht unähnlich Beethoven, weniger im Mittelpunkt als ihre thematische Verarbeitung. Während die Sinfonie womöglich den spannendsten Beitrag zur deutschen Sinfonik in den 1860er Jahren darstellt, sind die genannten Ouvertüren (von denen vor allem Medea herausragt) im Grunde genommen und trotz anders lautender Bezeichnung Tondichtungen im Liszt’schen Geiste.

Dass Bargiels Musik durchaus hörenswert und auch aufführungswürdig ist, belegen die genannten Produktionen durchaus. Es ist freilich ein Wermutstropfen, dass sowohl die CD von Toccata (die 2014 als Vol. 1 einer kompletten Einspielung sämtlicher Orchesterwerke Bargiels angekündigt wurde, der bis dato allerdings nichts nachfolgte) als auch jene von Sterling interpretatorisch und klanglich ihre Schwächen haben. Weder das Sibirische Sinfonieorchester unter Dmitry Vasilyev (Toccata) noch das mexikanische Orquesta Sinfónica de San Luis Potosí unter José Miramontes Zapata (Sterling) können auf ganzer Linie überzeugen; in letzterem Falle werden die orchestralen Defizite noch deutlicher. Findet sich denn kein deutsches Symphonieorchester? Genauso problematisch ist allerdings die in beiden Fällen nicht ideale Tontechnik. Während die Toccata-Ausgabe klanglich zwar bassstark, aber teils zu verschwommen und wenig detailreich daherkommt (Aufnahme: Philharmonie, Omsk, Juni/Juli 2014), klingt die Sterling-Einspielung (Aufnahme: Teatro de la Paz, San Luis Potosí, Juni 2014) dünn und schrill und weist im stereophonen Klangbild mittig eine seltsame Leere auf, die fast an die Stereo-Frühzeit erinnert. Hier wurde an der falschen Stelle gespart. Trotz dieser ärgerlichen Einschränkungen liefern die Interpretationen ein Plädoyer für eine ausgedehntere Pflege des Œuvre dieses Komponisten, wobei der Toccata-Einspielung trotz der genannten Makel der Vorzug gegeben werden muss. Mit einem Spitzenorchester in klangtechnisch ausgereifterer Präsentation wäre hier gewiss noch deutlicher Spielraum nach oben. Die Textbeilagen sind durchaus brauchbar. Daniel Hauser

Lieder aus Argentinien, Russland und Frankreich

 

Welch wunderliche Beinamen es gibt. Den „Schubert der Pampas“ nannte man den argentinischen Komponisten Carlos Guastavino (1912-2000). Vor allem wohl wegen seiner mehr als 150 Lieder, die einen Großteil seiner 500 Kompositionen bilden. Anders als sein 16 Jahre jüngerer Landsmann Ginastera zeigte sich der in seiner Geburtsstadt Santa Fe de la Vera Cruz und Buenos Aires ausgebildete Guastavino unbeeindruckt von der Moderne, pflegte auch in den Kammermusikwerken und den sinfonischen Stücken einen luziden, lokal gefärbten, folkloristisch romantischen Stil, so dass seine Lieder, die Einfluss auf die Popularmusik hatten, wie eine andere Seite der populären Tangos wirken. Es war deshalb recht geschickt von der italienischen Sopranistin Letizia Calandra und ihrem kubanischen Pianisten Marcos Madrigal ihre im März 2018 in Lugano entstandenen Auswahl von Liedern Guastavinos in einen Sepiaklang wie bei den Gardel-Aufnahmen der 1940er Jahre zu hüllen (Brillant Classics 95798), was dem Unternehmen eine gefällige nostalgische Klangkulisse gibt. Guastavino vertonte bedeutende lateinamerikanische Poeten, darunter Neruda, Borges, Alberti und Benaros, dazu gehören die das Programm eröffnenden 12 Lieder nach Leon Benaros Flores Argentinas (1969), die einen unmittelbaren morbiden Reiz besitzen, sehr melodiös und sanft verführerisch sind, wobei Calandra mit Farben und Vokalen spielt und mit einem modernen Recitarcandando-Stil sehr eindringlich gestaltet und Madrigal seinen klingend klöpfelnden, perkussiven Part mit Verve und  Eleganz versieht. Ein früherer Zyklus, die sieben Lieder “Sobre poesias de Rafal Alberti“, stammt aus dem Jahr 1946, ein Jahr bevor Guastavino mit einem Stipendium für zwei Jahre nach London ging. Ansonsten scheint er sein Leben in Argentinien verbracht zu haben, wo er mit seinen argentinischen Themen in Ballett- und Orchestermusik, zu einer Größe wurde und sich seine Musik eine Unberührtheit bewahrte. Es fehlen auch nicht das von Calandra mit Leidenschaf gesungene „La rosa y el sauce“, die bekannte „Elegia para un gorrion“ und sein, so sagt man, berühmtestes Lied „Se equivocó la paloma“, die unbedingt als Volkslieder durchgehen können (Brilliant 95798). Eine Entdeckung.

 

Kein Unbekannter ist Nikolai Medtner (1880-1951), der deutsche und skandinavische Verfahren hatte, nach der Oktoberrevolution nach Deutschland emigrierte, in Berlin und Paris lebte und sich nach ausgedehnten Konzertreisen, die er als Pianist unternahm, 1935 in England niederließ, wo er als Pianist und Komponist seine treueste Anhängerschaft fand. Anfangs als Avantgardist betrachtet, kultivierte Medtner über die Jahrzehnte einen gleichbleibend klassisch-romantischen Stil, der sich auch in den mehr als hundert Liedern zeigt, viele darunter, entsprechend der im Elternhaus gepflegten deutschen Kultur, auf deutsche Gedichte, vor allem die drei Goethe-Sammlungen op. 6., 15. und 18. In der aus den Jahren 1903 bis 1914 stammenden Auswahl der Mezzosopranistin Ekaterina Levental und des Pianisten Frank Peters (Brillant Classics 96056), also aus Medtners russischen Jahren, findet sich nur das Goethe Gedicht „Auf dem See“, wobei Medtner hier ausnahmsweise eine Übersetzung von Afanasy Fet benutzte, von dem er auch einige Gedichte vertonte. Alle anderen Lieder, darunter die acht Gedichte op. 24 und die sieben Gedichte op. 28, benutzen russische Vorlagen, größtenteils Gedichte Fets und Tyutchevs, und als bekannteste die sieben Puschkin-Gedichte op. 29. Medtner wurde als Pianist in einem Atemzug mit seinen Landsmännern Rachmaninoff, Hofmann, Lhevinne und Scriabin genannt. Entsprechend gewichtig ist der virtuose Klavierpart in den schönen gefühlvollen, melodiösen Liedern, dem eigentlich die dominierende Rolle zufällt. Die Stimme hat sich in den im Stile von Rachmaninoffs Romanzen gehaltenen Liedern quasi unterzuordnen, wodurch in den silbisch vertonten Versen eine verinnerlichte, subtile Gestaltungskunst gefragt ist. Ekateria Levental muss mehr malen und andeuten, Ausdruck und Bilder unterschwellig entwerfen, um einer gewissen Monotonie zu entgehen.

 

Die Pianistin Anna Cardona und der Bariton Victor Sicard haben im Herbst 2019 in Paris Mélodies von Maurice Ravel aufgenommen, die einmal mehr Ravels immense Fähigkeit der Anverwandlung und seinen spielerischen Umgang mit Stilen, Sprachen und Regionen zeigen ( Harmonia Mundi LMU 020). Ausgewählt wurden die bekannten Zyklen von den Don Quichotte-Liedern über die Deux mélodies hébraïques, Chansons madécasses (mit Aurélien Pascal und Mathilde Calderini als Instrumentalsolisten), Cinq chants populaires und Cing Mélodies populaires grecques bis zu den fünf Histoires naturelles. Sicard reizt dieses Panorama vollkommen aus, lädt im Versuch, jedem Lied einen eigenen Charakter zu geben, seinen dunklen Spielbariton vielfach über Gebühr auf, ist oft mehr ausdruckvoll knarzend als subtil und verführerisch oder spielerisch locker und will den Hörer nicht aus seinen Fängen lassen, was auf die Dauer etwas strapaziös gerät. Dass das erste der Lieder aus Madagaskar, Nahandove, ein Liebeslied ist, vermittelt sich beispielswiese nicht unbedingt. Das umfangreiche Kaddisch gerät dagegen zu einer wuchtig eindrucksvollen Szene. Rolf Fath

Franz Lehár: Von Pula nach Wien

 

Nach einer ersten Runde an Publikationen zur Feier des 150. Geburtstags 2020 (* 30. April 1870 in Komorn, Österreich-Ungarn/heute: Komárno, Slowakei); † 24. Oktober 1948 in Bad Ischl, Österreich G. H), kommt nun die zweite Runde, und zwar aus einem überraschenden Ort: Pula in Istrien (Kroatien). Lade Duraković und Marijane Kokanović Marković haben dort am 3. Juli 2020 im Castello Pula-Pola ihr neues Buch vorgestellt.

Wie die Autorinnen schreiben: Dieses Buch ist der Beitrag des Autors zum 150. Geburtstag des Kapellmeisters und Komponisten Franz Lehár (1870-1948) und widmet sich seinem weniger bekannten Lebenskapitel in Pula. Während er heute vor allem als Autor erfolgreicher Wiener Operetten bekannt ist, begann Lehár seine Karriere als Militärmusiker. Er besuchte die Schule in Budapest und Sternberg und schrieb sich mit zwölf Jahren am Prager Konservatorium ein. Er studierte Geige in der Klasse von Antonín Bennewitz und Theorie bei Joseph Förster.

 

Der junge Franz Léhar in Uniform zu Beginn seiner Laufbahn/ ORCA

Lehár erhielt Unterstützung und Ermutigung zum Komponieren von niemandem Geringeren als Antonín Dvořák. Im Herbst 1888 fand er eine Anstellung als Theaterviolinist in Barmen-Elberfeld (heute Wuppertal) und trat ein Jahr später der Militärkapelle des Infanterieregiments Nr. 50 in Wien unter der Leitung seines Vaters bei. 1890 erhielt er eine Position als Kapellmeister in Lučenec (IR 25, 1890-1894), womit seine zwölfjährige Karriere als Kapellmeister begann, in welcher er dreimal seinen Wohnort wechselte.

Nach Lučenec war er in Pula stationiert, dem zentralen österreichisch-ungarischen Militärhafen an der Adria. Dort lebte er zwei Jahre (1894-1896) als Orchesterdirigent der k. u. k. Kriegsmarine. Anschließend leitete er die Orchester der Infanterieregimenter in Triest (IR 87, Dezember 1896-1898), Budapest (IR 3, 1898-1899) und Wien (IR 26, 1899-1902).

Seine Position als Militärkapellmeister bestimmte maßgeblich die Wahl des Genres und des Stils seiner Werke aus dieser Zeit, zusammen mit seiner klar zum Ausdruck gebrachten Ambition, ehrgeizigere und komplexere Meisterwerke zu komponieren, die es ihm ermöglichen würden, den Militärkapellmeisterdienst zu verlassen und seine Präsenz in der europäischen Opernszene zu unterstreichen.

Im Einführungskapitel wird nach der Themenpräsentation des Buches ein kritischer Rückblick auf frühere musikwissenschaftliche Forschungen in der kroatischen und ausländischen Literatur sowie ein Überblick über die verwendeten Quellen gegeben.

Ankündigung der Buchpräsentation „Franz Léhar: Von Pula in die Welt“

Da Lehárs Aktivitäten als Kapellmeister bei der k. u. k. Kriegsmarine in Pula wenig erforscht sind, konzentrierten sich die Autoren des Buches hauptsächlich auf Archivmaterial: Artikel in der Tagespresse in italienischer und deutscher Sprache sowie Manuskripte und veröffentlichte Kompositionen aus dieser Zeit seines künstlerischen Schaffens.

Ziel war es, seinen Gesamtbeitrag zum kulturellen Leben von Pula in dieser Zeit durch analytische Einblicke in seinen Militärkapellmeister- und Komponieraktivitäten zu überprüfen.

Die Rekonstruktion des Repertoires des Marineorchesters unter der Leitung Lehárs war besonders herausfordernd, da sich praktisch keine Konzertprogramme erhalten haben. Durch Auszüge aus der lokalen Presse, hauptsächlich aus der Zeitung L’Eco di Pola, wurde eine Liste der gespielten Kompositionen erstellt, die später systematisiert und in genrespezifisch analysiert wurde. Schwierigkeiten bei der Festlegung der genauen Namen der Kompositionen stellten eine besondere Herausforderung dar, da sie in der Presse auf Italienisch angegeben waren, d. h. ins Italienische übersetzt wurden, häufig mit unvollständigen oder kreativ übersetzten Titeln.

Es war auch von großer Bedeutung festzustellen, inwiefern Pula und seine Bewohner Einfluss auf Lehárs Kompositionswerk aus dieser Zeit hatten, und die genaue Liste der Werke zu bestimmen, die er in Pula komponierte, da sich in der Literatur widersprüchliche Informationen zu diesem Thema finden.

 Im zweiten Kapitel mit dem Titel Franz Lehár in Pula wurden die Aktivitäten des Musikers im Kontext des soziokulturellen Milieus der 1890er Jahre beleuchtet. Mitte des 19. Jahrhunderts erklärte der Wiener Hof Pula zum wichtigsten Seehafen der österreichisch-ungarischen Monarchie. Infolgedessen war das dort ansässige Marineorchester, das Lehár als Kapellmeister der k. u. k. Kriegsmarine dirigierte, von beträchtlicher Größe und bestand aus mehr als 110 Musikern.

Die Arbeit des Orchesters war dynamisch – es trat regelmäßig im Marine-Casino sowie bei Bällen und Nachmittags- und Abendkonzerten auf, die der Unterhaltung dienten. Die Stadtkapelle gab fast jeden Sonntag Konzerte im Freien. Dieses Kapitel widmet sich Lehárs in Pula geknüpften Freundschaften, hauptsächlich mit dem Marineleutnant Felix Falzari, der ihm das Libretto für die Oper Kukuška schrieb und für dessen Verse er einen Liederzyklus Weidmannsliebe op. 26 komponierte.

 Neben der Freundschaft mit Falzari hatte Lehárs Bekanntschaft mit dem aus Pula stammenden Opernkomponisten Antonio Smareglia ebenfalls einen großen Einfluss auf seinen Komponierstil. Smareglia war ein großer Bewunderer Richard Wagners und machte Lehár mit den Opern Tristan und Isolde und der Tetralogie Der Ring der Nibelungen bekannt.

 Das folgende Kapitel Die Konzerte des Marineorchesters unter Lehárs Leitung – Repertoiremerkmale widmet sich der Überprüfung der Rolle des Marineorchesters im kulturellen Leben von Pula während Lehárs Amtszeit. Die Werke sind nach Genres aufgelistet und systematisiert (Märsche, Tänze, Fantasien und Potpourris, Stücke mit programmbezogenen Titeln, Auszüge aus Opern und geistliche Kompositionen).

Die Bedeutung des Marineorchesters in dieser Zeit für das musikalische und kulturelle Leben von Pula spiegelte sich in der Verbreitung und Popularisierung eines breiten Repertoires an Kompositionen und in der musikalischen Ausbildung großer Teile der Bevölkerung wider.

Dies war insbesondere deshalb so, weil die Aufführungen des Marineorchesters für viele Einwohner Pulas die erste Gelegenheit waren, sich mit dem ernsten musikalischen Repertoire vertraut zu machen.

Lehár (r.) mit seinem Kollegen Heinrich Reinhardt, dem Komponisten des Hits der 1910er Jahre, “Das Süße Mädel.” (Photo aus dem Buch “Dein ist mein ganzes Herz” im Böhlau Verlag ISBN: 9783205209638 / 320520963X)/ ORCA

Das Kapitel Lehárs Kompositionen in Pula ist den Werken gewidmet, die in dieser Zeit der schöpferischen Aktivitäten des Künstlers entstanden sind. Lehárs Kompositionen in Pula umfassen neben Militärmusik (Märsche, Tänze) und der Sonatine all’antica op. 27 auch den Liederzyklus Weidmannsliebe op. 26, das sinfonische Gedicht Il Guado und die Oper Kukuška.

Bereits in den genrebezogenen Überlegungen zu Lehárs Schöpfungen in Pula gibt es eine offensichtliche Trennung zwischen Werken eines „einfachen“ Genres, das unter dem Label der sogenannten Unterhaltungsmusik kategorisiert werden könnte, und komplexeren Bemühungen wie dem erwähnten Liederzyklus, sinfonischen Gedichten und Opern, die auf den Wunsch des jungen Musikers hinweisen, dadurch einen Schritt in Richtung ehrgeizigerer Unternehmungen zur Bestätigung als Komponist und somit zur Befreiung vom Gewicht seiner Tätigkeit im Dienste des Militärs zu erreichen.

Wie stark diese Bestrebungen waren, zeigt sich am besten in einem Brief Lehárs an seine Eltern, in dem er den Dienst als Militärkapellmeister eindeutig mit Sklaverei gleichsetzt, auf einen Durchbruch in der Theaterszene hofft und alle seine Hoffnungen auf seine Oper Kukuška setzt. Es war eben Lehárs Operndebüt, das seine jugendlichen Ambitionen und seinen Wunsch symbolisierte, sich ausschließlich dem Komponieren zu widmen. In diesem und dem folgenden Kapitel wird dem daher in Bezug auf seine anderen Leistungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt.

Zur Bestellung des Lehar-Buches: ppmi@ppmi.hr Geschichts- und Schifffahrtsmuseum Pula.

Im fünften Kapitel Von Pula in die Welt: Die Rezeption der Oper Kukuška (Tatjana) und der ersten Operetten wird Lehárs Werk nach seinem Weggang aus Pula besprochen und der Versuch, seine Oper Kukuška auf die Bühne zu bringen, um seine Ambitionen als Komponist zu verwirklichen.  Kukuška wurde am 27. November 1896 am Stadttheater in Leipzig uraufgeführt. Später folgten Aufführungen in Budapest, Brünn und Wien. Nach mangelhaftem Erfolg und schwierigen Erfahrungen mit dieser Oper beschloss Lehár, sich der Operette zuzuwenden. Das erste Libretto für die Operette Arabella, die Kubanerin (1901) stammte von Gustav Schmidt, der ihm als Kapellmeister des Marineorchesters von Pula nachfolgte. Das Werk wurde nicht vollendet, doch verwendete Lehár später zwei Nummern aus dieser Operette, die er in seine erste tatsächlich aufgeführte Operette Wiener Frauen (1902) einbaute.

Erst mit zweiunddreißig Jahren konnte Lehár seinen Militärkapellmeisterdienst aufgeben und vom Franz LéharKomponieren und Dirigieren leben. Damit endete seine zwölfjährige Karriere als Militärmusiker und er schlug ein neues Kapitel schlug auf, in welchem er als Operettenkomponist Weltruhm erlangen sollte.

 

Zur Bestellung des Buches:  ppmi@ppmi.hr Geschichts- und Schifffahrtsmuseum. Eine Ausstellung Lehár in Pula im Museum wurde wegen Covid-19 verschoben; es handelt sich um eine Kooperation mit dem Lehár-Museum in Bad Ischl. Sie könnte im Jahr 2021 realisiert werden, teilte Kuratorin Katarina Maric mit. Foto Pula/ Booking.com/ Quelle ORCA (Übersetzung Daniel Hauser)

Biblisches aus Frankreich

 

Erst kürzlich besprachen wir auf diesen Seiten eine Einspielung des schweizerisch-argentinischen Dirigenten Leonardo García Alarcón (Antonio Draghis El Prometeo), der die Musikwelt immer wieder mit der  Wiederentdeckung vergessener Werke des Barock überrascht. Aber natürlich widmet er sich auch den Klassikern dieser Musikepoche. 2010 übernahm er die künstlerische Leitung des Choeur de Chambre de Namur, mit dem er im Juli 2018 Händels Oratorium Samson für das Label Ricercar aufnahm (RIC 411, 2 CD). Es handelt sich um eine Live-Aufführung vom Festival Musical de Namur in der Kirche Saint-Loup mit dem Millenium Orchestra in der Fassung von Nikolaus Harnoncourt, welche Alarcón unter den vielen existierenden Versionen für die beste hält.

Matthew Newlin ist der Titelheld, der nach der energischen Overture gleich in der ersten Szene mit seinem Air „Torments, alas“  auf sich aufmerksam macht. Der Tenor steht ganz in der Tradition legendärer britischer Oratorien-Interpreten, auch korrespondiert sein Klageton perfekt zur Figur. Souverän absolviert er die Koloraturläufe, so im vehementen Duett mit Harapha „Go, baffled coward“.

Seinen Freund Micah gibt der erfahrene Countertenor Lawrence Zazzo, der auch nach langer Karriere noch immer über schönes Material und technische Kompetenz verfügt. Sein Auftritt, das Air „Oh, mirror“, beweist zudem die starke Gestaltungskraft des Sängers.

Zwei Soprane finden sich in der Besetzung – Klara Ek als Dalila mit klangreicher Stimme sowie Julie Roset mit lieblichem Ton als Philistine bzw, Israelite Woman. Sie kann vor allem im berühmten Air „Let the bright seraphim“ am Ende des Werkes brillieren. Im furiosen Duet mit Samson, „Traitor to love!“, überrascht Ek mit lautmalerischem Angriff.

Als Samsons Vater Manoah bringt der Bass Luigi Di Donato tiefe Töne ein. In seinem ersten Air „Thy glorious deeds“  imponiert er mit resolutem Einsatz und vehementer Koloraturattacke. Kontrastierend dazu das sanft wiegende AirHow willing my paternal love“ im 3. Akt, das die Stimme in all ihrer Schönheit ausstellt. Der Tenor Maxime Melnik komplettiert den Cast als Messenger und Philistin. Großen Anteil am der starken Wirkung des Konzertes hat der grandiose Choeur de Chambre de Namur, welcher in den Chören der Israelites, Philistines und Virgins mit begeisterndem Einsatz am Werk ist und dem mit dem jubelnden„Let their celestial concerts all unite“ auch das letzte Wort gebührt. Bernd Hoppe

Mit nobler Überzeugungskraft

 

Karneval in Venedig. Selbst die Toten steigen, wie es der steife Text von Hans Müller vorgibt, aus ihren Gräbern und tanzen. Ganz so ausgelassen und hemmungslos geht es in der Inszenierung des 90jährigen Pier Luigi Pizzi nicht zu, der schon bei meinen frühen Opernaufführungen in Italien vor Jahrzehnten, den Status eines Altmeisters innehatte und in diesem Jahr kurz vor dem Corona-Lockdown am Teatro Regio von Turin die italienische Erstaufführung von Korngolds zweiter Oper Violanta herausbrachte (wenngleich bereits eine erste Gesamtaufnahme 1989 unter Marek Janowski bei ehemals CBS erschien, dort sind Eva Marton und Siegfried Jerusalem die Protagonisten) . Rot in rot hat er einen üppigen Salon mit vielen schweren Vorhängen auf die Bühne des Teatro Regio gestellt mit einem runden Durchblick, zwar nicht auf den im Text erwähnten Giudecca-Kanal, aber immerhin doch auf eine nächtliche Barke mit einem Gondoliere. Pizzi rückt den 1916 in München uraufgeführten Einakter, der mit Opern von Schillings, Zemlinsky und Schreker, aber der italienischen Veristen und ihrem Umkreis wie Zandonai und Montemezzi, die Vorliebe für die italienische Renaissance teilt, in die Entstehungszeit, ohne die schöne Violanta auf dem geschwungenen Sofa auf die Analysecouch Freuds zu legen (Blu-ray Dynamic 57876, auch als Nur-Audio 2 CD CDS7876).

Zurückhaltung kennzeichnet Pizzis geschmackvolle Fin-de-siècle Inszenierung, in der er die Männer in feschen Uniformen, den Maler Giovanni im Nero-Gewand, und die Damen in den wie die mit Harfen und Celesta glisssandierende Musik schimmernd fallenden Roben elegant drapiert. Violanta will sich an dem Verführer Alfonso, der ihre Schwester in den Tod getrieben hat, rächen. Gatte Simone, dem sich Violanta seither verweigert hat, soll Alfonso töten. Doch es kommt, wie wir es ahnten. Violanta verliebt sich in Alfonso und wirft sich schützend vor ihn, nachdem sie mit dem das Werk quasi umklammernden Karnevalslied („Aus den Gräbern selbst die Toten tanzen“) ihrem Mann das Zeichen für den Mord gegeben hat.

Annemarie Kremer singt diese liebende Rächerin mit den Tönen einer Isolde, verschwenderisch verteilten und sicheren Höhen, die in ein tragfähig elegantes Piano abfallen, Durchhaltekraft und Ausdruck, Salome, Isolde alles in einem. Jeritza hat Violanta in Wien und an der Met zum Erfolg geführt, Emmy Krüger, die in München die Violanta und im folgenden Jahr ebenfalls unter Bruno Walter den Silla in Palestrina kreiert hatte, hatte der Figur weniger Aufmerksamkeit verschafft. Es wäre Kremer zu wünschen, ihren Turiner Erfolg andernorts wiederholen zu können. Prägnante Vignetten dienen zur Beschreibung Violantas, Matteos Schwärmerei (Juan Folqué), Szenen Violantas mit ihrem Gatten, dem sinisteren Michael Kupfer-Radecky als venezianische Militärführer Simone, der Amme Barbara, der erdigen Anna Maria Chiuri, und in der umfangreichsten Szene der Oper mit der Versuchung in Gestalt des Verführers, dem mit der Serenade „Der Sommer will sich neigen“ erscheinenden Alfonso, dessen Bacchus-Höhenglanz der vielseitig einsetzbare Amerikaner Norman Reinhardt zwischen Todessehnsucht („Sterben wollt ich oft“) und sinnlichem Verlangen in Duett („Reine Lieb’ die ich suchte“) vorzüglich drauf hat. Ähnlich der ins größere Fach drängende Peter Sonn in der charaktertenoralen Partie des Giovanni; gut auch die übrigen Sänger der kleineren Partien.

Die Musik Korngolds, der mit seiner Toten Stadt erst im Vorjahr an die Mailänder Scala fand, zeichnet sich durch eine geschmeidige spätromantisch instrumentale Zauberkraft zwischen Strauss und Mahler aus, spannend in ihrer illustrativen Pracht und Üppigkeit und eminent theatertauglich in ihrer Pianissimo-Silbrigkeit und den lauernden dramatischen Zwischenspielen. Ihre schmelzende Sinnlichkeit mag ein anderes Orchester sicher noch cremiger aufschlagen, doch das Orchester des Teatro Regio spielt das rund eineinhalbstündige Stück unter dem in dieser Musik vorzüglichen Pinchas Steinberg mit nobler Überzeugungskraft. Die auf mehreren Tonträgern greifbare Aufführung steht der Einspielung mit Eva Marton unter Marke Janowsky ins nichts nach. Nach Casellas La donna serpente von 2016 erneut eine tolle Aufführung eines unbekannten oder wenig bekannten Werkes aus Turin. Man bekommt große Lust, sich wieder den während des Vorspanns im Theater einfindenden Besuchern im großzügigen Teatro Regio anzuschließen.   Rolf Fath

Zwei Klassiker der Moderne

 

Im Frühjahr 2017 entstand in Graz, wohin seine Familie verbannt worden war und der 13jährige Luigi Dallapiccola nach einer Aufführung des Fliegenden Holländers den Wunsch Komponist zu werden fasste, eine Einspielung seines Einakters Il Prigioniero (Chandos). Im kurzen zeitlichen Abstand folgt nun die von Chandos im September 2019 Kopenhagener Koncerthuset (CHSA 5278) zur weiteren Abrundung seines Dallapiccola-Katalogs mit Noseda eingespielte Wiedergabe des Stücks.

Das entspricht der neuerlichen Wertschätzung des Werkes, das nach seiner konzertanten Uraufführung bei der RAI in Turin 1949 und der ersten szenischen Produktion im folgenden Jahr in Florenz zum ersten internationalen Erfolg der italienischen Oper der Nachkriegszeit geworden war und in New York und London, Deutschland und Frankreich gespielt wurde bevor es 1962 an die Mailänder Scala gelangte. Dies hat vermutlich mehr mit dem Stoff und der Vorlage, der um eine Episode aus de Costers Ulenspiegel ergänzten Erzählung Folter durch Hoffnung von Villiers de l’Isle-Adam als mit der bei ersten Hören schwer fasslichen Verbindung aus der auf Zwölftonreihen fußenden melodiösen Gesangsdeklamation und mittelalterlichen Requiem-Ausschnitten zu tun. Die Mutter besucht ihren von der Inquisition gefangenen gehaltenen Sohn, ahnend, dass sie ihn um letzten Mal sehen wird, da ihr im Traum der sich in den Tod verwandelnden Philipp II. erschien. Nach diesem Prolog gelingt es dem Kerkermeister den Gefangenen endlich in einer trügerischen Sicherheit zu wiegen, so dass dieser durch die offene Gefängnistür in die Freiheit stürzt. In einem Garten fällt er schließlich seinem Kerkermeister in die Arme, der sich als der Großinquisitor herausstellt. Die Hoffnung auf Freiheit war die letzte Folter vor der Hinrichtung. Gianandrea Noseda treibt das Stück mit großer Leidenschaft und dem Gespür des Theaterpratikers voran, macht kein neoklassisches Mysterienspiel daraus, sondern lädt es bei gerade mal 43 Minuten Spieldauer mit einer atemberaubenden Expressivität und Dringlichkeit auf, dass man den Protagonisten an den Lippen hängt. Darunter leidet vielleicht die große in der Tradition der italienischen Oper angesiedelte Szene der Mutter mit der dunklen Anna Maria Chiuri. Doch die Zwiegespräche des Gefangenen mit dem Carceriere geraten zu krimihaft dichten Momenten, in denen der anfangs auffahrend, vielleicht zu vital und gesund klingende Michael Nagy den zunehmenden psychischen Verfall des Gefangenen und Stephan Rügamer mit gleichbleibend einlullender Tenorsanftheit den Carceriere geben, während Adam Riis und Steffen Bruun die beiden Priester vor dem mystischen Hintergrund abheben. Mit dem Danish National Symphony Orchestra und dem Danish National Choir gelingen Noseda auf bestechende Weise die Brechungen des Stückes zwischen sublimem Klangreiz und Verdichtung des Dramas in den Intermezzi, der Erlösung durch die Rolandsglocke in den Schlagzeughöhepunkten und den irrwitzigen Allelujah-Fantasien des Gefangene, den unsichtbaren Chören und der lapidaren Klangrede bis zum gesprochenen „La liberta?“, mit dem sich der Prigioniero ergibt.

Drei knappe Chorwerke, der Lobgesang auf den mittelmeerischen Sommer für Männerstimmen Estate aus dem Jahr 1932 und die beiden Werke für gemischten Chor zu Versen von Michelangelo Buonarroti, dem Großneffen des „großen“ Michelangelo, von 1933 sind als Fortbeschreibung italiensicher Madrigalkunst eine plausible Ergänzung zum Gefangenen.   

 

„Miss Julie is crazy, utterly crazy“ stellt Jean nach der kurzen, walzenden Sommernachts-Introduction fest, „She was leading the dance in the gamekeeper’s arms“. Derweil der Midsummer-Walzer sich weiterdreht, beschreibt Diener Jean aus der Küchenperspektive mit zynischen Kommentaren die Gäste des gräflichen Festes, verführt dann die Tochter des Hauses, weist sie bei der nahenden Heimkehr des Hausherrn kaltherzig ab („Je vous en prie, mademoiselle“), drängt sie zum Selbstmord und nimmt wieder seine alte Stelle ein.

Der 1922 in Triest geborene und seit 1956 als norwegischer Staatsbürger in Larvik lebende Antonio Bibalo hat mit seiner Adaption der Strindberg Tragödie das Feld bestellt. An seiner effektvollen, vielfach kompatiblen Kammeroper Fräulein Julie kam in den ersten zwei Jahrzehnten nach ihrer Uraufführung 1975 in Aarhus keiner vorbei. Ganz unbemerkt hatte daneben der vor allem durch seine rund zweihundert Filmmusiken, Wikipedia gesteht im nur 70 zu, bekannte William Alwyn (1905-85) ebenfalls eine Fräulein Julie-Oper, Miss Julie, komponiert – Ned Rorem hatte bereits 1965 eine Miss Julie vorgelegt und Philippe Boesmans sollte 2005 mit Julie das Quartett vervollständigen – die 1977 von der BBC uraufgeführt und 1997 in Norwich eine einzige Produktion unter Benjamin Luxon, dem ersten Interpreten des Jean, erlebte (mit Jill Gomez als Julie, Della Jones als Kristin und Anthony Rolfe Johnson als Ulrik war bei der Uraufführung die erste Garde britischer Sänger aufgeboten).

Die konzertante Aufführung 2019 in der Londoner Barbican Hall, die Chandos (CHSA 5253/2, engl., dt., frz. Beiheft, engl. Libretto) anschließend in Croydon aufnahm, fand eine überaus dankbare Aufnahme, worauf die Times fragte, „Warum ist dieses intensive, brillant orchestrierte und auf klaustrophobische Weise packende Meisterwerk seit seiner Premiere im Jahr 1977 derartig vernachlässigt worden?. Das stimmt natürlich. Jeder der beiden rund 60minütigen Akte ist brillant konstruiert, bietet dankbare Szenen, darunter die mit Girlanden in hoher Lage verzierte erste Arie der Julie „Midsummer Night, O, night of magic, when the world can forget“, mit der die lyrische Koloratursopranistin Anna Patalong als kapriziöse Julie Akzente setzt, oder ihre sinnlich leidenschaftliche Szene „If you want to climb“, mit der sie Jean herausfordert, die den Interpreten ariose und psychologische Eindringlichkeit abverlangen. Als Resümee seiner bis in die 1960er Jahre währenden Auseinandersetzung mit dem Film, gelangte Alwyn für die Oper zu diesem Schluß: Die Handlung solle ohne Bezugnahme auf eine detaillierte Synopse oder ein Programmheft unmittelbar verständlich sein; Arien sollten einem dramatischen Zweck dienen anstatt nur der stimmlichen Zurschaustellung; um des dramatischen Zusammenhangs sollten die Figuren einander immer direkt ansingen und nicht beiseite zum Publikum oder im Monolog; die Verwendung des Ensembles sollte minimiert werden, um klangliche Klarheit zu wahren, und vor allem sollte der Text so vertont werden, dass die Gesangslinien Rhythmus und Tonfall der Sprache wiedergaben. Das alles erfüllt Alwyn in Miss Julie getreulich. Der von Alwyn eingerichtete Text bleibt immer klar und durchsichtig, die Handlung ist unmittelbar nachvollziehbar, die vom Walzerrhythmus durchzogene Musik, vom BBC Symphony Orchestra und seinem finnischen Chefdirigenten Sakari Oramo mit Überzeugungswucht wiedergeben, unterstreicht mit halluzinierenden Tremoli auf nachdrückliche Weise die Handlung und kreiert wie in einem urzeitlichen Radio-Thriller vielfache Suspense-Momente. Auf nicht unliebeswürdige Weise ist Alwyns Miss Julie mit ihrer passgenauen Orchestrierung so old fashioned wie das Reisekleid, das Julie für ihre Flucht mit dem Diener überstreift: eine solide Literaturoper, die auch als Hörtragödie gute Figur macht. Die Akteure, der von dem wenig wandlungsfähigen Bassbariton Benedict Nelson hinreichend dumpf gestaltete Jean, der willfährige Wildhüter Ulrik des heldentenoralen Samuel Sakker und Rosie Aldridge als Kristin, bieten alles an professioneller Nuanciertheit auf, um diese in Julies Selbstmord endende Midsummer Night zum Thriller werden zu lassen. Rolf Fath

 

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BAROCKE MORDE

 

In der Pflege des Barockrepertoires ist das Label cpo ein Vorreiter mit immer neuen und innovativen Aufnahmeprojekten. Jetzt erschienen zwei Einspielungen aus den Jahren 2016 und 2018.

Im September 2018 erfolgte in Raven die Einspielung von Carl Heinrich Grauns erstmals in der Moderne aufgeführter Oper in fünf Akten Polydorus (555 266-2, 2 CDs). 1726 wurde sie in Braunschweig uraufgeführt. Das Libretto stammt von Johann Samuel Müller, der einen italienischen Text von Agostino Piovene ins Deutsche übertragen hatte, welcher auf Ereignissen der Hecuba des Euripides basierte.

Nach Virgil ist Polydorus, wie Vollmers Mythologie der Völker so hilfreich schreibt, der jüngste Sohn des Priamus von Laotho oder von Hecuba. Iliona, seine älteste Schwester, war Polymestor, einen thracischen König, vermählt, welchem Priamus den Polydorus zur Erziehung sandte. Polymestor aber, den siegreichen Waffen Agamemnons huldigend, ermordete den ihm anvertrauten Jüngling und bemächtigte sich der von demselben mitgebrachten Schätze. Aeneas kam zu der Stelle, wo dies geschehen war, wollte von den Myrten eines Hügels Aeste nehmen, um einen Altar zu schmücken; doch wie er sie abreisst, ertönt ein jammervolles Geächze und eine Stimme rief ihm zu: schone doch meiner im Grabe, ich bin Polydorus; hier deckte mich Durchbohrten die Speersaat, hier wuchs aus den Schäften der Wald auf. (Virgil.) Die Tragiker erzählen, dass später sich Hecuba fürchterlich rächte, indem sie dem verrätherischen Polymestor die Augen ausgekratzt habe. Anders wird die Sache von Hygin erzählt: Iliona soll, da sie ihren Bruder auf das Zärtlichste liebte, denselben mit ihrem eigenen Sohne gleichen Alters verwechselt haben, wovon selbst ihr Gatte nichts wusste; er lieferte nun den vermeinten Polydorus den Griechen aus, welche denselben im Lager, Angesichts des Priamus, steinigten; Iliona rächte mit Polydorus diese Schandthat, indem sie dem Bruder seine wahre Abkunft enthüllte, und beide den Polymestor ermordeten. Soweit die antike Dichtung.

In Raven war das von der israelischen Dirigentin Ira Hochman 2007 gegründete barockwerk hamburg künstlerisch tätig. Das Ensemble hat sich vor allem um die Wiederbelebung Hamburger Werke von Johann Mattheson, Carl Philipp Emanuel Bach und Georg Philipp Telemann verdient gemacht. Die Dirigentin rechtfertigt mit dieser lebendigen Aufnahme ihren Ruf als Barock-Spezialistin, bringt Grauns muntere, melodische Musik zu starker Wirkung.

In der Titelrolle ist der israelische Altus Alon Harari zu hören, der sogleich in seiner ersten Arie, „Ein ausgehärt’ter Mut“, mit ausgeglichener Stimme und sinnlichem Timbre für sich einnimmt. Auch die virtuosen Anforderungen von „Laß, mein Freund“ im 2. Akt bewältigt er souverän. Sanft formt er das kantable „Ruhe sanft“ zu Beginn des 4. Aktes.

Hanna Zumsande ist seine älteste Schwester Ilione, für die der Komponist die schönsten Arien seiner Oper erdachte. Die Sopranistin kann mit ihrem innigen Ausdruck den Konflikt der Figur, den eigenen Sohn den Griechen übergeben zu müssen, eindrücklich vermitteln. Davon zeugt auch „Strenger Himmel“ im 3. Akt. Als ihr Gatte, der thrakische König Polymnestor, steuert Fabian Kuhnen profunde Basstöne bei. Auch der griechische Abgesandte Pyrrhus ist eine Bassrolle, der das erste Solo des Werkes,„Tausend Zepter“, zufällt. Ralf Grobe füllt sie zuverlässig aus. Die hoch notierte Tenorrolle des Deiphilus, die Graun einst selbst gesungen hatte, ist eine Herausforderung für Mirko Ludwig. Furchtlos stellt er sich dieser in seiner ersten Arie „Mich sucht der Götter Rache“, bewältigt deren Tessitura sowie das Zierwerk beachtlich. Auch „Ich will sterben“ im 2. Akt überzeugt durch den zunächst schmerzlichen Ausdruck und dann den beherzten Zugriff im Mittelteil der Arie.

In einer Nebenhandlung des Werkes tritt Andromache auf, in die sich Pyrrhus verliebt hat und deshalb von Polymnestor ihre Herausgabe fordert. Santa Karnite lässt in ihrer ersten Arie, „Nichts soll mich von ihm trennen“, einen klaren, instrumental geführten Sopran hören, der am Ende des 2. Aktes bei „Tyrann, du suchest Liebe“ im Ausdruck zu verhalten bleibt. Ungleich besser steht der Stimme das innige „Komm denn, du angenehmer Tod“ am Ende des 4. Aktes. Am Ende vereint sie ihre Stimme mit der des Titelhelden jubelnd in der Aria à 2 sowie dem Schlusschor „Der Himmel lässt nach langem Weinen“.

 

2016 entstand in Koproduktion mit Radio Bremen in Thedinghausen-Lunsen und widmet sich einem Oratorium des komponierenden Kaisers Leopold I. mit dem Titel Il Sagrifizio d’Abramo (555 113-2). Damit hat das renommierte Ensemble WESER-RENAISSANCE Bremen, das sich vorrangig der Musik des 16. und 17. Jahrhunderts widmet, im 25. Jahr seines Bestehens einen weiteren Fund vorgelegt, der sich in die Zahl der Entdeckungen durch den Klangkörper würdig einreiht. Die Leitung hat Manfred Cordes, der seit 1985 künstlerisch in Bremen wirkt. Ihm ist eine authentische Wiedergabe der Musik, die heute als ein Grundstein der Wiener Klassik gilt, zu danken. Mit den weihevollen Klängen einer Sonata setzt sie ein und ist dann vorrangig dem recitar cantando verpflichtet.

Das Werk wurde 1660 uraufgeführt, im Libretto von Conte Caldano wird erstmals die Figur des Isaak/Isac als des Christi Urbild beschrieben. Die Sopranistin Monika Mauch gibt ihr einen keuschen Umriss. Die Titelfigur singt Julian Podger mit klangvollem Tenor, der auch über gebührend klagende Töne verfügt. Darüber hinaus erscheinen als Allegorien die Penitenza (Buße), Ubidienza (Gehorsam) und Humanità (Menschlichkeit). Sie werden interpretiert von Marnix de Cat/Altus, Margaret Hunter/Sopran und Nele Gramß/Sopran. Der Bassist Harry van der Kamp komplettiert die Besetzung als Servo und Peccator.

Das Programm der CD wird ergänzt von einer weiteren Komposition des Kaisers – dem Miserere per la settimana santa à 4 voci –, in welcher sich sein ausgeprägter Sinn für Ordnung spiegelt, denn die vier Solisten (Mauch, de Cat, Podger, van der Kamp) sowie Streichinstrumente wechseln sich in jedem Vers in einer festgelegten Reihenfolge ab. Nur der jeweils fünfte Vers wird im Tutti gesungen. Bernd Hoppe