Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Steinbruch-Oper

 

Die letzten Neuveröffentlichungen von Opera Rara (beispielsweise Rossinis Semiramide) waren nicht unbedingt Novitäten im Katalog, aber jetzt bringt die rührige britische Firma mit Donizettis Melodramma Il Paria eine veritable Rarität heraus (ORC60, 2 CDs, mit immerhin deutscher Inhaltsangabe). Die Aufnahme – bei deren Titel dem Opernfan die gleichnamige von Moniuszko einfällt – entstand im Juni 2019 in London in Verbindung mit einer konzertanten Aufführung des Werkes im Barbican Centre.

Das zweiaktige Werk ist in die Frühphase von Donizettis Schaffen einzuordnen und wurde 1829 im Teatro San Carlo von Neapel uraufgeführt. Es spielt in Indien, wo der Heerführer Idamore und dessen Vater Zarete der verpönten Kaste der Parias angehören. Die Priesterin des Sonnenkults Neala, Tochter des Hohepriesters der Brahamen Akebare, hat sich in Idamore verliebt, der am Ende –  wie sein Vater – wegen seiner niederen Herkunft zum Tode verurteilt wird.

Eine illustre Besetzung war zur Uraufführung angetreten mit Adelaide Tosi als Neala, Giovanni Battista Rubini als Idamore und Luigi Lablache als Zarete. Dennoch fand das Werk keine enthusiastische Zustimmung und wurde nach nur sechs Aufführungen abgesetzt. Der Komponist nutzte Teile der Oper wie einen Steinburch und wie in seiner Zeit durchaus üblich für andere Werke (beispielsweise Il diluvio universale und Anna Bolena, später sogar in Paris für seine grand opéra Il Duc d’Albe).

Die Fähigkeiten des legendären Tenors Rubini hatten den Komponisten befähigt, mit dem Idamore eine der anspruchsvollsten Tenorpartien des gesamten Belcanto-Repertoires zu schaffen. In der Neuaufnahme wurde sie dem Tenor René Barbera anvertraut, der sich mit furchtloser Attacke der enormen Herausforderung stellt. Dass es mitunter grelle und gequält klingende Passagen zu hören gibt, ist bei dieser extremen Tessitura nicht verwunderlich. Allein diese überhaupt zu erreichen und zu bewältigen, macht die Leistung und Bedeutung dieser Interpretation aus. Seine schwärmerische Auftrittskavatine „Là dove al ciel“ zeigt auch die lyrischen Qualitäten des Sängers, aber schon hier werden ihm schwierigste Aufstiege in die Extremhöhe abverlangt, die in der Cabaletta „Fin dove sorgono“ noch unbequemer notiert sind. Seine große Szene mit dem Sopran „Da sì caro e dilce istanto“ im 2. Akt erfordert bellinische Süße und rossinisches accelerando, kombiniert mit der Verve eines donizettischen Finales.

Die russische Sopranistin Albina Shagimuratova, Titelheldin in der Semiramide von Opera Rara, versucht, mit der Neala einen weiteren Belcanto-Gipfel zu erklimmen. Ihr Auftritt mit einer lyrischen Cavatina schildert einen nächtlichen Albtraum und erweitert sich zu einem großen Ensemble. Die Stimme ist von weicher Textur und hellem Ton, prägt sich aber nicht durch ein besonderes Timbre ein. Die Cabaletta am Schluss der Szene weist sie als versierte Interpretin des vokalen Zierwerks aus. Das ausgedehnte Duett mit Idamore im 2. Akt, in welchem er ihr seine wahre Herkunft offenbart („La mano tua/Sarai tu sempre“), verlangt ihr und dem Tenor elegische Kantilenen, sieghafte Spitzentöne und vehementen stretta-Aplomb ab.

Der georgische Bariton Misha Kiria als Zarete nimmt die Lablache-Partie zuverlässig wahr, trumpft vor allem im Duett mit dem Tenor am Ende des 1. Aktes („Lascerò colei che adoro?“) imponierend auf. Sein Solo im 2. Akt, „Notte, ch’eterna a me parevi“, beweist zudem seine Fähigkeit zur Gestaltung arioser Passagen. In der Besetzung findet sich auch Marko Mimica als Akebare. Der kroatische Bassbariton, vor allem den Besuchern der Deutschen Oper Berlin ein Begriff, lässt eine resolute Stimme von autoritärem Ausdruck hören.

Am Pult der Britten Sinfonia steht Mark Elder, der schon das kurze Preludio atmosphärisch ausmalt und später immer wieder spannende Akzente setzt. Auch der Opera Rara Chorus (Stephen Harris) sorgt in den Gesängen der Bramani und  Sacerdoti sowie den Ensembles für grandiose Effekte. Die machtvolle Hymne im 2. Akt, „Brama, autor dell’universo“, ist ein Höhepunkt des Werkes und der Einspielung.

Das Booklet mit einem Einführungstext in Englisch, der Handlungsangabe in vier Sprachen sowie dem Libretto in Italienisch und Englisch ist in bewährter Opera-Rara-Tradition mit historischen Abbildungen der Uraufführungsinterpreten ausgestattet, wie sie früher auch die Cover der Ausgaben  geschmückt hatten. Da finden sich seit einiger Zeit leider nüchterne grafische Embleme. Aber dieser Einwand soll den Wert der Veröffentlichung nicht schmälern. Bernd Hoppe

 

Und für alle, die nicht bis zum offiziellen Veröffentlichungstermin Anfang Januar warten wollen: hier ist die website von opera rara, wo man die aufnahme kaufen kann: https://opera-rara.com/shopcatalogue/donizetti-il-paria

Hugh Beresford

 

Mit Bedauern hörten wir vom Ableben des Opernsängers Hugh Beresford am 23. November 2020 im Alter von 94 Jahren in Wien. Dazu ein Auszug aus dem unschätzbaren Großen Sängerlexikon Kutsch/Riemens: Hugh Beresford, Bariton/Tenor, * 17.12.1925 Birkenhead (England) geboren; er begann sein Gesangstudium am Royal College of Music in Manchester, kam dann an die Musikakademie von Wien und war in London, Mailand und Düsseldorf Schüler von Dino Borgioli, Alfred Piccaver, Melchiorre Luise, Francesco Carino und Wolfgang Steinbrueck. 1951 wurde er mit dem Richard Tauber-Preis ausgezeichnet. 1953 debütierte er (als Bariton) am Landestheater von Linz/Donau als Wolfram im »Tannhäuser«. Er sang dann an den Stadttheatern von Graz und Augsburg sowie 1958-60 am Opernhaus von Wuppertal. 1960 wurde er Mitglied der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf-Duisburg. Jetzt begann für den Künstler eine große internationale Karriere. Seit 1960 gastierte er mehrfach an der Londoner Covent Garden Oper, weitere Gastspiele führten ihn an die Staatsopern von Wien (1961 als Mandryka in »Arabella« von R. Strauss), München und Stuttgart, an die Opernhäuser von Frankfurt a.M. und Zürich und an die Grand Opéra Paris. 1963 und 1966 wirkte er beim Holland Festival mit. 1966 sang er am Teatro Fenice Venedig den Mandryka in »Arabella«. 1969 war er in Amsterdam als Rigoletto zu Gast, 1964 und 1965 am Théâtre de la Monnaie in Brüssel als Rigoletto und 1981 als Siegmund in der »Walküre«, 1966 am Teatro Verdi in Triest als Wolfram im »Tannhäuser«. 1968 gastierte er an der Deutschen Oper Berlin, seit 1967 oft an der Staatsoper Hamburg, 1970 am Staatstheater von Karlsruhe, 1975 an der Scottish Opera Glasgow in der Tenorpartie des Bacchus in »Ariadne auf Naxos« von R. Strauss. Dabei galten als seine großen Rollen im Bariton-Fach der Rigoletto, der Nabucco wie der Posa im »Don Carlos« von Verdi, der Graf Luna im »Troubadour«, der Ford im »Falstaff« von Verdi, der Jago im »Othello« vom gleichen Meister, der Alfio in »Cavalleria rusticana«, der Eugen Onegin von Tschaikowsky und der Don Giovanni. Seine Stimme wandelte sich dann jedoch zum Heldentenor. Als Tenor sang er u.a. den Peter Grimes in der gleichnamigen Oper von Benjamin Britten, den Herodes in »Salome« von R. Strauss und den Canio im »Bajazzo«. Er blieb bis 1970 an der Deutschen Oper am Rhein engagiert und sang dann 1971-76 und nochmals 1978-84 am Opernhaus von Köln. 1973 übernahm er an der Wiener Staatsoper den Othello von Verdi und den Florestan im »Fidelio«, bei den Bayreuther Festspielen 1972-73 den Tannhäuser, 1981 in Köln den Florestan und den Erik im »Fliegenden Holländer«.

Einspielungen: Eurodisc-Aufnahmen (Querschnitte durch »Rigoletto« und »Faust« von Gounod, als Bariton). Mondo Musica (Mandryka in »Arabella« von R. Strauss, Teatro Fenice Venedig 1966). [Lexikon: Beresford, Hugh. Großes Sängerlexikon, S. 1817 (vgl. Sängerlex. Bd. 6, S. 251) (c) Verlag K.G. Saur] (Foto oben: Hugh Beresford und Melitta Muszely in „Hoffmanns Erzählungen“ an der Komischen Oper Berlin 1956/ Wikipedia)

 

Komm, spiel mit mir …

 

Der Walzerkönig Johann Strauss Sohn gehört zweifellos zu den berühmtesten Komponisten überhaupt. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass er von Anhängern der „seriösen“ klassischen Musik bisweilen herablassend betrachtet wird. Dass es selbst in Sachen Strauss Sohn noch echte Entdeckungen zu machen gibt, beweist abermals das umtriebige Label Naxos mit der Weltersteinspielung der vergessenen Operette Blindekuh von 1878 (Naxos 8.660434-35).

Verantwortlich zeichnet der schon hinlänglich gerühmte britisch-italienische Dirigent Dario Salvi, der für das nämliche Label u. a. die erstklassige interpretierte Reihe der Einspielung sämtlicher Ouvertüren von Auber verwaltet. International ist die restliche Besetzung, vom Philharmonischen Chor und Orchester Sofia zu den Solistinnen und Solisten aus Deutschland, Großbritannien, Italien und den Vereinigten Staaten.

Obwohl bei der Premiere am Theater an der Wien durchaus ein Publikumserfolg für Strauss, konnte sich diese dreiaktige Operette in Wien doch gleichwohl mit nur 16 Vorstellungen nicht im Repertoire halten. Im Folgejahr 1879 folgte eine Wiederaufnahme in Budapest und Jahrzehnte später, 1935, eine Rundfunkübertragung durch Radio Wien, bevor das Werk endgültig in der Versenkung verschwand. Tatsächlich ist das Libretto von Rudolf Kneisel die Schwachstelle, wobei dies bekanntlich für zahllose Operetten gilt. Die Handlung ist konfus und verwirrend und braucht hier im Detail nicht ausgeführt zu werden. Dass Blindekuh die unbekannteste von allen Strauss-Operetten ist, liegt auf der Hand, doch beweist diese Einspielung von Jänner 2019 aus dem Bulgaria-Saal in Sofia, wie ungerecht dieses Schattendasein doch war.

 Die künstlerische Qualität steht jedenfalls im Großen und Ganzen außer Zweifel, auch wenn nicht alle Gesangsleistungen höchsten Ansprüchen genügen. Insgesamt neun Sängerrollen sind inkludiert, welche sich auf vier weibliche (dreimal Sopran mit Kristen C. Kunkle, Martina Bortolotti und Andrea Chudak, einmal Mezzo mit Emily K. Byrne) und fünf männliche (nicht weniger als vier Tenöre mit Roman Pichler, James Bowers, Daniel Schliewa und Julian Rohde und ein Bassbariton mit Robert Davidson) aufteilen. Es handelt sich um eine typische Operette in Strauss’scher Manier, auch wenn nicht ernsthaft die Gefahr besteht, dass Der Zigeunerbaron oder gar Die Fledermaus vom Thron gestoßen werden könnte. Neben der fast zehnminütigen Ouvertüre gibt es für sich einnehmende Walzer, Polkas und Märsche. Im ersten Aufzug findet man neben reizvollen Couplets ein hinreißendes Duettino und lebhaftes Quartett. Im zweiten Akt sticht  gegen Ende ein Terzett heraus. Die beiden ersten Akte dauern  jeweils 40 Minuten, während der kurze dritte Aufzug keine Viertelstunde veranschlagt und der Operette mit seinem feurigen Finale, in welchem alle neun Solist/innen und der Chor gemeinsam auftreten, einen würdigen Abschluss verleiht. Daniel Hauser

Insgesamt eine wichtige Vervollständigung der Johann-Strauss-Sohn-Diskographie, die bis auf Weiteres auch außer Konkurrenz läuft. Das Booklet fällt Naxos-typisch knapp, aber noch angemessen aus (nur auf Englisch). Daniel Hauser

Weill und die Staatsoperette Dresden

 

Sechs Jahre liegen zwischen den Premieren zweier in den USA entstandener Werke von Kurt Weill in der Staatsoperette Dresden, beide unter ihrem langjährigen Intendanten Wolfgang Schaller, der wohl auch, das lässt das   jeweilige Vorwort vermuten, für die sie begleitenden Bücher zumindest  mitverantwortlich ist. 2013 wurde die Broadway-Operette The Firebrand of Florence unter dem deutschen Titel Viel Lärm um Liebe aufgeführt, 2019 in neuer deutscher Übersetzung One Touch of Venus, nun Ein Hauch von Venus, 1943 in New York uraufgeführt (wie in den USA üblich nach Voraufführungen in der „Provinz“). Während der Venus ein rauschender und dauerhafter Erfolg am Broadway beschieden war, kümmerte The Firebrand of Florence mit Benvenuto Cellini im Mittelpunkt dahin, was nicht zuletzt daran gelegen hat, dass der März 1945 kaum der geeignete Zeitpunkt für Jux und Tollerei gewesen sein mag. Einige Nummern aus der Venus hingegen sind auch heute noch populär und werden von den Diven aus dem Operetten- oder Chansonbereich gern gesungen.

Das gerade erschienene Buch „….wie leise Liebe sein soll über Venus auf Erden enthält wie sein Vorgänger über Cellini ausführliche Informationen über die Besetzung, die Handlung und die Musiknummern. Auf gut dreißig Seiten befasst sich Daniel Gundlach mit den amerikanischen Werken Weills, versucht eine Zuordnung zu den unterschiedlichen musikalischen Gattungen und geht bei der Untersuchung des „leichteren“ Musikklebens in den USA zurück bis in die 30er Jahre, zu Show Boat und Oklahoma, der Rolle Cole Poters und den Vorlagen zu One Touch of Venus. Wie üblich gab es zwei Librettisten, von denen einer für die Songs zuständig war, in diesem Fall Ogden Nash, während das Buch von S.J.Petelman stammt, die Vorlage F.J. Ansteys The Tinted Venus ist. Interessant ist, dass der Autor das Interesse an einer Operette mit einer antiken Statue als Heldin zum Teil darauf zurückführt, dass zur gleichen Zeit das MoMa eröffnet wurde. Belustigt nimmt der Leser zur Kenntnis, dass Marlene Dietrich, der das Stück eigentlich auf Leib und Stimmbänder geschrieben war, die Rolle der Venus als zu vulgär für die Mutter einer heranwachsenden Tochter ansah und ablehnte. Portraits der dann tatsächlich Mitwirkenden, insbesondere von Mary Martin, eine Darstellung der Musik- und Gesangsstile, eine Charakterisierung der Venus-Musik beschließen das Kapitel, an dessen Schluss der Autor dem Werk die notwendigen Qualitäten für eine Wiederbelebung zuspricht.

Einen Vergleich zwischen Galathee und Venus stellt Marion Linhardt im folgenden Kapitel an, geht bis zu Rousseau zurück, stellt die Unterschiede zwischen Venus und Galathee heraus und erklärt, warum es in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts zu einer Schwemme von Galathee- Kunstwerken kommt. Die Kokotte als Gegenbild zur bürgerlichen Frau führt zu immer neuen Variationen in der Behandlung des Stoffes, der auch in der Entwicklung von der Erzählung zum Libretto Änderungen erfährt.

Joachim Lucchesi nennt sein Kapitel One Touch of Germany, stellt fest, dass Weill gern überirdische Wesen auf die Bühne brachte, mit einer Loreley, die einen GI verführt, liebäugelte, und es gibt dazu einen Blick auf die Geschichte des Loreley-Mythos.

Wieland Schwanebeck schreibt über die beiden Textdichter, deren Humor er für kaum übersetzbar ins Deutsche hält, er zitiert  aus dem Briefwechsel der beiden und verhilft dadurch dem Leser zu interessanten Einblicken in den Schaffensprozess, der zu der Entstehung der Venus führte. In diesem Zusammenhang erfährt man auch, dass der später als Filmregisseur berühmte Elia Kazan die Uraufführung einstudierte.

Ein eigenes Kapitel ist dem absoluten Hit des Werks, Speak low, gewidmet, und wer bei you tube nachforscht, stellt fest, dass unendlich viele Sängerinnen sich seiner angenommen haben, dazu kann man auch gleich den Trailer von der Dresdner Aufführung begutachten. Sehr intensiv und genau wird untersucht, worin die Wirkung des Musikstücks besteht, so in dem spektakulären Nonenakkord, dem Schwebezustand, in dem die Melodie verharrt, der „subtilen Dissonanz“ , die „keine Entspannung duldet“. Der Leser erfährt nicht nur viel über das Stück selbst, sondern ganz allgemein über die Wirkung musikalischer Figuren, Tonarten usw. Das ist das Verdienst von Michael Heinemann, der dieses für das Verständnis des Werkes ungemein wertvolle Kapitel verfasst hat.

Giselher Schubert widmet sein Kapitel „Ruhm und Nachruhm“ , betrachtet die Gattung Musical als Mischform, von sentimental bis sarkastisch reichend, und befasst sich mit den Grundtypen der Songs, erkennt auch das Problem, aus den heterogenen Bestandteilen ein einheitliches Ganzes zu formen, welche Aufgabe Weill mit dem Vorgänger Lady in the Dark raffiniert bewältigt hatte. Der Verfasser sieht im Ballett den Bestandteil des Musicals, der die Handlung vorantreibt und schildert anhand von Ausschnitten aus Briefen, welche Schwierigkeiten sich vor dem Komponisten auftürmten. Aber auch der Erfolg der Venus, der sich in 390 verschiedenen Aufnahmen von Speak low bis 2003 zeigt, die zwar das Werk entstellende Verfilmung mit Ava Gardener werden noch einmal hervorgehoben.

Kritiken nach der Uraufführung und von der Dresdner Aufführung vervollständigen das Buch, dazu Hinweise auf die Autoren. Das in seiner Gesamtheit lässt den Wunsch wach werden, One Touch of Venus einmal auf der Bühne zu erleben, nachdem man sich in  der „Werkmonographie in Texten und Dokumenten“ kundig gemacht hat (160 Seiten, Thelem Universitätsverlag 2020. ISBN 978 3 95908 512 0). Ingrid Wanja  

Informationsreiches Hörspiel

 

Mozarts Requiem auf zwei CDs: da staunt der flüchtige Betrachter, erfährt aber Aufklärung durch den Untertitel Mit Werkeinführung. Diese erweist sich als eine gründliche, kenntnisreiche und mehr als nachschöpferische Auseinandersetzung mit dem unvollendet gebliebenen Werk, mit dem sich der Dirigent des Chors des Bayerischen Rundfunks, Howard Arman,  intensiv befasst hat. In einer Art Hörspiel, in dem Mozart, seine Frau und seine Schwägerin kurze Auftritte haben, wird auf die Situation Mozarts zur Zeit der Entstehung des Fragments eingegangen, Musikbeispiele werden eingeblendet, offensichtlich nicht identisch mit der Aufnahme auf CD 1, denn Mezzosopran und Bass sind davon abweichende Sänger.

Es geht um die Frage, was von Mozart und was von seinem Schüler, dem Komponisten Süßmayr, stammt, dazu ist auf der CD noch ein Libera me von Sigismund von Neukomm, zu hören. Der Hörer und Leser wird darüber informiert, dass bis zu den ersten Takten des Lacrymosa die Musik von Mozart stammt, dass einschließlich des Hostias Entwürfe von des Komponisten Hand vorliegen und alles danach von Süßmayr stammt. Die Arbeit von Arman setzte im zweiten Teil ein, wo er nach gründlichem Studium der Partitur die Arbeit Süßmayrs an diesem  Teil des Requiems durch seine eigene ersetzte, berücksichtigend, welche Funktion die Tonart d-moll hat, welche Orchesterinstrumente Mozart bevorzugte oder wie wahrscheinlich die Planung einer Fuge, von der es immerhin eine Skizze gibt, war. Erwähnt wird auch die Unterbrechung der Arbeit Süßmayrs am Requiem, weil die Witwe Mozarts vorübergehend die Vervollständigung der Partitur einem anderen Schüler  Mozarts übergeben hatte. Und natürlich fehlen auch nicht Informationen über den geheimnisvollen Auftraggeber für das Requiem.

Das alles und mehr ist auf der zweiten CD zu finden, doch man fragt sich, ob es nicht sinnvoller ist, sie vor dem Requiem auf CD 1 zu hören, das man dann bewusster wahrnimmt. Es beginnt allerdings mit Vesperae Solennes de Confessore C-Dur, und bereits hier kann man bewundern, wie wundervoll instrumental die Chorstimmen klingen, wie  mühe- und bruchlos das An- und Abschwellen des Klangs gelingt, wie natürlich für den Orchesterpart die Akademie für alte Musik Berlin  der ideale Partner ist. Hier und wie im darauf folgenden Requiem klingt der Sopran von Christina Landshamer mädchenhaft, kann aber auch jubeln, ist der Mezzosopran von Sophie Harmsen von schönem Ebenmaß, zeichnet sich der Tenor von Julian Prégardien  durch eine vorzügliche Artikulation, durch eindringliche Schlankheit aus und erfüllt der Bass von Tareq  Nazmi zufriedenstellend, wenn auch nicht ganz frei klingend und für das Tuba mirum nicht gewaltig genug, seine Aufgaben. Die wahren Stars aber sind Chor und Orchester, die Howard Arman zu Höchstleistungen anzuspornen weiß, so dass der Hörer zunehmend erschüttert und  sich erläutert glaubend zurückbleibt (BR Klassik 900926). Ingrid Wanja

 

A la Francais

 

Ganz und gar ihre Opernstimme (sie singt schließlich Zerbinetta und Königin der Nacht an großen Bühnen) verleugnet hat der französische Sopran Sabine Devieilhe für die zarten Gebilde der Chanson(s) d’Amour, Lieder von Fauré, Poulenc, Ravel und Debussy, und mit feiner Mädchenstimme für viel Authentizität gesorgt. Die Bilder im umfangreichen dreisprachigen Booklet zeigen nicht nur Fotos der Komponisten, sondern auch die der beiden ausführenden Künstler in einer Vertrautheit, die nicht nur von künstlerischer Verbundenheit, sondern auch privater zwischen der Sängerin und dem Pianisten Alexandre Tharaud spricht.

Bereits der erste Track, Faurés Notre Amour zeigt die Beweglichkeit der Stimme, die sich von „légère comme les parfums“ bis zu „éternelle“ stufenweise an Volumen zu steigern weiß, ohne je den Rahmen eines Chanson zu sprengen. In des Komponisten Au bord de l’eau klingt der Sopran besonders deliziös und frisch, dem besungenen Element angemessen und nie in Versuchung geratend, sich zu sehr ins Dramatische zu steigern, was der Text eigentlich nahelegen könnte.

Von flirrendem Übermut ist Poulencs Voyage á Paris, von groteskem die Fetes Galantes vom selben Komponisten geprägt.

Von Maurice Ravel stammen die Lieder, die griechischen Melodien nachempfunden sind. Diese erfordern einige vokale Entschlossenheit, die der Sopran durchaus aufbringt, so für Quel galant, während für das Chanson des cueilleuses das Volksliedhafte betont wird, sich in Tout gai! vokale Unbekümmertheit äußern darf. In Ravels Trois Beaux Oiseaux erahnt man die Koloraturgewandtheit und helle Durchschlagskraft der Sopranstimme, in Faurés titelgebendem Chanson d‘ Amour ist „la rebelle“ eher neckisch als rebellisch, die atemlose Liebeserklärung eher dahingeplaudert als von schwerblütiger Leidenschaft bestimmt.

Klar wie die besungene besternte Nacht zeigt sich der Sopran in Debussys gleichnamigem Chanson, eher verhangen und zum Schluss verhauchend klingt seine Romance, in Ravels  Manteau des fleurs wird jede der besungenen Blumen fein charakterisiert.  Pure Schäfertändelei offenbart sich im Chanson francaise, der Kontrast zwischen Vision und Realität wird in Faurés Après un reve deutlich hervorgehoben, und über Les Berceaux schwebt ein Hauch von Tristesse.

Kurz meldet sich in Depussys Apparition auch einmal die Opernstimme, fein umspielt das Piano in Il pleur den Sopran, und dass auch Virtuosität ihr eigen sein kann, beweist die Sängerin in Chevaux de bois.

Bruchlos steigert sich die Sabine Devieilhe, was die Lautstärke betrifft in Spleen, nichts von der uns Deutschen bekannten Volksliedschlichtheit, die aber auch ein Gonoud dem Text einhauchte, hat Ravels Ballade, die von der Schwester des Königs von Thule handelt. Volkstümlich wird es schließlich mit Poulencs Les Chemins de l’Amour, einem zärtlichen Musettewalzer (Erato 01902952242716). Ingrid Wanja

Eugenia Ratti

 

Am Tage ihres Todes erhielten wir Nachricht vom, Ableben der italienischen Koloratursopranisten: Eugenia Ratti (5. April 1933 in Genua – 14. November 2020 in Piacenza) war eine italienische Opernsängerin (Sopran), die im lyrischen Koloraturfach international Karriere machte. Sie wurde insbesondere gerühmt für ihre Mozart-, Donizetti- und Verdi-Interpretationen.

Eugenia Ratti studierte bei ihrer Mutter und nahm Privatstunden bei Tito Schipa. Sie debütierte 1954 an der Mailänder Scala als Adina in L’elisir d’amore – in einer Inszenierung Franco Zeffirellis, mit Carlo Maria Giulini am Pult. Der Scala blieb sie viele Jahre lang treu, sie sang dort unter anderem die Dircé in Cherubinis Médée (mit der Callas in der Titelpartie) und die Novizin Constance vom heiligen Dionysius in Poulenc‘ Dialogues des Carmélites (in der Uraufführung des Werkes am 26. Januar 1957).

Rasch entfaltete sich eine internationale Karriere, die sie unter anderem an die Opernhäuser von Paris, Barcelona, München, Wien, Dallas und San Francisco führte. Sie gastierte beim Glyndebourne Festival Opera (1955 als Nannetta im Falstaff), beim Festival d’Aix-en-Provence und beim Wexford Festival Opera (1969 in Haydns L’infedeltà delusa). Mit der Callas alternierte sie in den weiblichen Hauptrollen des Barbiere di Siviglia (Rosina) und des Turco in Italia (Fiorilla). Innerhalb weniger Spielzeiten etablierte sich die Ratti im Kreis italienischer Spitzensänger, zu denen damals die Cossotto, Freni, Simionato und Tebaldi zählten sowie die Corelli, Di Stefano, Gobbi, Siepi und Valletti.

Ihre Stimme entsprach den Anforderungen für einen lyrischen Koloratursopran und eignete sich für die damaligen Ohren für Mozart-Rollen, auch für die Spielopern von Donizetti und Rossini. Eine ihrer Paraderollen war die Musetta in Puccinis La Bohème, eine andere der Oscar in Verdis Un ballo in maschera. Es liegen mehrere Tondokumente vor, insbesondere mit der Callas (La sonnambula), aber auch mit der Tebaldi, wennglkeich sie uns heute eigenmtlich nur noch aus den Aufnahmen mit Maria Callas in Erinnerung geblieben ist. Nach ihrem Abschied von der Bühne wirkte sie als Gesangslehrerin am Konservatorium von Piacenza.

 

Tondokumente (Auswahl) Bellini: La sonnambula, EMI 1957, Coro e Orchestra Teatro alla Scala, Dirigent: Antonino Votto, mit Maria Callas, Nicola Monti, Nicola Zaccaria, Eugenia Ratti, Fiorenza Cossotto (Scala März 1957)
Cimarosa: Il matrimonio segreto mit Graziella Sciutti, Ebe Stignani, Luigi Alva, Carlo Badioli, Eugenia Ratti, Franco Calabrese, Orchestra del Teatro alla Scala di Milano dirigiert von Nino Sanzogno (1956)
Mozart: Ascanio in Alba, mit Emilia Cundari, Eugenia Ratti, Petre Munteanu, Ilva Ligabue und Anna Maria Rota, Orchestra da Camera dell’Angelicum di Milano und Polifonico di Torino, dirigiert von Carlo Felice Cillario (1961)
Mozart: Don Giovanni, mit Cesare Siepi, Birgit Nilsson, Leontyne Price, Fernando Corena, Eugenia Ratti, Wiener Staatsopernchor, Wiener Philharmoniker, Dirigent: Erich Leinsdorf
Verdi: Aida, als Stimme der Priesterin, mit Tebaldi, Simionato, Bergonzi, MacNeil; dirigiert Bon Herbert von Karajan, Decca 1959)
Verdi: Un ballo in maschera (Callas, Barbieri, di Stefano, Gobbi; Votto, 1956) EMI (Quelle: Wikipedia/ Foto Discogs)

Neue Wege

 

Bisher hat die lettische Mezzosopranistin Elina Garanca im Verlauf ihrer steilen Opern-Karriere zahlreiche Alben nur mit Orchester-Begleitung aufgenommen. Jetzt ist ihre erste CD erschienen, die ausschließlich klavierbegleitete Lieder enthält, und zwar den Liederkreis Frauen-Liebe und Leben von Robert Schumann und dreizehn ausgewählte Lieder von Johannes Brahms. Mit ihrem farbenreichen Mezzo beherrscht sie auch die so genannte kleine, aber höchst intensive Form und erfüllt dabei alle Ansprüche, die besonders an den  Liedgesang zu stellen sind: Perfektes Legato, Intonationsreinheit und sichere Stimmführung in den vielen Piano-Passagen. Die Stimme bleibt auch dann ruhig, wenn in bestimmten Phasen langer Atem gebraucht wird, exemplarisch in der Sapphischen Ode oder der Mainacht mit ihren großen crescendi. Manchmal ist volksliedhafte Schlichtheit, was der Garanca im Mädchenlied oder im schlichten Liebeslied Wir wandelten wie selbstverständlich gelingt. Natürlich fehlen auch nicht geradezu opernhafte Aufschwünge, wenn diese zum Inhalt passen, wie z.B. in Von ewiger Liebe, wenn sich der Bursche und das Mägdelein gegenseitig ihre unverbrüchliche Liebe zusichern, oder am Schluss von Liebe und Frühling II. Insgesamt imponieren die sehr gute Diktion, obwohl deutsch nicht die Muttersprache der Lettin ist, und die jederzeit gut nachvollziehbare Gestaltung des jeweiligen Stimmungsgehalts der unterschiedlichen Lieder. Dabei ist durchaus beeindruckend, wie natürlich sie den teilweise arg zeitgebundenen Inhalt des Frauen-Liederkreises (Ich will ihm dienen) wiedergibt. Schließlich gelingen die Ausdeutungen der Lieder auch deshalb so überzeugend, weil mit Malcolm Martineau ein überaus versierter Pianist zur Verfügung steht, der auf alle Nuancen der Interpretation der Sängerin eingeht – so ist wunderbares partnerschaftliches Musizieren entstanden (DG 00289 483 9210). Gerhard Eckels

Un Programme Populair

 

Der manchmal auch irrende Volksmund behauptet, Tenöre seien dumm, aber zumindest zwei von ihnen haben in der Pandemie das Gegenteil bewiesen und für gestrichene Auftritte bzw. Aufnahmen Alternativen entwickelt. So gab sich Jonas Kaufmann im Homestudio Selige(n) Stunden mit Helmut Deutsch hin und Roberto Alagna hat mit Gattin, erster und zweiter Tochter ebenfalls im trauten Heim, wie die Fotos im Booklet beweisen, französische Chansons eingespielt.

Le Chanteur nennt er die CD, weil er selbst, zwar mit sizilianischen Wurzeln, aber in Frankreich aufgewachsen, von seinen Nachbarn so genannt wurde, lange bevor er den Gesang zu seinem Beruf machte. Bevor die CD entstand, hat sich der Sänger offensichtlich viel Gedanken über sein Unterfangen gemacht, erklärt im Booklet, dass er nicht nur typisches, reines Französisches eingesungen, sondern auch die vielen Kulturen, die zur französischen etwas beigesteuert haben, berücksichtigt hat.  Das erklärt auch die ganz unterschiedlichen Begleitinstrumente, zu denen unter anderen auch eine gypsy violin (das deutsche Wort vermeidet man besser) oder ein Bandoneon gehören.

Der erste Track, der bereits erwähnte Chanteur, lässt erkennen, dass die schöne italienisch timbrierte Stimme Glanz, Frische und Geschmeidigkeit bewahrt hat, wozu als weiteres Plus die natürlich idiomatisch korrekte Aussprache kommt. . Unverfälschtes Pariser Flair wird mit Padam, padam verbreitet, reizvoll ist zur ausgebildeten Sängerstimme die Begleitung durch Gitarre und Trompete in den bekannten Feuilles mortes. Das zärtliche Verklingen bleibt besonders im Gedächtnis. Der Summchor aus Butterfly stand Pate für J’attendrai, und auch der Tenor beginnt summend, ehe er auch im Weiteren die Herkunft der Melodie unterstreicht. Eine Abkehr vom Schöngesang verlangt Adieu mon pays, unüberhörbar  einen herberen Klang, einen orientalischen Touch, während für Un jour je te dirai die Rückkehr zu eher schmeichelnden Tönen angebracht ist. Tochter Ornella aus erster Ehe bringt mit ihrer Naturstimme Kubanisches ins Spiel, anrührend ist das Duett Mayari, während in Bohémienne unüberhörbar Carmen mitmischt. Gypsy Jazz prägt auch Nuages, für die der Tenor, wie er meint, die Stimme mit Olivenöl geschmiert hat. Anrührend ist, wenn die kleine Tochter Malena hier die Rolle des Sklaven übernimmt, dunkel eingefärbt wird er Tenor für Mon pot`le gitan, straff und dunkel ist sie im Tango Il pleut sur la route, der Musette –Walzer Cèst un mauvais garcon gerät jazzig, zu Maniusiu steuert Gattin Aleksandra Kurzak Polnisches bei, und zuletzt wird mit Brels La chanson des vieux amants Belgien eine Reverenz erwiesen. Dem Sänger willkommene Beschäftigung, dem Hörer angenehmster Zeitvertreib ist diese CD, die es ohne Corona nicht gegeben hätte (Sony 19439790592). Ingrid Wanja   

Ah diese Liebe …

 

Joseph Bodin de Boismortiers Ballet Les Voyages de l’Amour von 1736 bringt GLOSSA in einer Einspielung mit dem Purcell Choir und dem Orfeo Orchestra unter Leitung von György Vashegyi heraus, die im September des vergangenen Jahres im ungarischen Pécs entstand (GCD 924009, 2 CDs).

Das Ballet en un  prologue et quatre entrées wurde 1736 an der Pariser Académie royale de musique uraufgeführt. Zwei Jahre später gab es eine Vorstellung mit dem veränderten 2. Akt, der sich auch in dieser Einspielung findet. Der Prolog führt in die Gärten des Amor auf der Insel Cythera, wo der Gott, der nicht nur Glücksbringer sein, sondern auch selbst ein liebendes Herz treffen will, von Zéphyre auf Reisen geschickt wird – in ein Dorf, eine Stadt und an den Hof. Im 1. Akt finden sich beide. als Hirten verkleidet, auf dem Lande wieder. Unter dem Namen Silvandre hofft Amor, das Herz der Hirtin Daphné zu gewinnen. Der 2. Akt führt in die Stadt, wo Amor unter dem Namen Alcidon um Lucile wirbt. Diese erfährt durch ein Orakel, dass Amor Sehnsucht nach ihr hat und verstößt Alcidon. Er jedoch enttarnt sich als der Gott und lässt Lucile beschämt zurück. Im 3. Akt am Hof glaubt Amor, verkleidet und unter dem Namen Émile, von Prinzessin Julie geliebt zu werden, vermutet jedoch, dass sie noch immer an dem galanten Ovid hängt. Überzeugt, dass das wahre Glück im Dorf liegt, beschließt er, zu Daphné zurückzukehren. Der letzte Akt spielt wieder in Amors Palast, wohin Zéphire die schlafende Daphné gebracht hat, die noch immer an Silvandre denkt. Das überzeugt Amor, so dass seine Vereinigung mit Daphné mit Gesang und Tanz gefeiert werden kann.

De Boismortier war ein Zeitgenosse Rameaus und seine Musik atmet in den Tänzen einen ähnlich mitreißenden Schwung und Esprit. In diesen Passagen – von der Ouverture über Menuets, Rondeaus, Tambourins, Préludes, Passacailles, Ritornelles, Caprices, Marches, Contredanses bis zur Sarabande am Ende – kann das im Barock erfahrene Orchester brillieren und hat die vorliegende Aufnahme ihre Meriten. In den Airs und Duos muss man freilich von den drei Sopranistinnen – Chantal Santon Jerffery als L’Amour, Katherine Watson als Zéphire und Judith van Wanroij als Daphné – strengen Gesang von säuerlichem, also typisch französischem Klang und weinerlichem Ausdruck überstehen, was das Anhören nicht immer bequem macht. Bernd Hoppe

Hochgelagert

 

Ohne sie hätte es die Rossini-Renaissance nicht gegeben, die Anziehungskraft des Festivals von Pesaro, ein Bologneser Publikum, das sich von den Plätzen erhebt und Beifall klatscht, als Chris Merritt den Zuschauerraum betritt, um sich eine Manon mit Raina Kabaivanska anzusehen. Er und Rockwell Blake, Raoul Gimenez und nicht zuletzt William Matteuzzi machten es möglich, dass sogar ein Rossini-Otello mit vier Tenorpartien in würdiger Weise aufgeführt werden konnte, nachdem er lange Zeit als unspielbar gegolten hatte. Ebenso verdienstvoll wie diese Herren ist seit mehr als hundert Jahren die Firma Bongiovanni, ebenfalls aus Bologna, die immer wieder Raritäten in ihr Sortiment aufnimmt, in deren Geschäft man alles findet, wenn es das Gewünschte überhaupt gibt.

Ungetrübten Genuss bereitet denn auch, sieht man von kleinen technischen Mängeln der Liveaufnahmen ab, eine CD mit Aufnahmen von William Matteuzzi aus den Jahren 1980 bis 1999, vor allem Arien von Rossini, aber auch Mozart, Puccini und Léhar, deren Darbietung allesamt die strenge Schule von Rodolfo Celletti, des italienischen  Opernpapstes, und die Zusammenarbeit mit Alberto Zedda, Herausgeber  kritischer Ausgaben von Rossini-Partituren, verraten.

Rossini-Tenöre werden nicht wegen ihres schönen Timbres, sondern wegen der Virtuosität ihres Singens bewundert. Bei dem Ausschnitt aus Ricciardo e Zoraide klingt die Stimme noch recht trocken, leicht meckernd, aber bereits hier kann man die reiche Agogik innerhalb einer Gesangslinie, das chiaro-scuro, den puren vokalen Übermut eines Sängers, der sich seiner Mittel sicher ist, bestaunen. Im Ausschnitt aus Le Comte Ory bemerkt der Hörer, dass der Tenor zwar hell, aber durchaus nicht farblos ist, selbst der Spitzenton ist davon nicht ausgenommen.

In Rodrigos „Ah come mai non senti“ aus Otello schraubt sich die Stimme mit hörbarer Lust in die Höhe, zeigt aber durchaus auch Qualitäten eines tenore lirico, um dann wieder zu irrsinnigen Läufen und ebensolchen Intervallsprüngen zurück zu kehren. Einen unvermuteten Touch Tragik trotz des häufigen Auftretens in Buffo-Partien zeigt der Tenor in „Ah segnar invan io tento“ aus Tancredi, bevor in der Cabaletta natürlich Virtuosität gefragt ist und in reichem Maße geboten wird.  In „Vieni fra queste braccia“ aus La Gazza Ladra fällt besonders die Selbstverständlichkeit des Singens, die leichte Emission der Stimme auf, in „Terra amica“ aus Zelmira sind es die großen Bögen, ist es die in allen Lagen gleich starke Präsenz der Stimme, die entzücken, in der Cabaletta der pure vokale Übermut.

Als Ramiro aus La Cenerentola scheint er das „Giuro“ zunächst nicht ganz ernst zu nehmen, aber gemeinsam mit dem Chor geht der Sänger dann in die Vollen, vereint ein irres Tempo mit bewundernswerter Präzision.

William Matteuzzi wagte sich als einer der ersten Tenöre der Neuzeit an das Rondo des Almaviva „Cessa di più resistere“, aber mit hohen Fs wie er hat es wohl noch niemand gesungen, schon gar nicht mit piena voce, also nicht im Falsett. Auch in Lindoros „Languir per una bella“ begibt sich die Stimme in stratosphärische Höhen, bewältigt riesige Bögen und steuert dann noch ein wunderschön ruhiges Piano bei. Das Besondere dabei ist, dass alles äußerst spielerisch, mit hörbarer Freude gesungen wird.

Hoch poetisch ist seine „Aura amorosa“, die zweite Strophe im Piano, mit Schwelltönen, in großer Ruhe und doch spannungsreich dargeboten. Sehr elegant klingt Cimarosa „Pria che spunti“ aus Il Matrimonio segreto, emphatisch und humorvoll zugleich Rinuccios „Firenze è come un albero fiorito“; süffig wie man es von einer Rossinistimme nicht erwartet hätte, Camilles „Come di rose“ aus der Lustigen Witwe. Und Arturos „Credeasi misera“ dürfte alle Tenöre  erblassen lassen ob der Höhensicherheit- nur böse Neider würden da von einem Pfauenschrei sprechen, den die ersten Hörer eines Do di petto einst zu vernehmen glaubten. Orchester und Dirigenten werden nicht genannt im an sich informationsreichen Booklet, aber auf die kommt es hier auch nicht so sehr an GB 1210-2)Ingrid Wanja  

Gabriel Chmura

 

Die ganz großen Dirigentenposten blieben Gabriel Chmura, geboren am 7. Mai 1946 in Breslau, zwar zeitlebens verwehrt, doch zählte er ohne Frage zu den bedeutendsten polnischen Dirigenten der letzten Jahrzehnte. Seine Nachkriegskindheit verlief turbulent. 1957 emigrierte Chmuras Familie nach Israel, dessen Staatsbürgerschaft er erhielt und wo er ab 1964 ein Klavier-, Kompositions- und Dirigierstudium in Tel Aviv aufnahm. Ab 1966 studierte er beim französischen Dirigenten Pierre Dervaux in Paris, ab 1969 beim österreichischen Dirigenten Hans Swarowsky in Wien weiter. Bereits kurz nach Studienabschluss 1971 gewann er den Ersten Preis des Dirigenten- Wettbewerbs der Herbert-von-Karajan-Stiftung in Berlin wie auch die Goldmedaille des Guido- Cantelli-Wettbewerbs der Mailänder Scala. 1974 avancierte er mit gerade 28 Jahren zum jüngsten Orchesterleiter Deutschlands, als er Generalmusikdirektor am Stadttheater Aachen wurde. Nach einem knappen Jahrzehnt erfolgte 1983 sein Wechsel zu den Bochumer Symphonikern (bis 1987) und anschließend ins kanadische Ottawa (bis 1990). Zwischen 2001 und 2007 stand Chmura dem Polnischen Nationalen Rundfunk-Sinfonieorchester in Katowice vor, bevor er schließlich 2012 künstlerischer Direktor des Opernhauses in Poznań wurde. Dort setzte er sich neben dem italienischen und französischen Repertoire gerade auch für die Musik Richard Wagners ein und brachte 2018 nach über einem Jahrhundert erstmals wieder Die Meistersinger von Nürnberg zur szenischen Aufführung. 2015 wurde er zum Ersten Gastdirigenten der Krakauer Philharmoniker ernannt. Gastdirigate führten ihn u. a. zu den Berliner Philharmonikern, zum London Symphony Orchestra, zum Orchestre National de France, zum Montreal Symphony Orchestra und zum Israel Philharmonic Orchestra. Chmura hat zahlreiche Aufnahmen vorgelegt, darunter Werke von Franz Schubert, Felix Mendelssohn, Gustav Mahler, Sergei Prokofjew, Mieczysław Weinberg und Zygmunt Noskowski für die Labels Deutsche Grammophon, Orfeo, Warner, Sterling, Chandos und Accord. Sein letztes Konzert dirigierte Gabriel Chmura am 2. Oktober 2020. Am 17. November dieses Jahres ist er im Alter von 74 Jahren überraschend in seiner Wahlheimat Brüssel verstorben (Foto ChmuraNwes). Daniel Hauser

Spannende Bearbeitung

 

Die bösen Worte berühmter Musiker über ihre Kollegen füllen ganze Bände, aber man stellt fest, dass die ätzenden Sprüche oft den Opfern gar nicht geschadet haben – Lobesworte wirkten aber umgekehrt auch nicht immer. Ein gutes Beispiel dafür liefert das brillante Pariser Ambiente der 1830er Jahre, wo sich die größten Virtuosen der Zeit wahre Schlachten am Klavier lieferten –und mit ihrer spitzen Zunge, denn sie hatten ja ein pekuniäres Interesse daran, die Konkurrenten schlecht zu machen. Als sich Frédéric Chopin 1831 in der französischen Metropole niederließ, schwärmte er für einen Pianisten und Komponisten deutscher Abstammung, Friederich (Frédéric) Kalkbrenner (1785 – 1849), den er in einem berühmten Brief über alle damals ihm bekannte Klaviervirtuosen stellte, einschließlich Franz Liszt: gegenüber Kalkbrenner seien alle anderen Nullitäten. Chopin nahm dem älteren Kollegen, der für seine Eitelkeit berüchtigt war, auch nicht übel, dass er verkündete, bei ihm könne Chopin zu einem Pianisten werden. Die Widmung seines ersten Klavierkonzertes an Kalkbrenner nahm er jedenfalls nicht zurück. Das half alles nicht. Obwohl Kalkbrenner zu Lebzeiten nicht nur als Hauptvertreter des eleganten französischen Klavierstils galt, sondern auch als bedeutender Komponist angesehen wurde, sind seine Werke aus den Konzertprogrammen verschwunden, und lediglich einige CD-Produktionen wie jene der Klavierkonzerte mit Howard Shelley für Hyperion haben seinen Namen lebendig gehalten (der emsige Shelley verfehlt jedoch bedauerlicherweise den erforderlichen jeu lié, soutenu, harmonieux d’une égalité parfaite, den man an Kalkbrenners Vortragsstil rühmte, völlig). Wie ambitioniert Kalkbrenner war, daran erinnert eine neue CD, welche ein erstaunliches Werk ausgräbt. Wie Maud Caillat in dem sehr lesenswerten Booklet darstellt, hat Kalkbrenner in den 1830er Jahren parallel zu Franz Liszt Beethovens Symphonien für Klavier allein transkribiert und mit Widmung an Louis Philippe gedruckt, inklusive der Neunten, mit der sich andere Bearbeiter sehr schwer taten. Beethovens Freund Hummel, der in jener Zeit ebenfalls für Paris die Symphonien für Klavier, Flöte, Geigen und Cello bearbeitete (und zwar wunderschön, auch wenn Liszt darüber lästerte), ließ die Neunte aus, und Liszt schuf seine Klavierfassung erst Jahrzehnte später. Man wundert sich, dass Kalkbrenner, der in gewissen Kreisen als oberflächlicher Salonpianist verschrien war und somit als Antipode Beethovens erscheinen konnte, sich dieses opus maximum vornahm und dadurch in die Reihe der Paris Bewunderer von Beethoven einreihte. Spielte vielleicht die Erinnerung an seine Wiener Jahre (1803-1806) dabei eine Rolle, während derer er sicherlich Beethoven getroffen hatte? Das Ergebnis seiner Bemühungen ist durchaus ansehnlich, obgleich der sarkastische Liszt auch diese in den Boden stampfte („der Ritter Kalkbrenner soll sich lieber um seine blonde oder rote Perücke kümmern“). Man kann Caillat zustimmen, wenn sie schreibt, dass die Transkription „mehr darauf zielt, ein Orchesterwerk auf das Klavier zu übertragen als ihren musikalischen Gehalt aufzudecken“. Die Bearbeitung klingt an Stellen tatsächlich etwas dünn, und trotz des anerkennenswerten Engagements der japanischen Pianistin Etsuki Hirose hätte man sich eine phantasiereichere, vielleicht sogar eine frivolere Interpretation gewünscht, so im arg schläfrig geratenen dritten Satz. Und man hätte auch gerne einen Pleyel der Zeit und nicht wie hier einen modernen Flügel gehört.

Das Finale stellt Beethoven-Fans auf eine besonders harte Probe. Der getrennt vom Rest veröffentlichte Satz behält die Vokalpartien, der Text erklingt allerdings in einer französischen Übersetzung von Crevel de Charlemagne (1807-1882), einem Vielschreiber, der manches aus dem Deutschen und Italienischen übersetzte (so Webers Freischütz). Hier kommen die joie et ses divins transports der Ode nicht gut zur Geltung. Wie man das auch dreht: das klingt falsch, zum einen, weil es sich um eine freie Nachdichtung handelt, die stellenweise Schiller gänzlich aus den Augen verliert, zum anderen jedoch, weil der schwärmerische Text irgendwie unmusikalisch wirkt. Dabei kann man den guten Solisten, dem ehrlich bemühten Chor, der Pianistin und dem Dirigenten, die in einem Live-Konzert aufgenommen wurden, keinen Vorwurf machen. Vielleicht hätte Kalkbrenner doch die Finger davon lassen sollen? Seine Transkription ist jedenfalls ein interessantes und daher hörenswertes Dokument der frühen Beethoven-Rezeption im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Michele C. Ferrari

Beethoven / Kalkbrenner, Symphonie Nr. 9 op. 125 für Soli, Chor und Klavier. Etsuko Hirose (Klavier), Cécile Achille (Sopran), Cornelia Oncioiu (Alt), Samy Camps (Tenor), Thimoté Varon (Bass), Philharmonischer Chor von Ekaterinburg, Andrei Petrenko, CD mirare  MIR 534 (2020).

Mattes Musiktheater

 

 Eine Oper nach Salman Rushdie? Nie davon gehört. Vier Jahre nach den Satanischen Versen veröffentlichte Salman Rushdie 1990 den allegorisch verschlungenen Roman Haroun and the Sea of Stories, der, obgleich für Rushdies 11jährigen Sohn Zafar geschrieben, mehr als ein Kinder- und Jugendbuch ist. Der Roman mit seinen zahlreichen Verweisen und Spiegelungen anderer Romane faszinierte den in diesem März im Alter von 81 Jahren verstorbenen Charles Wuorinen derart, dass er sich von James Fenton das Libretto zu der zweiaktigen Oper Haroun and the Sea of Stories schrieben ließ, die 2001 an der New York City Opera herauskommen sollte, aber nach den Terroranschlägen vom 11. September verschoben wurde. Die Uraufführung fand 2004 statt. George Manahan, 1996 bis 2011 Music Director des Hauses, dirigierte. 15 Jahre ruhte Wuorinens See der Geschichten still, bis sich das Boston Modern Orchestra im Januar 2019 zu einem halbszenischen Projekt entschloss, dessen musikalisches Ergebnis nun auf zwei, mit der Illustration des einstigen Buchcovers wunderschön verpackten und mit Textheft versehenen CDs vorliegt (BMOP…).

Der in New York geborene Charles Peter Wuorinen, Sohn finnischer Einwanderer, ist hierzulande vornehmlich als Komponist der Opernversion von Brokeback Mountain (Madrid 2014) bekannt. Mit seinen rund 280 Werken war er als Komponist, aber auch Dirigent und Pianist eigener wie Werken des 20. Jahrhunderts, eine maßgebliche Größe und ein Pionier der zeitgenössischen Musik in den USA: 1962 war er Mitbegründer von The Group for Contemporary Music, bereits mit 38 Jahren wurde er mit Pulitzer-Preis ausgezeichnet, nachdem seine Werke früh von den großen Orchestern und Dirigenten aufgeführt wurden und sich Christoph von Dohnanyi und James Levine sowie Garrick Ohlsson und Peter Serkin für ihn eingesetzt hatten. Die Farbigkeit und Vielfältigkeit dieses Lebens spiegeln sich in der Oper nicht wider. Haroun and the Seas of Stories ist das, was man gerne als handwerklich solide gemacht bezeichnet, doch für ein Thema, das die Macht der Literatur von Alice bis Peter Pan, von der Unendlichen Geschichte bis zu Tintenherz beschwört und zugleich eine politische Parabel ist, ist sie ausgesprochen gemächlich und irden. Haroun ist der Sohn des Geschichtenerzählers Raschid, der seine Frau Soraya verlässt und daraufhin die Kraft der Erzählkunst verliert. Gemeinsam erleben sie wundersame Begegnungen und bestehen Abenteuer. Fenton hat das alles reduziert und in eine lange Folge gut gemeinter liedchenhafter, doch nicht uncharmanter Texte gepackt. Das ist ein wenig ermüdend, ermüdender noch ist Wuorinens 130minütige Musik, die den Figuren Lebendigkeit, Witz und Geist nimmt, den Stimmen keine Chance zur Entfaltung und Gestaltung gibt. Wuorinen lässt das Orchester nach allen Richtungen rumoren und flüstern, gekonnt, routiniert, mit den zeitgenössischen Formeln vertraut, doch packen kann das phantasielose Aneinander nie. Er selbst beschrieb seine Musik so, “typical me, and does not try to be anything non-Western, non-me, or non-American.“

Heather Buck, die schon 2004 in New York als Sopran-Haroun dabei war, singt auch in Boston den Haroun. Der Bassbariton Stephen Bryant ist Rashid, Heather Gallangher die Soraya, der am Anfang und am Ende der Oper die hübschen Zeilen „Zembla, Zenda, Xanadu; all our dream worlds may come true“ zufallen. Die anderen Figuren, die so schöne Namen tragen wie Snooty Buttoo, Butt the Hoopoe, Prince Bolo, General Kitab und Iff the Water Genie werden von Matthew DiBattista, David Salsbery Fry, Charles Blandy, Aaron Engebreth und Brian Giebler dargestellt. Dirigent Gil Rose sowie das Boston Modern Orchestra Proejct and Chorus machten unter den Augen des anwesenden Komponisten alles richtig, ohne der ausgesprochen matten Oper zu andauerndem Erfolg verhelfen zu können. Es fällt schwer, dem Dirigenten zuzustimmen, “This opera gives people a chance to see Charles’s wit and humor, which in a symphony or string quartet may be more abstracted. I’d love for listeners to go from the beginning, where there’s this wonderful sense of hope and the future, to thinking this is a piece of interest to finally concluding that it’s a piece of vital theater.    Rolf Fath

Salzburg – Dresden

hänsl

Denkt man an die bedeutendsten lebenden Wagner-Dirigenten, so kommt man an ihm nicht vorbei. Christian Thielemann hat sich in den letzten Jahrzehnten unweigerlich als der wichtigster Wagner-Interpret aus dem deutschsprachigen Raum etabliert. Mittlerweile liegen auch beinahe alle Opern des Bayreuther Kanons unter seinem Dirigat entweder als CD oder als DVD bzw. Blu-ray vor. Mit den Meistersingern von Nürnberg, dieser großartigen Abhandlung Richard Wagners über die Kunst an sich, hat er sich schon vor zwei Jahrzehnten eingehend auseinandergesetzt. Zwischen 2000 und 2002 übernahm er die (letzte) Wolfgang-Wagner-Produktion bei den Bayreuther Festspielen (übrigens zudem sein dortiges Debüt). Im Jänner 2008 folgte eine Aufführungsserie an der Wiener Staatsoper, die auch verfilmt wurde (Unitel). Auf eine altmodische Einspielung der Meistersinger in CD-Form mussten sich Wagnerianer indes bis 2020 gedulden. Nun erst erscheint ein Mitschnitt von den Osterfestspielen Salzburg 2019 mit der Staatskapelle Dresden in der gleichnamigen Edition bei Profil/Hänssler unter Thielemanns Leitung (PH 20059).

Tatsächlich besitzt die Sächsische Staatskapelle Dresden, so ihr voller Name, eine Wagner-Tradition wie nur ganz wenige andere Klangkörper und wurde vom Meister höchstselbst auch als „Wunderharfe“ geadelt. Bereits in der Vergangenheit entstanden mehrere Aufnahmen der Meistersinger von Nürnberg, so schon 1938 der dritte Aufzug unter Karl Böhm, gefolgt von zwei Gesamtaufnahmen unter Rudolf Kempe von 1951 (BASF) und unter Herbert von Karajan in der berühmten Ost-West-Coproduktion von 1970 (EMI). Seither verging ein halbes Jahrhundert und ist Thielemann seit fast einem Jahrzehnt Chefdirigent dieses Orchesters.

Vergleicht man die Neueinspielung mit den älteren Interpretationen Thielemanns, so fällt ein etwas beschwingterer, schlankerer Zugriff auf. Besonders wenn man seine alten Bayreuth-Mitschnitte gegenüberstellt, wird dies deutlich; eine Tendenz, die sich bereits in Wien andeutete, in Salzburg aber noch ausgeprägter erscheint. Schien der Dirigent vor zwei Jahrzehnten noch primär der deutschen Nationaloper nachzuspüren, geht sein heutiger Ansatz darüber hinaus, stellt das weihevolle Pathos hintan, ohne freilich dem Irrtum zu erliegen, dies sei allein durch „Tempo machen“ möglich. Mit knapp viereinhalb Stunden Spielzeit vermeidet Thielemann auch heute ein überzogenes Hetzen. 2002 brauchte er sogar noch beinahe fünf Stunden. So ganz stellt sich die Magie von einst indes nicht ein.

Von der damaligen Wiener Besetzung von 2008 ist einzig Adrian Eröd als Beckmesser auch elf Jahre später in Salzburg vertreten. Sein Rollenportrait, das aus dem Stadtschreiber keine Witzfigur macht, ist vielleicht sogar noch ausgefeilter als damals. Gemein ist allen Thielemann’schen Meistersinger-Aufnahmen, dass sie leider keinen idealen Hans Sachs aufweisen. Weder Robert Holl in Bayreuth (der mit der Höhe zu kämpfen hatte) und weniger noch Falk Struckmann in Wien (dem im Schlussmonolog gar einmal die Stimme wegbrach) konnten vollauf zufriedenstellen. Der in der vorliegenden Einspielung eingesetzte Georg Zeppenfeld ist für den Sachs eigentlich etwas zu leichtgewichtig, hat aber zumindest keine Höhenprobleme. In den großen Monologen hält er sich auffallend zurück, wohl auch um seine Kräfte bis zum Schluss aufzusparen. Womöglich wächst er in den kommenden Jahren noch besser in diese anspruchsvolle Rolle hinein. Bei Klaus Florian Vogt, dem Stolzing, scheiden sich seit jeher die Geister. An die bedeutendsten Interpreten des Walther wird man nicht denken dürfen, so auch noch René Kollo unter Karajan. Aber auch mit Johan Bohta in Thielemanns Wiener Filmfassung kann Vogt nicht mithalten; dazu ist die Stimme schlichtweg zu klein und muss sich gar vor dem David von Sebastian Kohlhepp in Acht nehmen. Die übrige männliche Besetzung ist soweit ordentlich; auffallend gut Levente Páll im überschaubaren Part des Kothner. Wie so häufig im heutigen Wagner-Gesang, lässt die Wortdeutlichkeit teilweise zu wünschen übrig, so etwa beim Pogner des ansonsten angenehm timbrierten Vitalij Kowaljow. Dass in den Meistersingern die Männer im wahrsten Sinne des Wortes den Ton angeben, wird in der Neueinspielung unfreiwillig betont, da die weiblichen Charaktere seltsam blass bleiben. Weder die Eva von Jacqueline Wagner noch die Magdalene von Christa Mayer, beide recht bieder, werden nachhaltig in Erinnerung bleiben. Daniel Hauser