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Der hundertfünfzigste Todestag von Saverio Mercadante (getauft 17. September 1795 in Altamura bei Bari; † 17. Dezember 1870 in Neapel) wird von der Musikwissenschaft zum Anlass genommen, in einem groß angelegten Kongress in Neapel, Wien, Altamura und Mailand der musikhistorischen Bedeutung dieses Komponisten nachzuspüren und eine Bilanz der bisherige Forschung zu ziehen. Die Opernhäuser haben das Ereignis (fast möchte man sagen natürlich) verschlafen. Eine Ausnahme bildet das Theater für Niedersachsen in Hildesheim, das Mercadantes Schillervertonung I briganti (coronabedingt mit reduziertem Orchester, aber szenisch und ungekürzt) auf die Bühne bringt. (M. W.)
Deshalb nach dem Amleto apropos der für nunmehr 2021 geplanten Aufführung in Zürich (s. den Artikel in operalounge.de) um die Briganti–Premiere am 12. September 2020 (hier der link zur Besprechung der Aufführung ebenda) herum noch ein Mercadante-Artikel von Michael Wittmann – nun zu den Briganti (Version Paris 1836). G. H.
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Der Komponist in seiner Zeit: Saverio Mercadante war ein anerkannter Komponist, der zu Lebzeiten in einem Atemzug mit Rossini, Bellini, Donizetti oder Verdi genannt wurde. Sein Ruhm basierte vor allem auf seinen zwischen 1819 und 1856 entstandene siebenundfünfzig Opern. Stets hat er dabei für die ersten Häuser und besten Sänger geschrieben. Aber auch die Kirchen- und Orchestermusik nehmen in seinem Schaffen einen für italienische Komponisten des 19. Jahrhunderts ungewöhnlich breiten Raum ein und stehen gleichwertig neben dem Opernschaffen. Sein Ruhm begann zu verblassen, als seine Opern bei der in Italien ja erst in der zweiten Hälfte des 19. Jhds. einsetzenden Ausbildung eines festen Opernrepertoires nicht berücksichtigt wurden. (…)
Der wichtige Impuls für seine Karriere kam in Form einer doppelten Einladung: Zunächst sollte er 1835 erstmals seit 1831 wieder eine Oper (Marco Visconti) für Neapel schreiben. (…) Überdies hatte Rossini, damals Direktor des Theatre italienne in Paris, ihn eingeladen, in der Saison 1835/36 eine Oper für Paris zu schreiben, nachdem dort schon vordem Bellini und Donizetti die Chance erhalten hatten, sich mit neuen Werken vorzustellen.
Der Plan, nach Neapel zu reisen, scheiterte, da zwischenzeitlich in Italien die Cholera ausgebrochen war und die Reise mit erheblichen Quarantäne-Stationen verbunden gewesen wäre. Mercadante fuhr daraufhin kurzentschlossen schon im Sommer 1835 nach Paris, konnte seine bestellte Oper aber erst am 22. März 1836 zur Uraufführung bringen. Die Oper I briganti war nicht eigentlich ein Misserfolg, musikalische Großereignis im Paris der 1830er Jahre, verursacht hatte. Nach Wien 1824 war damit, Mercadante war sich dessen wohl bewusst, auch die zweite Chance zu einer Internationalisierung seiner Karriere gescheitert. Vielmehr ging sie einfach in dem Wirbel unter, den die eine Woche zuvor erfolgte Uraufführung von Meyerbeers Grand´opera Les hugenots, das opernmässige Großereignis der 1830er Jahre, unter. Genau wie damals reagierte er erneut mit einer Art kompositorischen Neubesinnung. Am 11. März 1837 präsentierte er an der Mailänder Scala mit Il giuramento jene Oper, die von Anfang an als sein Meisterwerk gegolten hat. Unter dem Einfluss der Pariser Erfahrungen beschritt er dabei gänzlich neue Wege in puncto dramaturgischer Geschlossenheit und psychologischer Ausdeutung der handelnden Figuren. Er verzichtete auf das bis dahin in italienischen Opern übliche Crescendo, die schmetternden Cabaletten und ähnlichen Schaueffekten. Auch der bis dato übliche canto fiorito wurde durch einen von Mercadante so genannten canto dramatico ersetzt. (Recht eigentlich hätte man erwarten können, dass sich Il giuramento dauerhaft im Repertoire etabliert. Wenn dies dennoch nicht der Fall war, so deshalb, weil Amilcare Ponchielli den Stoff zwanzig Jahre später unter dem Titel La gioconda neu vertont hat. Ähnlich erging es Mercadantes Oper Il reggente, dessen Plot wir heute unter dem Titel Un ballo in maschera kennen).
Diese Entwicklung setzte er in seinen nächsten Werken Elena da Feltre, Le due illustre rivali, Il bravo und La vestale konsequent fort. Mit diesen von ihm so genannten „Reformopern“ stieg er (noch vor Donizetti) nicht nur zum unbestritten bedeutendsten italienischen Opernkomponisten der zweiten Hälfte der 1830er Jahre auf, er hat auch prototypisch vieles vorweggenommen, was man in Unkenntnis seiner Werke heutzutage eher Verdi zuzuschreiben gewohnt ist, auch wenn Verdi die Linie Mercadantes nicht bruchlos fortgesetzt hat. (So gibt es beispielsweise deutlich Unterschiede in der Art der Melodiebildung, in der Verdi Giovanni Pacini, auch eine zu Unrecht vergessene Größe der italienischen Musikgeschichte, deutlich näher steht als Mercadante). Im Übrigen kam der Erfolg für Mercadante gerade zur rechten Zeit: 1837 war sein alter Lehrer Zingarelli gestorben. Mercadante bewarb sich um dessen Nachfolge als Direktor des Konservatoriums in Neapel; sein schärfster Konkurrent war Donizetti. Die Entscheidung fiel erst Anfang 1840 durch den eingestandenermaßen unmusikalischen König Fernando II persönlich, der Donizetti im Rahmen einer Audienz denn auch unumwunden erklärte, dass es ihm herzlich egal sei, wer Direktor eines Institutes sei, dass ihn mehr Geld koste als ein ganzes Infanterieregiment, dass er aber Mercadante als seinem Untertan den Vorzug gegeben habe. (Donizetti war staatsrechtlich gesehen Österreicher).
Für Donizetti war dies der Anlass, seine Koffer zu packen und sich nach Wien und Paris zu orientieren, wo er in seinen letzten Werken noch einmal einen Kreativitätsschub erhielt, die ihn endgültig in den Rang eines Komponisten versetzte, dessen Werke Anspruch auf dauerhafte Gültigkeit haben. Für Mercadante hingegen, der am 1. September 1840 sein neues Amt in Neapel antrat – er sollte es bis zu seinem Lebensende begleiten – ging zwar ein Lebenstraum in Erfüllung, zugleich entfernte er sich aber auch aus dem Zentrum der Opernproduktion in Oberitalien und war fortan gezwungen, sich mit den wenig kunstfreundlichen Bedingungen eines autoritären, ja reaktionären politischen Systems zu arrangieren. In seinen Berufungsverhandlungen hatte Mercadante ein Gehalt durchgesetzt, das in etwa dem Jahreseinkommen entsprach, das er in Novara als Domkapellmeister plus dem Honorar zweier neu komponierte Opern bezogen hatte. Er war damit nicht mehr auf Nebeneinkünfte durch Kompositionsaufträge angewiesen, mithin in der für Italien beneidenswerten Lage eines Komponisten, der sein Schaffen allein seinem eigenen Gutdünken anvertrauen konnte. (…)
Seine erfolgreichste Oper in jener Zeit waren die Orazi e Curiazi von 1846. Er behielt in seinen Opern der 1840er Jahre die Entwicklung seiner „Reformopern“ bei, auch wenn sich dabei ein gewisser Hang zu Breite und Monumentalität einstellte, die ihm den Ruf eintrug, Spezialist für Opern zu sein, die in der Antike und im Rahmen antiker Mythologie angesiedelt waren, gleichsam ein Pendant zu Delacroix´s Historienmalerei.
Die Revolution von 1848 erlebte Mercadante in Mailand, was ihn davor bewahrte, sich ähnlich wie 1820 allzu sehr zu exponieren, wiewohl er zeitlebens seinen liberalen Vorstellungen treu geblieben ist. So unternahm er 1849 den aberwitzigen Versuch, mit Virginia eine Art italienischer Nationaloper zu schreiben, deren Sujet justament jene historisch verbürgte Geschichte ist, die zum Auszug der Plebejer aus Rom und der Errichtung des Volkstribunats führte. Das (voraussehbare) Aufführungsverbot durch König Ferdinand sorgte seinerzeit europaweit für Empörung. 1852 wollte man die Oper dann erlauben, allerdings unter der Prämisse, dass die Handlung nach Ägypten verlegt werden würde. Mercadante hat mit seiner Ablehnung damals mehr Standhaftigkeit bewiesen als Verdi, der einer Verlegung von Un ballo in maschera von Schweden nach Boston zustimmte. Eine Unsitte, die sich ja bis in die Gegenwart gehalten hat.
Mit Verdis Erfolgstrilogie begann sich Anfang der 1850er Jahre die oben zitierte Gewichtung zu dessen Gunsten zu verschieben. Gleichwohl hat Mercadante auch auf diese Entwicklung noch reagiert. Seine letzte Oper Pelagio (1856), die 2005 im nordspanischen Gijon ihre Wiederaufführung erlebte, zeigt, dass Mercadante sehr wohl in der Lage war, seinerseits auf Verdis Neuerungen produktiv zu antworten. Auffällig ist dabei etwa, dass Mercadante immer noch über die weitaus größere Orchestrationskunst verfügte und, sehr im Gegensatz zu Verdi, über solide Kenntnisse der deutschen Romantik. Auffällig aber auch Mercadantes nachgerade obsessives Festhalten am rossini’schen Formenkanon, in dem sich ein gewisser klassizistischer Grundzug des Schaffens Mercadantes ausmachen lässt. Mit seinem der Dramaturgie verpflichteten „far brutto“ hat Verdi in den 1850er Jahren sicherlich Grenzen überschritten, die für Mercadante unüberwindlich waren. Gleichwohl hat Mercadante auch auf die nachfolgende Komponistengeneration eingewirkt, die sich dann ihrerseits gegen das übermächtige Vorbild Verdis durchsetzen mußten. (So ist etwa die Abhängigkeit von Ponchiellis I Lituani von Mercadante unüberhörbar. Und Giacomo Puccini hat noch 1911 bekannt, daß Mercadante La vestale zu den prägenden Eindrücken seiner Jugend gehörten).
Mercadante selbst jedenfalls hielt 1857, also mit 62 Jahren und seinen Kindern im Berufsleben wohl etabliert, die Zeit für gekommen, sich von dem Opernbetrieb zurückzuziehen. (…) Sein letztes vollendetes größeres Werk war eine Messe für Soli, Chor und Orchester. Aber er widmete sich noch einmal der Komposition einer abendfüllenden Oper – eben jenes Marco Visconti, der 1835 unausgeführt geblieben war -, die bis zur Mitte des Finales des ersten Aktes vollendet wurde. Mitten an der Arbeit an diesem Werk traf ihn im November 1870 im Konservatorium ein Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholte. Mercadante starb am 17. Dezember 1870. Sein Begräbnis kam einem Staatsakt gleich.
I Briganti: Als Mercadante im Sommer 1835 nach Paris aufbrach, dachte er an einen Aufenthalt von höchstens drei Monaten. Dass daraus dann mehr als ein halbes Jahr wurde, ist das „Verdienst“ Felice Romanis. Rosini hatte eine opera semiseria erbeten, da Mercadante in Frankreich vor allem durch Elisa e Claudio bekannt war. Mercadante seinerseits seinen bevorzugten Librettisten Romani um ein Libretto gebeten, das dieser ihm auch zusagte, wiewohl er gerade damals von Mailand nach Turin umgezogen war, um dort den Posten des Herausgebers der Gazetta ufficale, also der regierungsamtlichen Zeitung zu übernehmen. In Folge dieses Wechsels stellte er dann auch die Produktion von Opernlibretti ein, die Zusage an Mercadante erfolgte wohl nur noch aus Gefälligkeit. Da Mercadante den Parisaufenthalt aber ursprünglich für das Jahresende 1835/36 geplant hatte, kam nun Romani in Terminschwierigkeiten. Aber anstatt Mercadante eine klare Absage zu schicken, hielt er diesen hin, indem er mögliche Sujets diskutierte (z. B. Il re Teodoro a Venezia). Erst als kurz vor Weihnachten noch immer keinerlei Text vorlag, griff Rossini ein, und Romani erteilte eine klare Absage. So ging der Auftrag an Jacopo Crescini, einem in Paris lebenden italienischen Exilanten und Dichter, der allerdings bis dato noch nie ein Libretto geschrieben hatte.
Crescini hätte, wie er im Vorwort der Briganti schreibt nun gerne eine große historische Oper entworfen, allein, die Zeit war dafür zu knapp. So fiel die Wahl auf Schillers Drama Die Räuber. Dies war aus doppeltem Grund eine kluge Entscheidung: Zum einen ersparte die Dramatisierung eines Theaterstückes gegenüber einer Romanvorlage einen Arbeitsgang des Librettisten; zum andern stand Schillers Stück seit den Tagen der Revolution in Paris auf den Spielplänen der Theater. (In der Tat hatte das Stück Schiller sogar den Titel eines Ehrenbürgers der Revolution eingetragen). Crescini konnte also davon ausgehen, dass jedem Opernbesucher die recht komplexe Handlung vertraut war. Als Konsequenz verzichtete er (anders als Verdi in den Masnadieri) darauf, die Handlung umfänglich zu entwickeln und konzentriert sich ganz auf das tragische Ende. Die Oper besteht aus drei Akten in vier Bildern. Das erste Bild beginnt nach dem Begräbnis des alten Grafen Moor und Corrados (Franz) vergeblichen Werben um Amelia. Das zweite Bild schildert die Rückkehr Ermannos (Hermann) und das Zusammentreffen mit Amelia. Der zweite Akt spielt im Lager der Räuber: nach einem Trinkgelage wird der vermeintlich tote alte Graf befreit und es kommt zum Wiedersehen mit dem Sohn. Der dritte Akt spielt wieder im Schloss: Corrado erhält seine Schlussarie bevor er sich in den tödlichen Kampf stürzt. Der alte Graf tritt auf, es kommt zum Wiedersehen mit Amelia und dann zum Dreiertreffen Graf-Hermann-Amelia. Als sich ein lieto fine anbahnt, fordern die Räuber die Gefolgschaft Hermanns ein. Dieser ersticht Amelia und sich selbst. (Verdi hat dieses Modell später in den Ernani für sich zu nutzen gewusst).
Mit dieser klaren Handlung hatte Crescini ein Libretto vorgelegt, das in seiner Dramaturgie eindeutig nicht an der italienischen, sondern an der zeitgenössischen französischen Oper orientierte. Mercadante, der mit der etwas naiven Vorstellung nach Paris gereist war, dass der Unterschied zwischen italienischer und französischer Oper einfach darin bestünde, dass man in Paris mehr Wert auf eine opulente Ausstattung legen würde, hatte inzwischen sehr wohl erkannt, daß eine Grand’opera mehr war, als eine Abfolge virtuoser Gesangstücke. Und so gliederte er die vier Bilder in sieben große musikalische Nummern, die zwar in sich die traditionellen italienischen Formen wie Scena ed Aria oder Preghiera und Duetto enthalten, die aber von ihm in additiver Weise verwendet und durch auskomponierte Übergänge verbunden wurden. Namentlich den zweiten Akt kann man ohne weiteres als durchkomponiert bezeichnen. (Der später bei Lucca erschienen Klavierauszug hat diese Nummern dann aus verkaufstechnischen Gründen wieder aufgelöst, so daß der avancierte Charakter der Partitur lange unbemerkt blieb). Freilich wäre es falsch, die Bringanti als Abwandlung einer Grand’opera zu bezeichnen. Sie ist und bleibt, was wohl ihr eigenartiges Zwitterwesen ausmacht, auch eine Bel’canto-Oper. Dies ergab sich schon aus der Sängercompagnie, die die gleichen Sänger umfasste, wie Bellinis 1835 uraufgeführten Puritani. Und natürlich waren die Puritani die Messlatte, an der Mercadante sich vor dem Pariser Publikum zu bewähren hatte.
Dabei war die Begegnung mit dem berühmten Puritani-Quartett für Mercadante fast so etwas, wie ein Familientreffen. Zwar schrieb er für Giuditta Grisi zum ersten Mal, mit Luigi Lablache hingegen hatte er, wie oben erwähnt, schon im Konservatoriumsorchester zusammengespielt. Arturo Tamburini und Giovanni Rubini hatten zu Beginn ihrer Karriere um 1820 in Neapel gesungen und die Hauptrollen in Mercadantes zweiter (Violenza e Costanza) und dritter Oper (Anacreonte in Samo) kreiert. Mercadante kannte deren stimmliche Möglichkeiten also ganz genau, und die Partitur erweckt den Anschein, als ob er seinen besonderen Ehrgeiz darin gesetzt hätte, den Sängern best- und schwerstmöglich in die Kehlen zu schreiben. Namentlich der Tenorpart ist (zumindest in moderner Stimmung) fast nicht ausführbar. (Und hier dürfte auch der Grund dafür liegen, dass die Oper bis Wildbad 212 (Naxos) nicht wieder gegeben wurde). Die Uraufführung war durchaus ein großer Erfolg und die Produktion wurde am Ende der Spielzeit auch in London gezeigt. Allerdings stand die Premiere von Anfang an im Schatten von Meyerbeers genau einer Woche zuvor uraufgeführten Huguenots. Da überdies Rossini am Ende dieser Spielzeit nach Italien zurückkehrte, wurde sie in der nächsten Spielzeit in Paris nicht wieder aufgenommen. Gleichwohl erhielt Mercadante noch bis Anfang der 1850er Jahre regelmäßig Anfragen, noch einmal eine Oper für Paris zu schreiben, die er allerdings ebenso regelmäßig ablehnte, da er in realistischer Einschätzung der Pariser Verhältnisse davon ausging, dass für einen dortigen Erfolg eine Vorbereitungszeit von mindestens acht Monaten notwendig sein würde. Eine so lange Abwesenheit war allerdings mit seinen mit seinen Pflichten in Neapel nicht vereinbar.
Der Parisaufenthalt 1835/36 markiert, wie geschildert, den Wendepunkt in Mercadantes Karriere, insofern er sich fortan nur mehr um den italienischen Markt kümmerte. Seine 1837 in Mailand uraufgeführte Oper Il giuramento verarbeitet dabei die Pariser Erfahrungen und weitet diese noch aus. Hatte er mit den Briganti erstmal ein Libretto vertont, das seiner Anlage nach auf ein wirkliches Musikdrama abzielte, so wählte er für Il giuramento mit Gaetano Rossi jenen italienischen Librettisten, der wie kein anderer in Italien eine Vorstellung von diesen Möglichkeiten hatte und der auch Meyerbeers Chefberater in Sachen Libretto war. Darüber hinaus griff Mercadante im Giuramento aber auch in die traditonelle Formensprache ein, etwa indem er die Cabaletten zurückdrängte, die der Entwicklung des Dramas immer wieder entgegenstanden. Vor allem aber propagierte er nun den canto dramatico als Gegensatz zum reinen Belcanto. Das darf man freilich nicht als fundamentalen Gegensatz verstehen: Es ging Mercadante eher um eine Art der Beschneidung des canto fiorito überall dort, wo dieser Gefahr lief, der dramatischen Wahrheit der Handlung zuwider zu laufen. (Die „moderne“ Art etwa Verdi zu singen, ist ja ohnehin das Verdienst, eines Enrico Caruso).
Unter diesen Aspekten hat er dann sich 1837 auch noch einmal die Briganti vorgenommen. Anlass war die bevorstehende italienische Erstaufführung in Mailand. Da die Scala über wesentlich mehr Plätze verfügte als das Pariser Theater, war in jedem Fall eine Verstärkung der Instrumentation geboten. Das im Ricordi-Archiv verwahrte Arbeitsmanuscript Mercadantes zeigt jedoch, wie er die Pariser Fassung quasi Takt für Takt revidierte, um sie seiner neu gewonnen Opernästhetik anzupassen.
Mercadantes neuer Stil hat übrigens einen prominente Bewunderer gefunden, nämlich Franz Liszt, der 1837 in Mailand sowohl Il giuramento wie die revidierte Fassung der Briganti hörte und sich dazu nicht nur in Briefen höchst anerkennend äußerte, sondern 1838 auch ein Klavierstück, Reminiscences de La Scala (S458), komponierte, in dem er Themen aus diesen Opern verarbeitet. Ein weiterer prominenter Zeuge ist: Otto Nicolai, der 1838 die zweite Fassung der Briganti in Turin dirigierte. Auf dem Weg dorthin hatte er bei Mercadante in Novara Station gemacht, um mit diesem die Partitur durchzugehen. Sein Erfolg als Dirigent war danach so groß, dass er selbst den Auftrag erhielt, 1839 für Turin eine Oper (Il templario) zu schreiben, die nach damaligen Verhältnissen ein Welterfolg wurde. Die moderne Erstaufführung dieser Oper (Chemnitz 2008) hat gezeigt, dass Nicolai ebenso wie der junge Verdi von der Kenntnis der Mercadante’schen Reformopern zu profitieren wussten. Überdies – und das ist nicht ohne Ironie – waren es gerade Mercadantes Reformopern, die in den 1860er Jahren der italienischen Meyerbeer-Rezeption den Weg ebneten. Insofern sind sie ein schönes Beispiel dafür, dass selbst in nationalistisch gesonnen Zeiten der Kulturaustausch die Kunst nicht behindert sondern vorangebracht hat. Michael Wittmann
Großen Dank an den renommierten Autor Michael Wittmann, der natürlich operalounge.de-Lesern wie auch der Musikwelt namentlich der Belcanto-Periode als hochgeschätzter Musikwissenschaftler und Fachmann gilt. Er fügte seinem (von uns wegen der Überlänge im ersten Teil der biographischen Entwicklung Mercadantes leicht gekürzten) Artikel eine ausführliche Aufstellung der musikalischen Nummern der Oper I Briganti bei, die den Rahmen unserer Berichterstattung sprengen würde, die wir aber auf Wunsch per mail an Interessenten verschicken. (Abbildung oben: ein Brigantaccio aus Neapel ca. 1850). Redaktion G. H.
Und noch ein PS. von Michael Wittmann im November 2020: Alex Weatherson hat ja dieses Jahr (2020) seine große Pacini-Monographie On-line gestellt. Das ist ein höchst willkommenes Werk und ein schöner Kontrapunkt zum Mercadante-Jahr. Vielleicht können Sie daraus etwas machen und auf beide Publikationen verlinken. Wobei ein Vergleich der Werklisten von Pacini und Mercadante doch sehr plastisch enthüllt, dass Pacini vor allem ein Opernkomponist war. Mercadante ist da viel universeller. Und in Zukunft sollte man sich abgewöhnen, Pacini in einem Atemzuge mit Mercadante zu nennen. Und ich habe in Wien auf dem Mercadante-Kongreß 2020 gesprochen. Das war sozusagen mein Schlußwort zu Mercadante. Und als Dreingabe habe ich jetzt noch das „Systematische Verzeichnis der Werke Saverion Mercadantes“ ins Netz gestellt, an dem ich mehr als dreissig Jahre gefeilt habe. https://mwmusikverlag.wordpress.com/2020/11/01/mercadante-werk-verzeichnis/
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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.