Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Aus allen Perspektiven

 

Keine Angst vor dicken Büchern. Auch von dem Titel Musik und Gesellschaft mit der einschüchternden Unterzeile Marktplätze. Kampfzonen. Elysium und dem kecken Text auf der Banderole, der die beiden insgesamt mehr als zweieinhalb Kilo schweren Bände umspannt, „Grundlagentexte und Streiflichter zu tausend Jahren Musik- und Sozialleben. Aus der Vogel-, Zentral- und Froschperspektive“ darf man sich nicht abschrecken lassen. Von der „Tanzlust und Tanzwut“ im frühen 11. Jahrhundert bis zum „Musikleben im Ausnahmezustand“ im Jahr 2020 reichen die Texte der mehr als hundert AutorInnen, welche die Herausgeber Frieder Reininghaus, Judith Kempe und Alexandra Ziane in den beiden rund 1400 Seiten umfassenden Bänden versammelt haben, wovon der erste „Von den Kreuzzügen bis zur Romantik“ und der zweiten „Vom Vormärz bis zur Gegenwart“ reicht, und die der Verlag Königshausen & Neumann dem Thema entsprechend ausgesprochen wertig und würdig gestaltet und klug und aufwendig illustriert hat. „Um noch halbwegs handlich auszufallen“, was ein charmanter Euphemismus angesichts der gewichtigen Bände ist, „wurde diese Anthologie im Wesentlichen auf die Breitengrade zwischen Amsterdam und Athen bzw. die Regionen zwischen London oder Lissabon d Amsterdam begrenzt sowie die letzten tausend Jahre“, so die Herausgeber.

Nach einer Ouvertüre, bestehend aus zwölf Grundlagentexten, folgen „in zehn Kapiteln 409 Texte, die jeweils von zeitlich (annähernd) genau zu lokalisierenden Ereignissen, Werken oder Leistungen im Musikleben ausgehen und von diesen Ansatzpunkten aus auch orts- und zeitübergreifende Zusammenhänge beleuchten. Diese Essays werden stets von Stichwörtern zu politischen, militärischen, technischen, zivilisatorischen und kulturellen Begebenheiten im jeweiligen Jahr eingeleitet“. Auch das hört sich komplizierter an als es tatsächlich ist.

Und es liest sich interessanter als man vermuten würde. Im Grunde ist „Musik und Gesellschaft“ ein Lesebuch, in dem man nicht unbedingt dem Zeitenstrahl folgen muss, sondern das man auch an irgendeiner Stelle aufschlagen könnte, um sich fest zu lesen, beispielsweise bei der „Steuerung und Zensur von Musik“ im frühen 13. Jahrhundert, wo uns ein Pfeil mit dem Stichwort „Russische Kunstfreiheit“ zu Pussy Riot und Serebrennikov ins Jahr 2019 verweist. Es ist unmöglich, diese Texte in einem Zug zu lesen. Vermutlich auch unnötig, da die Bände dann ins Regal wandern und nie wieder angeschaut würden.

Gehen wir zur Frühzeit der Oper, also ins Jahr 1637, wo Arnold Jacobshagen von der „Finanzierung des Musiktheaters in der Frühzeit der Oper“ und der Eröffnung des Teatro San Cassiano als erstes öffentliches Opernhaus in Venedig und dem bis ins 19. Jahrhundert reichenden System der Logenverpachtung als Motor für die wirtschaftliche Existenz der Oper berichtet. In vorangestellten Stichworten erfahren wir, was in diesem Jahr noch geschah – russische Kosaken erobern die osmanische Festung Asow, Aufstand christlicher Bauern in Japan, Gryphius schrieb die Lissaer Sonette und Caldéron de la Barca Herodes – und werden abschließend auf die Finanzierung von Händels Royal Academy in London und, was man als Operninteressierter unbedingt lesen sollte, auf die Opernfinanzierung heute hingewiesen.

Frieder Rrininghaus, renommierter Literatur- und Kulturforscher, Autor und Journalist/ Frieder-Reininghaus.de

Die Themen sind breit gestreut. Ausgehend vom Fall des Johann Rosenmüller nimmt sich Moritz Eggert des Themas „Machtmissbrauch in Geschichte und Gegenwart der Musikwelt“ an und schlägt den Bogen bis zu den jüngsten Vorkommnissen an der Münchner Musikhochschule. Die MeToo-Debatte schlägt auch nochmals bei Mozarts Don Giovanni auf. Es ist von „Neid und Rivalität auf der Opernbühne“, den horrenden Gagen im 18. Jahrhundert und dem Geschäftsmodell mit hohen Männerstimmen, „Caffarelli & Co“, die Rede, viel auch von Librettokunde. Der Fado erhält ebenso Berücksichtigung wie der Marien-Gesang Ave Maria, der von Maria Behrendt, die ihr Thema bei Rossinis Cenerentola wiederaufgreift, bis zu Beyoncé aufschlüsselt wird. Die Texte sind kurz, oftmals nur zwei, drei Seiten lang. Über das Kastratenwesen möchte manch einer sicher mehr erfahren, auch über das Musik- und Opernleben unter Haydn in Eisenstadt oder im Theater bei Fertöd, über Rossini usw.

Der Duktus der Texte ist unterschiedlich, mache scheinen dem Alltagsgeschäft der Feuilletons zu entstammen, beleuchten Episoden und Anekdoten, wie die Entstehung der Marseillaise, Haydns Gott erhalte, Sacre-Uraufführung oder die Textsammlung zur „Klavierseuche“, wobei die Texte von Reininghaus, nicht nur im Fall der Butterfly, seine reiche Rezensententätigkeit einfangen. Ist der Anfang erst gemacht, findet man kein Ende.  Rolf Fath

 

Musik und Gesellschaft. Marktplätze · Kampfzonen · Elysium. Band 1: 1000–1839 Von den Kreuzzügen bis zur Romantik, 704 Seiten; Band 2: 1840 – 2020 Vom Vormärz bis zur Gegenwart, 724 Seiten Einführungspreis € 58,00 bis 31.12.2020, danach € 68,00; Königshausen & Neumann ISBN: 978-3-8260-6731-0

Paukenschlag zur Gesamtaufnahme

 

Anton Bruckners Achte, zuweilen als Apokalyptische bezeichnet, ist für manch einen die Krönung im Œuvre des „Meisters von St. Florian“. Tatsächlich handelt es sich bei diesem 1887 in seiner Erstfassung fertiggestellten Werk um die letzte vom Komponisten vollendete Sinfonie. Wie so häufig bei Bruckner, ist die Fassungsfrage evident. Die Letztfassung von 1890 hat sich sowohl im Konzertsaal als auch diskographisch mit gutem Grund durchgesetzt, auch wenn die Urfassung ebenfalls ihre Meriten hat.

Der führende deutsche Bruckner-Dirigent Christian Thielemann wagt sich nun für Sony mit den Wiener Philharmonikern an eine Gesamteinspielung der Bruckner’schen Sinfonien, wobei die Gesamtheit hier, wie in nahezu allen Zyklen, in Anführungszeichen gesetzt werden sollte. Einzig und allein der russische Dirigent Gennadi Roschdestwenski hat tatsächlich wirklich alle existierenden Fassungen einer jeden Bruckner-Sinfonie irgendwann eingespielt. Solche Ambitionen hat man in Wien sicherlich nicht, wird es also bei den klassischen neun Sinfonien in den gängigen Fassungen belassen. Den Anfang macht also ausgerechnet die monumentale Sinfonie Nr. 8 c-Moll, als wollte man bereits zu Beginn einen Paukenschlag setzen (Sony 19439786582). Selbstredend handelt es sich keinesfalls um eine Erstbeschäftigung Thielemanns mit diesem Opus magnum. Bei Profil/Hänssler erschien bereits vor einem Jahrzehnt eine großartige Einspielung mit der Staatskapelle Dresden aus der Semperoper vom September 2009, die man aus der Rückschau gleichsam als inoffizielles Thielemann’sches Antrittskonzert als dortiger Chefdirigent betrachten kann. Thielemann sprang damals im letzten Moment für Fabio Luisi ein und gewann mit einem Schlage die Herzen der Dresdner. Die Neuaufnahme entstand beinahe auf den Tag genau zehn Jahre später, bei öffentlichen Konzerten im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins am 5. und 13. Oktober 2019. Es handelt sich also in beiden Fällen streng genommen um Aufführungsmitschnitte, wenn auch um professionell produzierte. Da wie dort entschied sich der Dirigent für die 1939 entstandene Edition von Robert Haas, welche sich bis heute mit jener Edition von Leopold Nowak (1955 bzw. 1972) in etwa die Waage hält. Tatsächlich hat sich Thielemann auch schon der Nowak-Edition bedient, so mit den Münchner Philharmonikern im Jahre 2007 und mit den Berliner Philharmonikern im Folgejahr. Nun sind die Unterschiede in den beiden Editionen allerdings nicht derart gravierend wie bei anderen Bruckner-Sinfonien. Ein Blick auf die Spielzeiten zeigt, dass er sich tempomäßig treu geblieben ist: Für  den Kopfsatz benötigt er mit den Wienern mit 15:42 praktisch exakt genauso lange wie einst in Dresden, das Scherzo fällt mit 15:35 gerade siebzehn Sekunden flotter aus und das Adagio mit 26:26 eine halbe Minute zügiger. Im Finalsatz schließlich bringt er es in Wien auf 23:45, womit er zwanzig Sekunden mehr braucht als in Dresden (abzüglich des dortigen Applauses). Alles in allem also vernachlässigbare temporale Unterschiede. Nun ist es alles andere als ein Geheimnis, dass sowohl die Wiener Philharmoniker als auch die Staatskapelle Dresden eine immense Bruckner-Tradition vorzuweisen haben. Nur sehr wenige andere Klangkörper können da mithalten. Von daher ist die genuine Eignung als Bruckner-Orchester in beiden Fällen unbestritten. Und doch gibt es Unterschiede. Klanglich sind beide Aufnahmen sehr natürlich eingefangen, Störgeräusche sind nicht zu beklagen. An der Donau klingt es etwas wärmer als an der Elbe; man könnte auch sagen: weicher. Es nimmt nicht wunder, dass daher besonders der himmlische langsame Satz von diesem Zugang profitiert. Hier ist Thielemann mehr auf Linie mit Carlo Maria Giulinis vielgerühmter Einspielung mit den Wiener Philharmonikern denn mit Karl Böhms expressiverer Lesart mit demselben Orchester (beide DG). Das angriffslustige Scherzo wird in der älteren Thielemann-Aufnahme mit der Dresdner Staatskapelle eine Spur schärfer akzentuiert als in Wien. Ihren Höhepunkt erreicht die achte Sinfonie im Schlusssatz. Bruckner sprach beim gewaltigen Auftakt zum selbigen von einer musikalischen Umsetzung des 1884 erfolgten Drei-Kaiser-Treffens in Skierniewice bei Brünn zwischen Kaiser Franz Joseph I. von Österreich-Ungarn (dem dieses Werk auch gewidmet ist), dem Deutschen Kaiser Wilhelm I. und Zar Alexander II. von Russland. In diesem Satz tritt die Verschiedenartigkeit beider Aufnahmen am stärksten zutage. Während die Pauken in Dresden furchteinflößend dräuen, grollen sie in Wien vergleichsweise vornehm und zurückhaltend. Dies wird in der Reprise nochmal deutlicher, die mit der Staatskapelle viel infernaler herüberkommt. Die Dresdner Blechbläser gehen aufs Ganze, während die Wiener Kollegen mehr auf Wohlklang setzen. Beides hat seine Berechtigung. Zur letzten Bewährungsprobe wird sodann freilich die mysteriöse abschließende Coda, welche alle Hauptthemen der vier Sätze zugleich erklingen lässt. Hier vermisst man in der Neueinspielung aus Wien ein wenig das allerletzte Fünkchen Durchschlagskraft. In dieser Hinsicht sei der Verweis auf die maßstäbliche, in ihrer Klarheit womöglich unerreichte Aufnahme des Sinfonieorchesters des Norddeutschen Rundfunks unter Günter Wand aus dem Lübecker Dom von 1987 gestattet (RCA). Die Sony-Neuerscheinung ist gleichwohl als im Ganzen überzeugend zu bezeichnen und darf Bürge stehen für das zu erwartende gleichbleibende hohe Niveau des im Entstehen begriffenen Bruckner-Zyklus Christian Thielemanns mit den Wiener Philharmonikern. Daniel Hauser

Nürnberg 1920 – 1950

 

Auf keinen Fall endgültig abschrecken lassen von der weiteren Lektüre des dickleibigen Bandes mit dem Titel Hitler. Macht. Oper. sollte sich, wen nach dem Lesen des Kapitels über das „Sounddispositiv nationalsozialistischer Führerinszenierung“ der Mut verlassen hatte, sich auch die restlichen 580 Seiten zu Gemüte zu führen.  Sehr vielseitig und auch über weite Strecken hinweg für den „Normal“leser verständlich ist das dickleibige Ergebnis eines zwischen 2016 und 2019 stattgefunden habenden Projekts des Forschungsinstituts für Musiktheater der Universität Bayreuth gemeinsam mit dem Staatstheater Nürnberg und dem Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände. Wissenschaftler aus den Bereichen Musik, Musikwissenschaft und Geschichte befassten sich mit dem Thema, in welcher Weise sich die Nationalsozialisten der Musik, insbesondere der Oper, bedienten, um die Menschen zu beeinflussen. Sowohl thematisch wie methodisch ging man dabei über die Grenzen des Themas sowie über die reine Wissensvermittlung hinaus, indem man zum Beispiel auch Reiseführer der Stadt Nürnberg heranzog oder in den Räumen des Dokumentationszentrums in Form eines Reenactment des Riefenstahl-Films Triumph des Willens Erhellendes dazu beitragen wollte, worauf die Faszination gewisser Veranstaltungen der Nationalsozialisten sowie ihrer Darstellung im Film beruhte.

Der Untertitel des Buches lautet Propaganda und Musiktheater in Nürnberg 1920 bis 1950, Stoff ist also nicht nur die Nazizeit, sondern auch die der Weimarer Republik und die der Nürnberger Prozesse, ehe das Opernhaus, eines der wenigen nicht zerstörten, aus der Hand der Amerikaner wieder in die der Nürnberger zurück gegeben wurde. Nicht nur diese Kontinuität, sondern natürlich besonders die Wagner-Oper Die Meistersinger von Nürnberg und Hitlers Faible für Komponisten und besonders dieses Werk,  auch die Tatsache, dass die fränkische Stadt die der Reichsparteitage war, dass sie als eine besonders deutsche galt und besonders stark zerstört aus dem 2. Weltkrieg hervorging, machten sie zu einem interessanten Untersuchungsgegenstand.

Jedem Kapitel vorausgestellt ist eine Zusammenfassung in englischer Sprache, mit deren Lesen man sich aber nicht begnügen sollte, denn sie ist extrem knapp und verzichtet natürlich auf interessante Details, die das jeweilige Kapitel erst lesenswert machen.

In der Einführung der vier Herausgeber wird der Zusammenhang zwischen den drei Begriffen erläutert, der Weg Hitlers zur Oper kurz nachgezeichnet, die Musik als Propagandamittel, zugleich aber als etwas durchaus Subversives gekennzeichnet, hervorgehoben, dass in den Jahren 33 bis 45 es durchaus unerwünscht war, dass nationalsozialistische Symbole auf der Bühne gezeigt wurden. Bereits hier wird auf die Meistersinger eingegangen, wenn das Verhältnis Sachs- Stolzing verglichen wird mit dem Hindenburg-Hitler am Tag von Potsdam. Auch seien Feste und Umzüge hier wie dort anzutreffen, und die Idee einer Volksgemeinschaft verbinde ebenfalls Meistersinger wie 3. Reich miteinander.  Parallelen gibt es für die Verfasser auch zwischen Festwiese und der Gestaltung der Reichsparteitage, und dass die letzte Aufführung im Nürnberger Stadttheater vor der Schließung am 31.8.44 die Götterdämmerung war, gibt ebenfalls zu denken.

Der erste große Block des Buches widmet dich „Ästhetik und Propaganda“. Im Kapitel  „Hitler, Wagner und die nationale Sinnsuche“ befasst sich Gerwin Strobl mit der Ineinanderverzahnung von Wagnerverehrung und Politik, so wenn Hitler den Autobahnbau mit einem „Fanget an!“ beginnen lässt. Der Verfasser warnt zurecht davor,   die Wagnerschwärmerei als auf Deutschland beschränkt zu sehen, sieht es als bemerkenswert an, dass sich Hitler nie auf Wagners Judenhass bezog, betont, dass sein Wagnerbegeisterung und sein viel später einsetzender Judenhass nichts miteinander zu tun haben. Interessant sind auch die Ausführungen darüber, warum sich Goethe und Schiller (der erste Parteitag der NSDAP nach dem Aufhaben des Verbots fand in Weimar statt) oder Richard Strauss ( im Text Strauß) nicht  als Galionsfiguren eigneten. Der faktenreiche und ideologiefreie Beitrag zieht das Fazit, die Oper von der klassenlosen, von einem Künstler geführten Gemeinschaft der Meistersinger habe sich als „Wohlfühldroge“ bestens geeignet.

Hans Rudolf Vaget befasst sich mit Deutschland-„Meistersingerland“ und der Festwiese als Vorahnung der Reichsparteitage. Er räumt mit der weit verbreiteten Meinung auf, Beckmesser sei in der Nazizeit als Jude dargestellt worden, spricht  allerdings von einer „unterschwellig antijüdische(n) Stoßrichtung  der Beckmesser-Figur“.

„Von der Gralsburg zum Lichtdom- Auf dem Weg zum nationalsozialistischen Gesamtkunstwerk“ nennt Tobias Reichert seinen Beitrag, was primitiver klingt, als es das Kapitel dann ist, das Thomas Mann, Adorno und Joachim Fest als Zeugen heranzieht und von der „Ästhetisierung des politischen Lebens“ durch den Faschismus, bzw. durch den kunstverliebten „Führer“ handelt, von den Rauscherfahrungen, die sowohl der Bayreuthbesucher wie die der des Reichsparteitags machen konnte, wobei nicht verschwiegen wird, dass eher die Strapazen als der Rausch bei den Beteiligten dominierten. Daran konnte auch der Lichtdom zum Erscheinen Hitlers nichts ändern. Es werden die Versuche beschrieben, durch musikalische Genüsse, die allerdings nie aufgeführte „Feierstunde“ von Friedrich Jung, in der der Verfasser Parallelen zu den Aufzügen der Gralsritter erkennen will, ein angenehmes Klima zu schaffen.

Den Abschluss dieses Blocks bildet Evelyn Annuß‘ „Beitrag Telefunken-Meistersinger. Richard Wagner und  das Sounddispositiv nationalsozialistischer Führerinszenierung“, die sich auf den französischen Botschafter Francois-Poncet beruft, der den Einzug der Zünfte auf die Festwiese mit den Geschehnissen am 1. Mai 1933 auf dem Tempelhofer Feld vergleicht. Teilweise als eigene Erkenntnis, teilweise als Zitat werden kühne Behauptungen aufgestellt wie die, durch die Versenkung des Orchesters  in Bayreuth würde „der Chor als szenische Figur weitgehend verdrängt“.

Der zweite große Block widmet sich dem Thema  „Inszenierung und Propaganda“, und seine Beiträge befassen sich explizit mit dem Stadttheater Nürnberg und seinen Meistersinger-Aufführungen, was natürlich auch eine willkommene Hinwendung zum Konkreten bedeutet.

In Silvia Biers Beitrag über das Stadttheater der Dreißiger, der auch von der Befragung von Zeitzeugen lebt, geht es um die drei Dimensionen, die ästhetischen Mittel, den Kontext und Rezeption und Dokumentation, ganz konkret auch um die Umgestaltung des Innenraums im Jahre 1935, wozu auch die Einrichtung einer Führerloge gehört. Als interessant erweist sich auch die Betrachtung der „Blätter der Städtischen Bühnen Nürnbergs“, oft mit antisemitischem Leitartikel, ansonsten aber ohne ideologische Bezüge. Ein weiterer Abschnitt ist der Spielpangestaltung gewidmet, die Deutsches bevorzugt, aber Italienisches und Slawisches nicht ausschließt, eher zeigt sich Nationalsozialistisches in der Bühnengestaltung, aber eher verhüllt im Naturalistisch-Monumentalen. Eine Ausnahme sind die Meistersinger von Reichsbühnenbildner Benno von Arent mit dem Fahnenwald der Festwiese. Ausführlich und damit nachvollziehbar und mit den entsprechenden Abbildungen, die auch den fließenden Übergang von der Bühne zum Parkett zeigen, wird hier nachgewiesen, wie man die „Erlebnisgemeinschaft“ zu inszenieren versuchte.

Thomas Kuchlbauer weist in seinem Beitrag darauf hin, dass Hitler nie der historische, eher noch der Sachs von Lortzing nahe stand. Er betrachtet auch den Einfluss der Nazis auf die Theaterkritik, in der häufig von Sachs als dem „lenkenden und führenden Menschen“ u.ä die Rede ist. Interessant ist, dass die Lortzing-Musik dem Sachs entrissen und einem Kotzebue-Text aufgepfropft wurde. Mit diesem Artikel und den Beiträgen davor ist der Leser längst dem unverdaulichen Soziologendeutsch entkommen, das ihn in einem der Anfangskapitel verstört hat.

Auch das nächste Kapitel, das sich Wieland Wagners erstem Ring widmet, ist von Anno Mungen so interessant wie anschaulich geschrieben, schildert anschaulich das Verhältnis des Wagner-Enkels, der sich zunächst nur als Bühnenbildner betätigt, zu Hitler, der nach Meinung des Verfassers in Wieland und dem Sohn des Bühnenbildners Roller Ersatzsöhne sieht. Hier wie auch an anderer Stelle wird deutlich, dass die Wiener Moderne  durchaus auf Bühnen Nazideutschlands geduldet wurde. Im Anhang befindet sich ein „Gutachten“ von Rudolf Hartmann über die Walküre vom 12.10.1943, im Unterschied zu anderen Quellen gut lesbar.

Der dritte Block nennt sich schlicht „Akteure und Propaganda“ und bringt an erster Stelle ein Lebensbild des Verwaltungsinspektors Georg Ukherr, schildert dessen Aufstieg, der auch dank des Bekenntnisses zum Nationalsozialismus erfolgt und sein Entnazifizierungsverfahren, begnügt sich aber nicht mit dem Einzelschicksal, sondern problematisiert die unterschiedlichen Möglichkeiten der Geschichtsschreibung, die der Wiederbelebung einer Aufführung durch die Theaterwissenschaft. Der Autor Daniel Reupke zeigt anhand des Einzelschicksals, wie heikel das Thema Entnazifizierung war, warum sie nicht die Erwartungen erfüllen konnte, die man anfangs hatte. Dieser Beitrag kann besonders deswegen gefallen, weil er Konkretes und Abstraktes sinnvoll miteinander verbindet.

Wolfram Pyta befasst sich mit Bühnenbildnern der Nazizeit, hier hätte man sich Abbildungen gewünscht, Jasmin Goll dem Frauenbild in Strauss‘ Frau ohne Schatten,  was ein wenig deplatziert wirkt, da das Stück bereits 1919 uraufgeführt wurde. Zwar ist die im Frosch gepriesene Mutterschaft auch für die Nazis erstrebenswert, aber ansonsten war ihnen das Stück wohl eher fremd. In der Nürnberger Aufführung war denn auch nichts von Nazi-Ideologie zu spüren.

Im vierten Block, der Raum und Propaganda zusammenführt, geht es handfester zu mit Martin Otts Vergleich der Nürnberger Stadtführer durch des deutschen Reiches Schatzkästlein, von der ersten Ausgabe 1906 an bis zur zwölften im Jahre 1934. Sehr interessant ist, wie sich der Blick auf die Stadt wandelt so wie der Weg, der vorgeschlagen wird, um sie zu erkunden. Anschaulich bleibt es auch bei Sebastian Werrs Beitrag über Hitler und die Theaterarchitektur, und man nimmt verwundert zur Kenntnis, wo er überall seine Hände im Spiel hatte, so in der Städtischen Oper Charlottenburg, die zum Deutschen Opernhaus wurde, im Schillertheater, der Volksbühne und dem Admiralspalast- und das sind nur die Berliner Eingriffe. Durchweg soll an die Stelle von Jugendstilelementen Klassizistisches treten, viele Fotos beweisen es. Dem Nürnberger Haus gilt natürlich sowohl Hitlers wie des Autors Aufmerksamkeit.   Sebastian Gulden und Silke Ludwig haben sich diesem Abschnitt gewidmet.

Dass Hitler auch für die besetzten Länder plante, beweist das Kapitel „Von der „Akropolis“ zur „Baracke““ von Stefan Heinz, in dem es um ein geplantes Opernhaus in Luxemburg geht.

Im fünften Block, der sich etwas ungeschickt „Musiktheater und Nationalsozialismus ausstellen“ nennt, fragt sich Christiane Plank-Baldauf, ob man den Schrecken überhaupt ausstellen könne und dürfe, erwähnt mögliche Konzepte wie natürlich das in Nürnberg, aber auch das im Münchner Dokumentationszentrum 2015 oder Majdanek in Lublin. Seit 2001 gibt es die Ausstellung „Faszination und Gewalt“ in einem teils Ruine seienden Gebäude auf dem ehemaligen Gelände der Reichsparteitage. Martin Schmidl äußert sich zu Erlebnisdesign und Atmosphären-Design, Gabriele Nutz und Daniel Reupke schreiben über die Theaterbibliothek und ihre Funktionen.

Den letzten Teil des Buches bildet die Schilderung der Performance, bestehend aus dem Miteinander von Identität und Abweichung in der Wiederholung mit dem Zweck, den Riefenstahl-Film zu entlarven, zu entzaubern, anschließend gab es ein Publikumsdiskussion, die ebenfalls abgedruckt ist.

Die letzten Seiten des Buches offerieren eine Auswahlbibliographie, ein Abkürzungs- und ein Abbildungsverzeichnis und einen Überblick über die Autoren ( 596 Seiten, Königshausen & Neumann 2020; ISBN 978 3 8260 6701 3). Ingrid Wanja   

Ach ja, der Jonas!

 

Sommernachtskonzert der Wiener Philharmoniker im Park von Schloss Schönbrunn. Wegen bekannter Misshelligkeiten allerdings konnten sich erst im September dieses Jahres anstelle der sonst dicht gedrängt den Park füllenden diesmal nur wenige Zuschauer an dem Programm erfreuen, das unter das Motto „Liebe“ gestellt worden war. Damit war die Auswahl natürlich riesig und wurde, zumindest zum größten Teil, unter den allerbekanntesten und allerbeliebtesten Stücken klassischer und nicht so klassischer Musik getroffen.

Niemand wird bezweifeln, dass es in Wagners Tristan und Isolde um Liebe geht, aber einen Zusammenschnitt aus mehreren Motiven, im Booklet als Love Music angekündigt und vom Dirigenten Leopold Stokowski einst als „symphonische Synthese“ akklamiert, empfindet so mancher Klassikfreund wohl doch als etwas zu volkstümlich, und so ist es kein Wunder, dass Dirigent Valery Gergiev den Philharmonikern damit eine für sie Erstaufführung zumutete. Wie weichgespült erscheint der Orchesterklang, vermittelt pure Prachtentfaltung und ein intensives An- und Abschwellen der Töne.  Zweifellos auch um Liebe geht es im Vorspiel zum Rosenkavalier, und eine besonders leidenschaftliche vermittelt das Orchester mit dem Vorspiel, lässt es danach silbrig schimmern mit dem Überreichen der gleichfarbigen Rose. Das Schmankerlprogramm geht weiter mit der Barkarole aus Hoffmanns Erzählungen, in denen es heftig wallt und wogt. Gewahrt bleibt der Wunschkonzertcharakter mit Werthers „Pourquoi“– und wer ist der Solist? Natürlich Jonas Kaufmann, den Corona nicht davon abhalten konnte, Selige Stunden, Sein Wien und doppelt White und andere Christmas einzuspielen. Er ist nicht mehr der schwärmerische Sturm- und Drang-Jüngling, den man in der Pariser Oper bewunderte, nun ein gestandener Mann, der aber ab und zu in ein ätherischer Falsett verfällt- und damit in eine Unsitte, die man überwunden glaubte. Zum Ausgleich wird aber zum Schluss gewaltig aufgedreht. Zur Unart wird der Wechsel zwischen Vollstimme und Falsett dann in der Arie aus Gräfin Mariza, und „Nessun dorma“ muss wohl einfach sein, obwohl es so mancher Zuhörer mittlerweile nicht mehr hören mag, dann eher schon die Zugabe „Wien, du Stadt meiner Träume“.

Ein virtuoses Flirren und Flimmern lässt das Orchester in Mendelssohns Sommernachtstraum vernehmen, schnulziger als der Film ist die Musik zu Doktor Schiwago, und ebenfalls aus dem Bereich Wohlfühlmusik ist zumindest das Adagio aus Khachaturians Spartacus. Auch das Orchester spendiert eine Zugabe mit Wiener Blut, in der auf die Sachertorte noch eine ordentliche Portion Zuckerguss gegeben wird.  Wunderbar bügeln oder andere häusliche Arbeiten verrichten kann man beim genussvollen Anhören dieser CD (Sony 19439719622). Ingrid Wanja        

Schlankstimmig

 

Orfeo von  Claudio Monteverdi gilt bekanntlich als erste „richtige“ Oper; wohl auch deshalb gibt es eine ganze Fülle von Live-Mitschnitten aus verschiedenen Opernhäusern, aber auch etliche Studio-Einspielungen. In der jetzt bei naive erschienenen Aufnahme, entstanden Anfang 2020 im Studio in Montpellier, steht wie eigentlich bei Orfeo immer der Sänger der Titelfigur im Zentrum. Hier ist es der Tenor Emiliano Gonzalez Toro, der auch das von ihm  und der Sopranistin Mathilde Etienne 2018 gegründete Ensemble I Gemelli leitet. Letzteres ist neben Toro die Attraktion der Aufnahme, was nicht nur daran liegt, dass dabei ein modernes Faksimile eines Ceterone aus dem Jahr 1601 aus den Sammlungen des Musée de la Musique de Paris gespielt wird. Monteverdi hat in der Orfeo-Partitur ein solches Ceterone, ein Zupfinstrument ähnlich einem Chitarron, aufgeführt. Die Continuo-Passagen bei den Ritornellen und in der Begleitung der Sängerinnen und Sänger bestechen wohl auch wegen dieses heute fast vergessenen Instruments mit selten zu hörenden, abwechslungsreichen Differenzierungen. Auch beim Sänger der Titelrolle sind die überaus variablen Klangfarben auffällig; besonders die großen Szenen im 3.Akt, wenn Orfeo die Unterweltfürsten mit seinem Singen zu überwinden sucht, gelingen eindrucksvoll. Sie reichen von machtvollem Auftrumpfen im Klagen über den großen Verlust bis zu kunstvoll verziertem, einschmeichelndem Gesang. Von dem übrigen Sänger-Ensemble in den kleineren Rollen und dem acht-köpfigen Ensemble Vocal de Poche, bei denen allen die durchweg schlanke Stimmführung gefällt, seien einige hervorgehoben: Emöke Baráth als Musica und Euridice überzeugt mit lockerem, im Ausdruck vielgestaltigem Sopran, was ebenso für Mathilde Etienne als Proserpina gilt. Mit abgerundetem Mezzo macht Alix Le Saux als Speranza und als einer der vier Hirten auf sich aufmerksam. Den Caronte hat man schon schwärzer und tiefgründiger gehört (Jérome Varnier); mit charaktervollem Bass erklärt Nicolas Brooymans als Plutone die schwere Bedingung der Heimführung Euridices. Leider stimmt die Intonation beim hellen Mezzo von Natalie Pérez nicht immer; außerdem produziert die Sängerin der Messagiera derart gerade und übertrieben vibratolose Töne, dass die an sich freudige Botschaft eher kalt rüberkommt. Dies trübt allerdings den sehr positiven Gesamteindruck nur marginal.

Wer Musik der Renaissance mag, der wird mit dieser im Ganzen gut gelungenen Aufnahme bestens bedient (naive V 7176, 2 CD). Gerhard Eckels

Familienfreundliches Amusement

 

David Monod, Spezialist für US-amerikanische Sozial- und Kulturgeschichte, hat den Versuch gewagt, die Geschichte der nordamerikanischen Kunstform Vaudeville in sechs Kapiteln und auf 226 Seiten Text nachzuzeichnen. Dabei entstehen aus einem überbordenden, chaotischen und durchkommerzialisierten Phänomen so etwas wie Struktur, Form und Ordnung, die einen Eindruck über Aufstieg und Fall dieser singulären Form populärer Unterhaltung geben.

Für Monod geht Vaudeville aus diesen 19.-Jahrhundert-Vorläufern hervor: Varieté, Minstrel Shows, sogenannten „Dime“-Museen („Groschenmuseen“) und Darbietungen in Saloons bzw. Bars. Für den Autor war das Vaudeville vor allem für die Mittelschicht gedacht, die familienfreundliche Unterhaltung suchte – mit Gespür fürs Neue, Überraschung, mit ständig wechselnden Programmen. Vaudeville war weder elitär wie die Oper, noch so teuer wie andere musikalische Unterhaltungen, etwa die Operette, das frühe Musical oder die Revue. Stattdessen war Vaudeville bewusst preisgünstig konzipiert, so dass Zuschauer mehrmals die Woche hingehen konnten. Diese „Volksnähe“ machte Vaudeville sehr demokratisch, auch weil gezeigt wurde, dass jeder mit einem besonderen Talent groß rauskommen könne.

Poster: Hurly-Burly-Extravaganza, Refined Vaudeville 1899/ Britannica

Für Monod umfasst die Hochphase des Vaudeville 35 Jahren: von 1890 bis 1925. Allerdings merkt man, dass sein unübersichtlicher und unintellektueller Untersuchungs-Gegenstand sich typischen akademischen Kategorisierungen widersetzt. In Kapitel 1 geht es um die „Mode für Vaudeville („Vogue for Vaudeville”) und darum, wie das Genre sich vor allem in urbanen Zentren ausbreitet, weil es saubere, sichere und gut beleuchtete Theater bespielte sowie „Stars“ offerierte, die medial entsprechend angepriesen wurden.

Mit vielen Zitaten aus Tageszeitungen und Fachjournalen der Ära bietet Monod Informationen zu den extrem diversen Darstellern, die so wirklich jede nur denkbare Attraktion boten. Sie waren selbst verantwortlich für ihre Requisiten und Kostüme, für ihre Musik und ihre Begleitung. Ihr Leben war unvorhersehbar und konnte sich ständig von einem Tag zum anderen ändern. Wegen der vielen Reisen von Stadt zu Stadt, von Theater zu Theater, und wegen Auftritten fast rund um die Uhr war das Leben für Vaudeville-Darsteller hart. Neben Jongleuren, Akrobaten, Tänzern, Komikern, Sängern, Musikern, Verkleidungskünstlern mit ihren „Acts“ gab es kurze Theaterstücke, Sketche, Mini-Musicals, alles was Neu war und das Interesse des Publikums wecken konnte.

Die berühmte Fanny Brice, Vaudeville – Star ihrer Zeit/ Dover

Die großen Persönlichkeiten, die den Vaudeville-Markt beherrschten, hießen Sophie Tucker, Fannie Brice, Al Jolson, May Irwin, Nora Bayes, Gallagher & Shean, Eddie Cantor, Ray Bolger. Sie alle fingen klein an und perfektionierten ihr Können im Vaudeville, bevor sie zu größerem Formaten wie den Follies, Revuen, Musicals und später zum Kino wechselten. Die meisten Vaudeville-Darsteller verschwanden allerdings im Dunkel der Geschichte.

Einige wenige prominente Afro-Amerikaner gingen aus dem Vaudeville-System hervor, obwohl dieses zutiefst rassistisch war und die Arbeitsbedingungen für Schwarze noch dramatischer waren als für Weiße, vielen von ihnen jüdischer Abstammung. Monod schildert die Kämpfe, die S. H. Dudley & His Smart Set ausfechten mussten, oder Bert Williams, Ernest Hogan, Bob Cole bzw. J. Rosamond Johnson, um nur die allerbekanntesten zu nennen. Viele von ihnen machten später Karriere am Broadway.

Im 2. Kapitel beleuchtet Monod die Modernität des Genres, die Weise, wie sich Vaudeville an Konsumentenbedürfnissen orientierte und damit, wie Vielfältig das Angebot war. Monod schreibt, die Darsteller mussten „authentisch“ wirken, um das Publikum zu erreichen. Sie waren die ersten, die neue Musikrichtungen unters Volk brachten, z. B. den Ragtime. Musikverlage rissen sich um prominente Vaudeville-Darsteller, um ihre Porträts auf Notendeckblättern zu verwenden, wodurch Musiktitel quasi empfohlen wurden. Tanzmoden wie der Two-Step, der Foxtrott, der Shimmy, der Tommy, der Texas-Tommy etc. wurden alle zuerst in Vaudevilles eingeführt.

Rassistische Witze und Stereotype – bis hin zur Extremkarikatur – waren weitverbreitet und allgemein akzeptiert, auf eine Weise, wie man sich das 2020 kaum mehr vorstellen kann. Blackface war als Stilmittel bei weißen wie afro-amerikanischen Darstellern omnipräsent und führte zu vorhersehbaren Klischees, Einschränkungen in der Charakterisierung und noch mehr Rassismus.

Das 3. Kapitel heißt „Grabbing Attention, or Making Good with the Distracted Audience”. Wenn das Publikum müde wurde oder unaufmerksam, mussten die Darsteller es sofort zurückgewinnen. Monod nennt diese Taktik „direct appeal“, weil sie unmittelbar funktionieren musste.

Die Sänger, die Stars, die Komiker erzählten dem Publikum oft Familiengeschichten, über ihre Ehepartner oder über etwas, was gerade passiert ist, dadurch sollte die Illusion von Vertrautheit erzeugt werden. Und so etwas wie der Eindruck von „Freundschaft“ entstehen. Anders als bei britischen Music Halls war das US-Publikum ausdrücklich aufgefordert zu reagieren und den Darstellern lautstark zu antworten. Ansonsten sollte es sich allerdings zurücklehnen und entspannen – und einem anstrengenden Arbeitsalltag entfliehen.

In Kapitel 4 geht es um die Modernität von Vaudeville. Auch wenn amerikanische Zuschauer neue Moden vielfach nur langsam akzeptierten, halfen Vaudeville-Darsteller, Trends zu beschleunigen. Laut Monod wollten Vaudevillians immer, dass ihr „Act“ frisch und neu wirkte. Die Tänzerin La Sylphe – mit der Wespentaille – entfachte Begeisterung für Salome und ihrer Schleiertanz. Der „Apachentanz“, bei dem ein „ganzer Kerl“ eine Frau durch die Luft schleuderte, entpuppte sich als zu drastisch fürs Vaudeville-Publikum, er musste entschärft werden, indem man darüber lachen konnte. Vaudeville bemühte sich immer, ein „sauberes“ Image zu promoten. Sexuelle Inhalte wurden genauestens kontrolliert, damit Frauen und Kinder unbeschadet Aufführungen besuchen konnten, womit sich Vaudeville stark von Operetten und Burlesques unterschied.

Vaudeville: Ohne die „Mädels“ ging nichts – und welcher New-York-Besucher der Fünfziger bis Achztiger erinnert sich nicht an die langen Beine in der Radio City Music Hall?/ santafemexican

In den Kapiteln 5 und 6 wendet sich Monod plötzlich ab von den Darstellern und den Inhalten von Vaudevilles und widmet sich dem Geschäft. Es gab kleine Vaudeville-Theater in der Nachbarschaft mit niedrigen Preisen, denen die großen Theater gegenüberstanden in großen Städten, mit höheren Produktionskosten und entsprechend teureren Eintrittspreisen. Hier stellt Monod die wichtigsten Player vor: die Theaterbesitzer Fred Proctor, H. R. Jacobs, Marcus Loew, Alexander Pantages, Oscar Hammerstein I, B. F. Keith, E. F. Albee, die das Vaudeville auf luxuriösen Riesenbühnen zu einem nationalen Phänomen machten. Er beschreibt ihre skrupellosen Geschäftspraktiken – Buchungsagenturen, Kartelle usw. –, die schließlich zum Niedergang der Kunstform führten. Es kam zu Streiks der Darsteller, Gewerkschaften wurden gegründet, um die Ausbeutung zu stoppen. Afro-Amerikaner gründeten ihre eigenen Spielstätten und lockten ein eigenes Publikum heran – wobei wiederum neue Kartelle entstanden, deren Geschäftspraktiken ebenfalls fragwürdig waren.

Mit der zunehmenden Verbreitung des Stummfilms wurden immer häufiger kurze Filme Teil von Vaudeville-Programmen. Daraus entwickelten sich bald Spielstätten, wo auch längere Filme gezeigt wurden – die irgendwann zur Hauptattraktion avancierten. Wodurch Vaudeville-Theater zu Kinos mutierten. Wenn überhaupt, wurden Live-Darbietungen irgendwann nur noch als Vorprogramm zum Film und in den Pausen angeboten. Die über Theaterketten und Betriebskartelle operierenden Vaudeville-Routen quer durch die USA wurden schließlich zu den wichtigen Distributionsrouten für Hollywooderzeugnisse.

Auch er gehörte zu den Attraktionen des Vaudeville: der schöne Eugen Sandow, der seine beträchtliche physische Wirkung zu vermarkten wusste/Wikipedia

Je mehr sich das Kino durchsetzte und dann nach dem Ersten Weltkrieg auch Tonträger, desto mehr wurde Vaudeville verdrängt. Das Radio beschleunigte den Prozess in den 1920er-Jahren. Und als dann mit The Jazz Singer 1927 der Tonfilm kam, war es eigentlich vorbei mit Vaudeville.

Als seriöse akademische Publikation zu einem frivolen Thema bietet das Buch nur 19 kleine Abbildungen in Schwarzweiß, die aber allesamt faszinierend sind. Insgesamt liefert das Buch unendliche viele Details, die den Leser irgendwann jedoch versinken lassen in einem zu viel von allem. Was den einstigen Reiz von Vaudevilles ausmachte und warum die Kunstform so populär war, das erschließt sich dem modernen Leser nur bedingt. Dennoch ist die Leidenschaft des Autors für sein Thema nicht zu leugnen, und sie ist ansteckend. Selbst wenn ich mir einen leichteren, witzigeren und beherzteren Erzählton gewünscht hätte. Mache seiner Thesen wiederholt Monod so oft, dass sie ermüden. Man glaubt irgendwann aus reiner Erschöpfung, dass sie wohl stimmen müssen.

Der Autor, der Broadway-Experte Richard C. Norton/ Foto privat ORCA

In seiner Danksagung erwähnt Monod die Datenbank vaudevilleamerica.org. Sie lohnt, einen Besuch. Und letztlich muss man Monod auf alle Fälle gratulieren, zu der vielen Arbeit, die er in diese Untersuchung gesteckt hat. Das Buch wirft ein helles Licht auf eine vergessene Ära der US-amerikanischen Populärkultur. Hoffentlich gibt’s bald mehr dazu zu lesen. Richard C. Norton/ Übersetzung Kevin Clarke

 

(David Monod “Vaudeville & The Making Of Modern Entertainment 1890-1925”; 288 S., Register & Illustrationen; University of North Carolina Press, HARDCOVER ISBN: 978-1-4696-6054-7).  Foto oben Poster/ Harry-Rasom-Center;  der obige Artikel erschien im oiriginalen  Englisch zuerst auf der Website des Operetta Research Center, dank an den Autor und ORCA-Chefredakteur Kevin Clarke)

Wie erstmals gehört

 

In prominenter Besetzung bringt APARTÉ Mozarts Azione sacra Betulia Liberata neu heraus, aufgenommen live im Juni/Juli 2019 in Boulogne-Billancourt (AP235, 2 CDs). Mozarts Werk auf ein Libretto von Pietro Metastasio, welches sich auf das Buch Judit aus dem Alten Testament stützt, ist sein einziges vollendetes Oratorium und das frühe Zeugnis eines Genies – der Komponist zählte erst 15 Jahre, als er das Werk 1771 für Padua schrieb.

Der hohe Stellenwert der Einspielung ergibt sich aus der Mitwirkung des renommierten Barock-Ensembles Les Talens Lyriques unter seinem Leiter Christophe Rousset. Mehrfach glaubt man, das Werk völlig neu zu hören: Die rhythmische Intensität, die Lebendigkeit und die Spannung dieser Interpretation sind überwältigend.

Im illustren Cast finden sich Sandrine Piau als Israelin Amital und Teresa  Iervolino, erpobt in Salzburg und Pesaro, als israelische Witwe Giuditta. Die Sopranistin wartet mit energischem Aplomb auf, die Stimme ist nachgedunkelt und nun reifer im Klang. Das schließt gelegentlich auch spitze oder grelle Töne ein, die jedoch stets dem Ausdruck verpflichtet sind. Und mit ihrem letzten Solo, „Con troppo rea viltà“, erinnert sie mit dem gefühlvollen Vortrag an ihre großen Zeiten. Die italienische Mezzosopranistin erfreut mit weichem, warmem Timbre und kultiviertem Vortrag. In „Paro inerme“ am Ende der Parte Prima weiß sie zudem mit der souveränen Ausführung der Verzierungen und dem beherzten Ansatz zu überzeugen. In der mit noblem Melos ausgestatteten Arie „Prigionier, che fa ritorna“ in der Parte Seconda teilt sich der edle Charakter der Stimme besonders eindrücklich mit.

Hierzulande noch wenig bekannt ist der argentinische Tenor Pablo Bemsch als Ozia, Prinz von Betulia, der mit einer substanzreichen, heldisch orientierten Stimme in Idomeneo-Nähe überrascht und sogleich in einer Auftrittsarie „D’Ogni colpa“ starke Akzente setzt. In seiner getragenen Aria con coro „Pietà, se irato sei“ wird er vom Ensemble accentus (Leitung: Christophe Grapperon) zuverlässig unterstützt. Dieses weiß auch im dramatisch aufgewühlten Chor am Ende des ersten Teils „Oh prodigio!“ mit spannungsreichem Gesang zu beeindrucken.

In einer Doppelrolle als die beiden Volksführer Carmi und Cabri ist die amerikanische Sopranistin Amanda Forsythe zu hören, die in „Ma qual virtù“ mit lyrischen Tönen von reicher Empfindung überzeugt, aber in „Quei moti che senti“ auch mit exaltierter Attacke aufwartet. Die Besetzung komplettiert der argentinische Bass Nahuel Di Pierro als Prinz Achior, der in seiner Auftrittsarie „ Terribile d’aspetto“ grimmig auftrumpft. In der kontemplativen Arie „Te solo adoro“ im zweiten Teil hat er Gelegenheit für besinnliche Stimmungen.

Die letzte Nummer, „Lodi al Gran Dio“, gehört Giuditta und dem Chor, die in einer Lobpreisung Gottes das Werk zu feierlichem Abschluss führen. Damit rundet sich der überwältigende Eindruck, welcher sich beim Hören der Aufnahme einstellt. Dies ist eine Platte für den weihnachtlichen Gabentisch. Bernd Hoppe

Ohne die Nationaloper!

 

Aufmerksamkeit  hatte im Sommer 2020 die Nachricht in der NMZ erregt, dass die Gruppe Hauen und Stechen gemeinsam mit den lettischen Kvadkifrons eine Aufführung der lettischen Nationaloper Banuta des Komponisten Alfredis Kalnins aus Anlass der hundertsten Wiederkehr der Uraufführung in der lettischen Hauptstadt plane, zunächst als Video wegen der Corona-Beschränkungen, im kommenden Jahr auch als Live-Ereignis. Wenig bekannt ist bei uns dieses Werk, das eine aufregende Geschichte hinter sich hat, so durch die Forderung der Sowjets zu Zeiten der Sowjetrepublik Lettland, den Schluss zu ändern, die Oper nicht mit dem Selbstmord des Liebespaars, sondern mit einem happy end schließen zu lassen.

Das besondere Interesse an den Balten generell wurde natürlich auch vor 30 Jahren in Westeuropa erweckt, als sie durch ihre „singende Revolution“ die Sowjets zum Abzug aus den drei Republiken zwangen.

Wenn nun auf dem Büchermarkt ein Werk von Kristina Wuss mit dem Titel Verwobene Kulturen im Baltikum – Zwei Musikgeschichten in Lettland von 1700 bis 1945 erscheint, liegt es für den Leser nahe, sich weiterführende Informationen aus diesem Buch über die Nationaloper der Letten zu erhoffen. Die Suche danach  scheitert erst einmal am Fehlen eines Sachregisters und eines Personenregisters, was umso erstaunlicher ist, als die Schrift mit einem ansonsten reichen kritischen Apparat von Anlagen durchaus den Anspruch eines wissenschaftlich fundierten Werks erhebt.

Das chronologisch aufgebaute Buch widmet ein Kapitel dem 18. Jahrhundert, zwei dem „langen“ 19. Jahrhundert, fährt fort mit Im Windschatten der Zeitenwende und nähert sich dann der Zeit Zwischen den Weltkriegen, in der der immer noch auf der Suche nach Banuta befindliche Leser mit Verflechtungen und Entflechtungen, mit der Geschichte einer lettischen Primadonna und der des deutschen, in Riga tätig gewesenen Dirigenten Leo Blech konfrontiert wird. In einem Nachwort wird auf wenigen Seiten die Gegenwart gestreift.

Die Geschichte Lettlands ist insofern eine besonders interessante, und das wird von der Autorin auch hervorgehoben, als eine deutsche Ober- und Mittelschicht aus adligen Grundbesitzern und bürgerlichen Kaufleuten und Beamten in einem von den Russen beherrschten Landesteil einer  lettischen weitgehend bäuerlichen Bevölkerung gegenüberstand. Es wird dargestellt, wie zwar die Hochkultur eine deutsche war, daneben aber stets eine volkstümliche lettische, vor allem auf musikalischem Gebiet aus den Dainas, den Volksliedern bestehende, im Volk weiterlebte. Interessant ist auch, dass es durchaus „deutsche Wegbereiter für ein Verständnis der lettischen Kultur gab“, der Deutsche Herder den Wert der Volkslieder erkannte, der Sachse Ernst Glück die Bibel ins Lettische übersetzte.

Die Autorin zeigt viele Verbindungen zwischen Deutschen und Letten auf, sogar solche, die in eine Heirat zwischen aufgestiegenen Letten und deutschen Mädchen mündeten, weil die lettischen Mädchen keine vergleichbare Bildung aufweisen konnten. Beziehungen zur Familie Bach, die Gründung einer Kapelle durch den „Halbkönig“ Otto Hermann von Vietinghoff, die Sammlung lettischer Lieder durch Gustav Bergmann, auf Ulrich von Schlippenbach geht “Kuronia“, eine Sammlung vaterländischer Gedichte, zurück,   der Dichter von Der Hofmeister und Die Soldaten Lenz werden berücksichtigt, was dann zu einem wiederholten Auftauchen des Komponisten Zimmermanns Vorstellung von „der Kugelbewegung der Zeit“ führt und eher Verwirrung als Klarheit stiftet.

Die ersten Impulse für ein lettisch-sprachiges Musiktheater werden ebenso berücksichtigt wie die Bedeutung  des Deutschen Stadttheaters Riga, das ab 1919 und auch heute die Lettische Nationaloper beherbergt. Parallel spielen sich deutsche Liedertafel und lettisches Musikfest am Vorabend des Festes Ligo ab, kühn sind die Vergleiche zwischen Wagners Ring und den Dainas (wegen der Alliterationen), als erste lettische Oper gilt der Autorin Feuer und Nacht  (Uguns  un nakts) von Jänis Mediņš auf das Libretto von Janis Rainis. Von diesem Werk wird zunächst nur der Prolog aufgeführt, in den Monaten Mai und Dezember des Jahres  1921 auch der Rest. 1995 wird das Gesamtwerk bei der Wiedereröffnung der Lettischen Nationaloper gezeigt.

Auch für das zwanzigste Jahrhundert gilt das Interesse der Verfasserin die gegenseitige Beeinflussung von Letten und Deutschen, und sie zeichnet das wechselnde Verhältnis akribisch nach, erwähnt den gemeinsamen Kampf gegen die Bolschewiki ebenso wie den Kampf um einen politisch korrekten Spielplan zwischen den Kriegen und nach dem 2. Weltkrieg.

Mit dem geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes hat das nicht konfliktfreie, aber doch fruchtbare  Zusammenleben von Letten und Deutschen ein Ende. Wer sich nicht in den Warthegau umsiedeln lässt, wird als Deutscher nach Sibirien verschleppt.

Das Buch ist keine leichte Kost, da es Grundlegendes und eher Nebensächliches miteinander in bunter Folge vereint, dazu in einer manchmal dunkel raunenden Sprache unter Bevorzugung des Nominalstils verfasst ist. Des Lesens wert ist es durch die Fülle an Informationen, den Einblick, den es in eine zugleich fremde und doch mit vielen Fasern der deutschen Kultur verbundene Welt gewährt (230 Seiten, 2018 Isensee Verlag;. ISBN 978 3 7308 1478 9. Ingrid Wanja

Alexander Vedernikov

 

Das Corona-Jahr 2020 forderte weltweit bereits unzählige Opfer, nun auch den russischen Dirigenten Alexander Alexandrovich Vedernikov, den vielleicht bedeutendsten russischen Orchesterleiter in der Generation zwischen Valery Gergiev und Kirill Petrenko. Deren Bekanntheitsgrad erreichte Vedernikov womöglich nicht, doch stand er ihnen künstlerisch in nichts nach. Am 11. Jänner 1964 als Sohn des Bassisten Alexander Filippovich Vedernikov und der Organistin Natalia Gureeva geboren, war ihm seine spätere musikalische Laufbahn gleichsam bereits in die Wiege gelegt worden. Nach Beendigung seines Studiums wirkte er noch zu Sowjetzeiten zunächst am Moskauer Stanislawski- und Nemirowitsch-Dantschenko-Musiktheater und war zwischen 1988 und 1995 Assistenzdirigent des Moskauer Rundfunk-Sinfonieorchesters unter Vladimir Fedoseyev. Dem von ihm gegründeten Russian Philharmonic Orchestra stand Vedernikov neun Jahre lang bis 2004 vor. Besonders als Operndirigent machte er sich indes einen Namen und wirkte von 2001 bis 2009 als Chefdirigent und Musikdirektor des Bolschoi-Theaters in seiner Heimatstadt Moskau. Anschließend wurde er musikalischer Leiter des Sinfonieorchesters Odense in Dänemark, was er bis 2018 blieb; im selben Jahr wechselte er als Chefdirigent an das Königlich Dänische Theater in Kopenhagen. Noch 2019 nahm er eine weitere musikalische Tätigkeit als musikalischer Direktor des Michailowski-Theaters in St. Petersburg auf. Als Gastdirigent trat Vedernikov u. a. am Royal Opera House, Covent Garden, London, an der Pariser Oper, am Opernhaus Zürich, an der Metropolitan Opera New York, an der Deutschen Oper Berlin sowie an der Komischen Oper Berlin in Erscheinung. Er dirigierte als Gast zudem u. a. das BBC Symphony Orchestra, das BBC Scottish Symphony Orchestra, das City of Birmingham Symphony Orchestra, das Ulster Orchestra, das Orchestre National de France, das Orchestre Philharmonique de Radio France, das Radio Filharmonisch Orkest Hilversum, die Sinfonia Varsovia, das Dänische Nationale Sinfonieorchester, das Philharmonische Orchester Helsinki, die Göteborger Symphoniker, das Orchestra della Svizzera italiana sowie das Sydney Symphony Orchestra. Am 29. Oktober 2020 ist Alexander Vedernikov den Folgen einer Covid-19-Infektion in Moskau erlegen. Er wurde nur 56 Jahre alt (Foto Wikipedia). Daniel Hauser

Prärevolutionäre Galanterie

 

Ein paar hundert Meter von dem kleinen Disneyland-Weiler, den sich Marie Antoinette im Park von Versailles unweit des Petit Trianon als Rückzugsort anlegen ließ, hat Antoine Fontane das Hameau de la Reine wieder auferstehen lassen: auf die Bühne der Opéra Royal baute er mit dem Kulissenzauber des späten 18. Jahrhunderts eine Dorfidylle aus Leinwand und Pappe mit Wäscherinnen, tanzenden und singenden Bauern, unter denen in der von Marshall Pynkoski original im Stil des ausgehenden 18 Jahrhunderts nachempfundenen Inszenierung in jedem Moment Marie Antoinette auftauchen könnte, die an solchen Spielereien ihren Spaß hatte. Ein Zurück zur Natur, wie es Rousseau propagierte.

Zu den Lieblingskomponistin der Königin gehörte der 1741 in Lüttich geborene Komponist mit den drei Vornamen André-Ernest-Modeste Grétry, der unbeschadet aus dem Streit der Piccinisten und Gluckisten hervorging und die Französische Revolution besser überstehen sollte als die Königin. Sein Stern war zwar am Sinken und er zog sich in die Eremitage zurück, die einst Rousseau gehört hatte, wurde aber weiterhin bewundert und gehrt, darunter mit der Aufstellung seiner Statue 1803 in der Opéra-Comique und schließlich 1813 mit einem pompösen offiziellen Begräbnis. Vor allem aber blieben seine Werke auch im 19. Jahrhundert Stützen des Repertoires, etwa Aucassin et Nicolette, Lucile, Zémire dt Azor, Raoul Barbe-Bleue, Pierre le Grand mit dem Text von Bouilly.

Einer seiner größten Erfolge, die dreiaktige Opéra-comique Richard Coeur de Lion mit dem originellen Text von Michel-Jean Sedaine, wurde am 21. Oktober 1784 an der Opéra-Comique uraufgeführt, ein halbes Jahr nachdem Beaumarchais Le mariage de Figaro in Paris herausgebracht hatte. Grétry behandelt die Geschichte des englischen Richard I., genannt Löwenherz, der auf dem Rückzug vom dritten Kreuzzug gefangengenommen und – entgegen der historischen Fakten, nämlich der Zahlung eines immensen Lösegeldes – von seinem treuen Troubadour Blondel befreit wurde. Gräfin Marguerite schließt sich Blondels Befreiung seines Herrn an, der auf einer Burg in der Nähe von Linz festgehalten wird. Deren Gouverneur Florestan stellt Laurette, der Tochter des Bauern Williams, nach. Das Happy End verbindet, nachdem Marguerites Truppen die Burg stürmten, Florestan und Laurette sowie Marguerite und Richard. Blondel singt dazu: „Es ist der König, ja, er selbst, der an diesem Ort erscheint! Ach! Welch Glück, welch seliger Tag.“

Es ist eine royalistische Oper, wenngleich in Grétrys Ouvertüre eine Energie wie in den bald folgenden Befreiungs- und Revolutionsopern lodert, was Hervé Niquet, Spiritus Recto dieses royalen Opernvergnügens im Oktober 2019 in Versailles, durch den nervigen Zugriff und die auch in den Tanzszenen und Orchesterzwischenspielen sowie der Schlachtszene am Ende mitreißende Alertheit unterstreicht, mit denen er Le Concert Spiritual spielen lässt. Die Revolution ist noch fern, da bereits während der Ouvertüre die „Bauern in Jacken und Arbeitskleidung mit Feldgerät auf den Schultern“ vorbeigehen, so die Bühnenanweisung, und ihren Chor „Chantons, chantons, célébrons ce bon ménage“ auf den alten Mathurin anstimmen. Blondels fast schon leitmotivisch die kurze Oper durchziehende Erkennungsmelodie „O Richard, o mon Roi“ diente während der Revolution als Lied der Royalisten. Mehr noch hat ein Lied, das jedem Opernkenner vertraut ist, die Jahrhunderte überdauert, die Air der Laurette, die über Florestans Brief aus der Fassung gerät: „Je crains de lui parler la nuit“ und die Tschaikowsky in Pique Dame der alten Gräfin bei ihren Erinnerungen an die gute alte Zeit in Paris wörtlich in den Mund legte.

Die Aufnahme mit dem Gütesiegel von Château de Versailles vereint in einer Pappbox neben einem ausgezeichneten Textheft, in dem allenfalls das Fehlen eines richtigen Personenverzeichnisses stören könnte, CD (73 Minuten) und DVD (87 Minuten), wobei man unbedingt die DVD anschauen sollte (CV5028), nicht etwa, weil hier der Tenor Rémy Mathieu den Blondel singt – Enguerrand de Hys singt ihn auf der CD – sondern weil man sich diese den Geist der Entstehung atmende und dennoch spritzige Inszenierung, die sorgfältigen Kostüme (Camille Assal), die sehr hübschen Tanz- und Fechtszenen (Jeannette Lajeunesse Zingg) und die ebenso hübsche Inszenierung nicht entgehen lassen sollte. Die Sänger sind alle ausgezeichnet, vor allem wissen sie im charmanten, der Tradition der Comédie mêlée d’ariettes entsprechenden Wechsel zwischen Gesangs- und Sprechszenen, in die auch der Chor eingreift, was sie singen und sprechen: darunter Melody Louledjian als Laurette, Marie Perbost als Comtesse, der Tenor Reinoud Van Mechelen mit der feinen Arie „Si l’univers entier am’oublie“ als Richard Löwenherz, der Bariton Jean-Gabriel Saint-Martin als Florestan und der Bass Geoffroy Buffière als Williams. Das Textheft ergänzt dazu perfekt: Grétry stellte einen Gesangsstil, der sich aus den authentischen Akzenten der französischen Sprache ableitet, eine feine melodische Ader und hohe Ansprüche ab die Libretti, die dem vom Publikum geliebten Erzähldiskurs entgegenkommen, in den Vordergrund seines Berufs und schuf ein Werk, dessen galanter, sensibler Stil lyrische Höhenflüge ermöglicht…. Stark ausgeprägte Figuren, die Betonung überschäumender Liebesgefühle, familiäre Einheit überschäumender in der Not und Patriotismus, der seiner Zeit voraus war, stehen in perfekter Harmonie mit der französischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.“ Rolf Fath   

Raritäten aus dem Meininger Archiv

 

Mit Tormenti d’amore ist das erste Soloalbum des Countertenors und Sopranisten Philipp Mathmann betitelt, das im Herbst des vergangenen Jahres in der Friedenskirche Jena aufgenommen wurde und beim Label querstand erschien (VKJK 2002, 2 CDs). Es präsentiert vier Weltersteinspielungen, sämtlich aus der herzoglichen Sammlung von Anton Ulrich von Sachsen-Meiningen mit mehr als 170 Kantaten, die der Fürst bei einem Aufenthalt in Wien als Kopien anfertigen ließ.

Den jungen Sänger begleitet die 2014 gegründete Capella Jenensis unter Leitung des Cembalisten und Dirigenten Gerd Amelung. Im originellen Programm der beiden CDs finden sich mehrere Instrumentalbeiträge, in denen sich das Ensemble mit affektreichem Spiel bewähren kann – so zwei Sinfonien im neapolitanischen Stil von Paolo Scalabrini, Hofkapellmeister in Kopenhagen  (1719 – 1806), welche im zeitgenössischen Pariser Druck Johann Adolf Hasse zugeschrieben worden waren. Von ihm, dem Dresdner Hofkapellmeister, sind zwei Sonaten im italienischen Stil, in D- und A-Dur, zu hören, aber auch zwei Kantaten, in denen der Gesangssolist gefordert ist. „Lascia il fior“ ist dreiteilig, wird mit einer Klagearie eröffnet, der ein Rezitativ und ein Rachegesang folgen. Mathmann weiß in der einleitenden, fließenden Kantilene mit langen, schwebenden Phrasen aufzuwarten, während das Presto „ Ma le giuste mie vendette“ die bravouröse Attacke in dem Fokus rückt.  „Non ti sovvien“ besteht aus jeweils zwei Arien und Rezitativen, ist von virtuosem Anspruch mit Trillerketten, großen Sprüngen und Triolen.

Der Solist hatte sich mit einer Kantate des Wiener Hofkomponisten Georg Reutter eingeführt („Or che dorme l’idol mio“), welche zwischen neapolitanischem und empfindsamem Stil wechselt. Mit seiner klaren Stimme, die auch die Extremtöne in der Sopranlage sicher trifft und mit schwebenden Klängen betört, hatte er damit für einen beeindruckenden Einstieg gesorgt. Auch sein nächster Vokalbeitrag ist eine Rarität – Giuseppe Porsiles Kantate „Le sofferte amare pene“. Der neapolitanische Komponist wirkte in Barcelona und Wien, wurde von Hasse und dessen Frau Faustina Bordoni geschätzt, die in mehreren seiner Opern auftrat. Die Komposition besteht aus zwei Arien, die durch ein Rezitativ verbunden sind. Erstere gab dem Werk den Titel und ist geprägt vom Ausdruck bitteren Schmerzes, während die zweite („Non sprezzar“) von der Verachtung der Angebeteten handelt und bis zu Wutausbrüchen führt. Der Sänger vermag beiden emotionalen Topoi mit gleichermaßen differenziertem Ausrucksspektrum wie bravourösem Vortrag gerecht zu werden. Bernd Hoppe

Messagers „Fortunio“

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Nur wenige deutsche Opernliebhaber werden André Messager (1853-1929kennen, den französischen Meister des leichteren Genres namentlich im Paris des ausgehenden Kaiserreichs, damals durchaus ein starker Konkurrent Jacques Offenbachs, dessen Chanson de Fortunio sich mehrfach auf französischen (und gelegentlich auch auf deutschen) Bühnen und auf Tonträgern findet. Messagers Fortunio hingegen fristet ein eher schattiges Dasein. Ein Ausschnitt bei (damals) Pathé und eine ältere Aufnahme unter John Eliot Gardiner mit den Kräften der Opéra de Lyon bei Erato (tres francais und flott gesungen)  ließ uns Ausländer ahnen, wie bezaubernd diese Operette, pardon Comédie lyrique (ein feiner Unterschied, der sich nur Fachleuten erschließt)  ist, die solide, gelegentlich auch geniale Unterhaltungsware jener Zeit bietet, den heutign B-Movies vergleichbar. Zumal Fortunio 1907 eine bejubelte, theaterwirksame und hochbesetzte Eröffnungspremiere des neuen Chefs der Opéra Comique war, André Messager.

„Fortunio“: Der Komponist André Messager/ Wikipedia

Bei Naxos ist dankenswerter Weise der optische Mitschnitt einer Produktion von der Pariser Opéra Comique herausgekommen, den Rolf Fath nachstehend rezensiert und aus dessen Booklet wir – als Übernahme aus dem Programmheft zur Aufführung 2019 – neben der Kritik von Rolf Fath den einführenden Artikel der Dramaturgin Agnes Ferrier in unserer eigenen Übersetzung von Daniel Hauser ebenfalls nachstehend vorstellen. Auch um eine gewisse Balance zum Übergewicht von Offenbach in jüngster Zeit zu bieten. Voila. G. H.

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Aus dem Programmheft der Opéra Comique übernehmen wir den Artikel zum Werk von Agnes Ferrier mit freundlicher Genehmigung von Naxos: Am 5. Juni 1907 veranstaltete die Opéra Comique ein durch und durch Pariser Ereignis: die Premiere von André Messagers neuem Werk Fortunio. Der Komponist, der den Taktstock im Orchestergraben schwang, war gerade erst zum Direktor der Pariser Opéra ernannt worden!

Sieben Monate bevor er sein neues Amt am Palais Garnier antrat, kehrte Messager in dasjenige Theater zurück, welches Zeuge seines frühen Werdegangs geworden war. Dort war es gewesen, wo er 17 Jahre zuvor Anerkennung erfahren hatte für sein erstes bedeutendes Werk, La Basoche. Und er war dort zwischen 1898 und 1904 ein aufgeklärter und international renommierter musikalischer Leiter gewesen.

Messagers „Fortunio“ an der Opéra comique 2019/ Foto Carecchio

An diesem spezifischen Abend im Jahre 1907 wurde Messager als Dirigent genauso enthusiastisch bejubelt wie als Komponist. Fünf Jahre früher hatte er auf demselben Podium die erfolgreiche Uraufführung von Pelléas et Mélisande dirigiert …

Mit diesen beiden Aktivitäten brachte Messager mehr als jeder andere diese beiden höchst antithetischen Facetten der französischen Musik zusammen. Fortunio erfuhr seine erste Aufführung drei Wochen nach Ariane et Barbe-Bleue von Paul Dukas. Den Operettenkomponist Messager und den Sinfoniker Dukas verband nahezu überhaupt nichts. Zu einer Zeit, in welcher die Sinfonik und die Kammermusik aufblühten, war Messager einer der letzten Komponisten, der seine gesamte Karriere der Oper widmete und um die dreißig Titel produzierte. Nichtsdestotrotz waren er und Dukas Freunde. Und mehr noch: Messager war in der Lage, sowohl Vincent d’Indy als auch Henri Christiné zu schätzen!

Messager war von Natur aus der Komödie zugetan. Selbst seine Bewunderung für Wagner, der in demjenigen Jahr starb, als Messager dreißig wurde, änderte nichts an seinem Kurs. Mit seinem Freund Gabriel Fauré war er einer der „Bayreuth-Pilger“, ohne freilich der Faszination zu erliegen. Ihre Erfahrung führte zu Les Souvenirs de Bayreuth, einer herrlich komischen „Fantasie in der Form einer Quadrille“. Während eine Vielzahl der Älteren versuchte, Wagner zu folgen oder gar zu imitieren, entschied sich Messager als Profession für die Operette, der er ein Gefühl für Dramatik und den Geist der Belle Époque verlieh.

Allgemein als Meister anerkannt, versuchte Messager niemals, in seinen Werken irgendetwas zu beweisen. Sein Dirigierstab verlieh ihm die Freiheit zu tun, wonach es ihm verlangte – Lustspiele deren Leichtigkeit, gegen die Langweile ankämpfend, kompatibel waren mit Raffinesse und gar Tiefgründigkeit.

Messagers „Fortunio“: der 3. Akt der Uraufführung 1917/ BNF

Fortunio ist eine comédie lyrique. Das bedeutet, dass dem Dialog im Libretto ein fortwährender musikalischer Rahmen gegeben ist. Seit dem 6. Jänner 1864 gewährte ein Dekret den französischen Theatern Freiheit; seither war es mögliches, jedes Genre an jedem Ort aufzuführen. Die Opéra Comique hörte auf, sich selbst ausschließlich der komischen Oper zu widmen. Librettisten und Komponisten entwickelten neue Schemata. Mit einem Wink gen Rameaus Platée (seinerzeit als comédie lyrique bezeichnet) belebten Flers, Caillavet und Messager auf diese Weise die Parameter der demi-caractère opéra comique – eines bürgerlichen Schauplatzes, farbenfreudiger Charaktere, einer sowohl schlüpfrigen wie auch romantischen Handlung sowie bezugnehmend auf das Landleben – und injizierten ihr wagnerisches Flair, kombiniert mit einer völlig französischen Orchestertransparenz.

Dem zeitgenössischen Geschmack entsprechend, handelt es sich beim Libretto um eine Adaption eines literarischen Werkes – Le Chandelier von Alfred de Musset. Das Stück hatte musikalisches Potential, welches Offenbach im Jahre 1850 erkannte, als er die Bühnenmusik für die Premiere an der Comédie-Française schrieb.

Musset verlor nie an Aktualität. Er war zwar bereits fünfzig Jahre tot und hatte das Schreiben bereits längere Zeit zuvor eingestellt, doch blieb er nach wie vor populär an der Opéra Comique. Le Chandelier wurde schon 1840 von Auber unter dem Titel Zanetta in Musik gesetzt. 1872 komponierte Offenbach Fantasio und Bizet bearbeitete Namouna in seiner Oper Djamileh. Mussets Werk brachte an der Wende des 19. Jahrhunderts eine dynamisch-romantische Dichte in die Oberschichtengesellschaft ein, und zwar durch die Wirksamkeit seiner Helden, die, um Chateaubriand umzuformulieren, eine leere Welt mit einem vollen Herz bewohnen.

Messagers „Fortunio“: die Sänger der Opera-Comique um die Jahrhundertwende, hinten Mitte links die Sopranistin Marguérite Carré/ BNF

Zu diesem beißenden und gleichwohl zarten von Messager gewählten Theaterstück fügten die bewanderten Librettisten einen erläuternden Eingangsakt hinzu und eine Szene mit einer nächtlichen Feier, die nach der ersten Aufführung gestrichen wurde. Albert Carré, der sowohl Theater- wie auch Operndirektor war, beschreibt die Stimmung dieser Uraufführung, indem er von einer „angenehmen, herzlichen Atmosphäre“ spricht: „»Man hätte glauben können, die Musik sei von Musset selbst«, schrieb mir Robert de Flers. Messager seinerseits war entzückt von seinen Librettisten.“

Carré brachte das Werk mit der Ausstattung von Lucien Jusseaume auf die Bühne. Die Besetzung umfasste einen vielversprechenden Neuling, Fernand Francell, in der Titelrolle sowie die Stars Marguerite Carré als Jacqueline und Lucien Fugère als Maître André wie auch bestimmte Sänger der ersten Aufführung des Pelléas: Hector Dufranne, der den Golaud gesungen hatte, in der Rolle des Clavaroche und Jean Périer, der den Pelléas übernommen hatte, als Landry. Henri Busser, Messagers Nachfolger als Dirigent des Orchesters, überließ dem Komponisten den Taktstock. Im Publikum sitzend, applaudierte er an der Seite von Debussy, Hahn und Pierné, die, wie er feststellt, „alle begeistert waren von dieser leichten, launigen Musik“ – Musik, die Fauré in Le Figaro preisen sollte.

Was beweist der Erfolg von Fortunio im Jahre 1907? Dass der Geist der opéra comique fortdauerte und dass dieselbe Veränderungen im französischen Theaterleben adaptierte, wie etwa ihre Öffnung hin zu italienischen und deutschen Komponisten. Im Wesentlichen blieb die Opéra Comique das führende Opernhaus Frankreichs, wenn es um Opernpremieren ging – ein Lebenssaft, der sowohl unabdingbar war für das Befinden des musikalischen Lebens wie auch für die Gesundheit der Opéra selbst, welche personell besser ausgestattet war, aber weniger Freiräume genoss.

Mit dem Monbinne-Preis der Académie des beaux-arts als beste opéra comique gekrönt, hielt sich Fortunio bis 1948 im Repertoire, ehe er 2009 mit unserer Produktion von Louis Langrée und Denis Podalydès wiederaufgenommen wurde. Agnes Terrier/ Übersetzung Daniel Hauser

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Und nun die Rezension zur Neuaufnahme des Videos von Rolf Fath. Wenn es so etwas wie eine männliche Landpomeranze gibt, dann ist es Fortunio. Ein Bruder der Manon, der sich mit einem ähnlich kleinen Liedchen wie diese (Je suis encorne tout étourdie) vorstellt, „Je suis très tendre“. Fortunio, der von seinem Onkel als Schreiber bei Maître André untergebracht wird, ist schüchtern. Aber er entwickelt sich im Lauf der vier Akte – die in Koproduktion mit Nancy entstanden Inszenierung der Opéra-Comique aus dem Dezember 2019 wählte die Fassung in vier statt fünf Akten (Naxos DVD 2.110672) – zu einem rechten Filou. Messagers 1907 an eben diesem Ort uraufgeführte Comédie lyrique führt die fast zehn Jahre zuvor in Opéra-comique Veronique 1892 kreierte Stimmung provinzieller Bürgerlichkeit fort. Denis Podalydès, brillanter Schauspieler und Sociétaire der Comédie-Française, belässt die Geschichte um Andrés Gattin Jacqueline in der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Eric Ruf hat dazu viele allerliebste Szenerien gebaut, darunter gleich zu Beginn den Promenadeplatz vor der Kirche, den er in eine stimmungsvolle winterliche Atmosphäre taucht und mit gut gekleideten Militärs und der besseren Gesellschaft bevölkert; man trägt Pelz und trotz des Schnees kunstvolle Hutkreationen (Kostüme immerhin von Christian Lacroix).

Die Geschichte geht so: Fortunio findet seine Anstellung erst erstrebenswert, als er Jacqueline erblickt. Jacqueline geht jedoch auf die Annäherungsversuche des Capitaines Claveroche ein, und beide nutzen gegenüber Jacquelines eifersüchtigen Mann André den Schreiber Fortunio als „Chandelier“, sprich „Leuchter“ und Ablenkungsmanöver. Fortunio schwört Jaqueline, für sie in den Tod zu gehen. Auch dann noch, als er bemerkt, wie er missbraucht wird. Jacqueline ist gerührt. Messager setzt dies so geschmeidig in Musik um, dass die Szenen für sich sprechen. Und Podalydès inszeniert den Wirrwarr so leichtfüßig, wie er es bei Labiche- oder Feydeau-Aufführungen an der Comédie-Française gelernt hat, mit viel Sinn für Details und die Schwächen der Figuren und einer selbstverständlichen Bewegtheit, wie sie zu Messagers liebeswürdig elegantem, doch etwas ereignislosen Singparlando passt, geradezu rührend in der Schlafzimmerszene, wo sich Jacqueline und André über ihre geschwundene Leidenschaft auseinandersetzen.

Der stimmliche angegraute Franck Leguerinel schaut dabei mehr auf den Dirigenten als auf seine jüngere Frau. Wie auf den Bariton Leguerinel trifft man an der Opéra-Comique stets auf die nie unrechte, doch gleichförmige Anne-Catherine Gillet, die es als tantchenhafte Jacqueline faustdick hinter den Ohren hat und kaum nach dem Verschwinden des Gatten den Liebhaber aus dem Schrank zaubert. Als Frau mit Erfahrung ist sie eine Erzieherin in Liebesdingen für den jungen Fortunio, der im leichtgewichtigen Tenor Cyrill Dubois einen naiv-charmanten Interpreten hat, der gelegentlich, so in seinem fast exaltierten „Si vous croyez je je vais dire que j’ose aimer!“, stimmlich seine Grenzen streift und seinen süßen Ton verliert. Jean-Sébastien Bou empfiehlt sich mit seinem kleinen Bariton für die nicht zentralen Partien des französischen Repertoires. Zu nennen wäre unter den weiteren von Louis Langrée subtil und feinsinnig animierten Beteiligten noch Sarah Jouffroy als Gertrude. Insgesamt zeigt sich im gewinnenden Spiel aller sowie in den liebevoll konventionellen Bildern aus der französischen Provinz die erfahrene Hand des Comédiens Podalydès, der zwei Jahre zuvor an dem Haus bereits den Comte Ory gemacht hatte. Rolf Fath

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Messagers „Fortunio“: die Autorin Agnes Ferrier/ OC

Die Autorin: Agnès Terrier est conseillère artistique et dramaturge de l’Opéra Comique depuis 2007. Elle s’occupe plus particulièrement de l’édition des programmes de salle, des activités de recherche autour des productions comme de l’institution, de la coordination des colloques, de l’organisation et de l’animation de rencontres et de conférences autour des spectacles. Elle est par ailleurs professeure de diction française auprès des chanteurs et chanteuses au Conservatoire national supérieur de musique de Paris depuis 2002. Agrégée et docteure ès Lettres, premier prix de recherche en Culture musicale du CNSMDP, elle est spécialiste de l’art lyrique en France, en particulier des liens entre écriture poétique et écriture musicale entre 1870 et 1914. Elle a travaillé pour le Festival d’Aix-en-Provence (2005- 2009), et auparavant pour l’Opéra de Paris (1999-2004). Elle a publié pour l’Opéra Le Billet d’Opéra (Flammarion, 2000) et la monographie L’Orchestre de l’Opéra de Paris (La Martinière, 2003 ;

Prix des Muses du beau livre en 2004). Pour l’Opéra Comique, elle a publié avec A. Dratwicki, les actes des colloques L’Invention des genres lyriques français et leur redécouverte au XIXe siècle (2010) et Le Surnaturel sur la scène lyrique (2012, Symétrie) ; avec J.-Chr. Branger le collectif Massenet et l’Opéra-Comique (2015, Publications de l’Université de Saint-Étienne) ; enfin les catalogues des deux expositions du tricentenaire De Carmen à Mélisande, drames à l’Opéra Comique (2015, Petit-Palais/Paris Musées) et L’Opéra Comique et ses trésors (2015, Centre national du Costume de Scène/Fage éditions). Originaltext: Agnès Terrier / Opéra Comique 2019

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Dank an Naxos und die Autorin, Foto oben ein Ausschnitt aus der Produktion der Opéra Comique 2019/ Foto Naxos/ J. Carecchio/ Opéra Comique Paris; Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Opera Rara zum 50.

 

On Friday 15 January 2021, Opera Rara’s latest recording of Donizetti’s Il Paria will be released internationally by Warner Classics. Conducted by former Artistic Director Sir Mark Elder, Il Paria was recorded in the studio prior to a performance at London’s Barbican Centre in June 2019. Singing the role of Neala, Albina Shagimuratova, the star of Opera Rara’s award-winning recording of Rossini’s Semiramide, leads an outstanding cast accompanied by Britten Sinfonia

Set in sixteenth-century India, Il Paria was commissioned for a royal gala in Naples where I was first performed in January 1829. Whilst not an overwhelming success at its première, Il Paria was an opera to which Donizetti gave considerable attention and of which he was particularly proud,

Building on Opera Rara’s acclaimed and extensive catalogue of rediscovered Donizetti operas, the release of Il Paria marks Opera Rara’s 26th complete opera by Donizetti, the opera’s first studio recording and only the second recording in existence – the first was released in 2001. Shagimuratova, who was described by Classical Source at the time of the live performance as “absolutely brilliant from the very start”, is joined by René Barbera as Idamore – one of the most demanding tenor roles to be written by Donizetti – and  Misha Kiria as Zarete, a role described by Opera Rara’s Artistic Dramaturg Roger Parker as one of Donizetti’s greatest baritone creations.

On Thursday 8 July 2021, Opera Rara returns to Donizetti when it presents another rarity, Il furioso all’isola di San Domingo, in an entirely new performing edition. Carlo Rizzi, the company’s newly appointed Artistic Director, conducts Britten Sinfonia in their second collaboration with Opera Rara; Albina Shagimuratova once again takes the lead soprano role. The week before the Barbican concert, Opera Rara will record Il furioso, with the album scheduled for release in 2022.

Opera Rara was founded by Patric Schmid and Don White in 1970 with a huge ambition: to document all Donizetti’s operas through recordings and, where necessary, new performing editions. Under Sir Mark Elder’s eight-year tenure, Opera Rara expanded its repertoire to include French grand opera, French operetta and Italian verismo works.

Whilst the impact of the global pandemic meant postponing the release of Il Paria by  nine months and the recording and concert of Il furioso all’isola di San Domingo by a  year, the company celebrated its 50th anniversary in 2020 with another of its close collaborators: Ermonela Jaho. Following her debut Wigmore Hall recital presented by Opera Rara in February, in September 2020, the company released Jaho’s debut recital disc – Anima Rara – exploring music championed by the Italian soprano Rosina Storchio, the creator of Cio-Cio San in Puccini’s Madama Butterfly. As The New Yorker noted, “Jaho’s gentle timbre, nuanced inflections, and, above all, tonal clarity are enchanting, revealing a compelling portrait of Storchio’s art—and her own.”

 

Opera Rara at  50: DONIZETTI: IL PARIA; Albina Shagimuratova (Neala); René Barbera (Idamore); Misha Kiria (Zarete); Marko Mimica (Akebare); Thomas Atkins (Empsaele); Kathryn Rudge (Zaide); Opera Rara Chorus Britten Sinfonia; Mark Elder, conductor; ORC60 – RELEASE DATE: FRIDAY 15 JANUARY 2021

 

For further information: Ginny Macbeth/Moë Faulkner: 020 7251 9448 moe@macbethmediarelations.co.uk

Rosanna Carteri

 

Kaum eine Opernsängrin der italienischen Nachkriegsepoche erschien  reizvoller und attraktiver als Roisanna Carteri. Filme und Viele optische Dokumente halten ihren Charme und ihre bezaubernde Präsenz fest, die von Zeitgenossen immer wieder gerühmt und in der Presse hervorgehoben wurde. Ihre Violetta (auch als Film zu sehen) betört mit Anmutigkeit und Stil, von der bestsitzenden, enorm gut fokussierten, wenngleich nicht sehr großen Sopranstimme einer gewissen Silbrigkeit ganz zu schweigen. Es war diese gutsitzende Stimme, die ihr eine Reichweite an Rollen ermöglichte, die man auf den ersten Blick nicht erwartet hätte, sogar eine Desdemona war möglich und bezaubert einmal mehr. Darin ist ihrer zeitgleichen Kollegin Margherita Rinaldi sehr ähnlich. Beide hatten dieses italienische Geheimnis einer „ben´appoggiata“ und eben sicheren Sopranstimme großer Möglichkeiten. Ich habe Rosanna Carteri stets bewundert (auch einmal bei Sänger-Freunden in Rom erlebt, bezaubernd!) und schließe mich dem nachstehenden Nachruf von Ingrid Wanja an. Eine bedeutende Persönlichkeit hat die italienische Gesangsszene verlassen. G. H.

 

Im Alter von fast 90 Jahren verstarb am 25. Oktober 2020 an ihrem Alterssitz in Monte Carlo der italienische Sopran Rosanna Carteri, berühmt nicht nur wegen ihrer schönen lyrischen Stimme, ihres blendenden Aussehens, ihres frühen Karrierebeginns mit achtzehn Jahren, sondern auch wegen ihres frühen Karriereendes mit nur 36 Jahren. Darüber ist viel gerätselt worden, in Renzo Allegris Buch Il Prezzo del Successo erläutert die Carteri, welchen Preis sie für ihre rasante Karriere zahlte: eine Fehlgeburt, nachdem sie bereits eine Tochter zur Welt gebracht hatte. Damals hatte sie sich geschworen, ihre Karriere zu beenden, wenn sie noch einmal schwanger werden würde. An dieses Versprechen hat sie sich gehalten, kündigte alle Verträge, bezahlte alle Konventionalstrafen, als sie erste Zeichen einer erneuten Schwangerschaft bemerkte, und blieb auch nach der Geburt ihres Sohnes zu Hause. Nur für drei Vorstellungen trat sie ein Jahr später noch einmal auf, fünf Jahre später gab es noch einige Wohltätigkeitsveranstaltungen mit ihr. Danach widmete sie sich ganz ihrem Familienleben, nachdem sie, umworben von vielen ihrer Kollegen, bewusst einen theaterfremden Unternehmer, einen Fleischgroßhändler, geheiratet hatte.

Dabei hatte die Familie, in der sie groß wurde, besonders die Mutter, von der Geburt des Kindes Rosanna an darauf hingearbeitet, dass sie einmal Sängerin werden sollte, auch weil die Mutter zwar in Gesang ausgebildet worden war, sich aber nie als Künstlerin verwirklichen konnte. Bereits die Dreijährige wurde für eine Aida in die Arena von Verona, ihr Geburtsort, geschleppt, die Fünfzehnjährige gab ihr erstes Konzert an der Seite von Aureliano Pertile, der sie als „ l’aurora“, während er „il tramonto“ sei, ankündigte. 1948, mit achtzehn Jahren, gewann Rosanna Carteri den Concorso der RAI, die sich damals noch viel um Opern und ihre Sänger kümmerte, mit der Elsa aus Lohengrin debütierte sie in Rom in den Thermen des Caracalla, um Renata Tebaldi Proben in Verona zu ermöglichen. Diese war neben Maria Callas der absolute Sopranstar der Fünfziger und Sechziger, blieb freundlich gegenüber der aufstrebenden jungen Rosanna, während die Callas desto kratzbündiger ihr gegenüber wurde, je mehr ihr Stern am Opernhimmel zu glänzen begann.

Wichtige Etappen in der Karriere von Rosanna Carteri waren ihr Scala-Debüt 1951 mit Piccinnis La buona figliola, ein Jahr später sang sie ihre erste  Desdemona in Salzburg unter Wilhelm Furtwängler. Es folgte beim Maggio Musicale Fiorentino die erste europäische Natascha in „Krieg und Frieden, 1954 ihr USA-Debüt, 1958 und 59 die Liù in der Arena di Verona. 1960 sang sie an Covent Garden gemeinsam mit Jussi Björling in La Bohéme.

Rosanna Carteri war auch eine angesehene Konzertsängerin, sang in Rom unter Bruno Walter im Brahms-Requiem. Auch für Uraufführungen war sie sich nicht zu schade. Sie setzte sich für Pizzettis Ifigenia ein, für Werke von Castro, Mannino, Rossellini, Castelnuovo-Tedesco und 1962 in Paris für Gilbert Bécauds L‘opéra

Nicht nur Furtwängler, sondern auch Toscanini spielte eine Rolle in der Karriere von Rosanna Carteri. Er ermutigte sie dazu, sich nicht von Querelen mit der Claque an der Scala einschüchtern zu lassen, die sich wegen Zwistigkeiten mit ihren Partnern Leonard Warren und  Giuseppe di Stefano recht unfein, so mit dem Werfen von Tomaten, bemerkbar machte.

Die brillanten Erfolge auf der Bühne konnten jedoch nichts an ihrem Entschluss ändern, für die Familie auf die Karriere zu verzichten. Sie war eine der wenigen Sägerinnen, die nicht meinten, sie hätten ihre Karriere für die Familie geopfert, sondern die sagte:” “Mi ero sacrificata per la musica”. Die Familie hingegen war ihre wahre Berufung. Ingrid Wanja

 

Splendido Incontro rossiniano

 

ERATOs neues Album Amici Rivali hat das Zeug, zur Gesangsplatte des Jahres gekürt zu werden, sind auf ihr doch zwei der derzeit führenden Rossini-Tenöre versammelt (0190295269470). Lawrence Brownlee und Michael Spyres sind seit Jahren bei den Festivals von Pesaro und Bad Wildbad, die sich dem Werk des Komponisten  widmen, präsent. Nun messen sie ihre virtuosen Gesangkünste erstmals gemeinsam in einem Programm, das Ausschnitte aus sieben Opern des Schwans von Pesaro präsentiert. Die beiden Amerikaner werden vom Ensemble I Virtuosi Italiani unter Leitung von Corrado Rovaris begleitet. Der Dirigent feuert die beiden Tenöre gebührend an, sie beide scheinen sich gegenseitig an Bravour, Eloquenz und stratosphärischen Tönen zu übertreffen, ohne dass man einen Sieger benennen könnte. Die Platte ist ein Fest für die Liebhaber schöner Stimmen und akrobatischer Gesangskünste.

Der Auftakt bietet eine besondere Überraschung, denn im Duett Figaro/Almaviva aus dem Barbiere di Siviglia übernimmt Spyres den Bariton-Part des Titelhelden, und dieser Ausflug in fremde Gefilde gelingt ihm überraschend gut. Mühelos trifft er die Noten in der ihm ungewohnten Region und besticht darüber hinaus mit resonanter und sinnlicher Klangfülle. Auf seiner ersten Solo-CD von 2011, A Fool For Love bei DELOS, hatte er noch Alamavivas oft gestrichenes Bravourstück „Cessa di più resistere“ interpretiert – die stimmliche Entwicklung mit einem deutlichen Zuwachs an baritonalem Fundament innerhalb einer Dekade ist erstaunlich. Zwei Jahre später hatte auch Brownlee bei derselben Firma ein Rossini-Album eingespielt, in welchem sich ein Ausschnitt aus einem Werk findet, das ebenfalls in der ERATO-Anthologie vertreten ist: La donna del lago. Es zählt zu jenen Opern Rossinis, die in Neapel das Zusammentreffen der zwei Superstars Andrea Nozzari und Giovanni David ermöglichten. Ersterer mit seiner substanzreichen tiefen Lage personifizierte den Typ des baritonalen Tenors, während der andere für seine brillanten Spitzentöne und die stupende Geläufigkeit gerühmt wurde. Er war in der Donna-Premiere von 1819 der romantische Uberto, während Nozzari den jähzornigen Rodrigo verkörperte. Bei ERATO messen sich Brownlee als Uberto und Spyres als Rodrigo, werden im Duett Elena/Uberto und Terzett Elena/Uberto/Rodrigo noch von der Mezzosopranistin Tara Erraught unterstützt, die mit reizvoll dunklem Timbre und eloquentem Vortrag für sich einnimmt.

Auch Ricciardo e Zoraide stammt aus Rossinis Schaffensphase in Neapel (1818). David sang den christlichen Ritter Ricciardo, Nozzari seinen Rivalen um die Gunst Zoraides, den exotischen König Agorante. Im ersten Ausschnitt, einem Duett zwischen Ricciardo und dem Kreuzritter Ernesto aus dem 1. Akt, gesellt sich zu Brownlee, der mit schwärmerischem Ton betört, der spanische Tenor Xabier Anduaga, der selbst in dieser Nebenrolle mit seinem Material aufhorchen lässt. Die zweite Szene (aus dem 2. Akt) vereint dann die beiden Protagonisten, wobei wiederum Spyres mit dunklerer Stimme grundiert und Brownlee mit explodierenden Spitzentönen aufwartet.

Elisabetta, regina d’Inghilterra war die erste der für das San Carlo in Neapel komponierten Opern (1815). Im Duett „Deh! Scusa i trasporti“ aus dem 2. Akt zeigen Brownlee als heuchlerischer Norfolk und Spyres als unrechtmäßig inhaftierter Leicester ihre reiche Ausdrucksskala.

Ein Jahr danach kam Otello zur Premiere, welcher durch die geforderten sechs Tenöre in der Besetzung eine besondere Herausforderung an ein Opernhaus darstellt. Für Spyres ist die Titelrolle zweifellos die perfekte Wahl. Auch der Iago ist ein baritonaler Tenor, hier von Anduaga gegeben, der im fulminanten Racheduett mit Otello effektvoll auftrumpft. Liebesrivale des Mooren   ist Rodrigo, den Brownlee mit bravouröser Attacke ausstattet. Erraught als Desdemona versucht den Streit der beiden Wütenden mit eindringlichen Einwürfen zu schlichten.

Neben dem Barbiere ist Le Siège de Corinthe das zweite Werk dieser Anthologie, welches nicht für Neapel geschrieben wurde. Die Uraufführung dieser Überarbeitung von Maometto secondo fand 1826 in Paris statt. Den griechischen Offizier Néoclès singt Brownlee, der in der verzweifelten Anrufung Gottes („Grand Dieu“) mit vehementer

Emphase aufwartet und danach mit Spyres als Cléomène und Erraught als Pamyra das eindringliche, sich leidenschaftlich steigernde Terzett „Céleste providence“ anstimmt.

Der letzte Beitrag stammt aus der 1817 zur Premiere gekommenen Armida, einem Vehikel für Rossinis Gattin Isabella Colbran in der Titelrolle der Zauberin, doch war das Stück, welches nicht weniger als sechs Tenorpartien aufweist, auch ein Fest für die Verehrer der Tenöre. Nozzari sang den Ritter Rinaldo, bei ERATO ist es Spyres, der die enorme Skala seiner Stimme von der Tiefe bis in die Extremhöhe mit stupender Sicherheit durchmisst. Im Terzett „In quale aspetto imbelle“ wetteifert er mit Brownlee als Ubaldo und Anduaga als Carlo. Nach diesem Rossini-Feuerwerk von fast 80 Minuten ist man fast erschöpft, doch gewillt, die Platte bald wieder aufzulegen. Bernd Hoppe