Joseph Martin Kraus zum Dritten

 

Einen Opernführer über Aeneas i Carthago und damit über den beinahe unbekannten Joseph Martin Kraus haben wir in einem bereits bei operalounge.de gebracht, ein weiterer Artikel beschäftigt sich mit den vielen Aufnahmen der Kraus-schen Musik bei Naxos (wenngleich auch andere Labels einiges von ihm herausgebracht haben). Nun – als dritte Folge unserer Hommage an den bemerkenswerten deutschen Komponisten am Hofe Gustav III. – bespricht Ingrid Wanja die in Buchform 2015 erschienene, hochanspruchsvolle Dissertation des deutschen Kraus-Kenners Jens Dufner, Musikwissenschaftler in Bonn und international renommierter Spezialist auf dem Gebiet der Gustavianische Oper. Was nicht heißen soll, dass keine weiteren Artikel zu Joseph Martin Kraus bei uns folgen sollen – wir arbeiten daran … G. H.

 

Wer Verdis Un ballo in maschera kennt, dem ist der schwedische König Gustav III. kein Unbekannter, denn während der Komponist noch, um den Königsmord zu verschleiern, sein Werk nach Nordamerika verlegen musste, vergönnte ihm u. a. der Regisseur Götz Friedrich in seiner Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin die beiden Charakterzüge, die auch in der Dissertation von Jens Dufner eine Rolle spielen: weniger die Homosexualität als vielmehr die Leidenschaft für das Theater. Unvergesslich sind dem Berliner Opernbesucher nicht nur die zart-zärtliche Annäherung an den Pagen Oscar, sondern besonders die letzte Szene, wenn der König nach vielen Addios über seinem Puppentheater zusammenbricht. Tatsächlich stand der schwedische König, der tatsächlich 1792 einem Attentat, wenn auch nicht wegen eines vermuteten Ehebruchs, zum Opfer fiel, nicht nur für seine ideologisch eingesetzte, innovative Liebe zum Theater sondern für eine ganze kulturelle Epoche, nämlich die gustavische.

Im Mittelpunkt der Dissertation mit dem Titel Æneas i Carthago von Joseph Martin Kraus- Oper als Spiegelbild der schwedischen Hofkultur steht das Werk des deutschen Komponisten, der die Uraufführung seines Hauptwerkes nicht erlebte, obwohl er zehn Jahre lang daran gearbeitet hatte. Die Oper  wurde posthum ohne sonderlichen Erfolg 1799 in Stockholm uraufgeführt, geriet dann in Vergessenheit, ehe sie 1979 wieder in Stockholm, 1980 in New York in englischer Sprache mit Kristina Söderström und 2006 in Stuttgart in deutscher Sprache aufgeführt und von der Zeitschrift Opernwelt als Wiederentdeckung des Jahres gefeiert wurde.  2011 gab es in Berlin eine konzertante Aufführung unter Lothar Zagrosek. Alle diese Aufführungen brachten stark gekürzte Fassungen mit zum Teil wohl gar nicht von Kraus stammender Musik. Eine historisch-kritische Ausgabe ist also vonnöten, will man der Oper eine Zukunft vergönnen, und der Autor der Dissertation ist bereits mit der Verwirklichung einer solchen als „Bestandteil  des von der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur geförderten Projekts  OPERA- Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzeleditionen“  befasst.

Das Attribut „gustavisches Werk“ verdient es sich nicht nur durch seine Zugehörigkeit zu einer Epoche, sondern auch dadurch, dass der König selbst den Prosaentwurf verfertigte (davon gibt es ein Foto), die Verse stammen von Johan Henrik Kellgren, der auch der Librettist für Kraus‘ erste vor dem König aufgeführte Oper Proserpin war.

Das Buch gliedert sich vom Allgemeinen zum Speziellen voranschreitend, beginnend mit der Situation der Oper in Schweden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, danach widmet es sich dem Leben und Wirken des Komponisten, schließlich seinem Werk. Von diesem werden die unterschiedlichen Fassungen, das Libretto, die Konzeption und Dramaturgie und schließlich die musikalische Gestaltung untersucht.

Auch für den Historiker interessant sind die Ausführungen über das Opernleben in Stockholm, das Bestreben Gustav III., das Niveau der beiden berühmten Vorgänger und Namensvettern zu erreichen, auch durch die Schaffung einer schwedischen Nationaloper, durch den Bau eines Opernhauses, für dessen feierliche Eröffnung  Æneas eigentlich bestimmt war.

Joseph Martin Kraus: „Aeneas i Carthago“/ Bühnenentwurf zur Uraufführung von Louis Jean Deprez/Wikipedia

Kraus als Opernkomponist wird gewürdigt, angefangen von dem nur als Bruchstück erhalten gebliebenen Werk Azire, sein Aufstieg zum Hofkapellmeister nach einer jahrelangen Bildungsreise durch Europa. Das wird alles so akribisch wie interessant dargestellt, so wie auch die Entstehungsgeschichte des Æneas, von dem fälschlicher Weise, wie der Verfasser nachweist, behauptet wurde, er sei nur wegen der Flucht der für die Dido vorgesehenen Sängerin Carolina Müller nicht zu Lebzeiten von Komponist und König aufgeführt worden. Für wahrscheinlicher hält der Autor, auch da die Sängerin diese Partie 1799 verkörperte, den finanziellen Aufwand oder die Nichtfertigstellung als Grund dafür, dass man auf ein Repertoirestück zurückgriff.

Kritisch verhält sich Dufner auch gegenüber der Anekdote, die von einem Riesenlob Glucks für Kraus zu berichten weiß. Generell hat er nicht den zweifelhaften Ehrgeiz, nur scheinbar Gesichertes dem Leser als Erkenntnis aufzutischen, sondern bekennt sich dazu, dass vieles, was das Leben und Schaffen von Kraus betrifft, im Dunkel bleiben wird.

Es ist auch von einem zweiten Äneas-Projekt die Rede, auch hier wird zwar das Thema von allen Seiten her beleuchtet, sich aber vor einem vorschnellen Urteil gehütet.

Einen breiten Raum nimmt die Untersuchung des Quellenmaterials ein, das aus der Arbeitspartitur des Kunigliga Teatern Stockholm, der Partiturhandschrift von Frederik Samuel Silverstolpes und der Partiturreinschrift der Akademska Kapellat Uppsala stammt, besteht. Es geht besonders um das Auffinden fremder Zusätze, um den „problematischen“ letzten Akt und um die Frage, ob Kraus das Werk überhaupt vollendet hat.

Das Kapitel über die unterschiedlichen Fassungen des Librettos enthält auch einen „Exkurs zum textkritischen Umgang mit den Librettoquellen“, ein weiteres befasst sich mit dem Libretto, das dem Wiener Silverstolpe zur Verfügung gestellt worden war.

Joseph Martin Kraus: „Aeneas i Cartago“ – das Buch von Jens Dufner ist eines der wenigen Standardwerke zu dieser Oper/ Peter Lang AG 2015/ ISBN-13: 978-3631647196

Besonders erhellend sind die Ausführungen zur Frage, inwieweit die Wahl mythologischer oder historischer Stoffe Auskunft darüber gibt, auf welcher historischen Entwicklungsstufe sich das kulturelle Leben eines Landes jeweils befindet, wobei er zu der Feststellung kommt, dass Æneas keine rein mythologische Oper mehr ist, dass der rückwärts  gewandte Prolog eine Referenz an Vergil und ein Wandel in der Funktion der Götter von Vergil bis Kraus festzustellen ist. Interessant ist auch, dass sich die Figur des Narbal noch bei Berlioz wiederfinden wird.

Als bemerkenswert erweisen sich die Ausführungen über die Verknüpfung der Figur des Äneas mit der des Kaisers Augustus, bei Vergil durch Venus, bildlich in der Gleichsetzung der Galionsfigur Gustav Adolfs mit der des römischen Kaisers und von da nahtlos zu der Gustavs III. mit dem herrscherlichen Idealbild führend.

Anhand zahlreicher Notenbeispiele wird schließlich die Vielfalt an Gestaltungsmöglichkeiten, die dem deutschen Komponisten zur Verfügung standen, nachgewiesen, seien es die unterschiedlichen Rezitativformen, sei es der Einsatz des Chores oder sei es die Spannbreite zwischen Nummernarien und weiterführenden Formen.

Eine operngeschichtliche Bedeutung spricht der Verfasser dem Werk in seiner Schlussbetrachtung ab, nicht aber seine Funktion als, was den Inhalt betrifft, Repräsentationsoper mit für die damalige Zeit moderner Musik, vor allem als Möglichkeit  eines Einblicks in die gustavische Oper, die durch die Widersprüche, die in ihr vereint sind, auch für uns interessant ist.

Das Buch ist – wie sich das für Dissertationen gehört –  eine wissenschaftliche, streng spezialisierte Abhandlung, die man  als Opernliebhaber und in Grenzen auch Opernkenner bewundern, aber nicht selber ausreichend kenntnisreich im musikalischen Detail kritisieren kann. Das heißt nicht, dass es nicht auch dem „normalen“  Opernfreund eine Fülle von Interessantem und Lesenswertem bietet. Der Anhang verfügt über eine Formübersicht der Oper, ein Verzeichnis der handschriftlichen und der gedruckten Quellen und der Sekundärliteratur sowie ein Personenregister (290 Seiten, Internationaler Verlag der Wissenschaften 2015; ISBN 978 3 631 64719 6). Ingrid Wanja