Poster Child

 

Mit seiner im Auftrag dreier Opernhäuser komponierten und 2001 in Dallas uraufgeführten Zola-Oper Thérèse Raquin hat Tobias Picker (* 1954) einen nicht unwesentlichen Beitrag zu neueren amerikanischen Oper geliefert. Zwei Opern waren vorausgegangen, zwei weitere sollten folgen. Darunter immerhin die mit einer großartigen All-Star-Cast 2005 an der Met gegebene American Tragedy. Weitere sind geplant. Daneben hat er sinfonische Musik komponiert, ein Ballett geschrieben. Etwas aus beiden Welten umfasst die Opera Without Words betitelte Naxos-Ausgabe mit zwei jeweils rund halbstündigen Stücken (8.559853). Wobei das „ohne Worte“ nicht ganz stimmt. Zumindest nicht in Bezug auf The Encantadas von 1983. Es handelt sich um ein Melodram für Sprecher und Orchester mit Texten von Herman Melville, der 1854 eine aus zehn Skizzen bestehenden Novelle über seine Reise zu den Galapagos-Inseln bzw. Encantadas veröffentlichte. Den sechs Abschnitte, die sich als die Erinnerungen eines alten Mannes an seine Jugend interpretieren lassen, hat Picker jeweils einen unverkennbare Atmosphäre gegeben, darunter einen parodistischen Walzer für die Pinguine und ein Klaviersolo für den Pelikan im Abschnitt Diversity. Der große John Gielgud (1904-2000) hat das Stück und Melvilles Worte 1999 geadelt und mit dem Houston Symphony Orchestra (Virgin) aufgenommen. Im März 2019 ging Picker in Nashville selbst ins Studio und sprach die sechs Texte zu dem vom von dortigen Nashville Symphony unter Giancarlo Guerrero gelieferten orchestralen Sound.

Gegen die edle Stimme des britischen Jahrhundertschauspielers, die immerhin Alec Guiness mit einer Silbertrompete mit Seidenbelag verglich, kommt der Komponist nicht an. Picker agiert mit wohllautend, gut artikulierender, wenngleich geheimnisloser Stimme. Gielgud spricht Literatur, Picker will packen und erzählen. In der Neuaufnahme klingt das Orchester etwas dominanter, wodurch das illustrative Plätschern und Wüten der Musik fasslicher gerät, die Landschaften in ihrer kompetenten Naturbeschreibung aber doch auch wie Aquarelle im Wartezimmer wirken. Ein amerikanischer Beobachter fand dafür die treffenden Worte, Tobias Picker is a poster child for accessible new music, program music in particular…

Auch das zweite Stück ist „accessible“ bis zur Langweiligkeit. Und irgendwie ist es auch eine Oper, wenngleich sich Opera Without Words im Gewand einer Orchester-Suite versteckt. Das eigentümliche Stück wurde 2016 von Christoph Eschenbach und dem National Symphony Orchestra, das zusammen mit dem Nashville Symphony Orchestra den Auftrag dazu gegeben hatte, aus der Taufe gehoben. Eigentümlich, weil  der Text, der nicht zu hören ist, immerhin von der durch ihren Einsatz für Anatol Ugorski und seit ihrer mit Enzensberger verfassten Hasen-Geschichte Esterházy auch als Schriftstellerin bekannten Irene Dische stammt. Dazu muss man Picker hören, Opera Without Words ist ein Musikdrama über einige faszinierende Menschen, denen ich begegnet bin. Als ich mit diesem Werk begann, machte ich mir Gedanken über Unterschiede und Ähnlichkeiten der Gattungen Orchesterstück und Oper. Ich entschloss mich, an dieses Werk so heranzugehen, als schriebe ich eine Oper. Ich beauftragte eine Librettistin, Irene Dische, und setzte ihr Libretto nicht für Stimmen, sondern für die Instrumente des Orchesters, unbelastet von allen Rücksichten auf Stimmumfang und Gesangstechnik. Nachdem ich die Oper mit Worten abgeschlossen hatte, entfernte ich den Text bis auf wenige Spuren und Reste aus der Partitur. Guerrero und sein Orchester brillieren in dieser unterhaltesamen Suite, die den Instrumenten effektvolle Kommentare zuwirft. Hübsch anzuhören.  Rolf Fath