Was an dieser neuen Johann-Strauss-Aufnahme von Eine Nacht in Venedig bei cpo (1 CD 8949859) sofort ins Auge fällt sind die Namen: Über dem Titel stehen in gleichgroßen Lettern Johann Strauss und Erich Wolfgang Korngold. Auf Seite 1 des Booklets sieht man dann Porträts der beiden Herren nebeneinander, wiederum gleichgroß. Mit dem Hinweis, dass auf dieser CD die Operette „in der musikalischen Version“ von Korngold sowie in einer „Librettoversion“ von Ernst Marischka zu hören sei. (Später berühmt geworden über die Sissi-Filme mit Romy Schneider.)
Das klingt erst mal nach irgendwie „neu“ und durchaus passend zum Revival, das Korngolds diverse Operettenbearbeitungen in den letzten Jahren speziell über die Musikalische Komödie Leipzig erlebt haben, von wo Das Lied der Liebe (nach Johann Strauss) und Rosen aus Florida (nach Leo Fall) auf Tonträger stammen. Allerdings sind beide bei Rondeau herausgekommen. Will cpo jetzt auf diesen Korngold-Trend aufspringen?
Während es von den gerade erwähnten Werken zuvor keine offiziellen Aufnahmen gab, ebenso wie von vielen weiteren Operettenbearbeitungen Korngolds (insbesondere die für Max Reinhardt erstellte Adaption der Fledermaus), liegt der Fall bei der Nacht in Venedig anders. Denn von dieser 1883er Erfolgsoperette kursieren fast ausschließlich Aufnahmen, die auf Korngolds Fassung von 1923 basieren. Meist erkennt man sie sofort daran, dass der Startenor darauf „Sei mir gegrüßt du holdes Venezia“ und „Treu sein, das liegt mir nicht“ singt, beides Ergänzungen von Korngold für den damals erstmals ins Operettenfach gewechselten Richard Tauber, der als Herzog von Urbino musikalisch aufgewertet werden sollte – zuvor waren im Stück die Komikerrollen von Caramello und Pappacoda der zentrale Dreh- und Angelpunkt. Womit das Stück in Richtung Comedy gerückt war, statt eine Tenorschnulze-mit-Gondeln zu sein.
Die vorliegende cpo-Neuaufnahme stammt aus der Oper Graz, die Produktion wiederum kommt ursprünglich aus Lyon. Dirigent Marius Burkert schrieb mir, cpo habe gezielt eine Aufnahme der Korngold-Fassung gewollt, auf die auch Bernd Krispin im Booklet deutlich hinweist. Was er – und was cpo – allerdings nicht erwähnen: Um welche Korngold-Version handelt es sich hier eigentlich? Die 1923er Adaption ist die allgemein bekannte und hinlänglich oft aufgenommene – von Schwarzkopf/Ackermann bis Schock/Marszalek, von Wunderlich/Walter bis Gedda/Allers –, während die erweiterte Fassung von 1929 bislang nicht eingespielt wurde. Das ist jene Fassung, mit der das Werk in die Wiener Staatsoper einzog mit Maria Jeritza, Adele Kern, Lillie Claus, Hubert Marischka, Josef Kalenberg, Alfred Jerger und Koloman Pataky. (Was für eine Luxusbesetzung!)
Mit Marischka als Caramello betrat damals erstmals ein Operettenstar, der kein Opernsänger war, die Bühne der Staatsoper. „Er spricht seine Texte deutlich aus, sorgt für Laune und Temperament und fürchtet sich nicht, die Heiligkeit des Hauses dann und wann, durch einen derben Witz zu unterbrechen. Den anderen haftet noch ein wenig Würde an“, hieß es in Das kleine Blatt. Und Adaxl meinte: „Er überraschte mit kräftig ins Haus geschmetterten Tönen, zog virtuos alle Register seiner liebenswürdigen Persönlichkeit und hat vor den meisten Opernsängern die sorgfältige Wortbehandlung und, ein vorbildlicher Tänzer, die Sicherheit in der Bewegung voraus.“ Es war die Rolle, die in Wien 1883 Alexander Girardi kreierte.
Abgesehen von der Besetzung 1929 war der wichtigste Unterschied zu 1923, dass Korngold einige neue Tanzpassagen einfügte, die für opulente Ausstattungsmöglichkeiten sorgten – und die mit Jazzelementen gespickt waren. Schließlich bewegte man sich in den Wilden Zwanzigern!
Die Premiere geriet zum Triumph, Kritik erregten nur einige für Wiener Verhältnisse allzu radikale Neuerungen: „Als gleich am Anfang ein entzückender Straußwalzer sozusagen ‚modern rhythmisiert‘ ertönte, malte sich Entsetzen auf den Gesichtern der Straußmusikkenner, und diese einzige, allerdings unerhörte Geschmacklosigkeit muß unbedingt verschwinden – aber was sonst Neues geschaffen wurde, war wunderbar, war genial.“
Außer vereinzelten Xylophonklängen in den Tanzduetten und ein paar markanten Harfen-Glissandi ist das, was cpo unter Dirigent Marius Burkert nun vorlegt aber nicht die „Entsetzen“ auslösende Staatsopernfassung, sondern die vertraute „alte“ Version. Und mit der begibt sich die neue CD in eine massive Konkurrenzsituation.
Egal wie frisch hier teils aufgespielt wird: Diese ausgeglichene Grazer Besetzung hält in keiner Position einem Vergleich mit Stars der Vergangenheit stand, selbst wenn sie sich (löblicherweise) manchmal deutlich an Vorgängern orientierten. So stattet beispielsweise Lothar Odinius seinen Herzog versuchsweise mit Mezza-voce-Effekten aus und gestattet sich hier und da sogar ein Portamento. Aber vom Schmelz eines Tauber – oder Gedda – ist er weit entfernt, vom Draufgängertum eines Schock (besonders in der ersten Aufnahme von 1953 unter Marszalek) fehlt jede Spur. Und dass man die Nummern des Herzogs mit einer gehörigen Portion Rubato und überhaupt Tempofreiheit gestalten sollte, hat Dirigent Burkert nicht erkannt.
Angenehm frisch und silbrig schimmernd im Tonfall ist der Caramello von Alexander Geller, mit dessen Auftritts-Tarantella so was wie Drive in diese Neuaufnahme kommt (immerhin sind wir da bereits bei Track 5!). Aber Hand aufs Herz: Das Gondellied singt Fritz Wunderlich (1960 unter Fried Walter) berückender. Und wenn man die steinzeitliche Klangqualität in Kauf nimmt: Marcel Wittrisch auf der Reichssender-Berlin-Aufnahme von 1938 lässt als Caramello wirklich die gesamte Konkurrenz hinter sich, inklusive Wunderlich, weil er speziell das Gondellied mit so vielen überraschenden Nuancen gestaltet und dann in den entscheidenden Momenten eine solche Strahlkraft entwickelt, dass man auch heute noch staunend dasitzt und denkt: Ja, so und nicht anders! (Seine Tarantella singt er übrigens auch mit einem derart vorwärtsstürmenden Impetus, einer solchen Textdeutlichkeit, dass ihr Fehlen in Graz schmerzlich auffällt.)
Der dritte Herr in der männlichen Hauptrollenrunde ist Ivan Oreščanin als Spaghetti-Koch Pappacoda, den ich als spaßbegrenzt und unschmissig bezeichnen würde, vor allem wenn man ihn vergleicht mit dem jungen Peter Alexander (bei Marszalek 1953). Und über den quasi nicht existenten Senator Delaqua, hier gesungen von Götz Zemann, lässt sich so gut wie nichts sagen, weil er – ebenso wie alle anderen – keinerlei Dialoge hat. Wodurch der Eindruck eines Wunschkonzerts entsteht (mit musikalischen Nummern ohne Wiederholungen bei den Strophen), nicht der einer dramatisch irgendwie interessanten Handlung.
Wie grandios die Dialoge auch auf Tonträger funktionieren können, demonstriert der Reichssender Berlin: mit echter Dialogregie und mit echten Charakterdarstellern. Die Szenen der Senatoren auf der 1938er Aufnahme (Otto Sauter-Sarto als Delaqua, Carl-Heinz Carell als Barbaruccio und Richard Senius als Testaccio) sind ein echtes Kabinettstück, die drei Herren schaffen es sogar zu NS-Zeiten, politische Anzüglichkeiten über unfähige Politiker zu platzieren. Davon spürt man in Graz nichts, weil diese gesamte Handlungsebene auf der Aufnahme fehlt.
Die Paraderolle des Fischermädchens Annina (unvergessen Elisabeth Schwarzkopf auf ihrer Ackermann-Einspielung bei EMI/Warner!) gibt Elena Puszta mit leicht säuerlichem Sopran und ohne jedwede Textverständlichkeit. Und ohne den Charme des Timbres, den Rita Streich oder Lisa Otto verstrahlen. Von Elisabeth Schwarzkopf mal ganz zu schweigen. Mag sein, dass Puszta auf der Bühne besser wirkte als auf CD, aber für alle, die nur eine neue Nacht in Venedig auf Tonträger kaufen wollen, ist das letztlich gleichgültig.
Gleiches gilt für die Senatorengattinnen, hier von Elisabeth Pratscher angeführt mit „So ängstlich sind wir nicht“, ohne Resolutismus und Witz. Man vergleiche das mit Gisela Litz 1967 unter Franz Allers.
Warum also das Ganze? Musikalisch ist diese Einzel-CD so stark gekürzt, dass von einem umfänglichen Musikgenuss nicht die Rede sein kann. Während Ernst Märzendorfer 1987 als Erster die originale Wiener Fassung nach der damals neuen kritischen Ausgabe eingespielt hat, mit Jeanette Scovotti, Karl Dönch, Wolfgang Brendel et al, fehlt bis heute von der legendenumwobenen Berliner Urfassung weiterhin jede Aufnahme, gleichwohl es auch davon eine kritische Ausgabe gibt. (Die natürlich kostspielig ist, was Leihmaterial angeht; weswegen viele Theater lieber bei Korngold/Weinberger bleiben.)
Auf YouTube findet sich ein kurzes Video zur Grazer-Produktion, wo man sieht, dass der Herzog von Urbino so etwas wie ein Karl-Lagerfeld-Verschnitt ist, allerdings ohne erkennbare homoerotische Momente mit Männermodels, sondern umgeben von hübschen Mannequins. Und einem spielfreudigen Alexander Geller als Leibbarbier. Was genau Eine Nacht in Venedig mit Lagerfeld und der Modelwelt zu tun hat – als Karnelvalsburleske – hat sich mir nicht erschlossen. Aber vielleicht war in Lyon ein Lagerfeld-Double als Herzog eine naheliegende Option?
Wer das umwerfende „Sei mir gegrüßt, du holdes Venezia“-Lied in der ursprünglichen Version hören will, kann sich auf der Simplicius-Einspielung (EMI unter Franz Welser-Möst) die Nr. 12a des Titelhelden zu Gemüte führen: „Der Frühling lacht, es singen die Vögelein“. Es ist die unmittelbare Vorlage, die Korngold und Marischka textlich angepasst haben. Martin Zyseet singt sie live 1999 berückend und vor allem: völlig außer Konkurrenz.
Einen solchen Willen, Operette und speziell Eine Nacht in Venedig neu zu denken, hätte ich mir bei cpo gewünscht. Mit der Berliner Urfassung hätte sich auch dieses ansonsten ausgeglichene Ensemble der Grazer Oper zweifellos profilieren und bewähren können. Für die 1929er Version bräuchte man vermutlich mehr Starqualität, um in die Fußstapfen von Jeritza, Kern, Claus, Jerger und Pataky zu treten. Und einen „modernen“ Hubert Marischka als Caramello müsste man auch erst mal finden. Was aber absolut möglich ist, wenn man außerhalb der gängigen Opernverdächtigen schaut und die Musical- bzw. Schauspiel/Kabarett-Szene berücksichtigt. Aber darin war cpo bisher nie besonders versiert. Und als Postskriptum: Bei der Erstaufführung der Korngold-Fassung 1923 im Theater an der Wien war außer Richard Tauber kein einziger Opernsänger beteiligt, bei den Berliner und Wiener Premieren 1883 auch nicht. Mit einer entsprechenden Besetzung hätte sich auch Graz/cpo auf Tonträger außer Konkurrenz bewegen und auf ganzer Linie punkten können. Aber das muss man auch wollen! Kevin Clarke