Als Hofkomponist Ludwig XV. schuf Jean-Philippe Rameau eine Vielzahl von Bühnenwerken unterschiedlicher Gattungen von der Tragédie lyrique über das Opéra-ballet bis zur Comédie lyrique. Seine letzte Kreation – Les Boréades – stammt aus dem Jahre 1762. Ein Jahr später begannen die Proben in Versailles, die allerdings abgebrochen wurden. Und durch den Tod des Komponisten1764 geriet das Werk gar in Vergessenheit. Erst 1982, also mehr als zwei Jahrhunderte später, wurde es in Aix-en-Provence uraufgeführt, nachdem es 1975 in London konzertant erklungen war. Im Jahr der szenischen Premiere brachte John Eliot Gardiner mit seinen English Baroque Soloists bei Erato eine Einspielung der Tragédie lyrique heraus. Nun erschien in der Collection Château de Versailles Spectacles eine Neuaufnahme, die im Januar dieses Jahres in der Opéra Royal de Versailles aufgezeichnet wurde (CVS026, 3 CDs mit – erstaunlicher Weise – sogar deutscher Textbeilage, dazu das Libretto mehrsprachig in einer luxuriösen Ausgabe: ah les Francais).
Verantwortet hat sie Václav Luks mit dem von ihm gegründeten Barockorchester Collegium 1704. Die reiche Erfahrung des tschechischen Dirigenten im Barockrepertoire ist hier in jedem Moment hörbar. Schon in der einleitenden Ouverture und den später folgenden vielfältigen Ballettnummern bis zur letzten Contredanse sorgt er für faszinierende Momente mit einer reichen Farbskala, überwältigender rhythmischer Verve und dynamischer Vielfalt. Man vernimmt graziöse, auftrumpfende, dramatische, heitere, stürmische, galante Stimmungen. Das Werk bietet neben Tanz, Divertissement, Gesang und Spiel die Möglichkeit für spektakuläre Bühneneffekte, die sich auch in der Komposition widerspiegeln, beispielsweise in einer brausenden Sturmmusik. Das musikalische Spektrum mit seinen Tänzen, Chören, Rezitativen und Airs ist ungemein abwechslungsreich. Das Werk hat keinen allegorischen Prolog, beginnt mit einer die Jagd beschreibenden Ouverture mit entsprechendem Geschmetter der Hörner.
Die Heldin des Stückes ist Alphise, Königin von Baktrien, die einen Fremden mit Namen Abaris liebt, jedoch einen Nachfahren aus dem Geschlecht der Boreas, Calisis oder Borilee, heiraten muss. Ihre Weigerung beschwört den Zorn des Gottes der Nordwinde, Boree, herauf. Er entführt sie in sein unterirdisches Reich. Abaris’ Bemühungen, sie zu retten, werden von der Muse des Gesangs, Polymnie, und dem Gott des Lichts, Apollon, unterstützt. Letzterer eröffnet, dass Abaris sein Sohn sei, den er mit einer Nymphe hatte, die ihrerseits eine Tochter des Boreas war. Damit steht der Hochzeit der Liebenden nichts mehr im Wege.
In Versailles singt Deborah Cachet die zentrale weibliche Rolle. Ihr Sopran lässt schon im ersten Air, „Suivez la chasse“, den typisch säuerlichen, bohrenden Klang der französischen Barocksängerinnen hören. Ihre Vetraute Sémire ist gleichfalls eine Sopranpartie, hier mit Caroline Weynants besetzt, die noch strenger klingt. Der renommierte französische Tenor Mathias Vidal ist als Abaris mit individuellem, expressivem Tenor zu hören. Bemerkenswert, wie er den vehementen Ausdruck der Ariette „Fuyez, reprenez vos chaînes“ am Ende des 4. Aktes dank seines stimmlichen Totaleinsatzes trifft. Und mit der Ariette gaie„Que l’amour embellit la vie“ fällt ihm am Schluss der Tragédie auch das letzte Solo zu, das er mit zärtlichen, vor Glück trunkenen Tönen vorträgt. Seine beiden Kontrahenten um die Gunst der Königin sind Benedikt Kristjánsson als Calisis mit schmeichelndem Tenor und Tomás Selc als Borilee mit weichem Bariton. Dem Gott Borée verleiht Nicolas Brooymans energische Töne. Die Besetzung wird komplettiert von Lukás Zeman als Apollon mit klangvollem und Benoît Arnould als dessen Grand-Prêtre mit sonorem Bassbariton sowie Pavla Radostová als Polymnie mit jugendlich-lieblichem Sopran. Mit der Contredanse très vive endet das Werk in jauchzendem Übermut. Bernd Hoppe
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