Ein Buch, das über 325 Seiten hinweg den Intellekt des Lesers aufs Höchste beansprucht, ihn mit einer Fülle von Fakten konfrontiert, ihn (den ehemaligen West-Berliner) in eine untergegangene Welt entführt und ihm dann auf der letzten Seite ganz unerwartet das Herz berührt, ist Eckart Kröplins Operntheater in der DDR, zum 30.Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschlands vom Henschelverlag herausgegeben. Fremd erscheint der (ehemaligen BRD-) Rezensentin ein Staat, in dem die Oper und ihre Aufführungen höchstes Politikum sind, wo erbitterte Auseinandersetzungen um ideologische und ästhetische Positionen geführt werden, jeder Satz eines Librettos und jeder Takt eine Komposition argwöhnisch daraufhin geprüft werden, ob sie auf dem Boden der letzten, von der Sowjetunion gut geheißenen Parteilinie stehen, nicht nur über die Zukunft einer Partitur, sondern auch über das Schicksal ihres Schöpfers von einem Politbüro, dessen Mitgliedern Oper grundsätzlich schon suspekt sein kann, entschieden wird. Und doch heißt es auf der letzten Seite, nach dem „Untergang“ der DDR habe sich bei Opernleuten (und wohl nicht nur bei ihnen) ein Gefühl der „Heimatlosigkeit“ eingestellt, weil die „Reibungsfläche“ fehlte, an der man sich bisher abgearbeitet hatte, um seine künstlerischen Pläne durchzusetzen.
Von tiefer Liebe zur Oper generell erfüllt ist der Verfasser, insbesondere zu der, die er in den Häusern der DDR erlebt hat, deren Verwirklicher den schmalen Grat „Zwischen neuer Ästhetik und politischen Dogmen“ (so der Untertitel) wandeln mussten, seien sie Librettisten oder Komponisten, Intendanten oder Regisseure gewesen, die sich bedingungslos anpassten oder opponierten, daran wuchsen oder zugrunde gingen.
Im Vorwort stellt sich der weit über die Grenzen der alten DDR hinausbekannte und international renommierte Autor vor, schildert knapp seinen Weg zur Oper vom Studium der Musikwissenschaft in Leipzig, über die Dozententätigkeit, die als Dramaturg und schließlich als stellvertretender Intendant der Semper-Oper in Dresden (operalounge.de ist ihm ohnehin verpflichtet, weil er liebenswürdiger Weise uns Texte zum „Nachdruck“ überlassen hat/ G. H).
Im Grußwort von Siegfried Matthus werden bereits die beiden Pole erwähnt, um die es in weiten Teilen des Buches geht: um das Theater der Verfremdung am Berliner Ensemble unter Bert Brecht und das realistische Einfühlungstheater unter Walter Felsenstein an der Komischen Oper Berlin.
Der Autor ist bei der Beschreibung des Opernlebens in der DDR chronologisch vorgegangen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, wobei innerhalb dieses Zeitraums die jeweilige allgemeine politische Entwicklung, abhängig von der in der Sowjetunion, sich im Verhalten zur Oper niederschlägt, nur in den Achtzigern mag die SED sich Perestroika und Glasnost nicht anschließen, verharrt vielmehr in Erstarrung. Innerhalb dieser chronologischen Gliederung gibt es eine nach Spielstätten, beginnend jeweils mit Berlin und damit mit Staatsoper und Komischer Oper, dann sich Leipzig und Dresden widmend und schließlich die gar nicht provinzielle Provinz in Augenschein nehmend.
Da die SED, beeinflusst von Ideen wie der Shdanows von den Schriftstellern als Ingenieuren der menschlichen Seele, in der Kunst generell und damit auch in der Oper ein Mittel zur Erziehung der DDR-Bevölkerung zu sozialistischen Menschen sah, nahm sie massiv Einfluss auf deren Gestaltung. Kröplin schildert sehr eindrucksvoll zwei „Fälle“, die darüber Aufschluss geben: den Kampf um Brecht/Dessaus Lukullus-Oper und das Ringen um eine deutsche Nationaloper, die Hanns Eisler mit seinem Faust-Projekt, das den Doktor mit dem Bauernkrieg verbinden sollte, schaffen wollte. Die Abhängigkeit der Künstler von der jeweiligen politischen Richtung zeigt sich dann auch darin, wie nach der Stalinnote von 1952 mit der Aufgabe des Nationalstaatsgedankens die von der Notwendigkeit einer Nationaloper einhergeht. Da das Buch sich der Oper in der DDR widmet und nicht der Gesamtnachkriegsgeschichte, ist verzeihbar, dass der Inhalt der Stalinnote etwas sehr knapp und damit zu Missverständnissen einladend wiedergegeben wird.
Eindrucksvoll werden die vielen Möglichkeiten für die Bevölkerung der DDR, am kulturellen Leben teilzunehmen, dargestellt, immer wieder sind in den Text lange Listen von „Kulturschaffenden“ eingestreut, viele Namen enthaltend, die ebenfalls im Westen einen guten Klang hatten. Es wird auch klar herausgestellt, dass man in Ost und West von Anfang an getrennte Wege ging: im Westen auf der Suche nach Neuem, dem Nachholen in der Nazizeit verpasster Entwicklungen, im Osten der Tradition verhaftet, sich dem Kampf gegen den „Formalismus“ widmend. Eine gleich starke Verachtung trifft nur noch den „Kulinarismus“.
Charakterisiert sind die Jahre 49 bis 61 durch die ästhetische Neuorientierung, 61 bis 71 durch die Aufgabe des Nationalstaatsgedankens, 71 bis 80 durch eine scheinbare Liberalisierung nach der Ablösung Ulbrichts und die 80er zwischen dem ersten Erscheinen von Solidarnost und dem offenen Protest mit dem Dresdner Fidelio inmitten von Mauern und Stacheldraht.
Die Geschichte der Oper in der DDR ist auch eine ihrer Regisseure, von Felsenstein und seinen Schülern Herz und Friedrich, später Kupfer, von Riha und Berghaus. Sie ist eine ihrer Dirigenten wie Kleiber (der Rücktritt nach dem Entfernen der Inschrift über dem Portal der Staatsoper wird nicht ausgepart), Konwitschny, Suitner, Masur, Blomstedt und anderer, ihrer Säger, der deutschen und nach dem 13. August der vielen aus dem Ostblock. Natürlich werden diejenigen nicht ausgespart, die die Kulturpolitik des SED-Staates zu verantworten hatten wie Becher, Abusch, Girnus, Hager und Konsorten, und gleichermaßen einen Schauer über den Rücken jagen dem Leser deren Verlautbarungen wie das schriftliche Bemühen der künstlerischen Macher, ihre Vorhaben zu verteidigen, ihnen zumindest den Anschein sozialistischer Korrektheit zu verleihen. Und nicht einmal kommt dem Leser angesichts der dann oft stupenden Ergebnisse der Gedanke, erst aus dem Kampf gegen Widrigkeiten erwachse das überzeugendste Kunstwerk, falls es nicht bereits im Vorfeld „versandet in engstirniger Ideologie“.
Das Buch befasst sich auch mit der Literatur, die die Opernarbeit begleitete, so werden „Theater der Zeit“, „Sinn und Form“ oder „Material für Theater“ angemessen gewürdigt, nicht zuletzt der bereits 1945 gegründete Henschelverlag. Es entstehen viele neue Opern, die abgesehen z.B. von einigem von Udo Zimmermann, heute nicht mehr aufgeführt werden. Sie sind es aber wenigstens wert, in diesem gehaltvollen Buch erwähnt zu werden, sogar ein unvollendet gebliebenes Werk Brechts und Dessaus, an dessen happy end sich herausstellen sollte, dass das wahre Glück der Kommunismus sei. In den letzten Jahren der DDR entwickelt sich nach Kröplin Kunst immer mehr zur Gegenwelt der realen Misere.
Noch vor Chereau wird der Ring in Leipzig durch Herz zur Kapitalismuskritik, Spas Wenkoff singt in Dresden Tristan und bald in Bayreuth, und hier wie anderswo im Westen sind Sänger wie Adam, Schreier, Vogel, Büchner, Freier, Lorenz, Priew, Tomowa-Sintow oder Goldberg gefragt und beliebt.
Ganz nebenbei erfährt man, dass Felsenstein, nachdem er aus der Reichskulturkammer ausgeschlossen worden war, von Heinrich George an seinem Theater beschäftigt wurde. Das schien nach 1945 keine Rolle mehr gespielt zu haben.
Bei der Schilderung des Werdegangs von Götz Friedrich kommt mit der Erwähnung von Stanislawski noch ein weiterer Antagonist zu Brechts Verfremdungstheater ins Spiel, in dessen „poetischer Wahrheit“ Wirklichkeit und Künstlichkeit einander aufheben sollen. Gegen einen Sowjetmenschen war kein Einwand denkbar und damit die „ästhetische Weiterung“ ideologisch abgesichert.
Im letzten Teil des Buches wird der Umgang der DDR mit Mozart und Wagner betrachtet, die „politische Brisanz in der Mozart-Rezeption“ und der Streit darum, ob Wagner ein Revolutionär oder Reaktionär gewesen sei. Ein kurzer Blick nach Westen beweist dem Leser, dass es bereits damals auch mit Wieland Wagner oder Robert Wilson andere Regiehandschriften gab als die realistische oder die verfremdende.
Die 80er täuschen mit der Eröffnung von Gewandhaus, Konzerthaus am Gendarmenmarkt und Semperoper, mit der Rehabilitierung von Preußentum und Bismarck (Rückversicherungsvertrag mit Russland!) Prosperität vor, aber dahinter versteckt sich mühsam die „finale Agonie“.
Das an Fakten überaus reiche Buch, das zusätzlich sympathisch wird durch das Engagement des Autors für seine Sache, das den Leser in seinen Bann zieht und ihn bereichert um Wissen und Verständnis entlässt, wird vervollständigt durch einen Anhang, der wichtige Operninszenierungen auflistet, ein Literaturverzeichnis, ein Personenregister und einen Bildnachweis umfasst (360 Seiten, 2020 Henschel Verlag; ISBN 978 3 89487 817 7). Ingrid Wanja