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In jüngster Zeit hat der französische Komponist Daniel Esprit Auber reichlich fortune, aufgeführt und auch eingespielt zu werden. Seine Muette de Portici erreichte sogar Dessau und die kleineren Theater in Deutschland; die Pariser Opéra gab 2012 eine prachtvolle Vorstellung davon, und selbst wenn man mit June Anderson nicht glücklich wird ist doch die ältere EMi (und nun Warner) Aufnahme ein gültiges akustisches Dokument mit diskutabler Besetzung (auch Alfredo Kraus ist da nicht wirklich der Tenor zum Träumen; und Fans haben natürlich weitere Live- und Radioaufnahmen der Oper, die in London oder Paris mehrfach gegeben wurde). Dennoch – Auber ist – wie nun auch mit der zweiten der Naxos-Ouvertüren-CD – gut bedient.
Aber es gibt ja noch einen anderen Masaniello, eben jenen von Michele Carafa von 1827, der sich nach anfänglichen Aufstieg nicht gegen den Konkurrenten Auibers durchsetzen konnte. Er galt aber lange als die erfoilgreichere Oper dieses Sujets, so wie Carafa in seiner Zeit zu den wirklichen Größen der italienischen und französischen Oper gehörte.
Im wie stets hochinformativen Programmheft zur Muette de Portici an der Pariser Opéra-Comique 2012 fanden wir einen spamnnenden Artikel des Lyoneser Musikwissenschaftlers Olivier Bara über eben Carafas Masaniello, den wir mit der liebenswürdigen Werlaubnis des Autors hier in unserer Die vergessene Oper in eigener deutscher Übersetzung durch Ingrid Englitsch wiedergeben. Wie spannend doch die Welt der Oper ist – hat jemals jemand etwas von Carafas Masaniello gehört? Wir nicht, müssen wir gestehen. G. H.
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Olivier Bara – der andere Masianello: Die Rivalität zwischen “Grand-Opéra” und “Opéra-comique” ist alt. Geht sie doch auf die Epoche der “Spectacles forains” zurück, als Vaudevilles und “Comédies en ariettes” bitter mit der Musikakademie um das exklusive Recht, auf der Bühne zu singen, kämpften. Man kannte auf verschiedenen Theatern einige “Doubletten”finden, zuerst als Parodien: zum Beispiel die von Favart 1740 parodierte musikalische Tragödie Pyrame et Thisbé.Aber die Verdopplungen werden zu Duplikaten, wenn dasselbe Thema an der Opera und der Opéra-Comique behandelt wird, auf der einen Seite im großen Stil, auf der anderen Seite im mittleren Stil: so beim berühmten Fall des Pré aux clercs von Hérold (1832), der vier Jahre vorher durch seine auf den Religionskriegen basierende Handlung die Huguenots von Meyerbeer vorwegnimmt. So ist es auch der Fall bei Masaniello von Michele Enrico Francesco Carafa di Colobrano, der am 27. Dezember 1827 am Théâtre Feydeau (Opéra Comique) zwei Monate vor La Muette de Portici von Auber an der Académie royale de musique entstand. Dasselbe Thema: die neapolitanische Revolte von 1647, dieselben historischen Hauptgestalten: Thomas Aniello, Masaniello genannt, dieselbe Handlungsentwicklung: das Scheitern des Volksführers vor dem Hintergrund des Vesuvausbruchs. Beachten wir einen Größenunterschied, der der Opéra Comique den Vorteil der musikalischen Wahrheit sichern hätte müssen: Der Komponist von Masaniello ist der Neapolitaner Michele Carafa de Colobrano, aus dessen Feder das Erlebte die Feuerwerke des Pittoresken transzendieren hätte müssen.
Konspiration und Aufruhr: Man hat diese wichtige Figur der Geschichte der romantischen Opéra comique vergessen. Carafa, dessen Gabriella di Vergy von 1816 dem rossinischen Otello in Neapel die Stirn geboten hat. Das Théâtre Feydeau hielt sich an ihn 1821, weil es seine Musik „italianisieren“ wollte, um der Konkurrenz des Théâtre Italien mit seiner Rossiniwelle entgegen zu treten. Wenn auch die Belcantoattacke mit einer unglücklichen Jeanne d’Arc, die Carafa seinem Lehrer Cherubini gewidmet hat, nicht gegriffen hat, kam der Erfolg 1822 mit Le Solitaire (122 Vorstellungen während der Restaurationszeit), dann mit „Le Valet de chambre“ nach einem Libretto von Scribe. Zwei komische Opern und zwei Misserfolge später übernahm Carafa das Libretto des Vaudevillisten Moreau und Lafortelle Masaniello ou le Pêcheur napolitain, ein durch sein historisches und politisches Thema, seine Länge ( 4 Akte) durch sein lokales neapolitanisches Kolorit, für die Opéra Comique gefährliches Werk und den eruptiven Höhepunkt der Handlungsentwicklung für die Opéra Comique gefährliches Werk, auch durch die Werkbezeichnung „historisches Drama“ (Barba, 1828).
Hat sich das Théâtre Feydeau entschlossen, direkt in Konkurrenz mit der Opéra zu treten und sich mit seinem großen „Opernbruder“ auf einen Wettlauf einzulassen, indem es seinen Masaniello unmittelbar vor dem Werk von Scribe und Auber auf die Bühne brachte? Hat es sich nicht auch auf einen Kampf mit dem Odéon eingelassen, das die Musik von Carafa wegführte, indem es seine milanesische Oper I due Figaro auf Französisch adaptierte? Die Presse von 1827 delektiert sich an diesem Konspirationsklima und nimmt die Kulissengespräche ebenso wie die Publikumsgespräche auf: „Die Kulturwelt hat sich in eine Arena verwandelt, wo unterhalb der Gladiatoren eine ganz spezielle Spezies kämpft und deren Hauptverdienst in ihrer Geschicklichkeit besteht, sich dessen zu bemächtigen, was die Beute der anderen ist“, schreibt der „Courrier des théâtres“ anlässlich der „zwei Masaniellos“ (siehe 12. Oktober 1827). Wer hat wen kopiert? „Wir nicht“, protestieren die beiden Librettisten der Operand Comique am nächsten Tag in derselben Zeitung: Zuerst einmal sei das Thema historisch und gehöre daher allen, weiters wurde unser Drama ab 1825 geschrieben, so behaupten sie und versuchen, öffentlich zu suggerieren, dass Eugène Scribe und Germain Delavigne die wahren Plagiateure seien. In Wahrheit stützen sich alle auf dieselben Quellen: Le Duc de Guise à Naples, ou Mémoires sur les révolutions de ce royaume en 1647 et 1648, herausgegeben vom Grafen von Pastoret im Jahr 1824. Ein musikalisches Drama Masaniello, the fisherman of Naples wurde übrigens von Henry Bishop 1825 in London herausgebracht.
Die vier Libretisten schlachten eine Melodie der Zeit aus, die politisch dem Liberalismus angehört. Das ultraextreme Ministerium von Villèle wird immer mehr angefeindet. Sie wird flüsternd nach dem Sieg der Liberalen in der Deputiertenkammer verbreitet. Zur gleichen Zeit sind auf den Bühnen die „revolutionären“ Themen in Mode: die Verteidigung der Bürgerrechte und der Kampf gegen den Unterdrücker werden gefeiert, 1827 und vor allem 1828 in Guillaume Tell von Puxérécourt am Théâtre de la Gaîté, in Les Trois Cantons am Vaudeville, in „Guillaume Tell“ von Pichat am Théâtre-Français, im „Guillaume Tell“ von Grétry, der von der Opéra Comique wieder aufgenommen wurde, vor dem von Rossini, 1829 an der Opéra. In dieser Vervielfachung der Guillaume Tell (der von der Abschwächung der Zensur unter dem Ministerium Martignac profitiert) findet sich eine teilweise Antwort auf das Geheimnis des Zwillingswesens des Masaniello: Das Theaterleben, das noch keine genauen Kriterien der künstlerischen Urheberschaft kennt, speist sich von gängigen Themen und nährt so, im Feuer des kulturellen Augenblicks, die Phantasie des Zusehers.
Ein Vesuv verschattet den anderen. Im Übrigen unterscheidet sich, wenn man die beiden Libretto genau liest, der Masaniello von Moreau und Lafortelle klar von der Muette de Portici von Scribe und G. Delavigne: Der Vergleich ist faszinierend, so sehr erlaubt er, das Genie von Scribe gegenüber den beiden Herstellern am Théâtre Feydeau zu erkennen. Die letzteren malen das historische Material in den engen Formen der Opéra-Comique, was ihre Vorgehensweise und ihre Couplets betrifft. Scribe hingegen nutzt nicht nur die dramatischen Potentiale, sondern auch die visuellen, klanglichen und spektakulären des Themas aus, indem er zusätzlich die Titelfigur der Stummen erfindet, eine Gelegenheit, Pantomime und Tanz in das dramatische und musikalische Geschehen einzubinden. Dadurch verwischt er die hervorstechenden Konturen eines gewagten politischen Themas, indem er, da wo die Librettisten Carafas vervielfachen, den Diskurs, entsprechend den Zensurwünschen, implizit hält mit Anspielungen auf die heilige Vorsehung, die die Volksrevolten bestrafen kann. Dieser dramaturgische und ideologische Unterschied wurde von den Zensoren erkannt, die die ungeschickte Freizügigkeit, mit der das Libretto der Opéra Comique das Thema der neapolitanischen Revolte behandelt, der hohen Geschicklichkeit Scribes gegenüberstellen, mit der er jede direkte Anspielung vermeidet. „Die Ruhe des Staates hängst so sehr davon ab, wie unsere Aufgaben mit Vertrauen und Unterwerfung erfüllt werden, folglich soll nichts an diesem Thema die Geister aufwiegeln, man müsse einen solchen Gegenstand sehr vorsichtig behandeln und am Theater sei es noch besser, an nichts zu rühren“, kommentiert die Zensur angesichts von „Masaniello“. Sie erkennt aber dennoch den belehrenden Charakter des Werks von Moreau und Lafortelle: der Tod des Helden am Schluss (in einer Opéra Comique unüblich), der durch die Menge der Revoltierenden getötet wird, stellt ein Beispiel der konservativen Tugenden dar. Das bietet einen Beweis der Gefahr der Revolutionen und des Nachteils, den es mit sich bringt, aus seiner Sphäre herauszutreten“, beruhigt sich der Zensor. Er erlaubt die Muette der Opéra Comique unter der Bedingung, dass Formulierungen wie „zu den Waffen greifen“ oder, schlimmer, „diese Schurken von Steuereintreibern“ gestrichen werden. Die Muette erscheint den Zensoren sogar inoffensiv dank ihrer Titelgestalt: Diese wendet die Handlung vom Politischen mehr in die intime Sphäre. „Die Gefahr für die legitime Autorität, der Volksaufruhr, die Schreie der Revolution, alles verliert sich und wird vergessen beziehungsweise vermischt es sich mit dem Interesse an einer Person. Diese Person ist eine Frau und sie ist stumm. (…) Sie ist es, auf die alle Blicke gerichtet sind, die alle Herzen berührt. Es gibt kaum etwas, das die Gefahren des Themas geschickter umgeht.“ Die Zensoren waren blind dafür, dass, wie man weiß, es Aubers Muette de Portici ist, die durch die heimtückischen Rhythmen ihrer Barcarolen und den kriegerischen Elan ihres „Amour sacré de la patrie“ die belgische Revolution von 1830 auslösen wird.
Die am Rande der künstlerischen Geschichte verbliebene Opéra-Comique von Carafa hatte zweifellos auch andere Schwächen als nur das Libretto. Die Partitur des Neapolitaners erscheint rau in ihren Rhythmen, eher knapp in ihren Melodien, zu verhalten in ihrem dramatischen Elan durch die Aufeinanderfolge geschlossener Nummern, auch wenn einzelne herausgenommene Stücke einen echten kommerziellen Erfolg hatten, wie die Couplets von Notre-Dame du Mont Carmel. Die Regie der Opéra vom Regisseur Solomé, die von Ciceri nach einer Reise nach Neapel gemalten Dekorationen lassen die Aufführung in visueller Bescheidenheit verharren trotz der für den Vesuv angewandten technischen Verbesserungen, mit denen man dem „Konkurrenz-Vesuv“ gleichkommen wollte. Es ist auch anzumerken, dass es der Titelrolle im Gegensatz zur Interpretation von Adolphe Nourrit an Eklat, Biss und Kraft gefehlt hat. Der leichte Tenor Ponchard in der Rolle des neapolitanischen Fischers hat nur ein kleines Stimmchen, beklagt die Presse. Die „Muette de Portici“ hat „Masaniello“ verdrängt. Die Oper von Carafa hatte allerdings mehr als 60 Aufführungen in zwei Jahren, ein heftiger, aber vergänglicher Erfolg aufgrund der Ähnlichkeiten der beiden Werke. Der Titel verschwindet rasch von den Ankündigungen nach 1829, während das Werk von Scribe und Auber die neue Form entwickelt, die unter der Julirevolution eine glänzende Zukunft hat: die große romantische historische Oper, die bald darauf Rossini (Guillaume Tell), dann Halévy (La Juive) und Meyerbeer (Les Huguenots) zur Vollendung bringen werden. Die ästhetische Revolution an der Opéra Comique ist unter der Restauration nicht Masaniello, es ist die Dame blanche von Scribe und Boieldieu,die Matrix der Meisterwerke des „mittleren Genres“ des 19. Jahrhunderts.
Ein kleiner Trost für Carafa: Sein Masaniello hatte in der Provinz eine ansehnliche Karriere, wobei er von seinen kleinen Proportionen und der Einfachheit, mit der er in Szene gesetzt werden konnte, profitierte: wenige Statisten, ein weniger „anspruchsvoller“ Vesuv und keine Tanzrolle. Masaniello oder die Muette der Armen? Olivier Bara/ Übersetzung Ingrid Englitsch
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Wir danken dem Autor Olivier Bara , der Professor und Musikwissenschaftler an der Universität Lyon ist, für die sehr freundliche Genehmigung zum „Nachdruck“ seines Artikels aus dem Programmheft zu Aubers Muette de Portici an der Pariser Opera-Comique 2012.
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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.