Evvivano i Litiganti

 

Im Jahre 1834 erinnerte sich der über 70jährige Luigi Cherubini an die frühen Ereignisse seines Musikerlebens, die er in die Feder eines Sekretärs diktierte. In der daraus resultierenden Notice biographique würdigte der Greis einen heutzutage fast vergessenen Komponisten, der sich seiner angenommen hatte: „Im Jahre 1778 verlieh Leopold II., der Großherzog der Toskana, (…) Cherubini ein Stipendium, das dem jungen Komponisten erlaubte, sich nach Bologna zu begeben, wo der berühmte Sarti weilte, unter dem er seine Ausbildung verfeinern wollte. Sarti freundete sich mit seinem Schüler an und gab ihm hervorragende Ratschläge, die ihn in der Wissenschaft des Kontrapunkts und in der Ästhetik (style idéal) stärker machten“ (meine Übersetzung). Cherubini berichtet darüber hinaus, dass Giuseppe Sarti (1729-1802) ihn auf Reise mitnahm, und ihm sogar erlaubte, Stücke für die Nebenrollen zu verfassen, um ihn üben zu lassen oder wenn er wegen Termindrucks eine Aushilfe brauchte. Diese Eindrücke müssen fürwahr prägend gewesen sein, wenn Cherubini sich veranlasst fühlte, mehr als 50 Jahre später herzliche Worte für seinen Lehrer zu finden. Daran, dass Sartis Musik, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts überall in Europa gespielt wurde, nach und nach vergessen wurde, konnte auch er nichts ändern. Mozart und Da Ponte auch nicht: in der Schlussszene des Don Giovanni spielen nämlich die „amici cari“, die Don Giovanni zur Erhöhung seiner Tafelfreuden eingeladen hat, auch eine Melodie aus Sartis Dramma giocoso Fra i due litiganti il terzo gode („Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte“), das 1782 an der Scala uraufgeführt worden war und sich auch im Wien des Jahres 1787 einer großen Beliebtheit erfreute. Das Zitat in Mozarts Oper sorgte dafür, dass zumindest der Name von Sarti nicht ganz aus dem Horizont der Musikliebhaber verschwand. Die Bühne eroberten die Opern von Giuseppe Sarti jedoch nicht zurück, und in den letzten 30 Jahren bleib es bei mehr oder weniger überzeugenden Einzelversuchen, etwa für Giulio Sabino (Ravenna 1999), Enea nel Lazio (St. Petersburg 2001) sowie Armida e Rinaldo (unter anderem in Sartis Geburtsort Faenza, 2012). Hinzu kamen mehrere wagemutige Produktionen von universitären und freien Operngruppen, die keine Spuren in der Rezeption seiner Werke hinterlassen haben. Dabei schätzten Publikum und potente Geldgeber der Zeit Giuseppe Sarti sehr hoch. Er war Kapellmeister in Kopenhagen und Sankt Petersburg, wohin ihn Katharina II. 1784 berufen hatte (Sarti starb 1802 in Berlin auf der Rückreise nach Italien, nachdem er der Kaiserin als Opern- und Kirchenkomponist, u. a. auch von Stücken für die orthodoxe Liturgie, getreu gedient hatte). Trotz des großen Ruhms unter den Zeitgenossen fehlt es nach wie vor an einer umfassenden modernen Monographie zu diesem bedeutenden Komponisten, auch wenn er immer wieder ins Blickfeld der Forschung geraten ist. Man erinnert sich etwa an Kongressakten von 1986 und an das Buch von Roland Pfeiffer zu Sartis opere buffe von 2007.

Es ist dementsprechend sehr zu begrüßen, dass die Edition Argus in ihrer Reihe „Forum Musikwissenschaft“ einen weiteren, elegant gestalteten Sammelband zu Sarti veröffentlicht, der Beiträge versammelt, die auf Tagungen aus den Jahren 2014 und 2015 gehalten wurden. Es sind 21 Aufsätze auf Deutsch und Englisch, in denen anerkannte Spezialisten und Nachwuchskräfte (unter anderem Martina Grempler, Roland Pfeiffer, Christin Heitmann und Dörte Schmidt) jeweils einen Aspekt von Sartis Schaffen, manchmal auch ein einziges Werk (etwa Le gelosie villane, Fra i due litiganti il terzo gode und Giulio Sabino) zum Objekt ihrer gelehrten Betrachtungen machen. Besonders interessant wirken die Ausführungen zu Sartis Beziehung zur ambrosianischen Tradition (Mariateresa Dellaborra; Sarti war von 1779 bis 1784 Domkapellmeister in Mailand) oder zu seinem langen Aufenthalt in Russland (Marina Ritzarev, Bella Brover-Lubovsky). Der Band wird durch drei Beiträge zu digitalen Editionen abgerundet (Joachim Veit, Johannes Kepper und Kristin Herold).

Man vermisst schmerzlich ein Register der Quellen, der Werke und der Namen, was für ein wissenschaftliches Buch eigentlich zur Standardausstattung gehört, zumal in einem Band, der die „Überlieferung“ im Untertitel nennt. Es handelt sich hier trotzdem unmissverständlich um eine Publikation von Fachleuten für Fachleute. Wer sich den gelegentlichen trockenen und beinahe solipsistischen Vortrag einiger dieser Autoren antut, bekommt die seltene Gelegenheit, Informationen aus erster Hand über einen der wichtigsten Komponisten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu gewinnen, und sehnt sich danach, einen der großen Erfolge Sartis einmal wieder in einer würdigen szenischen Produktion erleben zu können. Michele C. Ferrari

 

Giuseppe Sarti. Ästhetik, Rezeption, Überlieferung. Herausgegeben von Christin Heitmann, Dörte Schmidt und Christine Siegert. Schliengen : Edition Argus 2019, 328 Seiten, ISBN 978-3-931264-42-0