Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Von den Anfängen der Oper

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Das Cover-Foto zeigt eine attraktive junge Frau unserer Zeit, die Beschriftung Arias for Anna Renzithe first Opera Diva meint eine Sängerin längst vergangener Zeiten, und ganz klein und ganz unten steht auch noch, wer tatsächlich auf der CD zu hören ist. Es handelt sich um die als Spezialistin für Alte Musik hoch gehandelte Sopranistin Roberta Invernizzi, die mit dem Ensemble Sezione Aurea Arien eingespielt hat, die einst im fernen 17. Jahrhundert für die erste Primadonna der jungen Kunstgattung komponiert wurden, darunter die bekannte Arie der Ottavia “Disprezzata regina“ aus Monteverdis L’Incoronazione di Poppea. Obwohl höchstwahrscheinlich sich eines ehrbaren Lebenswandels befleißigend, stand auch sie wie ihre Berufsgenossinnen unter dem Generalverdacht einer unsittlichen Lebensführung , wurde nicht nur für eine „cantante“, sondern eine „cortegiana“ gehalten, obwohl ein zeitgenössisches Portrait sie in hochehrbarer Gewandung und mit eher strengem als sich einschmeicheln wollendem Blick zeigt. Den Titel Primadonna und dazu noch die allererste dürfte sie sich gleichermaßen durch die Qualitäten ihrer Stimme, über die es schriftliche Zeugnisse gibt, als auch und vor allem durch die Eindringlichkeit ihrer Darstellung verdient haben.

Von den dreizehn Opern, in denen Renzi nachweislich auftrat, sind nur die Partituren von vier derselben vollständig überliefert. Trotzdem fällt bei ohnehin nur 48 Minuten Gesamtspielzeit der CD die Ausbeute an Gesangsnummern mit ganzen sechs, dazu ein und ein Viertel Minuten Duett etwas mager aus, andererseits sind die Stücke für Orchester oder auch nur Cembalo überaus reizvoll.

Bereits in der ersten Arie, der der Ottavia wird deutlich, dass zumindest Roberta Invernizzi, wie man es Anna Renzi nachsagte, einen hohen Wert  der Expression, weniger  dem gefälligen Fluss der Melodie  beimisst. Die Stimme wird schön instrumental geführt, lässt feine Glockentöne vernehmen, und die  „fulmini“, die „Giove“ nicht hat, lodern zumindest in der Sopranstimme. In Antonio Cestis Arie aus Argia scheint eine gewisse Verwaschenheit der Diktion als Stilmittel eingesetzt zu werden, wird der Charakter der Beiläufigkeit besonders hervorgehoben, erscheint die Stimme als zusätzliches Orchesterinstrument. Filiberto Laurenzi komponierte die Konzertarie „O cara libertà“, in der ein schöner Klageton, eine bemerkenswerte Geläufigkeit und ein melancholischer Touch im Timbre die Liebe als Versklaver an- und beklagen. Im kurzen „Ecco l’alba che ridente“ umschmeicheln die beiden Soprane einander. Ein schillerndes Persönchen tritt dem Hörer mit der Heldin der Laurenzi-Oper La Finta Savia entgegen, die neckisch und schalkhaft souverän mit den Tönen umzugehen versteht.  Der Sopran erscheint hier  zarter und heller zu sein und kehrt stärker als in den anderen Partien das Virtuose heraus.

Die Orchesterstücke stammen von Cesti, Frescobaldi, Rossi, Cima und Ceresini und verbreiten mal Festliches, mal Verspieltes, immer aber Hochprofessionelles (Brillant Classics 96716). Ingrid Wanja

Schmuckstück im Barock-Katalog

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Liebhaber der Barockmusik dürften jubeln über die Veröffentlichung von Porporas Dramma per Musica Calvo il Calvo bei Parnassus (PARARTS002, 3CDs). Denn mit diesem 1738 in Rom uraufgeführten und danach nie wieder gespielten Werk wurde im September 2020 das von Max Emanuel Cencic initiierte Bayreuth Baroque Opera Festival im Markgräflichen Opernhaus der fränkischen Wagner-Metropole eröffnet. Das Werk basiert auf einer Episode aus dem deutschen Mittelalter und behandelt den Streit um ein Familienerbe. Die neue Einspielung entstand im August 2021 in Athen und weist in allen Partien eine identische Besetzung gegenüber der Bayreuther Aufführung auf.

Eine Phalanx der aktuell führenden Countertenöre und Sopranisten ist angetreten, angeführt von Franco Fagioli als Adalgiso. Die Partie war für den Starkastraten Lorenzo Ghirardi geschrieben und ist die anspruchsvollste der Oper. Die Auftrittsarie, „Tornate tranquille“, ist gespickt mit Trillern und Verzierungen, verlangt vom Interpreten sogleich höchste Kunstfertigkeit. Am Ende des 1. Teiles sorgt er mit einer tobenden Sturm-Gleichnisarie, „Saggio Nocchier che vede“, für einen wirkungsvollen Aktschluss. Während das Orchester das wogende Meer suggeriert, muss der Sänger mit endlosen, geradezu gurgelnden Tönen einen Steuermann in auswegloser Situation auf hoher See vorgeben – eine tour de force fast ohne Vergleich im Barockgenre. Von ähnlichem Anspruch ist die Gleichnisarie am Ende des 2. Aktes „Spesso di nubi cinto“ mit ihren schier endlosen Koloraturgirlanden. Fagioli fegt hier wie ein Rasender durch das System und fügt seinen vielen Ausnahme-Interpretationen eine weitere bedeutende hinzu. Auch das letzte Solo des Werkes („Con placido contento“) gehört ihm und in diesem haben sich alle Stürme gelegt, sind Ruhe und Frieden eingekehrt. Fagioli verdeutlicht dies mit zärtlich getupften Tönen und delikaten Trillern. Adalgisos Vater Lottario gibt Max Emanuel Cencic, Gründer des Festivals und Regisseur der Produktion. Ihm fällt die erste Aria des Werkes zu, „Vado nello splendore“, in der er mit dem schmeichelnden Klang seines Counters den wiegenden Rhythmus des Stückes betörend ausbreitet. Im Kontrast dazu ist sein zweites Solo, „Se rea ti vuole iol Cielo“, von furiosem Zuschnitt mit rasenden Läufen und eine Herausforderung an die Bravour des Sängers. Ein musikalisches Juwel ist seine wiegende Aria „Quando s’obscura il Cielo“ im 2. Akt, in welcher Cencic mit geschmeidiger Stimmführung imponiert. Gegen Ende des 3. Akt hat er mit der aufgewühlten Aria „So che tiranno io sono“ noch ein Bravourstück par excellence, mit dem er seinen führenden Status eindrücklich bestätigt. Der Tenor Peter Nekoranec ist sein Vertrauter Asprando. Der Sänger mit gediegen timbrierter Stimme ist eine Entdeckung. Seine erste Aria, das stürmische „Col passaggier talora“, nutzt er, um die Kultur seines Organs und die Bravour in den Koloraturläufen effektvoll zu demonstrieren. Von ähnlichem Charakter ist „Piena di sdegno in fronte“ im letzten Akt, in welchem er noch einmal mit wilder Verve aufwartet. Giuditta, zweite Frau von Kaiser Ludwig, ist die zentrale Sopranpartie des Werkes und mit Suzanne Jerosme besetzt. Im Auftritt, „Pensa, che figlia sei“, kann sie energisch auftrumpfen, aber auch empfindsame Töne hören lassen. Die Solistin, hierzulande noch weniger prominent, hinterlässt den besten Eindruck. Diesen vermag sie in der rasanten Aria „Vorresti a me sul ciglio“ mit vehementen Koloraturrouladen sogar noch zu steigern. Stark in der Wirkung auch die wütende Aria „Tu m’ingannasti“ mit fulminantem Einsatz. Auch Gildippe, ihre Tochter aus erster Ehe, ist eine Sopranrolle und wurde Julia Lezhneva übertragen. Sie muss in ihrem Auftritt, der Aria „Sento, che in sen turbato“, sogleich alle Register ihrer Kunst ziehen, denn die Partie war für Porporas Schüler Porporino komponiert, der mit Ghirardi konkurrieren sollte. Mit ihrer lieblichen, überaus flexiblen Stimme kann Lezhneva hier glanzvoll bestehen. Dies trifft auch auf die ausgedehnte Aria „Se nell’amico nido“ zu, in welcher ein ganzer Katalog von kosendem Zierwerk gefordert wird. Bezaubernd singt sie die Aria „Se veder potessi il core“ im 2. Akt mit ihren gurrenden, zwitschernden Lauten. Hinreißend auch das kokette „Amore è un certo foco“ mit lieblich verspielten Tönen. Im 3. Akt hat sie mit Adalgiso das Duetto „Dimmi, che m’ami“ zu singen, das in seinem innigen Melos und den sich harmonisch verschlingenden Stimmen einen Höhepunkt der Komposition darstellt. Giudittas Vertrauter und vermeintlicher Liebhaber Berardo ist der seit kurzem aufstrebende Sopranist Bruno de Sá. Sein kindliches Timbre mag Geschmackssache sein, doch ist seine Virtuosität über jeden Zweifel erhaben. Die stupende, absolut sichere Extremhöhe kann er schon in seiner ersten Aria, „Sai, che fedel io sono“, zeigen. Mit „Per voi sul Campo armato“ hat er im 2. Akt eine beherzte Aria, die einen kämpferischen Entschluss ausdrückt. Hier fehlt es dem Interpreten weniger an Emphase als an heroischem Stimmklang. Gleiches trifft auf „Su la fatal arena“ im 3. Akt zu, wo die Stimme fast einen heiteren Klang aufweist und kaum an einen „tödlichen Kampfplatz“ denken lässt. Aber man staunt erneut über die Bravour des Sängers und die brillanten Töne in extremer Tessitura. Nian Wang komplettiert die Besetzung als Giudittas Tochter Eduige. Die Stimme der Mezzosopranistin von androgynem Charakter lässt auch an einen Counter denken, auf jeden Fall ist sie von schöner Substanz und hoher Klangqualität.

Dirigent George Petrou ist mit seinem auf historischen Instrumenten musizierenden Orchester Armonia Atenea den Festspielen von Beginn an verbunden. Auch mit dieser Einspielung beweist er seine Kompetenz für die Musik mit ihrer leidenschaftlichen Dramatik und allerhöchsten Virtuosität. Gleich in der einleitenden Sinfonia mit pompösem Trompetengeschmetter im ersten Allegro setzt er ein Achtungszeichen und kann auch die drei festlichen Aktfinali mit gebührendem Glanz ausbreiten.

Nach diesem Carlo, einem Schmuckstück im Barock-Katalog, wartet der Freund Alter Musik nun noch auf Porporas Polifemo, der zuerst bei den Salzburger Pfingstfestspielen zu erleben war und 2021 in Bayreuth erklang. Bernd Hoppe

Lohnend

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Mit Ersteinspielungen, die von einem informationsreichen Booklet in Italienisch und Englisch begleitet werden, tut sich das Genueser Label Dynamic hervor, das sich nun zwei Komponisten aus der Zeit zwischen den Weltkriegen gewidmet hat, als in Rom ein besonders intensives Musikleben blühte. Es handelt sich um das Musikerehepaar Giovanni und Iditta Salviucci, wobei die Gattin nach italienischer Art ihren Mädchennamen Parpagliolo beibehielt. Sie stammt aus dem Umkreis von Ottorino Respighi, dessen Ehefrau Elsa ihre Lehrerin war und der sie die auf der CD veröffentlichten Tre canti d’amore widmete. Nach der Eheschließung mit Giovanni Salviucci bekam sie innerhalb von drei Jahren ebenso viele Kinder, denen sie sich dann neben einer Lehrtätigkeit ausschließlich widmete, auch weil ihr Gatte bereits im Alter von 30 Jahren verstarb. Das erklärt auch, dass die Lieder und die Kammersinfonie Giovannis für 17 Instrumente eigentlich Jugendwerke sind, die aber bereits eine frühe Meisterschaft verraten.

Es beginnt mit Idittas Lied Fides, das von den Träumen eines Kindes handelt, dem eine goldene Zypresse in einem Wald aus goldenen Bäumen vorgegaukelt wird, während in seinem eigenen Garten eine dunkel Zypresse bitterlich weint. Die vor allem als Spezialistin für Kammermusik und im Chor des Zürcher Opernhauses singende Sopranistin Selena Colombera, begleitet von Guido Salvetti,  hat dafür eine quellfrische, kristallklar klingende Stimme, die sie künstlich naiv erscheinen, nur auf „piange alla bufera“ dumpf klingen lässt. Wie Edelsteine funkelt sie, wenn in Canzone popolare eben diese besungen werden, während leichte Schärfen in La buona parola, eine Verkündigung, in die agogikreiche Ansprache des Engels eingebaut werden. Die Regentröpfchen im Märzregen werden fein plätschernd charakterisiert, klingen frisch und silbrig, während sich inDelusione d‘ infinita tristezza“ sich trüb vom Rest der Canzone abhebt. Einen schwebenden Klang , der in einen schmerzlichen Aufschrei  auf „Egli è partito“ übergeht, verleiht die Sängerin La partenza. Ein naives Plappern kennzeichnet schließlich das letzte Lied der Komponistin und die Wiedergabe durch den Sopran.

Wie die seiner Frau sind auch die Tracks, die Giovanni Salviucci zugeschrieben werden, Ersteinspielungen, aber von ihm gibt es auch eine ganze Reihe bereits veröffentlichter Orchesterwerke, von denen allerdings das auf der vorliegenden CD eine Ausnahme bildet. Es handelt sich um eine Kammer-Sinfonie, in der jedes der 17 Instrumente nur einfach, also quasi als Solist, eingesetzt wird. Hier wie bei den Liedern wird deutlich, wie sehr Salviucci gleichzeitig der klassischen italienischen Polyphonie wie zeitgenössischen europäischen Tendenzen zugetan war. Das Orchestra della Svizzera Italiana unter Tito Ceccherini nimmt sich des Werks, das wie eine klassische viersätzige Sinfonie aufgebaut ist, an und lässt ein ausgesprochen frisches, eingängiges Musikstück vernehmen.

Davor singt Selena Colombera Lieder des Komponisten, so den Zyklus Quattro Liriche auf Texte von Floridi, beginnend mit Oh lagrima mit schillernden Soprantönen, einem schönen Jubelton auf „È primavera“, einem zärtlich verklingenden „ultimo fiore“ im gleichnamigen Lied. Ebenfalls vom noch nicht Zwanzigjährigen stammen die Tre liriche mit einem raffinierten chiaro-scuro in Domani vado via, einem „lontana“, in dem sich die Unendlichkeit aufzutun scheint (Tu sei lontana) und einem fein vom Klavier umspielten Ultima Rosa. Es lohnt sich, die beiden Komponisten zu entdecken (Dynamic CDS7966 mit interessanten Infos im Booklet). Ingrid Wanja         

Gelebte Mosaiken

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Ein gewaltiger Band von weit über 600 Seiten, der dem Rezensenten Achtung abnötigt, aber auch etwas Angst einjagt ist Dieter David Scholz‘ Der ganze Wagner- Ein Mosaik mit dem Untertitel Gesammeltes aus 30 Jahren: Rezensionen, Vorträge, Essays, Kommentare, Nachrufe & mehr. Muss man das alles lesen, um sich ein Urteil erlauben zu dürfen? Ich glaube nicht und habe mich auf drei Kapitel beschränkt, auf Das heutige Bayreuth, Wagneraufführungen & mehr und Wagneraufführungspraxis, hoffe, dass sie exemplarisch für das Ganze sind, und habe mir vorgenommen, peu à peu auch die anderen Kapitel rein zum Vergnügen zu lesen, denn das dürfte garantiert sein.  Außerdem habe ich mir aus dem Namensregister einen Namen herausgesucht und habe ihn in unterschiedlichen Kapiteln des Buches aufgesucht. Es handelt sich um Christian Thielemann, gleichermaßen mit Wagner wie mit Bayreuth verbunden.

Dessen Wagnerbuch würdigt Scholz eines reinen Verrisses, nennt es „eine der überflüssigsten Wagner-Biographien überhaupt“. Auch als Dirigent findet Thielemann kaum Gnade vor des Autors Ohren, da „er kräftig auf die Pauke haut“ (Rienzi), und Publikumszuspruch ist der „von seinen Fans“. Anlässlich des Bayreuther Tristan mit Isoldenwechsel will sich der Autor „nicht an Spekulationen beteiligen“, teilt dem Leser jedoch trotzdem mit, was gemunkelt wurde. Dem Ring von 2013 stellt er den Petrenkos gegenüber, der „erfreulicherweise alles deutschtümelnd Weihevolle“ vermied, was indirekt ein Verriss von Thielemanns sein dürfte. Ganz schlecht kommt die Ring-Aufnahme weg, die schon in der Überschrift als „Ein Exempel an Langsamkeit und schlechter Aufnahmetechnik, zudem musikalisch fragwürdig“ abgekanzelt wird. Nicht nur zu anderen Dirigenten, sondern zum Meister selbst wird der Berliner Dirigent als unwürdiger Kontrast hingestellt mit dem Hinweis auf dessen Aussprüche „langweilige Kerle“ und „Stimmung ist gar nichts!“

Nun ist das Buch keineswegs ein Pamphlet gegen ungeliebte Dirigenten, rein zufällig stieß die Rezensentin auf dieses Thema, das nur einen vergleichsweise beschränkten Platz einnimmt.

An erster Stelle von Das heutige Bayreuth steht eine Rezension von Brigitte Hamanns Die Familie Wagner, ein Buch, dass die uneingeschränkte Zustimmung von Scholz erfährt mit einem „keine hat es besser besprochen als Brigitte Hamann“. Das wird ausführlich und nachvollziehbar begründet, und die Rolle von Winifred, die nach dem Krieg Hausverbot in Bayreuth hatte, wird durch Buch wie Rezension mit einem „Hitler wird erst durch Bayreuth gesellschaftsfähig“ zutreffend eingeschätzt. Die Wagner-Gattin  allerdings, und nicht nur an dieser Stelle, sondern wiederholt als „Steigbügelhalter Hitlers“ zu bezeichnen, ist übertrieben, dieses Attribut dürfte Franz von Papen zukommen. Gut nachvollziehen kann man die Einschätzung von Oswald Georg Bauers Dokumentation über Wolfgang Wagner als „Steinbruch“ für spätere und kritischere  Forschungen, ein Rundfunkbeitrag über Gudrun Wagner lässt diese durch die vielen Zitate zur Selbstcharakterisierung wieder lebendig werden.

Immer wieder löst der Autor Bewunderung für sein Wissen, aber auch seine Bereitschaft zu urteilen aus, so im Beitrag Wagners Erben, in dem es um die Verhinderung von Nike Wagner  /Mortier zugunsten der beiden Töchter Wolfgang Wagners geht. Man bemerkt seine Leidenschaft für Wagners Musik in dem Verteidigungskampf gegen Modernisierungsmätzchen, wie sie Katharina ins Feld führt, um an die Macht zu kommen. Andererseits ist er zu einer nüchternen Würdigung des Werkstattgedankens bereit und in seinem Urteil ausgewogen. Und man weiß zu schätzen, dass er stets Rücksicht darauf nimmt, für welches Medium er gerade schreibt oder spricht.

Von Nike Wagner stammt der Vergleich der Wagners mit den Atriden, bei denen jeder jedem nach dem Leben trachtete, und der wird von Scholz gern zitiert, so auch im Kapitel über Eva Wagners Rückzug aus Bayreuth nach angeblichem oder tatsächlichem Hausverbot. Und wieder scheint Thielemann um die Ecke zu linsen.

Sehr interessant sind die Beiträge, die unter dem Thema Wagneraufführungspraxis zusammengefasst sind, insbesondere der über Toscanini, von dem man nicht gedacht hätte, dass er mit einem „größter Komponist des Jahrhunderts“ für Wagner den Italiener Verdi auf den zweiten Platz verwies. Nachdenklich wird man, wenn man liest, dass die in die USA emigrierte Friedelind Wagner behauptete, ihr Großvater hätte sicherlich Hitler abgelehnt und wäre auch aus Deutschland geflohen wie sie. Da muss man doch mehr als einmal schlucken und ist Scholz dankbar dafür, so Interessantes zu vermitteln.

Aus dem Block Wagneraufführungspraxis interessieren sicherlich besonders die Gespräche mit zwei Wagnerdirigenten, mit Hartmut Haenchen und mit Peter Schneider. Es ist bewundernswert, was der Autor den beiden Dirigenten entlocken kann, sei es ein „vorurteilsbelastet“ für die Meistersinger oder die Unterschiede zwischen der Münchner und der Bayreuther Partitur der Walküre. Und wer ahnte schon, dass der Walkürenritt verfälscht wird, wenn nicht die kurze erste, sondern die zweite Note betont wird.

Man kann sicher sein, dass auch die anderen Kapitel, so über CDs und DVDs, über Wagnerorte, über Wagner in Politik und Gesellschaft und vieles mehr so anregend und wissensbereichernd sind wie die hier besprochenen und sollte dieses Buch als großen Schatz betrachten. Natürlich gehören auch eine Bibliographie und ein Personenregister dazu. (Dieter David Scholz: Der ganze Wagner – Ein Mosaik; Königshausen & Neumann Würzburg 2022; ISBN 978 3 8260 7671 8). Ingrid Wanja

Schleicht spielende Wellen

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In seiner Collection Chateau de Versailles bringt das französische Label CHATEAU DE VERSAILLES Vivaldis Serenata La Senna Festeggiante heraus, die im Februar 2021 in der Opéra Royal de Versailles eingespielt wurde (CVS064). Mit Diego Fasolis steht ein Spezialist für den italienischen Barock am Pult des Orchestre de l’Opéra Royal, der die Musik in ihrem heiter-festlichen Charakter mit Verve und Esprit serviert. Die Serenata wird von einer dreisätzigen Sinfonia im klassischen Muster Allegro/Andante/Allegro eröffnet und der Dirigent kann schon hier Gespür für den Rhythmus und das Idiom der Musik einbringen. Gleiches gilt für die Sinfonia mit der Satzfolge Adagio/Presto/Allegro, welche die Deuxième Partie einleitet.

Der Uraufführungsort des Werkes ist nicht erwiesen, ganz sicher entstand es im Auftrag des französischen Botschafters in Venedig, der Vivaldi zum Hauskomponisten des Institutes erwählt hatte. Und so könnte die Komposition jene „bellissima serenata“ gewesen sein, die laut Chronik am 2. September 1724 oder am 25. August 1726 in der Botschaft aufgeführt wurde. Aber auch Rom wäre möglich, wo Vivaldi 1724 am Teatro Capranica seinen Tigrane und den Giustino inszeniert hatte. In beiden Opern gibt es Passagen, die auch in der Partitur der Serenata zu finden sind.

Die Sängerbesetzung besteht aus einem Sopran als L’Età dell’oro, einem Mezzo als La Virtù und einem Bass als La Senna. Letztere Partie ist eine Allegorie auf die Seine in Paris und deshalb die kraftvollste des Werkes. Es ist ein Glücksfall, dass dafür der renommierte italienische Bassist Luigi De Donato zur Verfügung stand – ein Spezialist im Barockfach und Besitzer einer herrlichen Stimme. Sein Auftritt, „Qui nel profondo“, ist von energischem Zuschnitt und der Sänger kann hier gebührend auftrumpfen und die Pracht seine Stimme imponierend ausstellen. Auch das stürmische Air „L’alta lor“ am Ende der Première Partie profitiert von der Vehemenz des Vortrages. Im Kontrast dazu steht getragene „Pietà, dolcezza“ zu Beginn der Deuxième Partie, in welchem er die Töne feierlich zelebriert und wie Samt ausbreitet.

Mit dem Air „Se qui pace“ fällt dem Sopran das erste Solo des Werkes zu, ein munteres Gleichnis über die Nachtigall und entsprechend virtuos jubilierend. Gwendoline Blondeel mit heller, klarer Stimme erfüllt diesen Anspruch perfekt. Das Air „Giace languente“ in der Deuxième Partie ist von ernster Empfindsamkeit und wird von der Interpretin gleichfalls eindrücklich vorgetragen. Mit „Non mai più“ gehört ihr auch der letzte solistische Beitrag als heiterer Abgesang. Der Mezzo folgt mit dem wiegenden „In quest’onde“  – Lucile Richardot mit ihrer androgyn-strengen Stimme bringt wie stets einen ganz besonderen Reiz in die Sängerriege ein.„Vaga perla“ und „Così sol nell’aurora“ zeigen ihr Vermögen, Koloraturläufe bravourös zu absolvieren. Sopran und Mezzo vereinen sich im tänzerischen Air „Godrem fra noi la pace“ auf das Schönste trotz der unterschiedlichen Eigenheiten beider Stimmen. Auch das Duo „Io qui provo“ in der Deuxième Partie lässt sie in harmonischer Verblendung erklingen (09. 01. 23). Bernd Hoppe

Matteo Beltrami

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Der italienische Dirigent Matteo Beltrami gilt als Experte fürs italienische Fach und hat sich in Deutschland in den letzten Jahren mit Opern Verdis, Puccinis, Bellinis, Donizettis oder Rossinis unter anderem an der Staatsoper Hamburg, der Deutschen Oper Berlin, der Dresdner Semperoper, dem Aalto-Theater Essen und der Staatsoper Hannover etabliert. Zur Zeit leitet er eine Neuproduktion von „La Cenerentola“ an der Oper Köln und teilt mit den Lesern von Opera Lounge spannende Gedanken über Rossinis dramma giocoso. Im Interview mit Christian Glace spricht er außerdem unter anderem über seine Anfänge, seine zukünftigen Projekte, wie er sich einem Werk nähert, seine Zeit als künstlerischer Leiter des Luglio Musicale Trapani und warum Verdi die Liebe seines Lebens ist.

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Wie und wann wurde Ihre Leidenschaft für Musik geboren? Mein Vater wurde kurz nachdem er geheiratet hat zweiter Posaunist am Teatro Comunale in Genua und zog mit meiner Mutter aus Bergamo dorthin. In dieser Stadt hatten sie keine Verwandten, also nahm er mich als Kind immer mit ins Theater. Das Politeama Margherita war riesig… So kam es mir jedenfalls als Kind vor. Garderoben, die jeden Monat mit anderen Kostümen, Perücken und Gegenständen aus allen erdenklichen Epochen gefüllt waren… Schutzschilde, Schwerter, Gewehre, Hüte, Bäume, Kutschen… Kurzum, ein riesiger Vergnügungspark nur für mich! Und dann all diese Musikinstrumente, die in den Garderoben so unterschiedlich aussahen. Die verschiedene Sprachen zu sprechen schienen und die sich dann auf der Bühne wie von Zauberhand in perfekter Harmonie miteinander unterhielten… Es gab keinen „Urknall“ für meine Leidenschaft, es war einfach so, dass ich seit ich ein Baby war nicht nur Luft, sondern auch Musik geatmet habe!

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Warum haben Sie sich dazu entschieden, Dirigent zu werden, statt sich einem Instrument zu widmen? Ich begann im Alter von sechs Jahren Geige zu lernen und machte meinen Abschluss am Konservatorium von Genua. Eines der Pflichtfächer war Orchesterpraxis und ich hatte die Stelle des Assistenten für die zweiten Violinen inne. Nachdem dem Lehrer Maestro Gilberto Serembe von meinem Traum, Dirigieren zu studieren erzählte, unterbrach er eines Tages ohne Vorwarnung eine Probe und lud mich zum Dirigieren ein. Es war Beethovens achte Symphonie. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass mir das Geigenspielen in der Öffentlichkeit viel Stress bereitete, ich mich aber auf dem Podium sehr wohl fühlte. Ich nahm einige Stunden Unterricht bei Maestro Serembe. Mit 20 Jahren hatte ich die erste Gelegenheit, eine Oper zu dirigieren, und ab dem folgenden Tag hängte ich meine Geige an die Wand. Ich habe sie nie wieder in meinem Leben angerührt und habe diese radikale Entscheidung nie bereut.

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Welche Erinnerungen haben Sie an ihre erste Vorstellung? Das war Verdis Trovatore. Eines der schwierigsten Werke für einen Dirigenten. Weniger technisch gesehen, auch wenn es einige unvorhersehbare rhythmische Unterteilungen mit sich bringt. Sondern vielmehr was die künstlerischen Reife angeht, die dieses Werk erfordert, um eine kohärente Interpretation zu liefern. Ich habe also wirklich unbewusst gesündigt, als ich das Stück so jung dirigiert habe. Aber beim Dirigieren fühlte sich mein tiefstes Wesen so frei, Musik zu machen, dass ich keinen Zweifel daran hatte, dass dies mein Beruf sein würde.

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Matteo Beltrami/ Foto Teresa Rothwangl

Zu welchen Komponisten haben Sie die größte Affinität und warum? Obwohl die Figur des Dirigenten in der kollektiven Vorstellung eine sagenumwobene Aura umweht und ihr geradezu übernatürliche Fähigkeiten zugesprochen werden, sieht die Realität ganz anders aus. Wir widmen einen großen Teil unserer Zeit, unserer Energie und unseres Willens dem Studium der Musik. Selbst wenn wir denken, dass wir uns ausruhen, verarbeiten unsere Gehirnzellen Klänge. Wir bauen mit den Komponisten, deren Musik wir aufführen, echte Beziehungen auf, die oft länger halten als jene, die wir privat führen. Und es sind nicht immer Liebesgeschichten! Wenn ich ein Werk dirigiere, ist es für mich von grundlegender Bedeutung, dass ich so stark davon angezogen werde, dass ein kreativer Prozess freigesetzt wird. Bei manchen Komponisten stellt sich dieses Gefühl nach langem Studium und einer tiefen Auseinandersetzung ein, bei anderen ist es vergleichbar mit einem Blitzeinschlag. Und dann gibt es da noch die große Liebe meines Lebens. Wie schon mehrfach gesagt, ist Giuseppe Verdi für mich ein Beweis für die Existenz Gottes. Sein Werk ist gekennzeichnet von Meilensteinen, von absoluten Meisterwerken, oft sehr unterschiedlich, denen experimentelle Werke folgen, die von großartigen Momenten gekennzeichnet sind, denen weniger gelungene folgen. Wenn man beispielsweise „Il corsaro“ studiert, versteht man, dass das Rigoletto‐Quartett keine glückliche Intuition ist, sondern ein Modell der Perfektion, die der Komponist dank verschiedener früherer Versuche erreicht hat. Deshalb war er ein großartiger Komponist, aber vor allem ein absolutes Genie darin, die Essenz eines Dramas einzufangen, indem er es auf einfache und lineare Weise synthetisiert. Seine Musik erforscht die menschliche Seele, wie es nur wenige andere konnten. Dabei öffnet sie kontinuierlich Türen, durch die Antworten auf die Fragen gesucht werden, die die Menschheit seit jeher beschäftigen. Und je mehr das Studium dieses Giganten vertieft wird, desto mehr steigt die Zahl der Fragen im Vergleich zu den Antworten. Das ist übrigens bei den meisten Genies so, die wie Verdi in die Geschichtsbücher eingegangen sind.

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Bisher haben Sie sich mehr dem Opernrepertoire als dem symphonischen Repertoire verschrieben. Gibt es dafür einen bestimmten Grund? Während meines Studiums habe ich mich immer mit beidem beschäftigt, aber hatte wahrscheinlich eine besondere Leichtigkeit im Lösen der Probleme, mit denen ein Dirigent beim Vorbereitung einer Oper konfrontiert wird. Und das öffnete mir sofort die Türen der Opernhäuser. Darüber hinaus sind sowohl ausländische Orchester als auch Sänger besonders bestrebt, ihre Interpretationen und ihren Stil im italienischen Opernrepertoire des 19. Jahrhunderts zu vertiefen. Vor allem wenn sie erkennen, dass sie es mit einem Dirigenten zu tun haben, der ihnen maßgeblich dabei helfen kann. Erst vor wenigen Tagen stellte mir eine Konzertmeisterin eine konkrete Frage zum „Auftakt“ der Anfangsakkorde vieler Musiknummern von italienischen Belcanto‐Werken.

Als italienischer Dirigent habe ich auch die Pflicht, mich um die richtige Aussprache und das Textverständnis ausländischer Sänger zu kümmern, die oft nur grob die Bedeutung der von ihnen gesungenen Phrasen kennen.

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Wie nähern Sie sich einem Werk, das Sie noch nie dirigiert haben? Wenn es ein im Voraus geplantes Debüt ist, studiere ich immer ein paar Seiten am Tag. Zuerst singe ich alles. Ich brauche das nicht nur, um ein Werk auswendig zu lernen, ich bekomme, indem ich im Laufe der Zeit Dutzende Male denselben Satz singe, eine genaue Vorstellung der musikalischen Intentionen, die ich dann während der Proben von den Interpreten möchte. Manchmal verweile ich bei einem ganzen Satz, oder auch nur bei einem Wort oder einer Silbe. Beispielsweise bei „Pensa che un popolo, vinto, straziato per te soltanto risorger può“ [aus dem dritten Akt von Aida interessiert mich der große melodische Bogen. Deshalb singe ich diese Phrase in einem einzigen Atemzug und stelle mir Verdis Akzent innerhalb eines großen Legatobogens vor. In La Cenerentola müssen die Stiefschwestern einen Akzent auf der Silbe „ve“ von „Ma poi non è un Venere“ singen und hier liegt meine Aufmerksamkeit geradezu chirurgisch auf diesem kleinen Detail.

Nach dem Erlernen der Gesangsstimme konzentriere ich mich auf die Orchestrierung und anders als man meinen könnte, ist da das Auswendiglernen nicht mein Hauptziel. Sicher kenne ich die Partitur, bevor ich auf die Bühne gehe wie meine Westentasche, aber was mich wirklich interessiert ist, das Orchester mit der Gesangsstimme in Beziehung zu setzen. Wann soll das Orchester den Gesang unterstützen? Wann und wie soll es mit ihm in Dialog treten? Wie kann ein bestimmter Moment geschaffen werden, in dem das, was man im Graben hört, in scharfem Kontrast zur Bühne steht? Oder wenn ein einzelnes Instrument die Stimmungen offenbart, die die Protagonisten so sehr zu verbergen versuchen, dass sie sich ihnen gegenüber sogar widersprüchlich verhalten?

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Matteo Beltrami/ Foto wie oben Teresa Rothwangl

Sie waren auch künstlerischer Leiter eines der dynamischsten Theater Italiens, des Luglio Musicale Trapani. Nach welchen Kriterien haben Sie dort den Spielplan gestaltet? Als künstlerischer Leiter habe ich mich als Manager ausprobiert. Die Rolle des Managers ist ein wesentlicher Bestandteil der Theaterwelt und ich habe versucht, anregende Programme anzubieten, teils innovativ, aber immer mit Respekt vor den kulturellen Wurzeln der Oper. Und natürlich musste ich immer darauf achten, Budgets und Budgetbeschränkungen zu respektieren. Ich habe auf ungewöhnlichen Bühnen spielen lassen (Konzerte am Meer bei Sonnenuntergang, Opern in halbszenischer Form in Klöstern, Konzerte in archäologischen Parks, umherziehende Flashmobs durch von Touristen überflutete Straßen der Stadt). Außerdem habe ich neben sehr gefragten Operntiteln Musik des 20. Jahrhunderts viel Raum gegeben und Uraufführungen zeitgenössischer Kompositionen auf die Bühne gebracht.

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In Köln leiten Sie eine Neuinszenierung von „La Cenerentola“. Wie viele Rossini-Opern haben Sie bereits dirigiert? Bevorzugen Sie die opere serie Rossinis oder die opere buffe? Ich ziehe das eine dem anderen nicht vor, aber ich finde, seine komischen Opern, oder noch besser, seine halbernsten (da sie je nach Werk in unterschiedlicher Dosis eine ernste Ader enthalten) sind den ernsten auf keinen Fall unterlegen.

Und das gilt nicht nur für Rossini. Ein Beweis dafür ist, dass sowohl die  Cenerentola, als auch der Barbiere und die Italiana, sowohl Donizettis Don Pasquale als auch Verdis Falstaff allgemein als absolute Meisterwerke gelten.

Für die Cenerentola etwa hatte ich schon immer eine besondere Vorliebe: Es ist ein Werk, das von einer Ader des Wahnsinns und einem manchmal surrealen Humor geprägt ist. Respektlos, inkohärent und erhaben, hat es seine Wurzeln in der Tradition der Commedia dell’arte, scheint aber zu einem gewissen „Absurden Theater“ des 20. Jahrhunderts zu tendieren. Die scheinbar stereotypen Charaktere der Oper (der geizige, mürrische und prahlerische Bassbuffo, die reife, gerechte und weise Protagonistin im Gegensatz zu den perfiden, stumpfen und egoistischen Stiefschwestern, der verliebte Tenor und der Handlanger- und Gaunerbariton) durchbrechen plötzlich die vierte Wand, verlassen quasi die Leinwand wie Tom Baxter in The Purple Rose of Cairo und nehmen ein Eigenleben in der realen Welt an. Rhythmus und Melodie kämpfen ständig miteinander und reißen die Charaktere in einen wirbelnden Tanz. Jeder, außer Angelina, die in all dem die Figur ist, die ein Schiff vor Anker hält, das sonst außer Kontrolle geraten würde. Unnachgiebig in ihren Überzeugungen, ist sie wie ein Samen, der geduldig auf den richtigen Moment wartet, um zu keimen. Auch aus gesanglicher Sicht wartet die Protagonistin mehr als zwei Stunden, bevor sie ihr Können zeigen kann. Aber wenn ihre Zeit kommt, ist es, als ob die Welt anhält und ihr zuhört. Deshalb ist das Erfinden neuer Koloraturen, Variationen und Kadenzen nicht nur eine philologische Praxis, sondern eine dramaturgische Notwendigkeit!

Welche Träume haben Sie? Gibt es ein bestimmtes Werk, das Sie noch nicht dirigiert haben, aber gern einmal leiten würden? Ich habe mehr als 50 Opern dirigiert und hatte so das Glück, schon viele Träume zu realisieren. Einen habe ich aber noch, und das ist, Verdis „Don Carlo“ zu dirigieren. Abgesehen davon, dass es sich um ein Meisterwerk handelt, das ich schon immer dirigieren wollte, war ich diesem Debüt zweimal schon so nahe und am Ende hat es leider nicht funktioniert, weil das Projekt dann doch nicht stattgefunden hat oder ich einfach nicht frei war.

Matteo Beltrami/ Foto Wikipedia

Was sind Ihre nächsten Verpflichtungen? Auf mich wartet ein richtig spannendes erstes Halbjahr 2023. Nach den erfolgreichen Vorstellungen im vergangenen Herbst kehre ich für Traviata nochmals nach Graz zurück. Mehr als drei Jahre nachdem ich das Stück das letzte Mal dirigiert habe, hatte ich bereits bei der Vorstellungsserie diesen Herbst das Glück, dieses Meisterwerk erneut mit einem Orchester zu erarbeiten, mit dem ich eine besondere Verbindung habe. Und das Ergebnis war eine jener Aufführungen, die mich Stolz machen. Anschließend habe ich das Vergnügen, mit La bohème an einem Theater zu arbeiten, an dem ich viele Freunde habe, in Palma de Mallorca. In Piacenza, wo ich mich jetzt auch dank der exquisiten Gastfreundschaft einer besonderen Frau, Cristina Ferrari, der dortigen Generalintendantin und künstlerische Leiterin des Theaters, zu Hause fühle, dirigiere ich Il trovatore und ein Konzert, das großartige Requiem in c-Moll von Cherubini. Schließlich kehre ich mit Lucia di Lammermoor zurück an die Deutsche Oper Berlin.

Anteilnahme und Akribie

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Ein Buch von 670 Seiten über ein Leben von 67 Jahren, da dürfte dem Leser, was Vita und Karriere von Rita Streich betrifft, nichts verborgen und vorenthalten bleiben. Die als Wiener Nachtigall gefeierte Koloratursopranistin hatte selbst vor, eine Autobiographie zu schreiben, und bereits den Titel dazu ausgewählt. Auch ich versteh‘ die feine Kunst sollte sie heißen, und so ist auch das Buch von Claudia Behn betitelt, obwohl Norina aus Donizettis Don Pasquale die Kunst der Verführung und nicht die das Operngesangs meint. Als Untertitel hat die Verfasserin Biographie über die Koloratursopranistin Rita Streich gewählt.

Das Buch ist zunächst einmal chronologisch aufgebaut, beginnend mit den Vorfahren, natürlich besonders die Eltern berücksichtigend, wobei die russische Herkunft der Mutter, die den deutschen Kriegsgefangenen am Ende des 1. Weltkriegs heiratete und für den sibirischen Geburtsort und damit die Fast-Zweisprachigkeit der Sängerin verantwortlich ist. Bereits hier fällt auf, dass den Orten, an denen Streich weilte und sei es nur wenige Monate als Baby, eine große Aufmerksamkeit und viel Platz im Buch eingeräumt wird. Das trifft dann nach dem russischen Geburtsort auch auf Essen und Jena zu, wo die Familie in Deutschland lebte, ehe Rita Streich 1952 in den Westen Deutschlands übersiedelte. Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang das Schicksal ihres viel jüngeren Bruders, der aus politischen Gründen zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden und vom Westen freigekauft worden war. Weniger  dürfte sich der gemeine Leser für das Schicksal der vielen Lehrerinnen, die Streichs Kindheit und Jugend mit prägten, interessieren, es sei denn, es handelt sich um die Gesangslehrerinnen, zu denen Maria Ivogün, Erna Berger und Willi Domgraf Fassbaender gehörten. Ob wichtig oder nicht für die Karriere der Buchheldin, es wird akribisch über Eintragungen in Telefon- oder Adressbüchern berichtet und keine Kritik auch über kleinste Auftritte wird unterschlagen, da ist die Autorin genauso akribisch wie der Gegenstand ihrer Bemühungen. Man darf natürlich nicht außer Acht lassen, dass das Buch eine „wissenschaftliche Biographie“ ist, aber auch noch die letzte Wurzen einschließlich ihrer Lebensdaten aufzuführen, ist zu viel des Guten für den Leser, der dadurch manchmal den Faden und das Interesse verliert. Da am Schluss jeden Kapitels noch einmal eine Auflistung aller am jeweils abgehandelten Ort wie Berlin oder Wien stattgefundenen Vorstellungen mit allen Einzelheiten existiert, wäre die doppelte Erwähnung überflüssig gewesen, so überflüssig wie die Nennung der Uhrzeiten, zu denen die Vorstellungen stattfanden.

Einige kleine Fehler haben sich übrigens auch eingeschlichen wie die Behauptung, Streich habe die Mignon gesungen, es war sicherlich die Philine, ein Hans Pick „sang“ nicht den Bassa, und auf den Berliner Straßen lagen auch nicht „die Toten und Verschütteten“, denn letztere waren unsichtbar in den Kellern der eingestürzten Häuser. Das Wenige, das auszusetzen ist, mindert kaum den Wert des Buches als schier unerschöpfliche Quelle nicht nur Rita Streich, sondern das gesamte Opernerleben ihrer Zeit betreffend.

Obwohl das wohl nicht die Zielsetzung des Buches ist, gewährt es einen umfassenden Einblick in die Art des Kritikschreibens, das vor einem „leise gerafften Spiel“ nicht zurückschreckt, seltsam betulich wirkt, aber auch mehr Fachkenntnis vermuten lässt als manche heutige Kritik.

Die Königin der Nacht und Zerbinetta sind die Rollen, die Rita Streichs Ruhm begründeten, die aber auch ständig die von manchen Kritikern genährte Angst aufflackern ließen, das Volumen der Stimme könne ihnen nicht genügen.

Neben den Kritiken ist der Briefwechsel mit vielen Zeitgenossen die Quelle, aus der die Verfasserin schöpft. Dazu kommen Auszüge aus den Memoiren anderer Künstler, so wird Tiana Lemnitz mehrfach und ausführlich zitiert. Am unverfälschtesten wohl charakterisiert Christa Ludwig die Soprankollegin.

Rita Streichs Wirken an allen drei Berliner Opernhäusern, in Wien, Salzburg, in den USA, Australien, Japan und in allen musikalischen Gattungen wird akribisch aufgeführt, so von den Liederabenden alle Nummern mitsamt der Opus-Angaben. Gastspielreisen, Einsingen, Lampenfieber, Klavierbegleiter und die beiden ganz Großen unter den Dirigenten, Furtwängler und Karajan sind Thema, leider zu den beiden Letzteren von der Sängerin nichts Erhellendes überliefert. Interessant sind die Ausführungen über die Uraufführung von Heino Erbses „Julietta“ nach Kleists Die Marquise von O. und der Briefwechsel zwischen Komponist und Sängerin während der Entstehung des Werks.

Hin und wieder wird zu auch die  Streich betreffenden Themen zitiert von Zeitgenossen, die nicht unmittelbar etwas mit ihr zu tun hatten. Aber gerade die Ratschläge, die zum Beispiel Gustav Mahler der Sängerin Anna Bahr-Mildenberg gab, hätten auch Rita Streich als Wegweiser dienen können. Deren Charakter scheint ein sehr schillernder gewesen zu sein zwischen Großzügigkeit und Kleinlichkeit schwankend, zwischen Zickigkeit, so gegenüber einigen Begleitern am Klavier, und überbordender Freundlichkeit, zwischen Starallüren und großer Unsicherheit, so wenn sie in einer hübschen Studentin, die zum Umblättern bei einem Liederabend engagiert worden war, eine Rivalin vermutete und deren Entfernung  durchsetzte. Auch als Mutter scheint sie nicht glücklich gewesen zu sein, sondern sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, ihren Sohn ins Internat abgeschoben zu haben.

Ein umfangreicher kritischer Apparat und ein vielseitiger Anhang von Repertoire-Verzeichnis, Aufnahmeverzeichnis, Literatur- und Quellenverzeichnis, Abbildungsverzeichnis und –nachweis und Personenverzeichnis vervollständigt das Buch.

Rita Streichs Nachlass, der an die Folkwang Uni Essen, wo sie u.a. lehrte, übergeben worden war, gilt nach einem Brand als verschollen. Das Buch von Claudia Behn könnte eine Entschädigung und ein würdiges Denkmal sein (671 Seiten, Verlag Königshausen & Neumann 2022; ISBN 978 3 8260 7615 2). Ingrid Wanja  

Ehrenrettung?

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La Femme- A Journey of Female Composers nennt sich eine CD, auf der die aus Albanien stammende Mezzosopranistin Flaka Goranci ausschließlich Stücke von Komponistinnen aller Zeiten und vieler nicht nur europäischer Länder vorträgt. Ein Beethoven, Verdi oder Berlioz ist nicht dabei, es ist vor allem auch die kleine Form, die zu Gehör gebracht wird, obwohl im von gleich vier Frauen gestalteten Booklet davon berichtet wird, dass einige der Damen durchaus auch Opern komponiert hätten, die übliche Klage erhoben wird, das schöpferische Potential von Frauen sei Jahrhunderte lang bewusst unterdrückt worden. Hätten Frauen sich nicht entmutigen und ihre schöpferischen Kräfte walten lassen, dann hätten sie des Schutzes eines männlichen Pseudonyms bedurft wie die Schwestern Bronte, George Sand oder Colette. Nun ja, ein weiblicher Shakespeare oder Voltaire verbarg sich jedenfalls hinter diesen Pseudonymen nicht. Belädt man die angenehm zu hörende CD nicht mit allzu vielen Erwartungen an ein bisher verborgenes  Genie, so kann man sich durchaus an ihr erfreuen.

Es beginnt mit The borrowed Dress, einem Lamento über die sich nicht verändernden Verhältnisse, denen eine syrische Familie ausgesetzt ist, die Komponistin heißt Suad Bushnaq, stammt aus Jordanien, und Sängerin Flaka Goranci setzt sie effektvoll mit einem üppigen, farbigen Mezzo  in Szene. Aus Syrien stammt die Komponistin und Sängerin Dima Orsho, die einen Zyklus von Liedern mit dem Titel Those Forgotten on the Banks oft the Euphrates ihrem Geburtsland widmete, vom Mezzo vollmundig und effektvoll vorgetragen. In Berlin lebt Jasmin Reuter, die, beeinflusst vor allem von Strawisnky,   Filmmusik komponiert, so für den Kurzfilm Salomea’s Nase.

Natürlich darf auch eine Ukrainerin nicht fehlen. Zoryana Kushpler, die allerdings nur als Arrangeurin auf der CD in Erscheinung tritt, und zwar als die eines alten Volkslieds aus ihrer Heimat. Mit Ilse Weber, die 1944 in Auschwitz ermordet wurde, wird an eine Komponistin erinnert, die für die Kinder in Theresienstadt u.a. das auf der CD verewigte Wiegenlied schrieb. Eine Klaviervirtuosin, für die auch Mozart komponierte, war Maria Theresia von Paradis, die mit einer  Sicilienne vertreten ist. Viele internationale Preise errungen hat bereits Niloufar Nourbabakhsh, Gründungsmitglied der iranischen Female Composer Association, die mit einem Lied auf ein Gedicht einer Landsmännin, The Window,  vertreten ist. Die Sängerin selbst ist mit The Speach of Love auch als Textdichterin und Komponistin vertreten, Sprechgesang und am Schluss aufbrausend Pathetisches miteinander verbindend. Ein romantisches Blumenstück hat die Kroatin Dora Pejadevic komponiert, der Erinnerung an einen toten Freund ist Zeh Hayofi von Ella Milch-Sheriff gewidmet. Die älteste Komponistin ist Kassia, die im 9.Jahrhundert lebte und eine Hymne auf die Heilige Pelagia in einer Zeit schrieb, in der die Verehrung von Ikonen heiß umkämpft war. Für dieses Stück erhält die Mezzostimme einen interessant herben Anstrich. Die große Stimme wird dann gebändigt für Albena Petrovic Vratchanskas Peperuga, verinnerlicht und volksliedhaft klingt danach ein mazedonisches Volkslied, von Valentina Velkowska-Trajanowska arrangiert. Francesca Caccini ist Florentinerin im 17. Jahrhundert und schrieb sogar eine Oper, La Liberazione di Ruggero, mit Pauline Garcia-Viardot und ihrem Hai Luli kommt Bekannteres auf die CD, und die Sängerin trifft das Volksliedhafte des Stücks sehr gut. Den Schluss bilden Kompositionen von Eriona Rushiti, Cosuelo Velazquez und Miriam Makeba, deren jeweiliger Besonderheit die Sängerin  durchaus gerecht wird, die eher noch als die Komponistinnen der Entdeckung wert ist . Begleitet wird sie vom World Chamber Orchestra unter Konstantinos Diminakis, da ging es wohl doch nicht ohne das andere Geschlecht (Naxos 8.551470). Ingrid Wanja

In schwerer Zeit

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Mit traurigem Blick dem Betrachter ernst in die Augen schauend, ungeschminkt und in schwarzem, hochgeschlossenem Kleid präsentiert sich Lena Belkina auf dem Cover zu ihrer CD mit dem Titel Passion for Ukraine. Zwar in Taschkent geboren, aber aufgewachsen auf der Krim und ukrainische Staatsbürgerin, nahm die Mezzosopranistin den Einfall Russlands in ihr Land zum Anlass nicht wie zuvor vor allem Mozart und Belcanto zu singen, sondern das Liedgut der Heimat zu ihrem Repertoire zu machen. Fünfzehn Volks- und Kunstlieder künden von unerfüllter Liebe, von der Schönheit der Natur, von Blumen und Sonnenuntergängen. Der bis dahin der Tatsache, dass die Ukraine mit nach UNESCO 15500 Beispielen das an Liedern reichste Land der Erde ist, unkundige Musikfreund stellt zunächst einmal fest, dass Volkslieder und Kunstlieder weit mehr dem mittel- und westeuropäischen Kulturraum zugehörig erscheinen als dem russischen, also auch  Zeugnis dafür ablegen, dass die Ukraine kulturell eher zum Westen als zu Russland gehört. Während die Volkslieder vorwiegend im 9. Jahrhundert entstanden, wurden die Kunstlieder im 19. Und 20. Jahrhundert komponiert, und die Tradition lebt weiter, wie der letzte Liedblock mit Kompositionen eines erst 1989 geborenen Musikers beweist.

Das Booklet zur CD schildert nicht nur die Bedeutung, die jedes einzelne Lied für die Sängerin hatte, sie zum Beispiel zum Gewinn eines Wettbewerbs führte, sondern bringt auch englische Übersetzungen zusätzlich zu den Originaltexten auf Ukrainisch und außerdem den Titel auf Deutsch im Inhaltsverzeichnis. Dreisprachig sind auch der Artikel der Sängerin und die Vitae beider Solistinnen.

Das Volkslied Mond am Himmel lässt eine apart timbrierte, fein flirrende Stimme, leicht melancholisch klingend, vernehmen, die hier noch viel von einer Naturstimme zu haben scheint. Wie dunkles Kristall klingt sie in Ich weide vier Ochsen, vom Liebesleid einer Verlassenen kündend. Um Zwangsheirat geht es in Wär ich nicht ein Virbunum, in dem die obertonreiche Stimme schön zart verklingt.

Es folgen drei Lieder von Gregory Alchevskiy, in denen es um ein zartes Maiglöckchen, den Mond im Frühling und um qualvolle Gedanken in einer Sommernacht geht. Im ersten verbindet die Sängerin Gefühlvolles mit Schlichtem, im Letzteren wird die schöne Stimme effektvoll vom Klavier umspielt (Violina Petrychenko).

In Kyrylo Stetsenkos drei Liedern hat der Mezzosopran die Gelegenheit wie die besungene Sonne zu leuchten, aber auch verhalten dunkel im letzten der drei Lieder zu klingen. Mykhailo Zherbin lässt besonders in Meine Seele schwebt die Mezzoqualitätn der Stimme zur Geltung kommen, einen beinahe opernhaften Ausbruch gibt es in Letzte Blumen.

Auf Deutsch, wenn auch nicht besonders gut verständlich, wird Illia Razumeikaos Widmung auf einen Text von Rückert gesungen. Eher wild bewegt als einschläfernd wirkt das Wiegenlied, und ganz schrecklich aktuell wird es mit dem Agnus Dei aus dem Requiem für Mariupol (Solo Musica 418). Ingrid Wanja

Mehr als lässlich

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Für wen eigentlich könnte die CD mit dem Titel The Magic Flute – Das Vermächtnis der Zauberflöte bestimmt sein? Sicherlich nicht für Liebhaber und Kenner der Mozart-Oper, denn dafür sind die vokalen Leistungen zum größeren Teil zu wenig akzeptierbar. Werden Rollen wie die der Königin oder Sarastros von Opernsängern verkörpert, dann leiden die Tracks darunter, dass man im besten Fall eine einzige Strophe genießen kann, oft aber auch nur einen Bruchteil davon wie das „Du,Du,Du“ der Königin der Nacht, die von Sabine Devieilhe gesungen wird. Und auch dem Sarastro von Morris Robinson ist nur die Darbietung eines Bruchteils seiner Partie vergönnt und dieser nicht vollkommen akzentfrei. Die übrigen Rollen werden von Nichtopernsängern verkörpert, der Tamino von einer belegt klingenden  Kinderstimme mit fürchterlicher Bildnisarie in Kürztfassung, ebenso die Arie der Pamina als niedliches Gezwitscher wie für „Pack die Badehose ein“, der Papageno von Schauspieler Peter Lewys Preston mag gerade so  durchgehen, insgesamt also ist diese Aufnahme dem Zauberflöten-Liebhaber ein Graus.

Auch für diejenigen, die die Zauberflöte gern kennen lernen möchten, ist die CD ungeeignet, denn dazu wird es ihnen verwehrt, einem Handlungsstrang zu folgen, willkürlich geht es durcheinander mit Rahmenhandlung und Operngeschehen, das Booklet versagt da auch auf ganzer Linie, denn es bringt zwar Hochglanzfotos, aber keine Inhaltsangabe, weder von Oper noch Film,  und keine Erläuterung des Projekts, die Verbindung von Elementen von Schikaneder und den Kompositionen von Martin Stock, die denen Mozarts zugesellt oder mit der sie gemischt sind, und eine Rahmenhandlung, die Entdeckung der Zauberflöte durch ein Schülerpaar. Letztere haben vor allem die Funktion, stimmungsfördernd und Atmosphäre vermittelnd zu sein, so zu „On the Way to the Queen“, „Adventures in the Magic World“ oder „Tim’s Ghosts“. Mozart wie Stock werden vom Mozarteumorchester Salzburg unter Leslie Suganandarajah angemessen zu Gehör gebracht, die Augsburger Domsingknaben klingen natürlich für das „Es lebe Sarastro“ etwas dünn, dürfen sich aber auch nicht einmal eine Minute lang damit befassen.

Für wen also kann diese CD überhaupt interessant sein?  Wahrscheinlich für den Kinobesucher, den sie ein Stück Erinnerung an ein Filmerlebnis darstellen kann, vielleicht für die Schulklassen, die zu den Vormittagsvorstellungen mit ihren Musiklehrern ins Kino am Alexanderplatz zogen, und sie werden auch die bunten Fotos zu schätzen wissen (DG 486 3534). Ingrid Wanja 

Belcanto puro

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Wenn der Festspielsommer in Ravenna, Rom, Macerata, Torre del Lago, Verona und Martina Franca längst beendet ist, dann kann man im norditalienischen Bergamo ein ganz und gar dem Sohn der Stadt, Gaetano Donizetti, gewidmetes Festival erleben. Sein direttore artistico und Dirigent ist Riccardo Frizza, der mit dem Tenor Javier Camarena an Ort und Stelle unter dem Titel Signor Gaetano ein reines Donizetti-Programmeingespielt hat, vertrieben von Pentatone und versehen mit einem so ausführlichen wie informationsreichen Booklet. In diesem kommt der Sänger zu Wort, dessen erste einstudierte  Opernpartie überhaupt der Nemorino war, der 2004 einen Wettbewerb mit den Arien von Tonio und Roberto Devereux gewann, mit Ernesto debütierte und seitdem dem Belcanto-Repertoire mit einer typischen Stimme eines tenore di grazia in der Tito- Schipa-Nachfolge treu geblieben ist. In den letzten knapp zwanzig Jahren hat die Stimme weder ein typisches Schicksal eines tenore di grazia, das des Welkens, erlitten, noch hat sie sich  in ein anderes, schwereres Fach entwickelt, sondern hat sich Fische und Leichtigkeit bewahrt, ja sie perfektioniert.

Einige der Donizetti-Partien wurden für Rubini, den ersten Tenor mit einem Do di petto komponiert, wie Riccardo Frizza in einem Aufsatz beschreibt, die Partien den tenori sentimentali zuordnet, die zwar noch die Geläufigkeit eines Buffo besitzen , aber zudem auch über Poesie und Grazie verfügen müssen.

Es beginnt mit der Arie des Daniele aus Betly, in der die Qualitäten der Stimme, ein weicher Tonansatz, eine immense Geläufigkeit, ein müheloses Klettern in die Höhe hörbar werden, feine Rubati erfreuen und der Klang ein sentimentaler, aber nie ein weinerlicher ist. Bei Wiederholungen fallen die dezenten Variationen auf. Ein schwärmerisches „M’ama“ zeichnet den Nemorino von Camarena aus, ein leichter Schatten liegt auf „morir“, weit gespannte Bögen und ein ganz zarter Schluss mit „Di più non chiedo“ erfreuen in seiner berühmten Arie. Als Enrico aus Maria de Rudenz zeigt der Sänger viel vokale Energie mit einem federnden Gesangsstil, gut angebundener Höhe und sicheren Intervallsprüngen. Generös phrasiert wird Roberto Devereux‘ Abschied vom Leben, auch lässt sich nicht überhören, dass Camarenas Tenor über mehr corpo verfügt als ein Tito Schipa, dass die Stimme süffiger klingt, dabei voller Poesie und Grazie ist. Viel Geläufigkeit à la Rossini lässt er in der Arie aus Il Giovedi Grasso vernehmen. Verspielte Melancholie zeichnet den Ernesto aus, dessen Cabaletta ein strahlender Spitzenton krönt. Dem canto elegiaco verpflichtet ist die Arie des Fernando aus Marino Faliero, synkopenreich, voller Aplomb in den Höhen, mit heldischer Attacke auf „Quest‘ è l’ora“. Auch der Gerardo aus Caterina Cornaro hat eine heroische Seite, und der Enrico aus Rosmonda d’Inghilterra ermöglicht es dem Säger noch einmal, sich als akustischer Strahlemann zu präsentieren. Das Orchester Gli Originali unter Riccardo Frizza ist stilistisch perfekt auf Donizetti eingestimmt, der Coro Donizetti Opera unter Fabio Tartari sorgt ebenfalls für erfreuliche  Stilreinheit (PTC 5186 886). Ingrid Wanja    

Wege zu Monteverdi

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Gerade in jüngster Zeit stapeln sich die Aufnahmen von Opern Claudio Monteverdis, ob nun als CDs oder als Live-DVDs. Man meint, dass sich beinahe jedes Kleinstfestival seiner drei Opern bemächtigt hat, von großen wie Salzburg, Aix oder Boston ganz abgesehen. Monteverdi-Zyklen werden von Berlin bis Buenos Aires gezeigt, mitgeschnitten und veröffentlicht. Vor allem aus Italien und namentlich Frankreich schwemmt es herüber, und auch Martina Franca oder San Francisco blieben nicht untätig. Total overexposure, würden die transatlantischen Freunde das nennen. Inzwischen wird Monteverdi fast so viel gespielt wie Puccini. Die nachstehenden Aufnahmen der letzten Zeit – und das sind nur einige – zeugen von dem beneidenswerten Vertrauen der Labels in seine Zugkraft. Monteverdi ovunque.

Das war nicht immer so, denn der Weg zu Monteverdi ist für den Berichterstatter mit Reminiszenzen an jene Jahre verbunden, als Monteverdi nur ein Name für erbitterte Fans war, selten und oft verfremdet aufgeführt und auf Dokumenten damals nur selten zu finden. Eben auf diese möchte ich einen Blick werfen, auch um zu beschreiben wie weit wir in unserer Wertschätzung gekommen sind und was wir zwar gewonnen, aber auch verloren haben.

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Hätte ich mir damals in den  Sechzigern diese heutige Übersättigung an Monterverdi-Aufnahmen vorstellen können, als ich in zitternder Erwartung die nach muffigen Kellern riechenden US-Pakete vom Sam Goodies oder Tower Records aus New York vom Zoll abholte? In der wie bis heute verbieterischen Baracke missgelaunte Beamte, die uns warten ließen, während sie Kaffee und Frühstück hin- und herschleppten. Egal. Diese Pakete enthielten Kostbarkeiten für uns Studenten. Darunter – und das werd´ ich nie vergessen – Monteverdis Ritorno d´Ulisse von 1966 unter Rudolf Ewerhart mit der wunderbaren Altistin Maureen Lehane und dem charaktervollen englischen Tenor Gerald English als Protagonisten (neben Eduard Wollitz und anderen), die Lehane mit der Klage der Penelope mir bis heute eine Gänsehaut der Ergriffenheit bereitend. Zudem Monteverdi pur, denn Ewerhart mit seinem Santini Kammerorchester bei Vox hatte sich auf die damals gesicherten Teile der Oper konzentriert und die lieti pezzi (also die heiteren Einschübe am Hofe Penelopes und vor allem auch den Prolog mit der Umana fragilità) fortgelassen. Diese meine erste Begegnung mit dieser Oper Monteverdis war einfach überwältigend und bleibt mir bis heute. Die Sinnlichkeit (und darum geht es mir in diesem Rückblick) der Stimmen voller natürlichem Vibrato, das unverstellte, mich direkt erreichende Pathos des Gesungenen, die sparsame, aber nicht dünne Begleitung schufen für mich ein Klangvorbild, an das für mich heutige Aufnahmen mit Gambe, Zither und Countertenören nebst dünnen Kirchen-Innenraum-Stimmen um Meilen nicht herankommen. Fans von Cencic & Co. werden entsetzt aufschreien, aber ich stehe nicht an zu behaupten, dass meine alten Aufnahmen (mir natürlich nur) mehr Spaß machen, mehr an Sinnlichkeit und Persönlichkeiten vermitteln, mehr Seele, mehr Empathie – weniger Akrobatik und Selbstverliebtheit der Dirigenten … So wie auch das Lamento der Arianna von Margarete Klose aus alten Rundfunk-/LP-Zeiten mich immer noch zu Tränen rührt …

Natürlich wurde damals auf modernen, in Teilen diskret historisch-angelehnten Instrumenten gespielt, wie schon der erste Orfeo bei Deutsche Grammophon Archiv, auf dem Fritz Wunderlich eine Mucke als Pastore machte. Dieser Aufnahme von 1957 (Wenziger, Hitzacker, Helmut Krebs) ging dem Ulisse bei Vox voraus, aber Vox hatte noch mit einer Poppea nachgelegt, ebenfalls unter Ewerhart. Der deutsche haute contre (singulär in seiner Zeit) Hans-Ulrich Mielsch sang den Nerone und Ursula Buckel, die damals Vielbeschäftigte, die Poppea mit flirrendem Sopran. Vor allem aber war dies meine erste Begegnung mit der eminenten ukrainisch-polnischen Altistin Eugenia Zareska, die eine erdene Ottavia hören ließ, sehr beeindruckend und bis heute eine der geheimnisvollsten Sängerinnen der Nachkriegszeit (man erinnert sich an ihre tolle Grand-Duchesse de Gerolstein bei Leibowitz oder ihre satte Marina neben Gedda; es wird zu ihr bei operalounge.de ein Porträt geben).

In der fernen Vergangenheit hatte es immer wieder Ansätze zu einer Monteverdi-Rehablitation gegeben. Namentlich Nadia Boulanger, Schwester der Komponistin Lilli, hatte sich vor dem Krieg seines Werkes angenommen und bei His Master´s Voice eine ganz erstaunliche LP mit Canzoni und Madrigali eingespielt (zu den Solisten gehörte auch der Schweizer haute-contre Hugues Cuenod, den man später immer wieder in der Alten Musik findet). Bei Vox kamen auch Madrigale und das Combattimento di Tancredi e Clorinda unter Günther Kehr und dem Süddeutschen Kammerorchester von ca. 1960 heraus (Rodofo Malacarne, Elisabeth Speiser und Laerte Malaguti), wie diese Firma sich überhaupt um manche frühe Musik kümmerte. Das amerikanische Label Nonesuch ebenso.

Orfeo war die häufigste der frühen Monteverdi-Anstrengungen. Carlo Felice Cillario nahm mit den Kräften des berühmten Angelicum Mailand (Sammler werden sich an die grünen LPs erinnern) einen solchen in den späten Fünfzigern auf. Der Alte-Musik-Pionier Helmut Koch spielte mit dem Kammerorchester Berlin bei der Eterna einen solchen mit Elfriede Trötschel, Max Meili und – erstaunlich – Gerda Lammers ein.

Es gab auch einen Orfeo in der Maderna-Fassung (1960 an der NYCO, Stokowski dirigierte – es gibt ein Dokument davon, wahnsinnig!), Carl Orff hatte sich um Monteverdi gekümmert, Respighi bei Claves, Hindemith 1954 bei der RAI (mit Sinimberghi, Graf und Gillesberger). Man traute dem Original nicht, vielleicht war auch die Forschung noch nicht soweit. Eine wüste Poppea kam von der RAI 1957 mit Maria Vitale, Carlo Bergonzi und Oralia Dominguez (veröffentlicht in dem schwarzen Hommage-LP-Kasten bei Cetra vom Ehemann der Sopranistin mit allen ihren Aufnahmen beim italienischen Rundfunk), absolut abgefahren und eher Mascagni als Monteverdi, aber immerhin kümmerte man sich auch in Italien um ihn, mit unterschiedlichem Erfolg, wie noch die riskanten Aufnahmen aus Martina Franca bis in die Neuzeit zeigen …

Eine absolute Rarität ist die Poppea aus Wuppertal in der substanziellen Bearbeitung von Erich Kraack 1961 in Wuppertal, italienisch zwar, aber doch drastisch verändert. Eduart Wollitz (den man aus der Ewerhart Aufnahme kennt), Annamaria Bessel, Peter Christoph Runge und andere aus der Region singen (Label Wuppertaler Bühnen). Auch die Buchclubs boten – oft in Übernahme – Monteverdi. Ich erinnere mich nicht an Walter Goehrs Aufnahme bei uns zu Hause, als mein Vater Mitglied in der Concert Hall war und wir jeden Monat eine LP abnehmen mussten. Goehrs Poppea fand ich im Katalog. Und Sylvia Graehwiller nebst Friedrich Brückner-Rüggeberg sowie das Tonhallenorchester Zürich lassen auf eine schweizerische Übernahme schließen. 1963 war´s. Sagt Discorps, wo man ganz wunderbar die alten Aufnahmen aufgelistet und zum Verkauf angeboten findet.

Ein anderer Annäherungs-Strang führt zu Michel Corboz und den Lausanner Kräften, darunter ebenfalls Eric Tappy. Ich erinnere mich genau an seinen ersten Orfeo bei Erato 1968 in der eleganten braunen, leinenbezogenen Box mit der dicken Einlage (ein weiterer folgte weniger nachdrücklich 1985, warum nehmen Dirigenten nur immer Doublettenauf?). Eric Tappys Klage des Orfeo gehört ebenfalls zu meinem unvergesslichen Eindrücken. Corboz brachte später eine dicke Box mit Madrigalen (Guerreri) und weiterer Vokalmusik heraus, zuerst in Form der mit herrlichen Blumen-Covers geschmückten, weißgrundigen Erato-LPs, später diese dann als CD-Box (alles nun bei Warner, die früh das Label aufkauften, als es nach Barenboims Mozart-Ausflügen in den Ruin wankte). Michel Corboz, der später noch bei Claves und anderen Monteverdi und Späteres einspielte, erreichte mit seinen ersten Aufnahmen für mich so etwas wie einen Prototyp der zeitgemäßen Monteverdi-Interpretation – diskret historisch, aber mit natürlichem Vibrato der gestandenen Sänger und der Instrumente. Lustvoll und sinnlich.

Es gibt weitere Stränge der Nachkriegsbemühungen um Claudio Monteverdi. Bevor wir von Nikolaus Harnoncourt hörten, der zu dieser Zeit noch als Geiger im Orchester anderer spielte, war es Edwin Loehrer beim italienischen Rundfunk der Schweiz in Lugano, der dort meterweise Madrigale aufnahm, die dann bei verschiedenen Firmen als LPs/später CDs erschienen. Weitgehend mit einem kleinen, historisch angehauchten Orchester. Dazu herausragende Solisten wie Eric Tappy oder Laerte Malagutti, Lucia Ticcinelli-Fattori, Maria Minetto oder Edward Loomis. Auch Loehrer und sein fabelhafter Chor blieben eher konventionell, sinnlich, vibratoreich. Eben Lustvoll.

Das lässt sich auch über die ersten Aufnahmen von Nikolaus Harnoncourt sagen, der sich in den Siebzigern zu einem Papst für Monteverdi und die Folgen entwickelte. Vor dem berühmten Ponnelle-Zyklus in Zürich und seiner Dokumentation als Film und CD (Teldec 1988, Hollweg, Schmidt, Esswood et al) hatte er bereits bei Teldec den ersten eingespielt, der mir stimmlich und instrumental-musikalisch überzeugender, konzentrierter sein will (Hansmann, Lehrer, Eliasson, Equiluz, Esswood). Beide Dreiteiler (Zürich besonders, weil Bühnenaufführung) besitzen noch diese Frische und pralle Sinnlichkeit, die man in späteren Monteverdi-Aufnahmen stark vermisst. Hier sangen noch „normale“ Sänger wie Werner Hollweg, Eric Tappy, Rotraud Hansmann und andere, die eben das „normale“ Repertoire bedienten. Ein Ulisse, der auch Idomeneo, Don Ottavio oder Max singt scheint mir bis heute geeigneter zu sein als einer, der nur mit Barockem auftritt.

Der Dirigent Jürgen Jürgens soll da nicht unerwähnt sein. Seine Sammlung von Madrigali bei Teldec, DG und anderen sind weitere Meilensteine.

Und dann schließlich war da noch René Jacobs. Selber ein nicht immer liebenswürdig klingender Counter (für mich  stets kneifend und grell), begann er zu dirigieren und stellte einen beachtlichen Monteverdi-Opernzyklus bei Harmonia Mundi France vor. Besonders der Ulisse von 1971 mit Bernarda Fink und Christoph Pregardien bleibt mir in Erinnerung. Aber auch er nimmt inzwischen Sänger mit zu kleinen, dünnen Stimmen und neigt zum „Schrappen“ im Orchester. Und verschmäht – wie sollte er auch, ein Counter selber – Falsettisten in leading roles nicht. Ein Irrtum.

Um Raymond Leppard bei EMI und Decca muss man einen weiten Bogen machen. Das war Monteverdi für Leute, die Brahms und Mahler mögen, vielleicht auch Holst und Vaughn Williams, denn Leppard war in erster Linie eine englische Angelegenheit mit kleinen Ausuferungen auf den Kontinent. Ein Irrtum der Rezeption. Seine schwammigen, aufgeblasenen Orchestrierungen erfreuten Glyndebournes rich patrons, und seine Sänger sind – bei allem Verdienst – woanders besser zu hören, Janet Baker als Penelope vielleicht ausgenommen. Andere wie Hans Werner Henze mit seiner spätromantischen UlisseBearbeitung in Salzburg, München und Köln in den Neunzigern fallen da in dieselbe Kategorie, trotz Thomas Allens (oder Thomas Hampsons) und Kathleen Kuhlmanns bewegender Darstellung.

Natürlich gab und gibt es bis heute viele, viele, die sich mit Monteverdi beschäftigten. Und auch ihnen will man Respekt, wenn nicht immer große Zuneigung zollen, sie finden nachstehend Gerechtigkeit in den Rezensionen meiner Kollegen, die Counter, Zink und „Katzendärme“ mögen.

Sinnlichkeit – nach meinem Verständnis – trat hinter dem überbordenden, oft verbissenen und diktatorischen Anspruch der historischen Korrektheit der Aufführungspraxis zurück, wie sie sich nun sowohl instrumental wie auch stimmlich ausbreitete. Counter und immer kleiner werdende Solistenstimmen soweit das Ohr reichte. Das unselige Alfred-Deller-Erbe schwappt aus Englands Kirchen zu uns auf den Kontinent herüber. Tacet mulier in ecclesiam, jajadas wird heute gerne als Entschuldigung für die Verwendung von Countern in männlichen Kastratenrollen zitiert, Unsinn! Counter in Kastratenpartien als Protagonisten einzusetzen, nur weil sie Männer darstellen sollen, ist beklagenswerter Usus. Falsch und unhistorisch. Das hätte jemand wie Monteverdi oder Händel nicht geduldet, die Altistinnen verwendeten, wenn kein Kastrat zur Verfügung stand, und die Falsettisten in die Reihe der Kleinstdarsteller verwiesen. Das Geschlecht des Sängers selbst spielte im Barock keine Rolle. Pure opera gendering. Die Mezzo-Sopranistin Cecilias Bartoli gibt eine Vorstellung von der Reichweite der Kastratenpartien auf ihrer Decca-CD Castrati. Kastraten klangen zudem – den Beschreibungen nach – wie eine Mischung aus Marilyn Horne und Joan Sutherland, waren kraftvoll in der Attacke und vor allem betörend schön im Klang, weiteiferten mit den großen Sopranen der Zeit, mit denen sie sich auch die Rollen teilten. Denn Sopran-Kastraten sangen auch weibliche Rollen so wie Altistinnen als Schwerter rasselnde Helden auftraten (da denke ich sofort an Marilyn Horne…).   

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Als der letzte Kastrat wird Alessandro Moreschi bezeichnet, der allerdings nie in Opern, sondern nur Geistliches gesungen hat; bei youtube gibt´s noch ein „Ave Maria“ und anderes mit ihm, Altersaufnahmen, die kaum Rückschlüsse auf seine spezifische Kunst zulassen/ Wikipedia

Unsere heutigen Counter (ob nun ehemals Tenor oder meist Bariton) sind ja Falsettisten, die ihre Kopfnoten nach oben in die Koloratur-Sopranlage trainiert haben, was selten gut klingt. Nur wenige schaffen einen Wohlklang wie Paul Esswood (ebenfalls ein Alto) oder Jeffrey Gall (dto), auch Philippe Jarrousky in seinen Anfängen. Das Problem ist, dass der menschliche Stimm-Apparat das nicht lange mitmacht. Und im Laufe der letzten Jahre sah man manchen ehrgeizigen Counter im Sänger-Nirwana verschwinden. Oder ins Grelle abdriften (no names)… Die für mich ideale heutige Verwirklichung einer Kastratenstimme bleibt das gelungene Beispiel der elektronischen Verschmelzung zweier Stimmen eines Alt/Derek Lee Ragin mit der eines hohen Soprans/Ewa Małas-Godlewska im Film Farinelli. So stell ich mir den alten Klang vor. Angesichts von so vielen Absurditäten auf der heutigen Bühne vielleicht eine Idee für Nur-Akustisches? 

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Es ist ja bezeichnend, dass die französische Oper keine Kastraten kannte, sondern haute contres, also sehr hohe Tenöre bevorzugte, zumal in den Kirchen des Landes auch Frauen singen durften. Man brauchte also keine Kastraten und fand sie lächerlich. Haute contres finden sich in den französischen Barockopern und der Musik der Zeit, und sind eine übliche Rollenbezeichnung bis in das neunzehnte Jahrhundert, wo selbst leichte Spieltenöre so bezeichnet werden. Rameaus Schlamm-Nymphe Platée (auf einer alten EMI-Einspielung köstlich von Michel Sénechal dargeboten) ist als haut contre ausgewiesen.  Hugues Cuenod, bereits bei Boulanger erwähnt, tritt auch bei Loehrer und Corboz auf. Und in Glyndebournes Calisto wieder mal als gemeine, lüsterne Nymphe.

Und einem ganz besonderen haute contre aus Amerika muss man unbedingt ein Denkmal errichten, das wie ein Monolith in karger Landschaft nicht nur der ameriklanischen Nachkriegszeit steht: Russell Oberlin. Seine wirklich vielen und im Repertoire so weit gestreuten Aufnahmen (dazu auch optische bei VAI) lassen ihn einen ganz ausgefallenen, einzigartigen Künstler sein. Von Händel bis zu Britten, von spanischer Renaissance bis zu Mahler spannt sich sein Repertoire und bestätigt seine künstlerische Bandbreite. Zudem ist seine Stimme einzigartig, modern und doch am Alten gebunden. Er hat unter Noah Greenberg und seiner New Yorker Musica antiqua eine ganz wundervolle Monteverdi-LP/CD bei Odyssee eingespielt, wo er im Verein mit Charles Bressler, einem weiteren hohen amerikanischen Tenor, einen absolut irrwitzigen „Zeffiro torna“ hinlegt, dessen accellerandi wie Pfeile durch den Raum schießen. Ungeheuer.  Diese Barock- und Monteverdi-Sammlung Greenberg gehört zu den absoluten Schätzen meiner Sammlung. So ist es doch ein weiter Weg von Mantua bis New York, woher meine erste Liebe zu Monteverdi kam. Geerd Heinsen

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Monteverdi und kein Ende: „Als erste Aufnahme überhaupt“ enthalten die vier CDs, die Rondeau auf den Markt gebracht hat, die vollständige, gegen über der aus Venedig umfangreichere Neapolitaner Fassung der Monteverdi-Oper L’incoronazione di Poppea und dazu noch eine Reihe kürzerer Orchesterstücke von Zeitgenossen des Komponisten, so „ein paar neue Nummern und einige sehr spannende harmonisch kühne Stellen“, weiterhin ist die Fassung aus Neapel vierstimmig, die aus Venedig lediglich dreistimmig. Dem Publikum, das auf Schloss Waldegg bei Solothurn im Sommer 2021 in den Genuss der Aufführung kam, wollte man allerdings das Stück in seiner vollen Länge nicht zumuten und kürzte um einiges.

Die historischen Instrumente  des cantus firmus consort unter Andreas Reize erfreuen durch einen vollen, warmen Klang, federnd und agogikreich, die zahlreichen Ritornelle zwischen den Gesangsnummern passen stimmungsmäßig nicht immer, sorgen aber für eine angenehme Abwechslung zwischen den Darbietungen der fast ausschließlich hohen Stimmen. Diese allerdings weisen feine, die jeweilige Figur exakt charakterisierende Farbunterschiede auf.

Die Götter spielen in diesem Werk schon keine bedeutende Rolle mehr, äußern sich nur zu Beginn und Schluss der Oper, und so ist Fortuna zugleich auch Pallade und Damigella und alle drei Damen bekommen mit der Stimme von Kathrin Hottinger einen neckischen Anstrich, während Julia Sophie Wagner nacheinander Virtù, Dusilla und Venere ist, vollmundiger als die Kollegin, als Drusilla zunächst etwas verhuscht, ehe sie zunehmend präsenter erscheint und mit „O felice Drusilla“ frisch und flirrend und damit interessant wirkt. Apart melancholisch hört sich Marion Grange als Amore an, die zudem ein spritziger Valetto ist. Erstaunen kann immer wieder das Libretto erregen, so der Sarkasmus der Soldati Michael Feyfar und Hans Jörg Mammel. Eine warme Altusstimme  setzt Jan Börner für den Ottone ein, zunächst etwas unmännlich  wehleidig klingend, mit „I miei subiti sdegni“ aber durch Empfindsamkeit erfreuend. Die Ottavia von Geneviève Tschumi verfügt über einen edlen Klageton, führt die Stimme angenehm instrumental, ehe sie in der Riesenarie „Eccomi quasi priva“ recht geschmäcklerisch wirkt. Lisandro Abadie ist Seneca, der nach raunzigem Beginn zu sanfter Resignation findet und mit „Solitudine amata“ Eindruck machen kann. Dabei steht ihm mit Tobias Wicky ein geschmeidig singender Mercurio mit guter Diktion zur Seite. Letztere lässt der Nerone von Elvira Bill leider weitgehend vermissen, vieles klingt verwaschen, erst bei der Androhung der Folterungen wird es schillernd und damit interessant. Weich, schmiegsam, schmeichelnd, dazu frisch und immer wieder aufblühend kann Pia Davilla als Poppea nicht nur Nerone verführen. Wenn sie zum Schluss das berühmte Liebesduett singen, mag man gar nicht glauben, dass ein Fußtritt in den Bauch der Schwangeren bald der Geschichte ein Ende setzen wird. Ein ganz besonderes Vergnügen bereitet Sebastian Monti dem Hörer mit seiner plärrenden Arnalta und seiner greinenden Nutrice. Insgesamt kann man sagen, dass das Hörvergnügen sicherlich dadurch erhöht wird, dass man es sich einteilen, ab und zu dazwischen eine Pause machen und mit neuer Kraft und wieder erwachtem Interesse dazu zurückkehren  kann (4 CD ROP623738-4). Ingrid Wanja    

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Weder für die Feier eines Namenstags noch eines Geburtstags taugt ein Orfeo, an dessen Ende, der kompromisslosen Tragik einer griechischen Sage angemessen, der Held von feiernden Bacchantinnen zerrissen wird. Bereits der Orfeo von Monteverdi, für die Geburtstagsfeier des Herzoges von Mantua komponiert , geht zwar nicht so weit wie später der Glucks, bei dem die Liebenden sich dank Amors noch eines langen glücklichen Erdenlebens erfreuen dürfen. Aber er lässt immerhin Orfeos Vater, den Gott der Künste Apollo, persönlich den Sohn in das griechische Himmelreich entführen, wo er sich wie einst an der Schönheit Euridices nun an der von Wolken und Himmelskörpern erfreuen kann.  

2021 führte die Pariser Opera Comique in Zusammenarbeit mit der Opera Royal-Chateau des Versailles Spectacles und der Opera Grand Avignon die nicht unumstritten erste Oper überhaupt mit Le Concert des Nations  unter Jordi Savall auf historischen Instrumenten auf. Die sorgte für einen straffen, durchsichtigen und energischen Klang, ideal passend zu den Stimmen von Chor und Solisten. Von blendender Akuratesse war auch der Chor La Capella Reial de Catalunya, eigentlich eine Gruppe von Solisten, die sowohl durch darstellerische Gemessenheit wie durch vokale Brillanz erfreuen können. Regie führte Pauline Bayle und sorgte für eine klassische Mischung aus „edler Einfalt und stiller Größe“. In sanftem Rot, Grün gelb sind die zeitlosen Kostüme gehalten, Schatten von Baumstämmen sorgen für die Düsternis des Totenreichs, knallrote Blüten feiern das Glück der Hochzeit wie sie, anders arrangiert, den Grabschmuck bildeten. Die Optik erzeugt, mit anderen Worten, den Eindruck des durch und durch Klassischen (Bühne Emmanuel Clolus, Kostüme Bernadette Villard).

Vorzüglich sind die Sängersolisten, allen voran der Orfeo von Marc Mauillon, den man auch aus Tenorpartien kennt und der seine hier als Bariton eingesetzte Stimme in deklamatorischem Stil einsetzt, sehr aufmerksam gegenüber dem Text ist, so in einem mit ebenmäßiger Stimmführung zelebriertem  „Tu sei morta“, während oft auch das Timbre gespreizt wird wie im 3. Akt. Das ungemein lange „Possente spirto“ wird nie langweilig, bleibt stets voller Spannung. Viel Sinn für die kleinen Notenwerte hat Furio Zanasi als Apollo, der zum Schluss des fünfaktigen Dramas ein Duett mit dem Sohn singen darf. Salvo Vitale hat einen tiefdunklen, geschmeidigen Bass für Caronte und Plutone, weitere Herren singen meistens zwei Partien, jeweils einen Pastore und einen Spirto. Aus der Reihe der Damen sticht besonders Sara Mingardo als Messaggiera hervor, sehr bewegend die traurige Botschaft verkündend mit schlanker und dabei farbiger  Altstimme. Als Speranza und Proserpina kann Marianne Beate Kielland auch in den berühmten Worten Lasciate ogni speranza, voi che entrate“ einen sanften Mezzosopran einsetzen. Im Hintergrund sind ab und zu Mitwirkende mit Maske zu erblicken, scheinen eine unbeabsichtigte Brücke zwischen dem Damals und dem Heute zu schlagen, die immer währende Bedrohung des Menschen und seine Verletzbarkeit anzudeuten (Naxos NBDO152V). Ingrid Wanja

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Und noch einer – diesmal bei Chateau de Versailles: Seit 2017, dem Jahr des 450. Geburtstages von Monteverdi, finden sich auf dem Musikmarkt immer wieder Neueinspielungen seiner Musikdramen. Jetzt hat das Label Château de VERSAILLES in einer Aufnahme vom Dezember 2021 Il ritorno d’Ulisse in patria herausgebracht, wie stets mit reich illustriertem und mehrsprachigem Booklet. Vor dem Hören empfiehlt sich die Lektüre des informativen Artikels von Stéphane Fuget, dem Dirigenten der Einspielung, die in der Salle des Croisades du Château de Versailles mit dem von ihm 2018 gegründeten Ensemble Les Épopées stattfand. In diesem Essay mit dem Titel „Von der Deklamation im Rezitativ“ analysiert er detailliert den Stil des recitar cantando (beim Singen zueinander oder zu sich selbst sprechen, zu deklamieren) welcher den Ulisse in hohem Maße auszeichnet. Die Dominanz des Wortes über die Musik bestimmt dann auch seine Interpretation.

Das Ensemble hat sich voll und ganz auf diesen Stil eingestellt, wie es sogleich die lebhafte Artikulation im Prologo zeigt. Hier erweist sich Die menschliche Zerbrechlichkeit (L’Humana fragilità) als der Vergänglichkeit (Tempo), dem Schicksal (Fortuna) und der Liebe (Amore) unterworfen. Der exzellente Altus Filippo Mineccia, der fabelhafte junge amerikanische Bass Alex Rosen, die aufstrebende französische Mezzosopranistin Ambroisine Bré und die reizende Sopranistin Marie Perbost machen aus dieser Eingangsszene einen spannenden Diskurs. Den wirklichen dramatischen Einstieg in die Handlung markiert jedoch Penelopes Auftritt im 1. Akt mit dem langen Monolog „Di misera Regina“. Lucile Richardot mit ihrem erdenen Alt formt die Worte in reinem Sprechgesang und mit deutlichen Vokalverfärbungen. Ihr „Torna, deh torna, Ulisse“ hört man mit Erschütterung. Gegenüber den Freiern ist sie voller Hohn  nach deren Versagen. Auf Telemacos anzügliche Erinnerungen an Helena reagiert sie als zornige Mutter, auf Eumetes Enthüllung, dass der alte Bettler, der die Freier besiegte, kein anderer ist als Ulisse, mit spöttischer Verachtung. Wenn sie schließlich selbst überzeugt ist, dass der Mann vor ihr wirklich ihr Gemahl ist, wandelt sich ihr Ton von scharfer Deklamation zu weicher Rundung und zärtlichem Ausdruck. Davon kündet auch ihr Schlussduett mit dem Geliebten („Sospirato mio sole“) in seiner Seligkeit

Der Tenor von Valerio Contaldo als Ulisse klingt etwas nasal, punktet aber mit einer charaktervollen Interpretation. Sein Auftrittsmonolog, „Dormo ancora“, ist zunächst von stockendem, gebremstem Redefluss, steigert sich später zum verzweifelten Aufschrei. Seine Szenen mit Minerva (lockend: Marieclou Jacquard), dem treuen Hirten Eumete (kompetent: Cyril Auvity) und seinem Sohn Telemaco (emphatisch: Juan Sancho) beeindrucken durch plastische Klangsprache. Ambroisine Bré  verdient es, noch einmal genannt zu werden, denn ihr Melanto mit kokettem, doch stets delikatem Ton entzückt. Auch Alex Rosen kann nach seinem Auftritt im Prologo als Nettuno noch einmal auf sein sattes Potential aufmerksam machen, ebenso wie Filippo Mineccia als Pisandro auf sein charakteristisches Timbre. Jörg Schneider gibt einen skurril meckernden oder heulenden Iro (CVS069, 3 CDs/ 17. 09-22). Bernd Hoppe       

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Monteverdi-Zyklus bei OPUS ARTE: Mit seinem Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists produzierte John Eliot Gardiner im Juni 2017 anlässlich des 450. Geburtstages von Claudio Monteverdi dessen drei große Musikdramen. Aufführungsort dieser semi-konzertanten Vorstellungen, bei denen die Sänger in schlichten oder extravaganten Kostümen von Patricia Hofstede und Isabella De Sabata auftreten und auch gestisch agieren, war das Teatro La Fenice Venedig. Opus Arte hat den Zyklus auf drei DVDs bzw. Blu-ray Discs veröffentlicht. L’Orfeo hat mein Kollege Gerhard Eckels nachstehend besprochen.

Im Dramma per musica  ist Hana Blazíková in der Titelpartie zu erleben. Der Sopran ist energisch, mitunter gar keifend. In den Zwiegesängen mit Nerone findet die Sängerin aber auch zu schmeichelnden, verführerischen Tönen. Wunderbar innig beider Schlussduett „Pur ti miro“. Ein in unseren Breiten weniger bekannter Countertenor, Kangmin Justin Kim, singt den Nerone. In seiner androgynen Erscheinung ist er optisch ein Blickfang und auch die hohe Stimme, fast in der Region eines Sopranisten, besitzt Ausnahmerang. Sein Ausdrucksspektrum reicht von furiosen Ausbrüchen bis zur Hysterie. Stupend ist die Koloraturbravour in der homoerotischen Szene mit seinem Vertrauten Lucano (Zachary Wilder). Konkurrenz als Ottone macht ihm dennoch Carlo Vistoli, ein neuer Stern am Counter-Himmel, mit betörend schöner Stimme und prägnanter Artikulation. Mit Marianna Pizzolato, kompetent auch im Belcanto-Repertoire, ist die Ottavia prominent besetzt. Ihr würdevoller Auftritt als von ihrem Gatten verstoßene Kaiserin („Disprezzata regina“) profitiert von Wohlklang, aber auch starkem Ausdruck. Ähnlich eindrücklich die Szene vor ihrer Verbannung aus Rom („A Dio, Roma!“) mit stockendem Beginn und enormer Steigerung. Michal Czerniawski gibt ihre Nutrice mit farbreichem Altus. Gianluca Buratto ist ein Seneca mit profundem, resolutem Bass und autoritärer Ausstrahlung. Seine große Szene vor dem von Nerone verordneten Selbstmord („Solitudine amata“) ist von schlichter, ergreifender Größe und der Tod selbst von erhabener Würde, auch durch das vom Orchester bewegend musizierte Ritornello.

Der Prolog schildert den Götterstreit zwischen La Fortuna, La Virtù und Amore in ihrem Anspruch, die Herrschaft über die Sterblichen zu beanspruchen. Mit strengen Stimmen rivalisieren Anna Dennis (danach eine energisch reife Drusilla), Lucile Richardot (später eine fulminante Arnalta mit maskulinem Tonfall) und Silvia Frigato (danach ein munterer Valletto).

Der englische Dirigent John Eliot Gardiner ist mit dem Werk seit mehreren Jahrzehnten vertraut. Bereits 1993 produzierte er für die ARCHIV Produktion der DG eine Gesamtaufnahme mit seinem Chor und Orchester. Seine Interpretation ist nun noch reifer und wissender, findet die perfekte Balance in der Begleitung der deklamierten Passagen, der Ariosi und instrumentalen Teile. (OA 1346D). Bernd Hoppe

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2017 ging John Eliot Gardiner mit „seinem“ Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists zum 450. Geburtstag von Claudio Monteverdi auf eine internationale Tournee, bei der dessen drei wichtigsten Opern L’Orfeo, Il ritorno d’Ulisse in patria und L’incoronazione di Poppea halbszenisch aufgeführt wurden. Die Aufzeichnungen im La Fenice in Venedig hat nun OPUS ARTE als DVDs herausgebracht.

In L’Orfeo und Il ritorno d’Ulisse in patria (in der Wiener Fassung) gelingt den Solisten, dem zeitweise tänzerisch auftretenden, stets ausgewogen singenden Monteverdi Choir und den in allen Gruppen sowie den vielen Instrumentalsoli ausgezeichneten English Baroque Soloists, die auch vor lautmalerischen Effekten nicht zurückscheuen, eine beeindruckende Vielfarbigkeit des Gesamtklangs. Der vielseitige, besonders in der Musik des 17. Jahrhunderts überaus erfahrene  John Eliot Gardiner leitet das Ganze mit anspornender und präziser Zeichengebung, wobei er durchgehend dafür sorgt, dass der Gesang im Vordergrund steht. Auch für die im Ganzen unaufdringliche, manchmal auch den Zuschauerraum einbeziehende Regie, die für lebendiges Spiel aller Beteiligten gesorgt hat, ist er ebenfalls gemeinsam mit Elsa Rooke verantwortlich. Die schlichten, antikisierenden Kostüme von Isabella de Sabata und  Patricia Hofstede passen bei beiden Opern insofern zum Gesamtkonzept, als es die Musik immer ins Zentrum rückt.

Das internationale Solistenensemble besteht aus Sängerinnen und Sängern, die auf die so genannte „Alte Musik“ und darauf spezialisiert sind, fast durchweg nur begleitet durch Continuo-Akkorde zu singen. In L’Orfeo beginnt es mit der wunderbar schlanken Stimme der Tschechin Hana Blazikova als La Musica, die sich mit der Harfe teilweise selbst begleitet. Später verwandelt sie sich in Euridice, die sie ebenso wie Minerva und Fortuna in Il ritorno überzeugend darstellt und mit blitzsauberem, immer wieder schön aufblühendem Sopran adelt. Auch beim intensiv gestaltenden Sänger des Orfeo, dem Polen Krystian Adam, sind die überaus variablen Klangfarben auffällig; besonders die großen Szenen im 3. und 5. Akt gelingen eindrucksvoll, wenn Orfeo die Unterweltfürsten mit seinem Singen zu überwinden sucht und er später sein Scheitern beklagt. Sie reichen von machtvollem Auftrumpfen im Klagen über den großen Verlust bis zu kunstvoll verziertem, einschmeichelndem Gesang. Dieser ist auch als Telemaco in Il ritorno gefordert, den Adam mit seinem kräftigen, flexiblen Tenor differenzierend gestaltet.

Der italienische Bariton Furio Zanasi ist in der Titelrolle des Ulisses in Il ritorno zu erleben, den er mit prägnantem Bariton und zurückhaltender Darstellung ausfüllt. Auch als Apollo in L‘Orfeo erweist es sich, dass er gemeinsam mit Orfeo in der Schlussszene die geforderten virtuosen Koloraturen und anspruchsvollen Gesangslinien aufs Beste beherrscht. Lucile Richardot macht in Il ritorno ausdrucksstark deutlich, wie unerschütterlich Penelope in ihrer Standhaftigkeit ist. Ebenso als Botin in L’Orfeo spart die französische Mezzosopranistin nicht mit dramatischen Effekten. Sie widersteht eindrücklich den aufdringlichen Freiern, die von Antinoo angeführt werden. In dieser Partie, als Tempo und Nettuno in Il ritorno sowie als Coronte und Plutone in L’Orfeo setzt der Italiener Gianluca Buratto seinen mächtigen, profunden Bass ein, den er  auch ausgesprochen lyrisch und klar zu führen weiß. Sozusagen als das Buffo-Paar, wie sie in späterer Zeit gern in Opern auftauchen, agieren als Melanto und Eurimaco munter pure Lebensfreude ausstrahlend die englische Sopranistin Anna Dennis (auch Ninfa in L’Orfeo) und der amerikanische Tenor Zachary Wilder (auch Spirito II in L’Orfeo). Ein köstliches Kabinettstückchen mit Cola-Dose und Bockwurst bei mitreißender stimmlicher Ausgestaltung ist dem englischen Tenor Robert Burt als der verfressene Freier Iro gelungen.

Bei den Sängerinnen und Sängern in den weiteren Partien, die nicht so sehr im Vordergrund stehen, imponieren die Vielseitigkeit und die durchweg ausgezeichnete Beherrschung ihrer jeweils charaktervollen Stimmen. Deshalb wäre es  unangemessen, jemand zusätzlich hervorzuheben; sie sollen aber doch wenigstens genannt werden: Es singen und spielen die italienische Sopranistinnen Francesca Boncompagni (L’Orfeo: Proserpina; Il ritorno: Giunone) und Silvia Frigato (Il ritorno: Amore) sowie die italienische Altistin Francesca Biliotti (Il ritorno: Ericlea). Außerdem sind dabei der amerikanische Counter Kangmin Justin Kim (L’Orfeo: Speranza), der spanische Tenor Francisco Fernandez-Reieda (L’Orfeo: Pastore I; Il ritorno: Eumete), der walisische Tenor Gareth Treseder (L’Orfeo: Pastore II, Spirito I, Eco; Il ritorno: Anfinomo), der amerikanische Bariton John Taylor Ward (L’Orfeo: Pastore IV, Spirito III; Il ritorno: Giove), der polnische Counter Michal Czerniawski (L’Orfeo: Pastore III; Il ritorno: Pisandro) und schließlich der italienische Counter Carlo Vistoli (Il ritorno: Umana fragilita).

Insgesamt  sind beide halbszenisch aufgeführten Opern besonders wegen der packenden, tiefgehenden Interpretation durch den Altmeister der „alten Musik“ Sir John Eliot Gardiner und des herausragenden Niveaus aller Beteiligten nicht nur für die Freunde der Musik des 16./17. Jahrhunderts lohnend (OPUS ARTE OA1347D L’Orfeo, OA1348D Il ritorno d’Ulisse in patria). Gerhard Eckels

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Aus dem bezaubernden Teatro della Pergola in Florenz kommt eine Aufzeichnung von Monteverdis Il ritorno di Ulisse in patria, die Robert Carsen als Regisseur und Radu Boruzescu als Bühnenbildner verantwortet haben. Sie entstand im Juni 2021 im Rahmen des Maggio Musicale Fiorentino und wurde von Dynamic auf Blue-ray Disc veröffentlicht (57927). Die Wirkung der Aufnahme bezieht sich vor allem aus dem hinreißenden Ambiente des antiken Theaters, das permanent in die Optik einbezogen wird und sich mit seinen Rängen sogar auf der Bühne fortsetzt. In den Logen sind die Götter postiert, die dem Spektakel beiwohnen und es kommentieren. Die Inszenierung mixt virtuos Vergangenheit und Gegenwart, wozu auch Luis Carvalho mit seinen Kostümen beiträgt, welche gleichfalls in unterschiedlichen Zeitebenen pendeln. Historische Pracht ist da mit zeitgenössischer Alltagsprofanität konfrontiert.

Mit der Accademia Bizantina sorgt Ottavio Dantone, der nach der  kritischen Edition von Bernardo Ticci auch die praktische Fassung für die Aufführung erstellte, für ein vibrierendes Klangbild, das in seiner Kraft und Spannung bis zum Schluss des Werkes nicht nachlässt. In der Titelrolle ist Charles Workman ein reifer Interpret, der die menschliche Dimension der Figur beeindruckend umreißt. Delphine Galou gibt der Penelope sensible Züge und Arianna Venditelli, auf diesen Seiten soeben als Titelheld von Händels Serse besprochen, ist eine expressive und differenziert schattierende  Minerva. Aus der Besetzung ragen zudem Gianluca Marghelli als Giove und Miriam Albano als Melanto heraus. Bernd Hoppe

Fidi en bloc

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Dietrich Fischer-Dieskau – Complete Lieder Recordings on Deutsche Grammophon (00289 486 2073). Die neue DG-Box hat die Ausmaße eines Grundsteins. Des Grundsteins zu einem musikalischen Denkmal für einen der bedeutendsten Sänger nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Tat gibt es auch richtige plastische Darstellungen zum Ruhme von Vertreter der singenden Zunft in Parks und an Straßen. Sie lassen sich anfassen und taugen Touristen als Fotomotive. Neuerdings begegnet man Maria Callas lebensgroß am Fuß der Akropolis in Athen. Kirsten Flagstad, mit der Fischer-Dieskau als Kurwenal beim Tristan Furtwänglers noch im Studio zusammentraf, steht vor dem Opernhaus in Oslo. Als Büste findet sich Caruso in der Nähe seines Geburtshauses in Neapel. Kaum wiederzuerkennen ist Fritz Wunderlich in ebensolcher Darstellung in seinem Heimatort Kusel. Und Gottlob Frick grüßt mit Schlips und Kragen Spaziergänger von seinem Sockel in Mühlacker, wo er starb.

Es darf darüber gestritten werden, ob derlei stumme Abbilder, deren Existenzform die Erstarrung in Bronze oder Stein ist, Sängern gerecht werden können. Ich bezweifle das. Sie geben keinen Ton von sich. Gründet sich das Andenken nicht vielmehr auf die Zeugnisse ihre Wirkens – die Tonaufzeichnungen? Im Falle von Fischer-Dieskau ist daran kein Mangel. Auf dem Grundstein der neuen Edition – um im Bilde zu bleiben – türmen sich Berge von Tonträger aller Art und unterschiedlichster Provenienz. Filme sind auch dabei. Fischer-Dieskau war bei mehreren Firmen sehr aktiv. Nicht alles ist zugänglich. In Rundfunkarchiven und privaten Sammlungen hat sich angestaut, was so schnell nicht ans Licht gelangen dürfte. Niemand kann mit Bestimmtheit sagen, was es alles gibt. Die bislang umfangreichste Diskographie legte Monika Wolf vor, zuletzt 2005 erschienen bei Book on Demand. Audite kommt das Verdienst zu, anlässlich des 85. Geburtstages des Sängers Teile des Rias-Archivs erschlossen zu haben. Beim Rundfunk im amerikanischen Sektor der geteilten Stadt, wurden die Potenziale des politisch unbelasteten jungen Sägers sehr früh erkannt und dokumentiert. Er stand für den Neubeginn wie kaum ein anderer.

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Dietrich Fischer Dieskau Das Foto/DG (im Original schwarz-weiß) stammt aus dem Booklet der neuen Edition und zeigt den jungen Dietrich Fischer-Dieskau am Neujahrstag 1950. Kurz zuvor hatte die erfolgreiche Zusammenarbeit mit der Deutschen Grammophon begonnen.

Die Edition bietet 107 CDs auf, dazu ein broschiertes Buch mit 238 Seiten, das erklärende Texte, die Tracklisten sowie zahlreiche Fotos enthält. Präferiert wird die Einteilung nach Komponisten. Musikalisch gesehen, stellen sie das höchste Ordnungsprinzip dar. Die Sammlung beginnt denn auch mit Philipp Emanuel Bach. Ludwig van Beethoven schließt mit 5 CDs direkt an, gefolgt von Johannes Brahms, der einmal kurz durch die Biblischen Lieder von Antonin Dvorak unterbrochen ist (12), Franz Liszt (4), Carl Loewe (2), Gustav Mahler (3). In ihrer Gesamtheit bezeugt die Zusammenstellung Jahre der Meisterschaft, in denen er ständig als künstlerischer Weltbürger unterwegs war, auf Opernbühnen und bei den internationalen Festivals. Allein in Salzburg fehlte er in fünfzig Jahren nur selten. Erstmals sang er dort 1951 noch unter Wilhelm Furtwängler die Lieder eines fahrenden Gesellen. Um das halbe Jahrhundert voll zu machen, trat er zuletzt als Sprecher und als Dirigent auf. In der Edition wird er bei den Gesellen-Liedern von Rafael Kubelik und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks begleitet (1968). Sie bilden mit den Kindertotenliedern, den Rückerliedern, bei denen Karl Böhm die Berliner Philharmoniker leitet (1963) und dem Lied von der Erde in zweifacher Ausführung die Mahler-Abteilung. Vom Komponisten als Symphonie für eine Tenor- und Alt- (oder Bariton-)Stimme bezeichnet, sprengt Das Lied von der Erde zwar den Rahmen, der Titel aber legitimiert die Berücksichtigung. Zu hören sind der allseits bekannte Wiener Mitschnitt mit Fritz Wunderlich unter Josef Krips (1964) sowie die von Leonard Bernstein geleitete Studioproduktion mit James King (1966). Nach Mahler kommt Friedrich Nietzsche (1). Danach wird die alphabetische Reihung unterbrochen, was noch mehrfach notwendig ist, wenn nämlich ein Komponist nicht eine ganze CD ausfüllt. Es folgt Max Reger, der sich eine CD mit Hans Pfitzner teilt. Auf der zweiten CD mit Liedern von Othmar Schoeck ist noch Platz für den Hermann-Hesse-Liederzyklus Leb wohl, Frau Welt von Gottfried von Einem.

Die Lieder Schuberts bilden den Mittepunkt der neuen Edition. Zuerst sind sie in prachtvoll ausgestatteten Plattenkassetten erschienen.

Wie ein monolithischer Block erheben die Franz-Schubert-Lieder auf 31 CDs heraus. Damit wird überdeutlich, wem die beständige große Liebe des Baritons galt. Wie kein anderer Komponist hat Schubert seine lange Karriere geprägt und er die Interpretationen seiner Lieder. Diese Erfahrungen hat er sogar in einem Buch mit dem Titel „Auf den Spuren der Schubert-Lieder“ zusammengefasst, das 1976 erstmals bei Bärenreiter erschien und seitdem eine große Verbreitung fand. Dessen letzter Satz: „Wenn es auch künftig Hörer mit einem Gefühl für Künstlerisches geben wird – immer vorausgesetzt, es handele sich um eine Kommunikation zwischen Interpreten höchsten Ranges und ebensolchen Hörern -, dann wird die meisterliche Vertonung eines Gedichts ein unvergängliches Erlebnis bleiben.“ Nicht ohne Eitelkeit beschreibt er mit diesen Worten Ziel und Zweck seines künstlerischen Wirkens. Er war nie auf ein Massenpublikum aus, das ihm nicht hätte folgen können. Vielmehr wollte er Menschen um sich haben, die ihn verstanden, bei denen er – gleich einem Dozenten im Hörsaal – nicht erst bei null anfangen musste, um höhere Erkenntnisse zu vermitteln. Für dieses Publikum ist die Grammophon-Edition, für die im heimischen Regal der Brockhaus oder der Goethe etwas zur Seite gerückt werden müssen, genau richtig. Fischer-Dieskau kam nie von Schubert los, hat nach immer neuen Ansätzen und Ausdrucksmöglichkeiten gesucht. Die Ergebnisse sind – je nach Wahrnehmung und Erwartung – bekanntermaßen unterschiedlich ausgefallen. Zwei Drittel der Schubert-Titel gehen auf die Einspielungen mit Gerald Moore zurück, die zwischen 1966 und 1972 in Berlin entstanden und bereits als Sammelbox herausgekommen sind. Über Frischer-Dieskau reden, heißt, auch über Moore reden. Der diskrete englische Pianist und Fischer-Dieskau waren ein ideales Paar. Ihre Interpretationen sind wie aus einem Guss. Moore versteht seinen Roll als Begleiter ohne eigene herausgehobene Ambitionen. Er gestattet dem Sänger den künstlerischen Vortritt, der sich auf den versierten Mann am Klavier hundertprozentig verlassen kann. Daraus gewinn Fischer-Dieskau seine absolute Sicherheit, die sich im Zusammenspiel mit Moore als durch und durch harmonisches Erlebnis mitteilt. In dem bereits erwähnten Buch nennt ihn der Sänger den „König unter den Begleitern“. Es entspreche seinem Rang, dass er wohl der „einzige Liedpianist auf der Welt“ sei, der sämtliche Schubert-Lieder gespielt habe. „Dabei erweist sich vor allem sein rhythmischer Impetus als ein Wesenszug, auf den eine Schubert-Interpretation nicht verzichten kann.“

Dietrich Fischer-Dieskau und der englische Pianist Gerald Moore arbeiteten oft zusammen. Der Sänger nannte ihn den „König unter den Begleitern“. Foto/DG Archive

Dennoch bevorzuge ich die frühen Aufnahmen, die mir nicht so gedankenschwer und ausgeklügelt vorkommen. Wenngleich Fischer-Dieskau auf mich stimmlich alterslos wirkt, finde ich sie freier und unbekümmerter. Sein einzigartiges Können, stimmlich wie interpretatorisch, hat sich nicht erst mit der Zeit herausgebildet. Es war von Anfang an da – nachzuhören in seiner ganz frühen Einspielung der Lieder Ihr Bild und Das Fischermädchen aus dem Schwanengesang vom März 1949. Da war er gerade mal Mitte zwanzig. Beim ersten Lied zwingt der unbekannte Begleiter den Sänger zu einem extrem langatmigen Tempo, das ihm viel technisches Können abverlangt. Mit fast dreieinhalb Minuten dauert es deutlich länger als in den beiden kompletten Aufnahmen in der Edition mit Moore (1972) und Alfred Brendel (1982). Die Stimme klingt ungemein sanft. Fast unmerklich erhebt sie sich aus der Klavierstimme heraus, entfaltet mit großer Ruhe den melancholischen Zauber von Heines Lyrik, die in der Musik Schuberts aufzugehen und ihre Entsprechung gefunden zu haben scheint. Was er nicht als Talent mitbrachte, hat der Anfänger offenkundig so rasch wie gut gelernt. Konsonanten sind für ihm kein Problem, er kann sie singen wie Vokale, ist immer zu verstehen, weiß in jedem Moment, was er singt. Man spürt ganz deutlich, worauf es hinaus will. Schon im Anfang war der Weg dieser einzigartigen Karriere genau vorgebildet. Obwohl auf CD 52 etwas versteckt, wirken diese zwei Lieder gemeinsam mit den Vier ernsten Gesängen von Brahms – ebenfalls 1949 als erste Platte für die Deutsche Grammophon eingespielt – wie der Ursprung für den gesamten Bestandes der Edition.

Das Buch von Dietrich Fischer-Dieskau über die Lieder Schuberts wurde in mehreren Auflagen veröffentlicht.

Erst im Booklet-Text „Wie Melodien zieht es“ von Markus Kettner, der sich mit sechs bisher unveröffentlichten Aufnahmen beschäftigt, ist zu erfahren, dass beide Lieder in diese Kategorie gehören. Was noch? 1972 kam Janet Baker nach Berlin, um mit Fischer-Dieskau Duette von Schubert aufzunehmen. Das Punschlied – auf der Bandschachtel als „Rest-Original“ bezeichnet – „verblieb im Archiv und wird hier erstmals veröffentlicht“, so Kettner. Einen ähnlich gelagerten Fall gibt es mit der Nummer drei von Schumanns Tragödie op. 64 „Auf ihrem Grab, da steht eine Linde“. Sie fehlt auf dem originalen Plattenalbum mit Duetten dieses Komponisten für zwei Singstimmen, an dem auch Julia Varady und Peter Schreier mitwirkten. „Als Besonderheit mag freilich erschienen, dass dieses kurze Duett, das von Schumann für Sopran und Tenor vorgesehen war“, von Schreier und Fischer-Dieskau interpretiert werde, obwohl der Text vom „Müllersknecht mit seinem Schatz“ berichte. Eine verspätete Premiere erfahren schließlich die Sapphische Ode – ein originäres Frauenlied – und „Wie Melolien zieht es“. Obwohl mit Daniel Barenboim als Begleiter im Rahmen eines großen Brahms-Projekts Ende der 1970er Jahre aufgenommen, verblieben beide Titel aus ungeklärter Ursache für mehr als vierzig Jahre im Archiv.

Auf Schubert – um die lexikalische Ordnung der Edition wieder aufzugreifen – folgt Robert Schumann mit 11 CDs. Im Zentrum stehen gleich vier Aufnahmen der Dichterliebe mit Christoph Eschenbach (1976), zweimal mit Jörg Demus (1957 und 1965) sowie mit Alfred Brendel (1985). Der Zyklus hat im Wirken des Sängers einen ähnlichen Rang wie Schuberts Winterreise. Zwei CDs sind Dmitri Shostakovich gewidmet. Dessen 14. Sinfonie – eine Folge von Gesägen, die thematisch um den Tod kreisen, wurde für Bariton und Sopran komponiert. Sie entstammt der Decca-Gesamtaufnahme der Sinfonien mit wechselnden Orchestern unter Bernard Haitink, der hier 1980 das Concertgebouw-Orchester Amsterdam leitet. Mit dabei ist wieder die Ehefrau Julia Varady. Dass auch die Michelangelo-Suite berücksichtig ist, versteht sich bei dem Rang dieses Opus von selbst. Gewählt wurde die orchestrierte Fassung mit dem von Vladimir Ashkenazy geleiteten Radio-Symphonie-Orchester Berlin (1991).

Die berühmte Plattenproduzentin Elsa Schiller betreute viele Einspielungen bei Deutsche Grammophon. Foto/Sammlung Marta Dobay-Fricsay

Dem Alphabet nach ist nun Richard Strauss an der Reihe (4). In dessen Opern hat Fischer-Dieskau deutlichere Spuren hinterlassen als in seinem Liedern. Die Wahl fiel auf mehrere Werkgruppen mit Titeln wie Ruhe meine Seele, Morgen, Ich trage meine Minne, Heimliche Aufforderung oder Schlechtes Wetter. Begleitet wird er von Wolfgang Sawallisch, der als Dirigent bereits 1958 im EMI-Studio in London mit Fischer-Dieskau zusammentraf, als der den Olivier in der ersten Platteneinspielung des Capriccios von Strauss sang. Beim Krämerspiegel begleitet Demus. Das Melodram Enoch Arden, 1964 ebenfalls gemeinsam mit Demus produziert, ist gewissermaßen ein Vorgriff auf das Finale der Edition, die mit reinen Sprachaufnahmen ausklingt (106 und 107), in denen der Sänger Einblicke in seine Werkstatt gibt. Er hatte eine aristokratische Sprechstimme, die ihn dazu prädestinierte, auch rezitierend aufzutreten. Das ging so weit, dass er für die EMI die Schöne Müllerin um Prolog, Epilog und jenen Versen von Wilhelm Müller ergänzte, die Schubert nicht vertont hatte. Enoch Arden verlangt nach einem Schauspieler. Schließlich hatte Strauss das ausladende Melodram 1897 für Ernst von Possart geschaffen, der vor allem in den Dramen Shakespeares in Erscheinung trat. Es war in seiner Zeit sehr populär. Fischer-Dieskau schätze es. Von seinen mindesten drei Einspielungen nimmt die Edition gleich zwei auf. Neben der ersten, die damit endlich auf CD gelangt, die letzte von 2003 als er seine aktive Sängerlaufbahn längst beendet hatte. Nach einem mit Aribert Reimann am Klavier gestalteten Pyotr-Tchaikovsky-Programm von 1981 folgt der letzte große Block (12), der Hugo Wolf gewidmet ist. Wie Elisabeth Schwarzkopf hat auch Fischer-Dieskau bei der Beschäftigung mit diesem Komponisten, der vornehmlich Lieder hinterließ, das Ausdrucksspektrum deutlich erweitert. Die ersten Versuche auf Tonträger sind von 1951 belegt, als er mit der Pianistin Hertha Klust, die beim kulturellen Neubeginn im Nachkriegs-Berlin eine wichtige Rolle spielte, Teile des Italienischen Liederbuchs einspielte. Als Gesamtaufnahme ist der Zyklus in der Edition zweifach zu finden – mit Irmgard Seefried und Erik Werba (1958) sowie mit Christa Ludwig und Daniel Barenboim (1974/1975). Beim Spanischen Liederbuch sind die Schwarzkopf und Moore die Partner. Bleibt noch Alexander Zemlinsky für den letzten Buchstaben des Alphabets. Dessen Lyrische Symphonie mit sieben Gesängen für Sopran, Bariton und Orchester sprengt noch einmal den Rahmen. Mit Lorin Maazel am Pult der Berliner Philharmoniker bietet das 1981 eingespielte Werk abschließend noch eine Gelegenheit, das Ehepaar Fischer-Dieskau/Varady als künstlerisch erfolgreiches Team in Erinnerung zu rufen.

Die Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem wurde von zahlreichen Plattenfirmen, darunter die Deutsche Grammophon, wegen ihrer idealen Akustik als Aufnahestudio genutz. Foto/Wikipedia

Mal mehr, mal weniger bekannt sind die Titel. Sensationsfunde dürfen nicht erwartet werden. Editionen tragen in klarer Übersicht zusammen, was es schon immer gab. Die genau aufgeschlüsselten Aufnahmedaten und Aufnahmeorte – oft das Studio Lankwitz und die Jesus-Christus-Kirche in Berlin – lassen ein zusätzliches Ordnungsprinzip erkennen. Die Produzenten, deren Anteil am Zustandekommen von Tonaufnahmen nicht hoch genug zu würdigen ist, werden genannt. Zu des Sängers Zeiten hatten sie das Sagen in den Studios. Sie wachten über die musikalische Genauigkeit, standen mit ihren Namen wie ein Gütezeichen für Qualität. Immer wieder wird Cord Garben genannt, der sich auch als Dirigent und Liebegleiter hervorgetan und die erste Gesamteinspielung der Lieder und Balladen von Carl Loewe bei cpo zustande gebracht hat. Von 1984 an leitete er bei der Grammophon zudem sämtliche Opernproduktionen, für die er sieben Grammys erhielt. Hinter den Kulissen verantwortete auch Elsa Schiller (1897-1974) Plattenproduktionen mit Fischer-Dieskau und anderen legendären Sängern. Ihre Nachfolge war Otto Gerdes (1920-1989), der nebenbei dirigierte. Beim Grammophon-Tannhäuser mit Fischer-Dieskau als Wolfram, Wolfgang Windgassen in der Titelrolle und Birgit Nilsson als Venus und Elisabeth stand er am Pult Orchesters der Deutschen Oper Berlin.

Nicht immer bilden die CDs die ursprünglichen Platteninhalte ab. Die Edition konnte auch die Reihenfolge der Lieder nach Komponisten nicht durchgehend einhalten. Vor allem dann nicht, wenn Versen von Goethe von unterschiedlichen Komponisten vertont wurden. Es bedarf – um dieses Beispiel weiterzuverfolgen – eigener Recherche, um herauszufinden, dass es sich dabei um die komplette Übernahme einer 1972 erschienen Platte mit Demus am Hammerflügel handelt. Sie erschien ursprünglich als eine der erlesenen Grammophon-Archiv-Produktionen, wurde später bereits in eine Sammlung mit frühen Aufnahmen des Sängers für die Firma übernommen. Typisch für diese Archiv-Reihe und typisch für den Sänger ist das Programm mit seltenen Kompositionen von Zeitgenossen des Dichters, darunter Johann Friedrich Reichardt, Carl Friedrich Zelter, Conradin Kreutzer, Siegmund von Seckendorff, Christian Gottlieb Neefe und Anna Amalia von Preußen, jüngste Schwester Friedrich des Großen – und nicht zu verwechseln mit Herzogin Anna Amalia in Weimar. Wie so oft, begab sich Fischer-Dieskau auch hier auf Spurensuche durch die Musikgeschichte. Er hielt sich nämlich nicht nur bei den großen Namen auf, die für das Publikum und die Industrie bis heute Selbstläufer sind. Mit seiner ganzen Autorität setzte er sich mit schöner Regelmäßigkeit für jene ein, die aus dem Schatten der Giganten nie herauskamen, zumindest lokal aber einen durchaus bemerkenswerten eigenen musikalischen Beitrag leisteten, der mehr Aufmerksamkeit verdient. Rüdiger Winter

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Nahezu vollendet

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Auf zwei CDs veröffentlicht APARTE die Pastorale héroique Acis et Galatée von Jean-Baptiste Lully, die 1686 uraufgeführt wurde (AP269). Sie ist die letzte vollendete Oper des Komponisten und markiert seine Abkehr vom Genre der tragédie en musique, das ihn über eine Dekade beschäftigt hatte. Das Werk entstand als private Auftragsarbeit des Duc de Vendome, Louis-Joseph de Bourbon, und kam im Chateau d’Anet an der Loire zur Premiere. Einen Monat später wurde es auch an der Pariser Opéra gezeigt. Die Pastorale auf ein Libretto von Jean Galbert de Campistron umfasst einen Prologue und drei (anstatt der üblichen fünf) Akte. Der für Lully neue Librettist  (denn sein vertrauter Mitarbeiter Quinault hatte sich 1686 nach der Armide zurückgezogen) fügte in die bekannte Handlung von Ovid mit Scylla und Telème ein zweites Liebespaar ein. Beide Figuren finden sich zwar auch bei Ovid, doch nicht als Liebende.

Die Musik hat pastoralen Charme und lässt bei den Szenen der Hirten im 1. Akt an Bouchers Rokoko-Idylle denken. Galatées vermeintlich zugewandte Haltung gegenüber Polyphème erklärt sich aus der Absicht, den Geliebten vor dem Zorn des Zyklopen zu schützen. Ihre Vertraute Scylla weist dagegen Telèmes Gefühle zurück, so dass dieser schließlich von ihr ablässt. Im 2. Akt hält Polyphème um Galatées Hand an, doch sie bittet um Aufschub, um die Erlaubnis ihres Vaters Nérée einzuholen. Der 3. Akt kreist um den Tod von Acis, den der eifersüchtige Polyphème mit einem Felsbrocken erschlagen hat. Auf Galatées Bitten verwandelt Neptune Acis in einen Fluss, der ihm Unsterblichkeit verleiht und ihn auf immer mit der Seenymphe Galatée vereint.

Die Einspielung, die im Juli 2021 in Puteaux entstand, könnte keinen kompetenteren Anwalt haben als Christophe Rousset am Pult des Ensembles Les Talens Lyriques. Das farbenreiche, delikate Musizieren des Orachesters und die gezielt gesetzten Affekte durch den Dirigenten ergeben eine gediegene und dennoch kontrastreiche Interpretation. Der Choeurde chambre de Namur (Leitung: Thibaut Lenaerts) trägt mit munterem, swingendem Gesang zur Wirkung bei. Vor allem die Passacaille am Schluss, „Sous ses lois l’Amour veut qu’on jouisse“, führt er gemeinsam mit Deux Najades (Bénédicte Tauran/Deborah Cachet) zum feierlichen Ausklang.

Der im französischen Barockfach renommierte Tenor Cyril Auvity lässt als Acis ein weiches, schmeichelndes Timbre in der mittleren, nur gelegentlich gestresste Töne in der oberen Lage hören, doch ist seine Interpretation stilistisch als makellos zu werten. Die aufstrebende französische Sopranistin Ambroisine Bré schenkt der Galatée ein reiches Gefühlsspektrum und besticht mit makellosem Gesang. Berührend gestaltet sie die große Szene im letzten Akt, „Enfin j’ai dissipé la crainte“. Beide Stimmen verblenden sich perfekt, wie in „Quelle erreur loin de nous“ im 2. Akt zu hören ist. Edwin Crossley-Mercer als Polyphème singt mit Bass-Wohllaut und gestalterischer Reife.

Auch die Nebenrollen, darunter Bénédicte Tauran als Scylla, Robert Gretchell als Téléme, Philippe Estèphe als Neptune und Enguerrand  de Hys als Pretre de Junon, sind ohne Tadel besetzt. Die Aufnahme reiht sich würdig ein in Roussets reichen Katalog von Werken des französischern Barock. Bernd Hoppe

John Aler

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Der amerikanische Tenor John Aler (* 4. Oktober 1949 in Baltimore, Maryland) starb am 10. Dezember 2022. Er sang Rollen im Belcanto-Fach eines tenore di grazia, in Werken von Mozart, Rossini, Donizetti, Bellini, und Händel. Mindestens ebenso bekannt sind seine Interpretationen französischer Werke von Rameau, Gluck, Adam, Auber, Bizet und Berlioz.

John Aler wuchs in Baltimore auf und besuchte römisch-katholische Schulen, wo er Knabensopran im Chor sang. Seine Mutter war von italienischer Abstammung, hatte Gesang studiert, und brachte ihn früh in Kontakt mit Sendungen aus der Metropolitan Opera und Aufnahmen von Jussi Björling und Richard Tucker.

Aler studierte mit Rilla Mervine und Raymond McGuire an der Catholic University of America in Washington D.C., wo er 1982 seinen Master-Abschluss machte. Nach einem Wettbewerb der Baltimore Opera hatte er auch sieben oder acht Unterrichtsstunden mit der legendären Rosa Ponselle, die er „inspirierend“ fand.[1] Er studierte außerdem von 1972 bis 1976 mit Oren Brown am American Opera Center der Juilliard School in New York, mit Marlene Malas, und am Berkshire Music Center in Tanglewood.

1977 machte er sein Opern-Debüt als Ernesto in Donizettis Don Pasquale am American Opera Center, und gewann im selben Jahr zwei erste Preise beim Concours International de Chant in Paris. An der New York City Opera debütierte er 1981 als Don Ottavio in Mozarts Don Giovanni; und sang dort in der gleichen Spielzeit auch den Arturo in Bellinis I puritani.

In der Oper hatte er Auftritte an den meisten europäischen Opernhäusern, wie dem Royal Opera House Covent Garden, der Deutschen Oper Berlin, der Wiener Staatsoper, der Bayerischen Staatsoper, den Salzburger Festspielen, dem Glyndebourne Festival, in Hamburg, Genf, Madrid, Lyon und Brüssel; und in Amerika an den Opernhäusern von St. Louis, Santa Fe, Washington D.C. und Baltimore. Darüber hinaus hat er auch in Städten wie Santiago de Chile, Tokio und Sydney gesungen. Das Foto oben zeigt ihn als Ferrando in Mozarts Cosi fan tutte/ Platea Magazine

Als Solist ist er mit diversen Orchestern aufgetreten: In Amerika mit dem New York Philharmonic Orchestra, dem Cleveland Orchestra, dem Philadelphia Orchestra, dem Boston Symphony Orchestra, dem Chicago Symphony Orchestra und dem Los Angeles Philharmonic Orchestra; und in Europa u. a. mit den Berliner Philharmonikern, dem Gewandhausorchester Leipzig, dem Orchestre National de France, dem BBC Symphony Orchestra und der London Sinfonietta, mit Dirigenten wie Daniel Barenboim, Dutoit, John Eliot Gardiner, Erich Leinsdorf, Kurt Masur, Zubin Mehta, Roger Norrington, Seiji Ozawa, Simon Rattle, Esa-Pekka Salonen, Leonard Slatkin und David Zinman u. v. a.[2] John Aler sang 1998 zusammen mit Kurt Masur und dem Israel Philharmonic Orchestra bei den Feierlichkeiten zum 50sten Jahrestag der Gründung des Staates Israel in der Avery Fisher Hall.[2]

Er hat zahlreiche Aufnahmen gemacht, mit Werken aus dem Bereich Oper, Oratorium und Lied, von Händel bis Strawinsky; ein Schwerpunkt liegt dabei auf selten gespielten französischen Werken.

Seit Herbst 2010 unterrichtete John Aler Gesang an der School of Music der George Mason University (GMU) in Fairfax (Virginia).  Seine beachtliche Liste an Aufnahmen findet sich bei Wikipedia (Quelle Wikipedia)