Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Aus den Melodiya-Kellern

 

 

In den Kellern der staatlichen Melodija lagern vermutlich noch Kisten voller Aufnahmen mit Mark Ermler, die das Ende der Sowjetzeit ebenso gut überstanden haben wie die Firma. Ermler gehörte zu den prägenden Figuren des russischen Musiklebens; nach den kürzlich veröffentlichten  Puccini- und Prokofieff-Überraschungen (siehe nachstehend) darf man nun gespannt auf zwei Einakter Rimski-Korsakows sein (Mel CD 10 02344). Eine Zwei-CD-Ausgabe Orchestral and choral works by Sergej Taneyev (Mel CD 10.02374) dirigiert sein international noch höher geschätzter, vier Jahre älterer Kollege Jewgeni Swetlanow (1928-2002), der zeitweise Chef- und Ehrendirigent des Bolshoi Theaters war  und ab 1965 über Jahrzehnte das Staatliche Sinfonieorchester der UDSSR prägte.

rimsky mozart und salieri melodiyaDie beiden Einakter Rimski-Korsakows wurden im Dezember 1898 in Moskau durch das private Opernunternehmen des reichen Industriellen und Kunstliebhaber Sawwa Mamontow uraufgeführt: die beiden Szenen von Mozart und Salieri nach dem gleichnamigen Drama von Puschkin sowie der Einakter Die Bojarin Vera Scheloga, welcher eine Umarbeitung des Prologs von Rimski-Korsakows mehr als 25 Jahre zuvor uraufgeführtem Opernerstling Das Mädchen von Pskow darstellt.
In der 1986 entstandenen Aufnahme von Mozart und Salieri  schlüpft Jewgeni Nestorenko in die von Schaljapin kreierte Partie des Salieri, der seinen Konkurrenten Mozart vergiftet, mit suggestiver und höchst wandlungsfähiger Wort- und Tonbehandlung, in der Rimski-Korsakow dem von Dargomyschski eingeschlagenen Weg folgt. Wie bereits die anderen Aufnahmen wirkt die Einspielung sehr dicht, ist der Klang  direkt und nah. Die nicht sehr hoch liegende Partie des Mozart – Schaljapin behauptete, gelegentlich beide Partien gesungen zu haben – wird mit hellem, leuchtendem Tenor von Alexander Fedin gesungen, der kurz zuvor am Bolshoi debütiert hatte und seit den 1990er Jahren in Westen singt und in Köln in kleineren Partien (kürzlich als Welko in der Arabella) noch in Erscheinung tritt. Auf die umfangreiche Ouvertüre, viel zu mächtig und dramatisch aufgeladen, um die gut halbstündige Die Bojarin Vera Scheloga als eigenständiges Werk zu spielen, folgt eine wie von Tschaikowsky entworfene Frauenszene zwischen Amme und Veras Schwester Nadeja. Ihr gesteht Vera in einer ausgedehnten Erzählung, die im Mittelpunkt des Einakters steht, dass der Vater ihrer neugeborenen Tochter ein Fremder sei, in den sie sich im Wald auf Anhieb  verliebt habe. Als Veras Mann nach einjähriger Reise heimkehrt, behauptet Nadeja die Mutter des Neugeborenen zu sein. Wie im anderen Einakter erreicht Ermler in der ein Jahr zuvor aufgenommenen Einakter den Eindruck von Intimität und Nähe, musiziert subtil und spannungsgeladen, ist mit dieser Musik aufs innigste vertraut. Tamara Milashkina wirkt als Bojarin Vera liebevoll im Schlaflied, aber doch vor allem sehr resolut und etwas scharfkantig. Nina Grigorieva als Amme und Olga Teryushnova vervollständigen das Damen-Trio sehr vorteilhaft, die beiden Bässe spielen nur eine untergeordnete Rolle.


Von Swetlanow muss noch mehr in den Archiven lagern. 2000 Aufnahmen soll er allein mit dem Staatlichen Sinfonieorchester der UDSSR gemacht haben. Von 1988 stammt die Aufnahme der vierten Sinfonie des vor hundert Jahren verstorbenen Sergej Tanejew (geboren 1856), von 1990/91 die Konzertsuite für Geige und Orchester op. 29 sowie die Kantate Johannes von Damaskus für Chor und Orchester op. 1; das bekannteste Stück aus seiner einzigen Oper Oresteia ist die als Der Tempel des Apoll in Delphi überschriebene Zwischenaktmusik aus dem dritten Akt, deren Einspielung aus dem Jahr 1984 stammt. Tanejew studierte u. a. bei Tschaikowsky und Rubinstein und lehrte ab 1878 am Moskauer Konservatorium, dessen Direktor er zeitweise war und wo er 1883 die Kompositionsklasse übernahm. Auf der Basis eines Gedichts von Alexej Tolstois entstand 1884 die Kantate über den im 7. und 8. Jahrhundert wirkenden Kirchenvater und Theologen, in der sich Tanejews kontrapunktische Meisterschaft und seine Beschäftigung mit der mehrstimmigen Musik der Renaissance und des Barock zeigt. Die dreiteilige, etwa 25minütige Kantate ist ein grandios durchorganisiertes, hochromantisches Werk, deren Bläser und Streichersätze Swetlanow präzise herausmeißelt und deren Gesangspart der Große Chor des USSR All-Union Radio mit der Inbrunst formuliert, die diesem russischen Requiem zukommt. Die vierte Sinfonie aus dem Jahr 1898 gilt als beste von Tanejews vier Sinfonien, die zehn Jahre später entstandene Suite ist sein einziges Beispiel eines virtuosen Solokonzerts. Swetlanow, der nahezu alle russischen Orchesterwerke des 19. und 20. Jahrhunderts aufgenommen haben dürfte, ist ein fesselnder Interpret dieser Werke, die er mit kompaktem Klangbild und überbordendem Reichtum an Gefühlen dirigiert. In der fünfteiligen, nach barockem Muster entworfenen Suite op. 28, für die sich später auch gerne David Oistrach einsetzte, besticht der wenig bekannte Andrej Korsakov (1946-91) durch seinen stilgewandt schönen Ton sowie im umfangreichen 4. Satz – Thema und Variationen – durch eine Brillanz und Virtuosität wie aus dem 19. Jahrhundert . Viel bewundert, doch kaum aufgeführt mit Ausnahme der Ouvertüre oder der Zwischenaktmusik, ist Tanejews 1895 uraufgeführte Oresteia nach Aischylos eine hochromantische Antikenvergegenwärtigung, die in Swetlanow ihren kongruenten Interpreten findet.  Rolf Fath

 

Es war das teuerste Paket, das aus der Sowjetunion in den Westen geschickt wurde: Gleich im Dreier-Pack wurden der Tenor Vladimir Atlantov und seine Frau, die Sopranistin Tamara Milashkina, sowie der Bariton Yuri Mazurok in den 70er Jahre häufig an westliche Bühnen ausgeliehen, wo vor allem die beiden Männer geschätzt wurden; Atlantow vornehmlich an der Wiener Staatsoper, an der bis Anfang der 90er Jahre auftrat. Doch auch die Milashkina ist nicht zu unterschätzen, wie die die Moskauer Studio-Aufnahme der Tosca von 1974 mit dem Ensemble des Bolshoi-Theaters beweist, die zusammen mit Krieg und Frieden und der Geschichte eines wahren Menschen zu den jüngsten, sorgfältig restaurierten und in nette Klapp-Pappalben verpackten Schätzen aus den Archiven der Melodiya gehören, die den Zusammenbruch der Sowjetunion überlebte und im Vorjahr ihr 50jähriges Bestehen feierte. Alle drei werden von Mark Ermler (1932-2002) dirigiert, der 1957 am Bolshoi debütiert hatte und als einer der letzten Repräsentanten der alten russischen Schule galt. Es musizieren Chor, Orchester und Solisten des Bolshoi-Theaters.

Wir erleben bei Tosca ein glutvolles, leidenschaftliches Musizieren wie unter Live-Bedingungen, spüren eine Spannung, mit der uns diese technisch bestens aufbereiteten Aufnahme mitten in das Geschehen zwingt. Großartiges, raumgreifendes, hochdramatisch aufwühlendes Musiktheater, wie es in solch entfesselter Direktheit sicherlich noch die Zuhörer auf den obersten Rängen des Bolshoi-Theaters oder in den letzten Reihen des ungnädig großen Kreml-Palastes in seinen Bann gezogen hat (Mel CD 10 02359). Es ist unmöglich, von dieser Aufnahme nicht fasziniert zu sein. Alle drei Protagonisten befanden sich zum Zeitpunkt der Aufnahme auf dem Höhepunkt ihres Singschaffens. Wir haben uns angewöhnt, neben Vishnevskaja, die in ihrem Buch Unrühmliches über die drei („typische Produkte des Sowjetregimes“) wie zu den Begleitumständen dieser Aufnahme erzählt, andere Sowjetsängerinnen der Ära zu übersehen. Vishnevskaja, die ich in London in der Partie erlebte, war zweifellos eine atemberaubende, furiose und leidenschaftliche Tosca, Milashkina besitzt sicherlich nicht die Nuancen und die nervige Gespanntheit, und ihr Italienisch ist nicht sehr geschliffen, dafür einen in allen Lagen satten, dunklen Sopran und eine bombensichere Höhe. Hier singt eine russische Primadonna, die keinen Zoll weicht. Mit seinem expansiv höhenstarken Bariton gibt Mazurok einen zynischen Polizeichef, vielleicht mit nicht mit der Brutalität und der charakterbaritonalen Fiesheit, die man oft erlebt, denn Mazurok trumpfte auf der Bühne nicht mit dramatischer Kraft auf, sondern der noblen Linienführung seines bestes geschulten Kavaliersbaritons. Eine schiere Wucht sind die „Vittoria“-Rufe Atlantows, der als Cavaradossi jugendliches Feuer mit männlichem Draufgängertum und unbändiger Kraft verbindet und eine greifbare szenische Präsenz ausstrahlt. Atemberaubend. Wer hätte das gedacht. Die weitere Besetzung hat – bis hin zum Altisten Alexander Pavlov als Hirt – ein Gesicht. Die Aufnahme stelle ich doch gerne neben die anderen fünf Dutzend Toscas.

 

krieg und frieden ermler melodya1961 entstand unter Ermler, der bereits im Jahr zuvor (nach einer von den sowjetischen Offiziellen schlecht aufgenommenen konzertanten Uraufführung 1948 in St. Petersburg) im Bolshoi die szenische Uraufführung von Sergej  Prokofjews letzter Oper dirigiert hatte, die Studioaufnahme von Die Geschichte eines wahren Menschen. Ein Dokument aus erster Hand (Mel CD 10 02353, Booklet in engl., russ., frz.), zudem die einzige Aufnahme von Prokofjews op. 117, da offensichtlich nicht einmal Valery Gergiev, der immerhin den ebenfalls sehr raren Semyon Kotko einspielte, Prokofjews unbekannteste Oper in sein Prokofjew-Projekt integrierte. Der wahre Mensch in Prokofjews und Mira Mendelsohns Libretto nach dem gleichnamigem Roman, mit dem Boris Polewoi 1947 einem russischen Kampfflieger ein heroisches Denkmal setzte, ist der Pilot Alexej Maresjew, der 1942 hinter der Frontlinie abgeschossen wird und trotz seiner zwei schwer verletzten Beinen, trotz Hunger und Durst, zwei Wochen lang durch die Wälder bis zu seinen Leuten kriecht, wo ihm im Fronthospital beide Beine abgenommen werden müssen. Maresjew überlebte; er starb 2001. Er wurde zum Propagandainstrument und Vorzeigehelden. Stalin selbst soll den Prawda-Journalisten Polewoi auf das Thema aufmerksam gemacht haben. Immerhin war dem Roman ein längeres Leben beschieden als Prokofjews Oper, die – anders als man von solch einen Schulbuchstoff erwarten würde – überraschend originell ausgefallen ist. Prokofjew entledigte sich ganz offenbar nicht einfach einer Pflichtaufgabe, sondern schuf in Fortsetzung der Musiken zu Alexander Newski und Iwan der Schrecklich eine über weiteste Strecken sehr inspirierte Musik, die mit dem Volkstanz am Ende des ersten Aktes, dem Walzer und der Rumba im dritten Akt gewitzt mit Formen umgeht und in den orchestralen Zwischenspielen Virtuosität entfaltet; ähnliches gilt für die feingliedrigen Gesangsmuster, darunter ein Terzett im 4. Bild. Im Grunde ist der Dreiakter der umfangreiche Monolog des abgestürzten Alexej, in den Ängste, Gewissensqualen, Träume, Erinnerungen und Hoffnungen in Form vielfacher Begegnungen mit Freunden und Familie hereinwehen. Evgeny Kibkalo, der die Partie in Uraufführung gesungen hatte, gewinnt dem rezitativischen, sich manchmal arios aufraffenden Gesang des Alexej mit einem festen, dunkel männlichen Bariton viele Nuancen ab. Obwohl die weiteren Figuren nicht wirklich zum Leben erwachen liefern Kira Leonova als Krankenschwester Klavdiya, der überragende Artur Reisen als Kommissar, Georgy Pankov als Alexejs Freund Andrei und Alexei Maslennikov als Pilot Kukushkin gute Rollengestaltungen. Und Ermler merkt man an, dass er stolz darauf ist, die Oper im Studio einspielen zu dürfen.

 

Die Geschichte eines wahren Menschen beginnt mit einem Chorsatz, der in der Bolshoi-Produktion auch am Ende wiederkehrt, ähnlich dem Chor-Epigraph in Krieg und Frieden. Ermlers Aufnahme von Prokofjews Tolstoi-Oper, zu der dieser gemeinsam mit seiner Frau das Libretto geschrieben hatte, stammt aus dem Jahr 1982 (Mel CD 10 01444; Booklet in engl. und russ.). Wir befinden uns in einer anderen Ära. Gegenüber den beiden anderen Aufnahmen war ich ein wenig enttäuscht. Man spürt Ermlers Theatererfahrung, denn die Szenen besitzen einen Bogen, auch Timing und Spannung stimmen, doch irgendwie erwachen sie nicht richtig zum Leben, es fehlt diese besondere Unmittelbarkeit, welche die beiden anderen Aufnahmen ausstrahlten. Zuerst wirkt Yury Mazurok etwas zu hölzern, zu steif für den Fürsten Andrej Bolkonski, doch mit jedem Auftritt rückt er stärker ins Zentrum, erweist sich mit seiner tenoralen Höhe und den elegischen Linien als fabelhafter Sänger und Gestalter. Neben ihm wirkt Galina Kalinina als Natascha Rostowa scharf und streng und ältlich, während Nina Terentieva als Cousine Sonja für jugendliche Heiterkeit zuständig ist. Wenig Eindruck machen auf mich die beiden Tenöre, der heldischere Evgeni Raikov als Graf Pierre Besuchow und der scheue Evgeni Shapin als Anatol Kuragin, die bedeutende Tamara Siniavskaya ist Pierres Frau Gräfin Hélène. Larisa Avdeyeva ist eine eindringliche Marja Achrossimowa und Alexander Vedernikov, der Vater des gleichnamigen Dirigenten, geradezu erschütternd als Feldmarschall Kutusow.  Rolf Fath

Dan Jordachesku

 

„Wer war doch noch …?“:   In unserer Serie über weitgehend vergessene Sänger erinnern wir an uns wichtige Personen, die oft nur wenige oder keine Spuren hinterlassen haben, die aber für ihre Zeit und für den Fortbestand von Oper und Konzert so immens wichtig gewesen sind. Es waren und sind ja nicht allein die Stars, die die Oper am Laufen halten, sondern die Sänger der Nebenrollen und Komparsen, auch die Provinzsänger, die Diven und Heroen aus den kleineren Orten, wo Musik eine ganz andere Rolle spielte als hochgehypt in den großen Städten. Vor allem vor dem Krieg, aber auch in den Fünfzigern und Sechzigern hatte allein in Deutschland jedes der 36 und mehr Theater seine eigene Primadonna, seinen Haustenor und  langlebigen Bariton, die von der Operette bis zu Mozart und Wagner alles sangen. Das macht Oper aus. Nicht (oder nicht nur) die Auftritte der umjubelten Stars.

Mit Nicolae Herlea und David Ohanesian bildete Dan Iordăchescu das Triumvirat großer rumänischer Baritone der Nachkriegszeit. Obwohl ihm eine beachtliche internationale Karriere vergönnt war, die ihn auch an einige große deutsche Bühnen führte, ist er hierzulande kaum wirklich bekannt geworden. Am 30. August ist er im Alter von 85 Jahren gestorben, was in der deutschen Presse knapp und lakonisch vermeldet wurde. Ich erinnerte mich an ihn als Tomsky in der Pique Dame-Gesamtaufnahme unter Rostropovitch und als Posa in einem deutsch gesungenen Don Carlos-Querschnitt aus DDR-Zeiten, und wollte mehr von ihm wissen. Bei youtube bin ich fündig geworden und habe dabei einen Sänger entdeckt, der nicht nur ein hervorragender Stimmbesitzer war, sondern zugleich ein großer Musiker und Künstler.

Dan Iordăchescu als Posa/youtube

Dan Iordăchescu als Posa/youtube

Am 2. Juni 1930 wurde er in Vanja Mare geboren, einer rumänischen Stadt nahe der Grenze zu Moldawien; der Vater war Physiklehrer, die Mutter Volksmusiksängerin. Mit 18 Jahren begann er eine Ausbildung als Schauspieler und hatte sein Bühnendebut 1949 in einer rumänischen Operette. Der Erfolg ermutigte ihn, den Beruf des Sängers zu ergreifen. 1952 begann er sein Studium am Konservatorium im Bukarest, das er später am Mozarteum in Salzburg, in Paris und Rom fortsetzte. Im Dezember 1956 debutierte er als Opernsänger an der Bukarester Oper als Mozarts Figaro, noch in derselben Spielzeit sang er dort auch Vater Germont.

Schon vorher war er im Konzertsaal mit rumänischen, deutschen, französischen und russischen Liedern aufgetreten. In den 60er und 70er Jahren hatte er eine große internationale Karriere, die ihn an die Mailänder Scala, die Wiener Staatsoper, ans Bolschoj-Theater, an die Pariser Opéra und an einige der großen deutschen und amerikanischen Bühnen führte. Folgt man seiner Homepage, so hat er während seiner Laufbahn, die über ein halbes Jahrhundert währte, 45 Hauptrollen in 1080 Vorstellungen gesungen und in 1600 Konzerten mitgewirkt. Sein Repertoire reichte von Monteverdi bis in die Moderne. So sang er bei der RAI die Titelrolle in Vito Frazzis hierzulande unbekannter Oper Don Chisciotte (1950). Seit 1979 war er als Professor an der Bukarester Musikhochschule tätig und leitete zahlreiche internationale Meisterklassen.

Von den großen Plattenfirmen vernachlässigt, hat Iordăchescu in seiner Heimat zahlreiche Aufnahmen gemacht – im Studio, im Rundfunk, aber auch im Fernsehen. Eine ganze Menge davon ist heute auf youtube zu hören und teilweise auch zu sehen. Anders als sein Kollege Herlea war er kein dramatischer italienischer Bariton, sondern ein lyrischer Sänger mit großen dramatischen Möglichkeiten. Entsprechend wurde er international vor allem in Partien des Belcanto-Fachs und des lyrisch-dramatischen Zwischenfachs eingesetzt. An der Mailänder Scala sang er Riccardo in den Puritani unter Riccardo Muti, in Dallas Alfonso in La favorita neben Shirley Verrett und an der Wiener Staatsoper Enrico in Lucia di Lammermoor neben Renata Scotto. Ausschnitte aus diesen Aufführungen sind akustisch dokumentiert.

Dan Iordăchescu als Pêre Germont/ youtube

Dan Iordăchescu als Pêre Germont/ youtube

Unter seinen Verdi-Rollen verdienen vor allem Vater Germont, Marquis Posa und Renato Beachtung. Seine Interpretation von „Eri tu“ ist in jeder Hinsicht vorbildlich geraten – im Wechsel der Stimmungen, in der Farbgebung, aber auch im weich strömenden Legato, das bei mühelosem Registerwechsel eine glänzende Höhe aufweist. In Escamillos Torerolied kommt er ohne Brüllerei aus und auch in anderen Paradestücken wie der Figaro-Cavatine und „Nemico della patria“ verzichtet er auf vokale Kraftmeierei. Auf einem wahrscheinlich in den 60er Jahren entstandenen Recital bei Electrecord verbindet er Verdi-Arien mit solchen Mozarts, wobei hier auffällt, dass er nicht etwa Almaviva und Don Giovanni singt, sondern Figaro und Leporello – Rollen, deren Tessitura ihm zwar zugänglich ist, in denen er aber mehr komödiantisch als vokal brillieren kann.

Dan Iordăchescu im rumänischen Tv/ youtube

Dan Iordăchescu im rumänischen TV/ youtube

Wie schon erwähnt, hat das Lied in seiner Karriere eine bedeutende Rolle gespielt, und hört man seine entsprechenden Aufnahmen, so darf man feststellen, dass der Liedgesang seinen Opernrollen ausgesprochen gut bekommen ist, während andererseits die Bühnenerfahrungen seine Liedgestaltung beeinflussen. Das hört man in seiner packenden, differenzierten Interpretation des „Erlkönig“ wie in dem kultivierten Lied an den Abendstern. Iordăchescu war der deutschen Sprache nicht nur mächtig, er wusste sich in ihr auch auszudrücken. Und der leichte Akzent ist geringfügig angesichts einer ungemein plastischen Diktion. Die kommt auch Liedern von Schumann und Brahms und den Gesängen Gustav Mahlers zugute. Bei den Franzosen ist er aber ebenso zuhause, wie die Aufnahmen von Liedern Ravels, Duparcs und Reynaldo Hahns beweisen.

Dan Iordăchescu als Wolfram/ youtube

Dan Iordăchescu als Wolfram/ youtube

Zwei seiner Töchter sind in seine Fußstapfen getreten und Sängerinnen geworden, die dritte ist als Schauspielerin zum Film gegangen. Die Mezzosopranistin Cristina (*1966) und die Sopranistin Irina (*1977) haben sich und ihren berühmten Vater auf ihren Homepages verewigt. Da sieht man den weißhaarigen Patriarchen mit der älteren „La ci darem la mano“ anstimmen, mit der jüngeren „Bei Männern, welche Liebe fühlen“. Die Stimme ist rauer und körniger geworden, aber immer noch intakt. Diese Aufnahmen von einem öffentlichen Konzert sind zugleich ein anrührendes Dokument von Vaterliebe und Vaterstolz.

Nach eigener Aussage ist Iordăchescu bis 2005 noch häufig auf der Bühne und im Konzertsaal zu erleben gewesen. Im Netz habe ich ein noch späteres Dokument gefunden. Es entstand 2009 bei einem Gesprächskonzert in Bukarest, der Bariton ist hier auch mit einigen rumänischen Liedern zu hören, die er mit den noch ansehnlichen Resten seiner Stimme und ungebrochener Gestaltungskraft meistert. Ekkehard Pluta

 

Foto oben: Dan Iordăchescu/ youtube

Verdi und Manet

 

Der Stückvorhang zu Benoît Jacquots Neuinszenierung von Verdis La traviata an der Pariser Opéra Bastille zeigt Manets bekanntes Gemälde Olympia von 1865, welches auch Violettas Bett ziert – neben dem Sofa und einer kleinen Frisiertoilette das einzige Möbelstück des ersten Bildes (Bühne: Sylvain Chauvelot). Zum Vorspiel sieht man Violetta mit Dottor Grenvil und Annina, die wie auf dem Bild eine Farbige und wie diese gekleidet ist (Kostüme: Christian Gasc). Beide Figuren begleiten die Titelheldin bis zu ihrem tragischen Ende.

Erato hat eine Aufführungsserie von Verdis Oper im Juni 2014 aufgezeichnet und als DVD herausgebracht (0825646 166503), was der deutschen Sopranistin Diana Damrau Gelegenheit gibt, sich nach ihrer Mitwirkung in der kontroversen Inszenierung von Dmitri Tcherniakov zur Saisoneröffnung an der Mailänder Scala im Dezember 2013 nun in einer konventionellen szenischen Lesart und in opulenten Kostümen zu präsentieren. Sie hat die Partie vor dem Auftritt in Paris an der New Yorker Met, am Opernhaus Zürich, an der Bayerischen Staatsoper sowie an Covent Garden London gesungen und bietet nun ein gereiftes Porträt der Kurtisane mit vielen neuen Zwischentönen und überraschenden Details. So formt sie das Rezitativ vor der großen Arie sehr nachdenklich, beinahe zögernd. Die Arie selbst wird ungemein differenziert und mit starker innerer Erregung vorgetragen. Exquisit ist die Gesangslinie, bis das „Follie“ und „Sola, abbondonata“ einen jähen Stimmungswechsel bringen. Ungestüm und in atemlosem Taumel stürzt sie sich in das „Sempre libera“, das im Da capo einen trotzigen Unterton annimmt. Im 2. Akt, den optisch ein riesiger Baum dominiert und wo Violetta seltsamerweise im identischen Ballkleid auftritt wie zuvor bei ihrem Fest, zeigt sie eine spontane Freude beim Erscheinen Germonts, was sich freilich schnell in Irritation wandelt. In geradezu wilder Erregung reagiert sie auf seine Forderung, sich von Alfredo zu trennen, und lehnt diese zunächst vehement ab. „Dite alla giovine“ ist dann schon von visionärer Entrücktheit, das „Morrò!“ aufbegehrend und von tiefster Verzweiflung. Ergreifend dargestellt sind die Briefszene und der Abschied von Alfredo in höchster emotionaler Not.

Eine riesige Treppe illustriert den Ballsaal bei Flora, auf welcher der Chor als statuarische Masse postiert ist. Eine schwarze Robe gibt Violetta hier einen tragischen Umriss. In der Darstellung ihres Konfliktes zwischen Liebe und Pflicht überzeugt sie in diesem Bild besonders. Die Auseinandersetzung mit Alfredo ist gezeichnet von fiebriger Erregung, der Zusammenbruch nach seiner unfassbaren Beleidigung von schmerzlicher Wehmut.

Im letzten Akt ist das Bild abgehängt, das Bett wie für einen Umzug gerüstet und Violetta in einem ärmlichen Krankenhausbett gelagert. Das Rezitativ vor „Addio del passato“ gestaltet Damrau aufbegehrend gegen das Schicksal, die Arie zunächst verhalten und stockend, erst später mit ausbrechenden Tönen der Verzweiflung. Auf die Rückkehr von Alfredo reagiert sie mit geradezu ekstatischer Vehemenz. Hatte sie sich an der Scala  gegenüber den szenischen Kapriolen des russischen Regisseurs behauptet und vor allem im letzten Akt eine überwältigende Darstellung der liebenden und sterbenden Titelheldin geboten, so erreicht sie diese Wirkung in Paris nicht ganz, weil der Regisseur sie zu oft im Bett agieren lässt – liegend oder sitzend, was ihren Bewegungsradius einschränkt. Aber dennoch findet sie zu packender Wirkung in ihrem trotzigen Willen auszugehen und der grausamen Erkenntnis, dass ihr dafür die Kraft fehlt. In „Gran Dio“ erreicht sie gesanglich eine von ihr bisher nicht gehörte dramatische Dimension. Berührend ist ihr Abschied von Alfredo mit dem „Prendi, quest’ é l’immagine“, packend die Todesszene zwischen Ungläubigkeit und Trance.

Von ihren Partnern ist vor allem Ludovic Tézier als Germont père zu nennen, der mit seinem sonoren, ausdrucksstarken Bariton und der noblen Erscheinung der derzeit beste Vertreter dieser Partie sein dürfte. Seinen Schlager „Di Provenza“ singt er gänzlich  unsentimental, sondern mit energischem Nachdruck. Die Stimme strömt in wunderbarer Fülle, was vor allem in der Szene mit Violetta im 2. Akt große Wirkung macht.

Ein jugendlich attraktiver Alfredo ist Francesco Demuro, der das Brindisi mit Emphase anstimmt und auch das Liebesgeständnis gegenüber Violetta gleichermaßen sensibel wie leidenschaftlich formuliert. Die Arie zu Beginn des 2. Aktes singt er mit schöner lyrischer Substanz und schwärmerischem Ausdruck. Mit Verve geht er die Cabaletta an, wirkt nur an deren Ende etwas ermüdet, so dass der exponierte Ton am Schluss matt klingt. In den Nebenrollen überzeugen Anna Pennisi als Flora, Cornelia Oncioiu als Annina und Nicolas Testé als fürsorglicher Grenvil. Francesco Ivan Ciampa leitet Choeur und Orchestre de l’Opéra national de Paris mit sensiblem Gespür für die Facetten der Musik – die schmerzliche Lyrik, die rhythmischen Finessen, die temperamentvoll-hitzigen Festbilder und die Morbidität des Finales. Bernd Hoppe

 

 

Antonín Dvoráks „Alfred“

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Genau vor einem Jahr war in Prag ein wichtiger Beitrag des deutsch-tschechischen Kulturaustauschs zu erleben. Gefördert vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds erklang im September 2014 Antonin Dvořáks einzige original deutsche Oper Alfred – aufgeführt von deutschen und tschechischen Musikern. Ein Erstlingswerk. Aber nicht immer gelingt es, eine Wiederentdeckung auch adäquat umzusetzen.

Zum ersten Mal zu hören: Der junge Dvořák war ein flammender Wagnerianer. Als Wagner 1863 in Prag Konzerte gab, hat Dvořák sogar unter seiner Leitung im Orchester gespielt, er war begeistert von dessen Ideen, und so vertonte er 1870 als 29jähriger ein altes Heldendrama von Theodor Körner. Das gilt bis heute als absolute Schreibtischtat. Kurt Honolka, der Dvořák-Biograph, spricht es offen aus: „Alfred ist ein Beispiel perfekter Naivität, ohne jede Chance, je aufgeführt zu werden.“
Dennoch gab es einen Versuch, Dvořáks erste Oper zu reanimieren. Die Aufführungsserie Ende 1938 in Prag (auf Tschechisch) fand durch den Einmarsch der Nazis ein schnelles Ende, es kam nur zu 6 Vorstellungen. Und so ist der originale Alfred in Deutsch hier nun wirklich zum ersten Mal zu hören, denn bei der konzertanten Aufführung im Prager Rudolfinum 2014 handelte es sich um die Uraufführung der Originalfassung.

Ein sozialistisch angehauchter König: Es ist die etwas „tastende“ Musik eines aufsteigenden Genies. Alfred hat die typischen Kinderkrankheiten der meisten Erstlingsopern. Ähnlich wie bei Verdis Oberto oder Straussens Guntram hat man das Gefühl: da hat sich jahrelang Schaffensdruck aufgebaut, und nun entlädt er sich in einem wüsten Gewitter. Um das genießen zu können, braucht es eine Prise Humor. Ein Kuriosum, das der Oper  unfreiwillig einen komischen Anstrich verleiht, ist die Tatsache, dass  Alfreds Leitmotiv klingt wie die ersten Takte der Internationale – das konnte Dvořák natürlich nicht wissen; die Assoziationen stellen sich trotzdem ein. Ausgerechnet das Leitmotiv eines britischen Königs des 9. Jahrhunderts! Denn zelebriert wird hier vor allem das  martialische Hin- und Her-Gestapfe dänischer und englischer Krieger im 9. Jahrhundert mit ein ganz bisschen Liebesgeschichte dazwischen, die auch Kerkerszenen und Befreiungsphantasien nicht ausspart. Das Ganze erinnert ein wenig an Dalibor von Smetana,  auch dies Werk wurde übrigens ursprünglich auf ein deutsches Libretto komponiert.

König Alfred der Große/ Münze um 880/ Wikipedia

König Alfred der Große/ Münze um 880/ Wikipedia

Doch anders als Smetanas Meisterwerk hätte eine Übertragung ins Tschechische dem Alfred zu  Dvořáks Lebzeiten nichts genützt. Denn dieses Körner-Drama war 1870 schon fast 60 Jahre alt, die heroisch-abgenutzte Sprache damals schon angestaubt. Hier, im öden dramatischen Aufriss, merkt man ganz deutlich: So spannend der frühverstorbene Körner als Freiheits- und literarische Figur im napoleonischen Krieg als Lyriker auch war – er ist eben kein Kleist. Und Heines Spott auf den jungen Möchtegernchauvinisten, der gern und oft metaphorisch in Franzosenblut watete, war wohl berechtigt. Dennoch, und das ist ein wichtiges Trotzdem, springt einfach immer wieder die jugendliche Begeisterung des Komponisten Dvořák auf den Hörer über. Wunderbar, diese jungenhafte Freunde am Bombast, die unwiderstehliche Lust an der großen Operngeste! Hier probiert sich wie im Labor der Opernkomponist aus, viele Details erinnern schon angenehm an die späteren großen Opern-Schlachtschiffe wie Dimitrij und denJakobiner.

Miserabel präsentiert – für viel Geld: Leider ist die Präsentation vom kleinen CD-Label arco-diva erbärmlich. Ein böses Wort, gewiss, das aber besonders angesichts eines gepfefferten Preises gerechtfertigt ist. Wir bezahlen den Preis einer Luxus-Opernedition und bekommen den Service einer Billigfirma. Es beginnt schon mit dem Skandal, dass eine deutsche Oper, gefördert vom deutsch-tschechischen Zukunftsfonds (!), auf die CD kommt und der Einführungstext nur auf englisch und tschechisch ist – so als existiere der wichtige deutsche Klassikmarkt (einer der kaufkräftigsten Europas!) gar nicht. Auch die Track-Setzung des Booklets ist hundsmiserabel, man bekommt die Szenen nur durchnummeriert, ohne Angabe, welche Nummern genau zu hören sind. Für das deutsche Libretto wird auf das Internet und die Homepage verwiesen, und, um dem Dilettantismus die Krone aufzusetzen, dann ist das Libretto wiederum ohne Track-Angabe für die CD! Da möchte man die Aufnahme an die Wand werfen.

Ich hab mich aber doch bezähmt – denn abgesehen vom nadelspitzen, schmerzenden Sopran Petra Froeses als Alvina schlagen sich alle Sänger recht wacker, allen voran der helle, agile Bariton Felix Rumpf in der Titelrolle. Weiterhin singen Ferdinand von Bothmer/ Harald, Jörg Sabrowski/ Gothron, Peter Mikulas/ Sieward, Tilmann Unger/ Dorset und Bote sowie Jarmila Baxova/ Rowena und der Tschechische Philharmonische Chor Brünn (Petr Fiala). Das Prager Radiosinfonieorchester ist wie so oft hervorragend, zusammen mit dem Radiosinfonieorchester Warschau das beste osteuropäische Rundfunkorchester überhaupt. Und man spürt bei jedem Takt, dass der Dirigent, Heiko Mathias Förster, das Werk wirklich kompromisslos liebt. Dvořák-Freunde und entdeckungssüchtige Opernfans sollten also zugreifen, trotz der schludrigen Präsentation des Werks. Matthias Käther

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Abbildung oben: Theodor Körner, porträtiert von seiner Tante Dora Stock (nach einer Pastellminiatur von seiner Schwester Emma Sophie Körner), 1813/1814/ Wikipedia. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Oper und Gender

 

Im Leipziger Universitätverlag ist ein Buch von Anke Charton erschienen: prima donna – primo uomo – musico: Körper und Stimme – Geschlechterbilder in der Oper. In Verbindung von Theater- und Musikwissenschaft stellt Anke Chartons Studie einen Beitrag zur Opern­forschung vor, der Oper aus dem Gesamtphänomen Theater gerade nicht herausnimmt. Sie erkundet so ein weites Feld der Theatergeschichtsforschung. Im Zentrum stehen Geschlechtervorstellungen, die in der Oper von vertrauten Bildern abweichen können: Die Verhältnisse von Körper, Stimme und Geschlecht erweisen sich historisch als erstaunlich variabel und können bis heute die scheinbar -natürlichen Unterschiede zwischen weiblich und männlich irritierend durchkreuzen. Hier trägt kulturgeschichtlich orientierte Opernforschung zur Geschlechterforschung bei, anthropologiehistorische Geschlechterforschung eröffnet der Opernforschung neue Perspektiven.

Geschlechterbilder in der Oper Charton Leipziger UniversitätverlagAnke Charton unterzieht den Mythos von der »Geburt der Oper« einer kritischen Revision und legt die theatralen Einflussbereiche offen, die nicht nur deren Anfänge ausmachen, sondern auch darüber hinaus wirken. Die Phänomene Kastratengesang und Hosenrolle, die in Zeiten eines verstärkten Interesses an Geschlechter­rollen zu populären Forschungsfeldern geworden sind, werden vor dem Hintergrund älterer Körper- und Weltvorstellungen neu gelesen. Dabei wird in vielfältigen Zusammenhängen der Formung und Wahrnehmung der Gesangsstimme nachgespürt. Die Studie schlägt so einen Bogen vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart und bietet eine fundierte Einführung in opernhistorische und geschlechtertheoretische Zusammenhänge (Quelle: Klappentext). Leipziger Beiträge zur Theatergeschichte hersg. Von Gerda Baumbach, 357 S. mit Quellenverzeichnis , Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2012,  ISBN 978-3-86583-628-1 / Abbildung oben: Wikipedia

Luther als Heldenbariton

 

2017 wird ein Luther-Jahr: 500 Jahre Reformation, der Wittenberger Anschlag der Thesen geschah 1517. Das Label cpo besetzt frühzeitig diese Nische mir einer Rarität: dem Oratorium Luther in Worms von Ludwig Meinardus (1827-1896), das der in Ostfriesland geborene Komponist als sein Opus 36 (von 48) in der Folge der Reichsgründung 1871 schuf, 1874 uraufführte (und zwar mit Unterstützung des Katholiken Franz Liszt in Weimar) und das insbesondere 1883 zum Jubiläumsjahr Luthers (1483-1546) der größte Erfolg in Meinardus‘ Lebzeiten wurde und international über 300 Aufführungen erlebt haben soll. Die Begeisterung für das preußisch-protestantisch geführte Reich nahm die Luthergestalt des Festjahres 1817 in sich auf, die mehr als nationaler Held gegen die Fremdbestimmung denn als theologische Figur Einzug ins Bürgertum gefunden hatte. Der Oratorientext ist von Wilhelm Rossmann (1832-1885) geschrieben worden, einem Pfarrerssohn, der als sich als Theologe und Historiker auf die Reformation spezialisiert hatte und die historischen Ereignisse verarbeitet. Das Oratorium ist zweigeteilt: »Die Fahrt nach Worms« und »Vor Kaiser und Reich« erzählt die Geschehnisse rund um den 17. April 1521, an dem Luther vor dem Reichstag in Worms zum Widerruf aufgefordert wurde, am Tag darauf ablehnte („Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ ist übrigens nicht quellenfest überliefert und wird bei Meinardus zur sympathisch zurückhaltend und bescheidenen, von Flöten begleiteter Aussage des Sängers). Gemäß dem Wormser Edikt wurde Luthers Lehre verboten, er selbst als vogelfrei geächtet. Rossmann macht daraus ein Oratorium mit Pathos und Größe, Luther wird als Held dargestellt – aufrecht und authentisch, eine Leitfigur gegen Fremdbestimmung. Schon im ersten Teil, der Fahrt nach Worms bestehen keine Zweifel an der Person Luther, man singt „Luther und Freiheit! Luther und Sieg!„. Das Oratorium ist laut Beiheft ein „protestantisches Bekenntniswerk“ und eine Fundgrube der theologischen Anspielungen und Parallelen. Das ausführliche Beiheft gibt hierbei viele Hinweise und Erklärungen.

Meinardus‘ Musik kombiniert romantische Klänge, protestantische Choräle, Fugen in den Doppelchören und Pilgergesang, bekannte Luther-Lieder klingen an, Nonnen singen ein Miserere und der Kaiser bekommt einen pompösen Huldigungschor. Stille Momente kontrastieren mit dramatischen, opernhaften Szenen; der zweite Teil mit der Auseinandersetzung zwischen den Anhängern Roms und Luthers bildet das dramatische Herzstück des Werks. Luther wird durch schnörkellose Melodien charakterisiert, sein Gegenspieler Glapio, der Beichtvater des Kaisers, durch gestische, auf Effekt setzende, sich windende Klänge. Für musikalische Abwechslung und Spannung ist also dadurch gesorgt, daß Meinardus nicht nur begleitet, sondern geschickt kommentiert und verstärkt. Das Concerto Köln spielt mit 42 Musikern engagiert unter der Leitung von Max Hermann; man wählt eine transparente Lesart ohne übertriebene Überhöhungen. Im Beiheft wird erläutert, dass Meinardus das Oratorium zwar mit der „Reformations-Hymne“ Eine feste Burg ist unser Gott schließen lässt, diese aber nicht strahlend, feierlich oder sogar martialisch erklingt, sondern in einer „erschütterlichen“ Weise, wie jeder ‚lebendige Glaube erschütterlich erscheint‘. Das Oratorium erfordert großen gemischten Chor inklusive Knabenchor, der in dieser Einspielung allerdings vom gemischten Chor der tadellosen  Rheinischen Kantorei übernommen wird und den vielfältigen Anforderungen – man singt doppelt und dreifach mit und gegeneinander als Anhänger des Kaisers oder Luthers, mehrstimmig a capella und mit voller Orchesterbesetzung, Fugen und Choräle, dramatische und kontemplative Szenen – ausgezeichnet entspricht. Weiterhin benötigt das Werk acht Solisten, die zwei Frauen- und sechs Männersoli sowie diverse Ensemble singen. Das Mit- und Gegeneinander der acht Charaktere bewirkt fast schon opernhaft wirkende Szenen. Besetzt ist dieses protestantische Manifest mit sehr guten und ausgewogen harmonierenden Stimmen, allen voran der vornehm-edlen Stimme von Matthias Vieweg als Luther sowie Catalina Bertucci (Katarina), Clemens C. Löschmann (Justus Jonas), Annette Gutjahr (Marta), Corby Welch (Karl V.), Markus Flaig (Glapio / Friedrich der Weise), Clemens Heidrich (Ulrich von Hutten), Ansgar Eimann (Georg von Frundsberg). cpo gelingt eine ungewöhnliche und spannende Wiederentdeckung! (cpo, 2 CDs, 777540-2Marcus Budwitius

Willkommen und Abschied

 

Traurig schaut die Braut drein. Verhärmt und spitzmäusig steht sie neben dem kräftigen, auch nicht sehr glücklich blickenden. Man muss zweimal hinschauen. Es ist Natalie Dessay neben ihrem Pianisten Philippe Cassard. In der Manier von Hochzeitsfotos aus der Urgroßelternzeit haben sich die beiden für das Cover und die Innenseiten ihrer Aufnahme mit Liedern aus der Epoche zwischen 1870 und 1940 von Fauré, Chabrier, Chausson und Duparc ablichten lassen. In Schwarz-Weiß. Das Motiv und der Brautschleier, den sich Dessay auf die Ringellöckchen gesetzt hat, gilt wohl vor allem Poulencs Fiançailles pour rire, die der Sammlung auch den Titel gaben (Erato 4614405). Den Auftakt der im Juni 2014 in der Salle Colonne in Paris entstandenen Aufnahme bilden sechs Lieder von Fauré, darunter das frühe Meisterwerk Après un rêve, drei Lieder nach Texten aus Verlaines Gedichtsammlung Fȇtes galantes sowie Spleen aus dessen späterer Sammlung Romances sans paroles. Irritiert ist man auch beim Hören. Dessay, so der Eindruck, muss sich mächtig anstrengen, und dennoch entfaltet die ungemein zerbrechlich wirkende Stimme keine Kraft und Volumen. Ich drehe den Ton auf, doch dann wird bei Mandoline nur der von Cassard brillant ausgekostete Klavierpart lauter.

nathalie dessay eratoDessays zirpender Sopran bleibt fein und dezent, ist oft schlierig und unsauber, und macht auch wenig aus dem Text. Nicht aus Chabriers strophischem Chanson pour Jeanne, nicht aus Poulencs kleinem Zyklus Fiançailles pour rire (Verlobung zum Spaß) nach Gedichten der Autorin Louise de Vilmorine, welche Poulenc bezauberte, „weil sie schön ist, weil sie hinkt, weil sie ein Französisch von natürlicher Schönheit schreibt“; in ihren Gedichten, darunter ein Titel wie Mein Leichnam ist weich wie ein Handschuh fand er „eine Art gemütvolle Impertinenz, Libertinage, Naschhaftigkeit“. Es stellt sich offenbar eine gewisse Gewöhnung ein, denn Duparc und Chausson, darunter Les temps des lilas, quasi eine Reflektion von Duparcs Soupir, gelingen Dessay, die bereits ihren Abschied von der Oper angekündigt hat, in Nuancen vorteilhafter, man gerät in den Bann der Musik und des sensiblen Spiels von Philippe Cassard. Der Vollständigkeit halber: Bei einem Lied von Poulenc ist Gatte Laurent Naouri beteiligt, bei Chaussons Chanson perpétuelle das Quatuor Ebène.

 

Eine absolute Gegenposition dazu bezieht Joyce Di Donato. Alles ist glut- und blutvoll gesungen, da pulsiert das Leben. Es war „ein vergnüglicher Abend“ schrieb die Presse, nach dem Abend von Joyce DiDonato und Antonio Pappano, mit dem sie im September 2014 die Saison der Wigmore Hall eröffneten. Der Abend von Joyce & Tony. Live at Wigmore Hall ist jetzt auf zwei CD erschienen (Erato 0825646107898, dreisprachiges Beiheft, dessen dt. Übersetzung abbricht). Sicherlich eine schöne Erinnerung an das Konzert. Ansonsten ist mir manches zu bullerig, zu gewollt und energisch, eher flüssig als charmant, in Non ti scordar di me wirkt DiDonatos Mezzosopran unruhig, streng und grell. Haydns Arianna a Naxos, Rossinis Beltà Crudele, La Danza und der vierteilige Zyklus I canti della sera von Francesco Santoliquido, verhangen gefühlvoll, nicht ganz auf DiDonato-Niveau, bilden den ersten Teil. Auf der zweiten CD dann ein kunterbuntes Programm, was gar nicht störend wäre, American Songbook von Fosters Beautiful Dreamer über Musical-Evergreens von Kern (Can’t help lovin‘ Dat Man, All the Things You Are) bis zu Arlens Over the Rainbow, dessen Stimmungen DiDonato derartig ausreizt, in zirzensischen Flitter auflöst und auf Effekt anlegt, dass man selbst bei dem virtuosen, südamerikanisch inspirierten Amor von William Bolcom und All the Things you Are, das eine Norman im Vergleich geradezu unverkünstelt und spontan anging, zwischendurch die Lust am Hören verliert.

 

juan diego florez deccaDas wird bei Juan Diego Flórez nicht passieren. Aus dem kleinen Prinzen, der in Rossinis Opern brillierte, ist inzwischen fast ein Draufgänger geworden, der für seinen einstündigen Italia-Ausflug (Decca 47884088) nicht mehr Cenerentola-like mit der Märchenkutsche anreist, sondern im roten Lamborghini vorgefahren kommt, wie einst Corelli und di Stefano bei Neapolitan Songs – die saßen allerdings selbst am Steuer oder entstiegen dem Wagen, während Flórez nur daran lehnt. Vielleicht ist ihm im Flitzer doch nicht ganz geheuer. Siebzehn Lieder (Canzoni), mehr oder weniger der eiserne Bestand eines Italian Songbook, wie es schon von Caruso über Schipa und Gigli bis Corelli, di Stefano und Pavarotti hoch gehalten wurde, bilden das kurzweilige Programm, darunter Rossinis Bolero, La Danza und Leoncavallos Mattinata ebenso wie Torna a Surriento und Non ti Scordar di me von De Curtis, Gastaldons Musica Proibita, Tostis Marechiare und L‘ alba separa dalla luce l‘ ombra. Flórez singt nicht mit dem draufgängerischen Elan (bei La Danza dann schon) und der Wärme eines di Stefano, aber generös, mit der gewohnten Finesse, Geschmack und Kultur, etwas sehr ausgestellten Höhen, mit betörendem Diminuendo, mit klar-präzisem Ton, mit Glanz und crescendierender Stimmentfaltung, das gilt auch für Schlager wie Chitarra Romana und Nel Blu, Dipinto di Blu. Man kann nicht genug davon bekommen. Einziger Schwachpunkt des von Carlo Tenan, einer Reihe von Solisten (Mandoline, Gitarre, Gitarre) und der Filarmonica Gioachino Rossini begleiteten Recitals ist das nichts sagend, vielsprachige Beiheft mit einer Grußwort des Tenors (natürlich: ein „sehr persönliches Album“). Da wird doch sicherlich eine Fortsetzung folgen, schließlich sagte Flórez „Arrivederci“.

 

peter mauro sonyIm Februar diesen Jahres hat der 28jährige Schweizer Tenor Mauro Peter in Zürich ein Schubert-Programm mit Goethe-Liedern aufgenommen (Sony 88875083883), mit dem er im Sommer auch bei der einst von Hermann Prey gegründeten Schubertiade auftrat. Sein Begleiter hier wie dort war Helmut Deutsch, der nicht nur beim Goethe-Programm bereits mit Prey zusammenarbeitete und jetzt Peters CD-Debüt adelt. Umrahmt von den Sturm-und-Drang -Gedichten Ganymed und Willkommen und Abschied erklingen u. a. die Gesänge des Harfners, Erlkönig, Der König von Thule, Heidenröslein, für die Peter jeweils einen individuellen Ton und erzählerische Klangpoesie entwickelt. Das wirkt in den kurzen Rastlosen Liebe und Der Musensohn spontan, doch nie unreflektiert, und bei beispielhafter Textdeutlichkeit stets mustergültig und eindringlich gestaltet. Peters lyrischer Mozart-Tenor besitzt Gewicht, ist klangvoll durchgebildet – in An den Mond leuchtend ausgemalt -, wird der im zarten Piano verhauchenden Poesie des Heiderösleins ebenso gerecht wie dem Strophenlied Der Fischer oder dem mächtigen Gemälde des Erlkönigs. Ein ausgezeichneter Einstand. Rolf Fath

In seichten Gewässern


Nur wenige echte Singspiele haben auf der heutigen Opernbühne überlebt, außer der Zauberflöte und der Eintführung aus dem Serail sind sie fast alle vergessen. Jetzt ist bei der Deutschen Harmonia Mundi ein Singspiel von Johann Abraham Peter Schulz erschienen – Peters Bryllup/ Peters Hochzeit.

Gut geklaut: Uraufgeführt wurde das Werk 1793 in Kopenhagen – ein schönes Beispiel dafür, wie gut um 1800 deutsche und dänische Kultur zusammenfanden. Dass in Kopenhagen Opern von deutschen Komponisten verfasst wurden, war keine Seltenheit, berühmt wurde der deutsche Komponist Friedrich Kuhlau, der bis heute als eine Art dänischer Nationalkomponist gilt. Ähnlich populär war einige Jahre zuvor Johann Abraham Peter Schulz, ein deutscher Komponist, der zunächst Opern für Berlin, Potsdam und Rheinsberg schrieb und kann nach Dänemark ging. In Deutschland ist er vor allem bekannt für seine Klavier-Lieder im Volkston, von denen einige wirklich zu Volksliedern wurden, wie „Der Mond ist aufgegangen“ und „Ihr Kinderlein kommet“.

Peters Bryllup ist seine letzte Oper und die erweiterte Fassung seines größten musikalischen Bühnen-Erfolges, einer Art Bauern-Revue mit dem Titel Das Erntefest(1790). Spannend daran ist, dass zwischen Fassung 1 und Fassung 2 die Zauberflöte komponiert wurde. Die CD dokumentiert faszinierend, wie skrupellos und geschäftstüchtig Schulz Mozarts Anregungen in seine Neufassung integriert. Die Arie des Hans aus dem zweiten Akt klingt so sehr nach Sarastro, dass in unseren Tagen zweifellos eine Plagiatsklage erfolgt wäre.

Singspiel mit genretypischen Höhen und Tiefen: Die Neuveröffentlichung dieses Singspiels aus Mozarts Tagen wirft wieder einmal die Frage auf, warum das Genre fast komplett untergegangen ist – um sie gleichzeitig zu beantworten. Handlung und Musik sind oft – trotz ambitionierter einzelner Teile sehr schlicht, um es mal höflich auszudrücken. Vor allem zeigt sich hier exemplarisch, wie schwer sich der einstige Erfolg der liedhaften Couplets heute vermitteln lässt. Einst waren sie Hits – heute leiert der musikalische Einfall  spätestens nach der zweiten Strophe aus. Wenn man bedenkt, dass es noch in den 1970er Jahren Musikwissenschaftler gab, die für Kürzungen beim frühen Verdi plädierten, weil sich die Einfälle der Cabaletten angeblich abnutzen… Diese Autoren würde beim Anhören von Peters Hochzeit vermutlich der Schlag treffen.

Auch die konfuse und wenig spannende Handlung von Peters Hochzeit dürfte zur Vergessenheit des Werks beigetragen haben. Dadurch, dass es sich um die opernhafte Erweiterung eines ehemaligen festlichen Einakters handelt, wirkt das Ganze sehr episodenhaft. Am ehesten vergleichbar ist der Plot mit Haydns (späterem) Oratorium Die Jahreszeiten. Es werden ländliche Geschichten erzählt, wir hören von verschiedenen Paaren, die zueinanderfinden, auch von tragischen Figuren, aber den größten Raum nehmen die Hochzeits-Feierlichkeiten selbst ein, die hier in Chören und Tänzen zelebriert werden. Und die sind oft wirklich gelungen. Zeitzeugen zufolge befand sich nämlich das einfache Volk Dänemarks nach 1790 in einem jahrelangen Freudentaumel, weil in diesem Jahr die Leibeigenschaft abgeschafft wurde. Und Schulz, der diese Freude hautnah miterlebt hat, fängt die Stimmung wirklich beglückend und überzeugend in seiner Musik ein.

Akustisch nicht immer genussreich: Der Dirigent Werner Ehrhardt bringt mit seinem Ensemble L’arte del mondo jedes Jahr eine seltene Oper des 18. Jahrhunderts heraus – und die letzten Jahre waren das echte Leckerbissen – Olimpiade von Pergolesi, Die Gärtnerin aus Liebe von Anfossi, alles richtig schwere Tanker mit viel Tiefgang im Operngewässer. Dies hier ist dann doch eher eine bunt angestrichene Schaluppe. Aufgenommen wurde in Kopenhagen mit dänischen Sängern, aber für den internationalen Vertrieb wurden die dänischen Dialoge gestrichen, übrig bleibt eine magere CD mit 70 Minuten Musik. Dazu kommt, dass diese Halle in Kopenhagen nicht grade ein akustisches Eldorado ist, mitunter klingen die Solisten wirklich wie aus dem Innern einer Schaluppe. Auch nicht jede dänische Stimme, grade bei den Solistinnen, hat das gewohnte Niveau, an das man bei der Deutschen Harmonia Mundi sonst gewöhnt ist. Aber natürlich ist das insgesamt eine hübsche und vielleicht sogar wichtige Ausgrabung, grade weil sie wieder einmal zeigt, wo Stärken und Grenzen der einst so beliebten Gattung Singspiels liegen. L’arte del mondo jedenfalls musiziert wieder hinreißend und ambitioniert (Johann Peter Schulz: Peters Bryllup/ Peters Hochzeit; Singspiel in zwei Akten mit Eva -Lotta Ohllson, Hannah Husahr, Tobias Westmann, Johann Rydh; L’arte del mondo, Werner Ehrhardt; Deutsche Harmonia Mundi; 88843017602).  Matthias Käther

 

Carl Thomas Mozarts „Entführung“

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Meisterwerke zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie eigentlich unantastbar sind. Wird z.B. ein Buch oder ein Musikstück in diesen Kanon der Unsterblichkeit aufgenommen, ist es meist mehr als schwierig, Verkrustungen (z.B. in Form von Zusätzen oder Kürzungen), die durch die Tradition entstehen, zu entfernen. Gegen die Trägheit der Praxis scheitert meistens auch die Philologie, die Werke in ihren Kontext zurückführen möchte. Für die Oper des 18. und frühen 19. Jahrhunderts sind die Konsequenzen bekannt. Rossinis Barbiere oder Comte Ory werden nach wie vor in bedenklichen Editionen gegeben, obwohl kritische Ausgaben vorliegen. Hat ein Werk den Kanon-Status erreicht, muss meistens auch das rabiate Regietheater kapitulieren. Höchstens kommt bei Mozart ein Synthesizer in den Rezitativen zum Einsatz, oder sie können allesamt durch lächerliche

Natur-Geräusche ersetzt werden, wie heuer im Salzburger Fidelio geschehen. Ein paar Striche werden noch zugelassen. An der musikalischen Substanz, gerade bei Mozart und Beethoven, wird indes wenig gerüttelt, weil das heutige Publikum historisch informiert ist und keine einschneidende Aktualisierung annehmen würde.

Eine Neuveröffentlichung bei dem verdienten Raritäten-Label Bongiovanni aus Bologna zeigt eindrücklich, wie man damit in der Zeit verfahren ist, als die Kanonisierung noch nicht abgeschlossen war und der Opernbetrieb auf den aktuellen Geschmack der Zuhörer Rücksicht nahm und nehmen musste . Im habsburgischen Mailand war dies der Fall bei Mozart, einem Autor, der südlich der Alpen trotz seiner stilistischen Zugehörigkeit zur italienischen Oper des späten 18. Jahrhunderts es schwer hatte. Das schmerzte besonders zwei wackere Untertanen des habsburgischen Reiches, die in Mailand lebten: Carl Thomas Mozart (1784-1858), der gegen den Willen der Witwe Mozart keine Musiker-, sondern eine Beamtenlaufbahn durchgegangen war, und sein Freund Pietro (Peter) Lichtenthal (1780-1853), ein Preßburger Multitalent, das sich unermüdlich für das Oeuvre Mozarts einsetzte. Ihm verdankt man meisterhafte Bearbeitungen etwa vom Requiem für Streichquartett oder der Symphonie KV 550 für Streichquintett (selbstredend in der mozartschen Besetzung mit zwei Bratschen).

Der knappen, aber ausgezeichneten Einführung von Marco Beghelli im Booklet dieser CD-Produktion entnimmt man, dass Lichtenthal 1824 eine italienische Übersetzung der Entführung aus dem Serail bei zwei der führenden Librettisten der Zeit in Auftrag gegeben hatte, Gaetano Rossi (er verfasste das Libretto der Semiramide für Rossini und arbeitete für alle führenden Komponisten zwischen 1797 und 1854) und Felice Romani. Aber niemand wollte das Werk spielen. Überhaupt scheiterte der kulturkolonialistische Versuch kläglich, die deutsche Spieloper in Italien zu etablieren: Nicht nur Joseph Weigls Schweizer Familie (in italienischer Übersetzung in Mailand 1816) und Peter von Winters Unterbrochenes (Florenz 1818) missfielen, auch die Zauberflöte hatte keinen Erfolg. 1838 entschied sich daher Lichtenthal für eine grundlegende Neubearbeitung der Entführung aus dem Serail.

Er schuf eine neue Oper „übersetzt aus dem deutschen Original und dem heutigen Theatergeschmack (l’odierno gusto teatrale) angepasst, mit zum grössten Teil Musik von Mozart“, wie er das Manuskript betitelte. In der Tat ist das Meiste, was man hört, Mozart, wenn auch nicht unbedingt aus der Entführung. Konstanze strich Lichtenthal alle drei Arien und ersetzte sie u.a. mit der Konzertarie KV 505, und eine wohl eigene Orchestrierung des Türkischen Marsches aus der Sonate KV 331 kam zum Einsatz, aber er griff auch auf fremdes Material zurück. Die Sprechpartie des Selim bezeichnete er selbst in einem Aufsatz von 1840 als ein großes Hindernis für die Aufführung der Oper in Italien: Er bekam ein Duett mit Konstanze (ausgerechnet aus einer Oper des von Mozart so wenig geschätzten Peter von Winter) und ein weiteres mit Osmin aus einem Weigl-Werk. Und ein veritables Pasticcio ist das hinzugefügte erste Finale der nunmehr zweiaktigen Oper. Alle Dialoge wurden durch Secco-Rezitative von der Hand Lichtenthals ersetzt. Er führte somit den verständlichen Wunsch, Mozart dem Mailänder Publikum nahe zu bringen, ad absurdum, denn der Ratto dal serraglio ist ein Monstrum, das keineswegs überzeugt.

So dachten es wohl auch die Verantwortlichen der Scala, welche das Erzeugnis zur Begutachtung bekamen und sich gegen eine Aufführung entschieden. Sie wurde im Mai 2012 in Vincenza durch das Team nachgeholt, welches schon in Mozarts Zauberflöte in einer italienischen Fassung von 1794 überzeugte (auf CD bei Nuova Era). Auch diesmal kann der Dirigent Giovanni Battista Rigon überzeugen, welcher das Orchester des Teatro Olimpico in Vicenza akkurat leitet. Er kann für den stilistisch disparaten Eindruck natürlich nichts. Die Sängerriege besteht aus Italienern, die ihre Sache gut machen, ohne dass sich jemand besonders auszeichnet. Der Bearbeitung ist zu verdanken, dass Filippo Moraces leichter Bass-Bariton den Osmin geben kann. Francesco Marsiglia (Belmonte) singt elegant, Sandra Pastrana (Costanza) wird den Anforderungen der völlig veränderten Partie gerecht und muss sich dankenswerterweise nicht durch Martern aller Arten martern lassen. Gabriele Sagona (Selim), Carlos Natale (Pedrillo) und Tatiana Aguiar (Bionda) sowie der Chor der Polifonici vicentini und Alberto Boischio (Hammerklavier) ergänzen das Team auf gutem Niveau. Niemand wird wohl diese Bearbeitung nachspielen wollen, und doch ist man den Beteiligten und Bongiovanni dankbar, ein solch wichtiges musikhistorisches Dokument kennenlernen zu dürfen (Wolfgang Amadeus Mozart / Pietro Lichtenthal, Il ratto dal serraglio: Morace, Marsiglia, Pstrana, Sagona, Natale, Aguiar, Polifonici Vicentini, Orchestra del Teatro Olimpico, Rigon (Vicenza, Mai 2012), 2 CD Bongiovanni 2476-2477). Michele C. Ferrari

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Abbildung oben: Portrait of Carl Thomas Mozart (1784-1858), elder son of Wolfgang Amadeus Mozart (1756-91), c.1840 by Italian School, (19th century) oil on canvas. Mozart Museum, Salzburg, Austria
Italian/ Wikipedia- Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

„Das Geheimnis liegt in der Stille!“

 

Am Ende wird das Buch auf unheimliche Weise aktuell. Befragt zur Opernregie, schwärmt Riccardo Chailly von Nikolaus Lehnhoff, der drei Tage vor Erscheinen von Chaillys Buch Das Geheimnis liegt in der Stille. Gespräche über Musik verstorben war, „Ich habe große Hochachtung vor Lehnhoff, vor allem, wenn er bestimmte Ideen nicht bis ins Extrem ausreizt“. Nach den Erfahrungen mit der Amsterdamer Tosca hatte Chailly ihn Luciano Berio für die Erstaufführung der Turandot mit Berios Finale empfohlen, worauf der Komponist meinte, „dass er in Lehnhoff einen selten intelligenten und dialogbereiten Regisseur erlebt habe, mit dem er gerne zusammenarbeiten würde“. Diese Produktion wurde dann, neuerlich mit Chailly am Pult, im Mai dieses Jahres in Mailand im Rahmen des EXPO-Programms wiederholt. Angesichts von Chaillys umfangreichen Opernproduktion nehmen die Regisseure nur einen schmalen Raum ein, etwa Klaus Maria Grüber, der über „ein inszenatorisches Denkvermögen von bemerkenswertem Tiefgang“ verfügte, und der tiefgründige Willy Decker; beide in Amsterdam. Weniger glücklich war die Zusammenarbeit mit Zeffirelli, bei dem er anlässlich der Mailänder Aida entschied, „seine Welt einfach zu akzeptieren“.

chailly henschel verlagErwähnung findet die Arbeit mit Luca Ronconi in Bologna, Pesaro und Mailand, mit Jean-Pierre Ponnelle, der bei Chaillys Einstand in San Francisco (Turandot 1977 in San Francisco) und seinem ersten Opernfilm (Rigoletto 1981 mit Pavarotti und Gruberova) Regie führte, mit den italienischen Altmeistern Giancarlo Cobelli und Roberto De Simone („wie aus alten Zeiten“) sowie erstaunlicherweise auch mit dem provokanten Ken Russell („ein Vulkan, der ständig Asche spuckt: er besaß eine Vorliebe für Chianti und hatte immer eine Flasche unter seinem Sitz im Parkett versteckt“). Allein die paar Namen und die zahlreichen damit verbunden Produktionen zeigen, dass Chailly ein Mann des Theaters ist, was man angesichts des Buches fast ein wenig vergessen könnte.

Bereits 1967 hatte der 1953 geborene Sohn des Komponisten und Musikmanagers Luciano Chailly seinen ersten Auftritt als Dirigent. Zuvor hatte ihn der skeptische Vater, der ihn vom befreundeten Franco Ferrara begutachten ließ, selbst unterwiesen, dann an die Konservatorien von Mailand und Perugia und schließlich in die Dirigenten-Schmiede von Franco Ferrara nach Siena geschickt, wo zur gleichen Zeit auch Sinopoli, Daniel Oren, Iván und Adam Fischer studierten. 1971 gab Chailly in Mailand – am Teatro Nuovo – sein Operndebüt, bereits 1974 kam er durch Vermittlung Bartolettis an die Lyric Opera in Chicago, wo er Madama Butterfly dirigierte, deren Erfolg die oben erwähnte Turandot in San Francisco nach sich zog, und 1977 dirigierte er I Masnadieri bei Henzes Cantiere Internationale d‘ Arte in

Montepulciano, das eine prägende Zeit für Chailly gewesen sein muss, denn dies ist einer der wenigen Abschnitte, die wirklich lebendig werden und etwas von jugendlichem Schwärmen vermitteln, aber auch viel über den Vitalismus und die Aufbruchsstimmung im Musikleben im Italien der 1970er Jahre verrät. Dazu gehört auch Claudio Abbado, dessen Assistent er wurde.

Riccardo-Chailly/ Decca Foto Benjamin Ealovega

Riccardo-Chailly/ Decca Foto Benjamin Ealovega

Als jüngster Dirigent in der Geschichte des Hauses debütierte er 1978 an der Scala mit I Masnadieri (Maliponte, Garaventa, Manuguerra, Nestorenko); der sehr junge Chailly war damals offenbar der Mann für die Raritäten, denn ich erinnere mich noch an I due Foscari im folgenden Jahr sowie den Jahrmarkt von Soroschinizy im Rahmen von Abbados großartiger Mussorgsky-Retrospektive 1981.Chaillys gegenwärtiger Vertrag mit dem Leipziger Gewandhausorchester wurde laut Frankfurter Neue Presse soeben aufgelöst (03. September 2015), während die vor kurzem verlängerte Laufzeit eigentlich bis 2020 ging. Über die Gründe wurde nichts bekannt, sein letztes Konzert dirigiert er Mitte Juni 2016 in Leipzig. Ab 2017 wird Chailly offiziell die Position des Musikdirektors an der Scala antreten, „Ich wünsche mir, dass sich die Scala in Zukunft wieder mehr auf dem Gebiet der italienischen Oper profiliert, und zwar in einer neuen Qualität, die an vergangene Zeiten anknüpft“. Doch, wie gesagt, das Musiktheater kommt in diesem Band ein wenig kurz. Ausnahme ist ein Kapitelchen über Verdi, in dem Chailly Otello als seine liebste Verdi-Oper bezeichnet, „dicht gefolgt von Falstaff“, und einem über Rossini und Puccini, die beide zentrale Rollen in seiner Karriere spielten: seine erste große Aufnahme bei der Decca, mit der er seit über 30 Jahre verbunden ist, galt Guillaume Tell, und Puccinis Butterfly und Turandot hat er gleich zu Beginn seiner Karriere dirigiert, wobei besonders die Anmerkungen über Mahlers Einfluss auf Puccini interessant ist.

Gesprächspartner Enrico Girardi/ Enrico Girardi (@Chicogir)

Gesprächspartner Enrico Girardi/ Enrico Girardi (@Chicogir)

Befragt wird Chailly von dem Journalisten Enrico Girardi vor allem zu Bach und Mozart, Beethoven, Mahler und Bruckner, zur klassischen Moderne und den Zeitgenossen. Hier verblüfft der undogmatische und weite Blick auf die Interpretationsgeschichte, die unterschiedlichen Vorbilder oder Inspirationsquellen, die Chailly benennt, bei Bach selbstverständlich Leonhardt und Harnoncourt, bei Mozart neben Fritz Busch, Walter, Harnoncourt und Gardiner aber auch Peter Maag und Toscanini, bei Beethoven nennt er Felix Weingartner neben Carlos Kleiber, bei Mahler Abbado („… er zählt zweifellos zu den großen Mahler-Interpreten aller Zeiten, ähnlich wie Bernard Haitink, Inbegriff der großen Mahler-Tradition beim Concertgebouw, und natürlich Leonard Bernstein“). Alles wohl überlegt, keine Gefälligkeitsadressen (Riccardo Chailly, Das Geheimnis liegt in der Stille. Henschel Bärenreiter, 192 Seiten; ISBN 978-3-89487-944-0). Rolf Fath

 

Riccardo Chailly ist Decca-Exklusiv-Künstler, auf der dortigen website finden sich seine verfügbaren Aufnahmen. Die Fotos (oben von Benjamin Ealovega für Decca und hier im Text) stammen ebenfalls von dort, Dank an Universal!

Für die Fans

 

Roberto Alagna kommt nach Deutschland, wieder nach Berlin: aber nicht am 6. September für ein Open-Air-Konzert in die Berliner Waldbühne. Das wurde abgesagt! Laut Berliner Morgenpost: Das Galakonzert „Shakespeare’s Stars“ des französischen Opernstars Roberto Alagna in der Waldbühne am 6. September ist abgesagt worden. CTS Eventim als Betreibergesellschaft der Waldbühne hat dafür produktionstechnische Gründe angegeben. Der direkte Veranstalter Ramfis Production mit Sitz in Spanien und Frankreich hat sich am Freitag zu der Absage nicht geäußert.. Dem Vernehmen nach fand aber auch nicht gerade ein Run auf die Karten statt… G. H.

Aber dafür kommt er im Oktober an die Deutsche Oper für seinen Vasco de Gama von Meyerbeer (ab 4. Oktober). Passend dazu erscheint nun für Deutschland seine neueste CD, die bereits im letzten Jahr in Frankreich herausgekommen ist. Die jüngste Platteneinspielung von Roberto Alagna trägt den anspruchsvollen Titel „Ma vie est un opéra“, das hat zwar nichts mit „L’état c’est moi“ zu tun, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass da unterschwellige Assoziationen zum Sonnenkönig hervorgerufen werden sollen. Der beweihräuchernde Text des Booklets (übrigens nur in Französisch) verstärkt diesen Eindruck. Da kein Autor dafür angegeben ist, stammt er vermutlich aus dem Familienbetrieb der  Alagnas (General Manager: Marinelle A., Arrangement der „Orpheus“Arie [?] David A., Stimm- und Musikberater: Frédérico A.)….. Keinem der Mitarbeiter ist jedenfalls aufgefallen, dass Leoncavallos populärstes Werk nicht „I Pagliacci“ heißt, weil es ohne den bestimmten Artikel auskommt. Und das Titelphoto der unter der Flagge der DG herausgekommenen CD ist schlicht scheußlich, was einem adorierenden Personal offenbar nicht auffällt.

Roberto Alagna - Jugendeindrücke/aus dem Booklet der CD "Ma vie est un opéra" bei DG

Roberto Alagna – Jugendeindrücke/aus dem Booklet der CD „Ma vie est un opéra“ bei DG

Doch nun zum nur 52,04 Minuten dauernden Programm (die Dauer muss man selbst ausrechnen, da sie nicht angegeben ist): Es handelt sich um eine recht wilde Mischung, in der, mit einer Ausnahme, die französischen Beiträge als Sieger hervorgehen. Die Ausnahme ist Lenskis „Kuda kuda“, das von Alagna zwar in französischer Übersetzung (das hätte er ja auch mal im Original lernen können), aber sehr stilgerecht und berührend interpretiert wird. „Inspire-moi, race divine“ aus Gounods Reine de Saba mit seiner typisch französischen Form der Dramatik macht Gusto auf mehr aus dieser Oper und wird ebenso kompetent gesungen wie „Adieu donc“ aus Massenets Hérodiade mit seiner in Sinnlichkeit getränkten Religiosität. In diesen Stücken erweist sich Alagna als würdiger Nachfolger eines Georges Thill. Es bräuchte wohl immer solche Kaliber, um diese Werke wieder ins Repertoire zu bringen, auch für Sigurd von Reyer, vertreten mit „Esprits, gardiens de ces lieux vénérés“. Eine Arie aus Le dernier jour d’un condamné à mort von Bruder David A. steht ganz in der Tradition der spätromantischen Oper französischen Stils.

Als einziger deutschsprachiger Beitrag (in verbesserungswürdigem Deutsch) gibt es „Magische Töne“ aus Goldmarks Version der Königin von Saba zu hören, wo der Schluss im ungücklich geratenen Falsett verstörend wirkt und man deutlich hört, dass sich Alagna hier vergriffen hat und akut an seinem Deutsch arbeiten muss – der Lohengrin ist eine lange Partie, wenn er ihn denn wirklich singen will.

Roberto Alagna - Le Populair,  dem Booklet der CD "Ma vie est un opéra" bei DG

Roberto Alagna – Le Populair, aus dem Booklet der CD „Ma vie est un opéra“ bei DG

Italien beteiligt sich mit zwei Arien aus Puccinis Manon Lescaut, die sehr schön gelingen, und mit „Addio fiorito asil“ aus der Butterfly, wo ich das Gefühl hatte, das Aufnahmestudio habe bei den Spitzentönen etwas nachgeholfen. Weiter gibt es Rossinis Danza, welche mit großer Virtuosität und Lebensfreude gesungen wird. In Donizettis Roberto Devereux sah sich der Sänger leider veranlasst, seine derzeitige Lebenspartnerin Aleksandra Kurzak mit einzubeziehen, die eine Elisabetta piepst, an der man keine Freude haben kann, während Alagna in der Titelrolle wunderbar frisch klingt. Die schon erwähnte Orpheus-Arie wird in der italienischen Fassung schön unsentimental dargebracht. Zum Verismo kehrt man mit Canios „Vesti la giubba“ zurück, das ohne Tränendrücker bravourös gesungen wird, mit einem zu Herzen gehenden, fast geflüsterten „Tu sei pagliaccio“.

Als eine Art Crossover ist, wieder zusammen mit der Kurzak, „A la luz de la luna“ von 1913, mit dem seinerzeit etwa Caruso und Schipa brillierten, zu hören. Alagna weiß Stücke der leichten Muse immer besonders gut zu präsentieren, so auch dieses.

Als Fazit kann gesagt werden, dass die Stückauswahl unter dem Motto „Quer durch den Gemüsegarten“ steht, Alagna aber nicht nur eine bestechende vokale Form aufweist, sondern sich auch (zumindest auf Platte) die mediterrane „solarità“ (was mit „Sonnenschein“ nur sehr unzureichend zu übersetzen ist) seiner Stimme zurückerobert hat. Angesichts seiner Leistung und der französischen Raritäten jedenfalls absolut zu empfehlen. Das Booklet sollte man besser nicht lesen, zumal Kleinstschrift in Weiß auf Schwarz/Braun eh ein Augenpulver ist und schon die Bestellnummer kaum zu lesen ist: DG 4911352, aufgenommen im September 2014.  Eva Pleus

Kollegen statt Rivalen

 

Als Folge des romantischen Genie-Kults soll um 1820 in Paris die Legende entstanden sein, dass Salieri (1750-1825) den Tod Mozarts (1756-1791) herbeiführte. Puschkin erschuf mit seinem später von Rimski-Korsakow vertonten Drama Mozart und Salieri (1832) eine erste künstlerische Auseinandersetzung. Und erst recht nach Miloš Formans Film Amadeus (1984) nach dem gleichnamigen Theaterstück von Peter Shaffer rückte Salieri ins Zwielicht. Belegbar ist diese Hypothese nicht: Salieri dirigierte Messen von Mozart, zusammen komponierten sie die Kantate Per la ricuperata salute di Ofelia (1785), die als KV 477a verzeichnet und unglücklicherweise verschollen ist und Constanze Mozart ließ Sohn Franz Xaver von Salieri Klavierunterricht geben. Mozart und Salieri waren Kollegen – so auch der Tenor einer Ausstellung über Salieri im Wiener Mozarthaus 2014.

Das Musikkollegium Winterthur widmet nun Mozart und Salieri eine Doppel-CD, in dem beide Komponisten  mit Werken verschiedener Gattungen gegenübergestellt werden: Opern-Ouvertüren (La Clemenza di Tito / Axur, Re d’Ormus, La Grotta di Trofonio), Orchestralmusik von Mozart (Adagio und Fugue KV 546, Ballettmusik aus Idomeneo, Sechs Ländlerische für 2 Violinen & Bass KV 606) sowie Arien aus Opern und Konzert. Die Zusammenstellung der Werke Mozarts und Salieris folgt dabei keinem musikwissenschaftlichem Plan, es werden keine neuen Zusammenhänge aufgedeckt oder gegenseitige Einflüsse deutlich. Vielmehr scheint es sich um ein fürs Konzert konzipiertes Programm mit sich ergänzenden Stimmungen und Kontrasten zu handeln, schön anzuhören, sehr gut gemacht und bestenfalls ein Beleg, wie stilistisch nahe sich Mozart und Salieri als komponierende Zeitgenossen in Wien waren. Mozarts Genie macht den Unterschied. Gegenübergestellt werden die Ausschnitte aus Salieris Opern deshalb nicht mit den maßstabssetzenden Werken Mozarts. Und so mögen einigen die Unterschiede verschwommen erscheinen, umso länger man der Doppel-CD zuhört und es könnte eine spannende Anregung sein, beim ersten Anhören sich nicht vorher über die Programmpunkte zu informieren, sondern einfach mal zu tippen, wessen Musik gerade erklingt. Es wird vielleicht dennoch kaum jemand Salieri mit Mozart verwechseln, umgekehrt dürfte es bei dieser Zusammenstellung eher erfolgen.

Als Sänger hat man mit der chinesischen Sopranistin Sen Guo aus dem Ensemble der Züricher Oper und Tenor Kenneth Tarver bekannte Namen; beide verfügen über bewegliche, höhen- und koloratursichere Stimmen, Tarver modelliert ein wenig nuancenreicher. Sehr gelungen ergänzen sich beide in den Duetten: „Spiegarti non poss’io“ aus Idomeneo und „Qui dove ride l’aura“ aus Axur, re d’Ormus erklingen in wunderschöner Innigkeit. Guo singt weiterhin zwei Einlagearien Mozarts für Opern Paquale Anfossis:  „Mia speranza adorata – Ah, non sai quel pena sia“  (KV 416) für Zemira und das gefühlvolle, von der Oboe begleitete „Vorrei spiegarvi, oh Dio“ (KV 418) für Anfossis Il curioso indiscreto. Beachtenwert ist die von Tarver gesungene, von Flöte und Fagott einfallsreich begleitete Konzertszene „Misero! O sogno, o son desto?“ und die folgende Arie „Aura, che intorno spiri“ (KV 431)  sowie „Non piu, tutto ascoltai – Non temer, amato bene“ (KV 490, aus der Wiener Aufführung des Idomeneo 1786). Salieri ist überwiegend mit Ausschnitten seiner bekanntesten Opern vertreten, z.B. den spannend vorgetragenen Sopranszenen „Come fuggir – Son queste le speranze“ aus Axur und „Ah! Lo sento“ aus L’Europa riconosciuta sowie „Ah vile – Or gli affanosi palpiti“ für Tenor aus Salieris origineller später Oper Falstaff, ossia Le tre burle. Die selten eingespielte Arie des Volpino „Augelletti che intorno cantate“ aus Der Rauchfangkehrer oder Die unentbehrlichen Verräter ihrer Herrschaften aus Eigennutz, die eigentlich ein Beispiel für Salieris Ausflug ins deutsche musikalische Lustspiel ist, wird von Kenneth Tarver italienisch dargeboten.
Das Orchester ist nicht auf Musik des Barock und Rokoko spezialisiert und wer Mozart und Salieri von einem aufregenden Originalklangorchester erwartet, wird hier nicht fündig. Dirigent Douglas Boyd und das Musikkollegium Winterthur musizieren ein inspiriertes Konzert, mehr geschmackvoll temperiert als aufregend, weder Kontraste noch Ähnlichkeiten überraschen. Das Beiheft erhält keine Informationen zum Programm; die Arientexte sind nicht beigefügt. (W.A. Mozart, A. Salieri: Arien und Ouvertüren, Sen Guo (Sopran), Kenneth Tarver (Tenor), Musikkollegium Winterthur; Douglas Boyd; 2 CDs,  MDG 901 1897-6).  Marcus Budwitius

Charme und Können

 

Ausgezeichnet mit dem Premio Abbiati della Critica Musicale Italiana für ihren Auftritt als Zarenbraut an der Scala, legt Olga Peretyatko nun eine CD vor, auf der sie zu den Wurzeln ihres Erfolgs, zu Gioachino Rossini, zurückkehrt. Dabei beweist sie ihre besondere Gabe, perfekten und als solchen unverkennbaren Rossini-Gesang zu bieten und zugleich unverwechselbare Figuren zu kreieren. Das zeigt sich besonders bei den beiden Arien aus Il Viaggio a Reims, die für so unterschiedliche Sängerinnen wie Laura Cinti Damoreau (Contessa di Folleville) und Giuditta Pasta (Corinna) komponiert wurden. Mit einer kristallinen Höhe und wundervoll blasiertem Ton macht die Sängerin dem Hörer Angst um wie Freude über den vermissten und wieder gefundenen Hut der Ersteren deutlich, beweist mit einer ungeheuren Leichtigkeit, so auf dem verzierten „cor“, die Leichtgewichtigkeit der Person deutlich, fein karikierend, mit zart hingetupften Tönen und ein wenig Hysterie in den Extremhöhen sowie einem komischen Pathos auf „grazie vi rendo“. Für die Corinna sind Stimme und Soloinstrument Harfe perfekt aufeinander abgestimmt, die Schwärmerei wird leicht und sich komisch steigernd übertrieben, verspielt und ganz und gar unangestrengt bereitet die Russin reines Hörvergnügen.

Für die Mathilde di Shabran wird auch die präsente Mittellage gefordert, der Ton ist wunderschön elegisch, ein Wunderwerk der Koloratur lässt das schlichte „a“ bei „a sospir“ zum musikalischen Ereignis werden. Ab „Tace la tromba“ brilliert die Sängerin mit sicheren Intervallsprüngen und Eisesspitzen wie eine Königin der Nacht. Dass ein Super-Experte wie Alberto Zedda am Pult eines ROF-erfahrenen Orchesters, dem des Opernhauses von Bologna, am Pult steht, hört man beim herrlichen Vorspiel zur Arie der Amenaide aus Tancredi, die von Olga Peretyatko, die hörbar auch um die Wichtigkeit der Rezitative bei Rossini weiß, mit zartem canto elegiaco bedacht wird. Hochfahrend hingegen hört sich der Sopran in Semiramides „Bel raggio lusinghier“ an, mit nachdenklichem Echo und geschmeidigem Triumph auf „Si, a me verrà!“ Den entschlossenen Charakter der Rosina, hier die Fassung für Sopran, zeichnet sie mit viel grinta für die irrsinnig virtuose Kadenz und nicht nur diese.

Den Abschluss bildet die große Szene der Fiorilla aus Il Turco in Italia, in  der schillernd die unterschiedlichen Gemütszustände, so ein onor voll Schmerz und Pathos, deutlich gemacht werden. Olga Peretkyatko sollte dem Repertoire, das sie zu internationalem Ruhm geführt hat und in dem die Stimme sich pudelwohl zu fühlen scheint, noch recht lange treu bleiben (Sony 88875057417). Ingrid Wanja

Träumerisches

 

Trotz enormer Vielseitigkeit in ihren Opernrollen von der Cenerentola bis Carmen ist die Kanadierin Karine Deshayes in erster Linie eine bemerkenswerte  lyrische Mezzosopranistin für ein Fach, das es gar nicht mehr so häufig gibt. Heute zieht es junge Sängerinnen dieser Stimmlage (meist viel zu früh) eher zur Dramatik und zum Koloraturfach. Mit Karine Deshayes zeigt  endlich wieder eine Sängerin die Tugenden einer Berganza oder (jungen) Kozena; ihre weiche und für einen Mezzo relativ helle Stimme mit bester  Intonation ist wie geschaffen für die vielen seltenen Partien im französischen Fach (wo sie als eine galleoinsfigur für die Unternehmungen des Palazetto Bru Zane gelten kann, wie jüngst für Davids Vesuv-Oper Herculanum) und fürs Lied.  An ihrer Seite bei dieser neuen CD Aprés un rêve bei Aparte: das französische Klaviertrio Ensemble Konraste. Es ist mehr als nur ein feinfühliger origineller Begleiter der Sängerin – die drei Instrumentalisten bekommen Raum für eigene Auftritte, mitunter auch in Zweierkombination, manchmal in arrangierten Piecen. Neben raren, auch betörenden Nummern wie Berlioz‘ Lied La Captive (für Stimme, Cello und Klavier) erklingen aus dem Album auch Hits wie die Méditation von Massenet oder Le Cygne von Camille Saint-Saens – Satimmungsmacher für einen lauen Sommerabend oder eine Runde Träumen am Kamin (so man hat).

Was ich an dieser CD sehr mag, ist die intelligente Kombination von beidem, Lied und Instrumentalstück (mit dabei: große französische Komponisten wie Gounod, Fauré oder Chausson).  Vielleicht sind die Tracks im Einzelnen gar nicht immer so gewichtig, doch insgesamt hat das Album einen großen intensiven Stimmungsbogen, die Reihenfolge der Nummern ist genial durchdacht; all dies wirkt wie das Gericht eines Meisterkochs, das aus guten Zutaten besteht, aber erst durch die Zusammenstellung der Zutaten exzellent wirkt.

So entsteht eine gelöste, aber auch intensive romantische Atmosphäre, die über siebzig Minuten überzeugend und fesselnd gehalten wird – in übrigens exquisiter Aufnahmequalität; auch das ist heute leider nicht mehr selbstverständlich (aparte / Harmonia Mundi; AP 106). M. K./ G. H.

Startenor Michael Spyres

 

Zumindest die Ouvertüre kennen wir. Sie hat Rossini noch in Elisabetta und im Barbiere recycled. Erstmals verwendete er sie bei seinem zu Weihnachten, am 26.12., 1813 in Mailand uraufgeführten Aureliano in Palmira. Zum ersten und einzigen Mal setzte Rossini auch einen Kastraten ein, was angesichts der Tatsache erstaunen mag, dass Meyerbeer noch zehn Jahre später den Kreuzritter Armando in Il crociato in Egitto in Venedig mit einem Kastraten besetzte; auch angesichts Rossinis oftmals fioriturenreichem wie aus der Kastratenzeit stammenden Stil. Auch Palmyra kennen wir, da das heutige Weltkulturerbe nach der Eroberung durch den IS und dessen Drohung, die antike Stätte zu zerstören, traurige Gegenwart geworden ist. Giuseppe Felice Romanis Libretto repetierte die vielmals erzählte Geschichte vom Krieger, der sich vom Brutalo zum mildtätigen und gütigen Monarchen wandelt wie aus dem vorausgegangenen Jahrhundert. Der Mann mit dem schönen Namen Aureliano ist der römische Feldherr Aurelian, der im späten dritten nachchristlichen Jahrhundert die kaiserliche Macht im Osten des Reiches wiederherstellen will, die Stadt Palmyra unterwirft und sich auch Zenobia, die Witwe des einstigen Herrschers, gefügig machen will. Sie liebt inzwischen den persischen Prinzen Arsace, den Aureliano in den Kerker wirft, ihm aber schließlich in einem Akt ungemeiner Läuterung zusammen mit Zenobia die Herrschaft über Palmyra übergibt, worauf sie den Römern Treue schwören. Wahrscheinlich war das Publikum solche Opern leid, weshalb der 22jährige mit seinem zweiten Auftrag für die Scala nicht sonderlich erfolgreich war, was er nach den Triumphen mit der Italiana und dem Tancredi im gleichen Jahr leicht verschmerzen konnte.

In unseren Zeiten wurde der arg konventionelle und schablonensteife Aureliano erst 1980 in Genua wieder ausgegraben. Doch ganz so unbekannt ist er auch in der Folge nicht geblieben: in Lucca wurde die Oper 1991 mit Denia Mazzola als Zenobia und Luciana D‘ Intino als Arsace gegeben, Rossini in Wildbad spielte das Dramma serio 1996, es folgte 2011 Martina Franca (beide Mal mit einem Countertenor als Arsace) und schließlich Pesaro, wo 2014

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Will Crutchfield die von ihm eingerichtete Kritische Edition dirigierte. Der Trumpf dieser Aufführung im Teatro Rossini ist zweifellos Michael Spyres, der nicht nur die Schärpen, die ihm Ursula Patzak über seine Rüstung geworfen hat, mit großer Selbstverständlichkeit und lässiger Eleganz trägt, sondern sich auf ebenso natürlich Weise die Partie zu eigene gemacht hat, die er psychologisch erfasst und stimmlich mit seinem stets ausgeglichen und rund klingenden Baritenore glaubwürdig umsetzt. Es gelingt Spyres sogar, die steifen Rezitative geschmeidig klingen zu lassen. Sein eigentlicher Widersacher Arsace bleibt ein rechtes Leichtgewicht, da die völlig unbeteiligt spielende usbekische Mezzosopranistin Lena Belkina zwar recht hübsch, aber auch pauschal singt (interessant neben weiteren Barbiere-Vorwegnahmen Arsaces Una voce poco fa-Adaption). Raffaella Lupinacci ist eine gut aussehende Publia. Jessica Pratt, die ich erstmals in Wildbad hörte und die seither in Italien gerne als Gilda, Amina und Lucia verpflichtet wird, singt die Zenobia mit einem sehr wackeren, auch höhenstarken Sopran, manchmal klingen die Koloraturen gestanzt und ein wenig leiernd und nicht sehr involviert, doch vieles macht sie wirklich sehr gut; das Publikum liebt sie. Darstellerisch lässt die Australierin gesteigertes Engagement vermissen. Eine Hilfe war ihr auch nicht der Filmemacher Mario Martone, der Aurelianos Feldzug mit klassizistischen Säulen, einem Thron und einem kleinen Irrgarten aus durchscheinenden Tuchwänden und Patzaks Kostümfest-Überwürfen dekorativ hilflos auf die kleine Bühne brachte. Ein paar Spaziergänge um den Orchestergraben und die Einbeziehung der Proszeniumslogen helfen nicht gegen die aufkommende Langeweile, auch nicht Cruchtfields sorgfältiges und kundiges Dirigat (Arthaus Blu-Ray 109074). Rolf Fath