Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Leben in zwei Welten

 

Gar nicht so schnell mit dem Lesen mit kommt man, wenn man alle in jüngerer Zeit erschienenen Biographien von Dirigenten zur Kenntnis nehmen möchte, denn was mit Kurt Sanderling begann setzte sich fort mit Riccardo Muti (speziell über das Verhältnis zu Verdi), mit Christian Thielemann (speziell über Wagner), Marek Janowski, Kent Nagano, Riccardo Chailly und schließlich ganz frisch mit Michail Jurowski, dessen „Erinnerungen“, notiert von Michael Ernst, unter dem Titel „Dirigent und Kosmopolit“ im Henschel-Verlag erschienen sind.

jurowski henschelMeistens haben aktive Dirigenten nicht die Muße, ihre Erinnerungen selbst zu schreiben, oft ist ihre Muttersprache nicht die der potentiellen Leser und des erfolgversprechendsten Marktes, so dass in der Zusammenarbeit oft mit einem Journalisten ein Frage- und Antwortspiel entsteht oder auch eine Lebens- und Karriereerzählung oder ein -bericht. Das hat den Vorteil, dass der Komponist nicht in Eigenlob verfallen und damit wenig sympathisch erscheinen muss und trotzdem seine Vorzüge ins rechte Licht gesetzt werden. Eine Art Mischform stellt das vorliegende Buch dar, indem in den erzählenden Text Zitate von Michail Jurowski eingestreut sind, was nicht selten dazu führt, das nuancierter noch einmal das wiederholt wird, was bereits geschrieben wurde. Generell fällt an dem wegen seines Faktenreichtums und wegen der authentischen Äußerungen interessanten Buches auf, dass der Autor sich häufig wiederholt, so wenn

es um die persönliche Beziehung Jurowskis zu Schostakowitsch geht, dem bereits das Vorwort gilt, um die Betonung des engen Zusammenhalts der Familie oder um die Beteuerung, der Dirigent strebe nicht an, die Kompositionen seines Vaters dem Vergessen zu entreißen. Der retardierende Charakter vieler Passagen erweckt den Eindruck, dem Autor sei der Stoff ausgegangen, was eigentlich bei dem bewegten Leben und der glanzvollen Karriere seines „Helden“ nicht der Fall sein dürfte. Dessen Stil ist dann auch sehr viel frischer und energischer als der seines „Erzählers“, auch wenn man manches nicht recht nachvollziehen kann wie eine Äußerung über Schostakowitsch: “Diese phänomenale , nicht nur an Beethoven angelehnte, sondern auch Bruckner’sche Idee, multipliziert mit der Persönlichkeit Schostakowitschs, die führt uns bis heute.“ (Orthographie des Originals) Ob anmaßend oder rührend ein Satz wie „Ich glaube einfach, dass ein Teil seines Geistes bei mir geblieben ist“, ist, mag der Leser selbst entscheiden, kann auf keinen Fall aber Jurowski vorwerfen, er habe an einem vorsichtig kalkulierenden, es jedem recht machen wollenden Werk mitgewirkt. Diesen Eindruck erweckt eher der Michael Ernst zuzuordnende Teil allein schon wegen der vielen Konjunktive, die zwar korrekt, aber auch Distanz herstellend sind. Ob manche stilistische Eigenarten des Textes wie „umtriebiger Maestro“, „als würde man ein Rennpferd unablässig angebunden halten“ oder „stattliche Bärenhaftigkeit“ dem Dirigenten gerecht werden, mag dahin gestellt sein.

Das Buch enthält viele Fotos, besonders auch der Familie, die zugleich, wie im letzten Kapitel betont wird, eine Dynastie von Musikern bildet, was eine letzte Bestätigung durch die noch ganz frische Berufung von Vladimir Jurowski zum Chefdirigenten des RSB erhält. Es ist im wesentlichen chronologisch gegliedert und da besonders interessant, wo es die Umstände schildert, unter denen jüdische Künstler in Russland bzw. der Sowjetunion leben mussten, so wenn der Großvater als Dreijähriger bei einem Pogrom aus dem Fenster geworfen und nur durch einen Hund gerettet wurde oder Jurowski selbst sich „als Jude weggeschmissen“ fühlte, aber eher wegen der Zukunft seiner Kinder als der eigenen 1990 in die Bundesrepublik übersiedelte.

Voraus geht eine Darstellung von Kindheit und Jugend, durch viele Krankheiten geprägt, der Studienzeit, von Enttäuschungen durch falsche Freunde, Einschränkungen durch die Politik wie die, an der KO nur Ballett dirigieren zu dürfen, aber auch die Darstellung glücklicher Epochen wie die Arbeit mit Zimmermann in Leipzig. Orchester werden charakterisiert wie die aufstiegsunwilligen Herforder oder die herzlichen Orchestermitglieder aus Norrköping, die es sogar schafften, dass eine „Schulklasse atemlos in der Generalprobe“ saß.

Viel lesenswerter als Gemeinplätze wie „Die Musik, das sind für ihn Werte, deren Summe unvergleichlich schwerer wiegt als die Tagespolitik“ oder den Vergleich zwischen Bach- und Jurowski-Dynastie sind Ausführungen wie die über den Ersatz der Oboe durch die Klarinette in einem Musikstück Schostakowitschs mit einem Zitat aus „Wilhelm Tell“ oder über das Schostakowitsch-Festival in Gohrisch. Ein Zeittafel, eine Diskographie, ein Bildnachweis und ein Personenregister beschließen das 208 Seiten umfassende Buch (ISBN 978-3-89487-781-1). Ingrid Wanja

 

barshai wolke verlagMusik unter BewachungRudolf Barschai Leben in zwei Welten – Moskaus goldene Ära und Emigration in den Westen: Im Gedenken an den einen Monat zuvor verstorbenen Hans Werner Henze und den zwei Jahre zuvor verstorbenen Rudolf Barschai (Foto oben svt.se) fand Ende November 2012 das Konzert in der Frauenkirche der Sächsischen Staatskapelle statt , bei dem Henzes Requiem und Barschais Bearbeitung von Bachs Kunst der Fuge auf dem Programm standen. Wenige Wochen nach der Fertigstellung der Kammerorchesterfassung der ihn lange beschäftigenden Kunst der Fuge war Barschai am 2.11.2010 in seinem letzten Wohnort in der Schweiz gestorben. Zu seinem Debüt bei der Dresdner Staatskapelle mit der Instrumentierung von Schostakowitschs achtem Streichquartett, das der Komponist als Kammersinfonie op. 110a ins einen Werkkatalog übernommen hatte, war es nicht mehr gekommen. Es war damals naturgemäß bereits etwas ruhig um den Geiger und Dirigenten Barschai geworden, der Mitte der 50er Jahre das Moskauer Kammerorchester gegründet hatte, mit welchem vor allem in den 70er Jahren zur festen Größe in den Konzertzyklen deutscher Städte geworden war. Das freilich ist nur Seite des vielseitigen Musikers, dessen Auftritte, „keine Ego-Show waren, sondern die Musik von Innen heraus zum Leuchten und zum Sprechen brachten“, wie Bernd Feuchtner im Nachruf auf Barschai schrieb. Nun hat Bernd Feuchtner, der Barschai am Rande der Aufführung von Schostakowitschs Leningrader-Symphonie 1991 in Leipzig kennen gelernt hatte, Barschais Erinnerungen „aufgezeichnet und herausgegeben“. Er hatte Barschai auch begleitet, als er erstmals nach seiner Emigration wieder nach Russland zurückkehrte und in Moskau Missa Solemnis und Mahlers Neunte dirigierte. Dennoch hätte man im Vorwort, in dem Feuchtner auf wenigen Seiten eine kleine Kulturgeschichte der sowjetischen Musikgeschichte im 20. Jahrhundert entwirft, ihrer Interpreten, Aufführungen, Einflüsse und Aufnahmen („Weniges erschien auf CD, das meiste ist verschollen“), ein wenig mehr über die Entstehung des Buches erfahren. Feuchtner hält sich in seiner verdienstvollen Ausgabe diskret zurück und überlässt Barschai das Podium. Auf diese Weise entsteht durch diese in Ich-Form geschriebenen Erinnerungen ein Panorama des russisch-sowjetischen Musiklebens, das von der Freiheit und Offenheit im ausgehenden 19. Jahrhundert über die Formalismus-Debatten und die schändlichen Demütigungen, die Komponisten wie Schostakowitsch und Prokofjew erdulden mussten, bis in die Gegenwart reicht, ein von Fakten und Bezügen nahezu überquellendes Buch, das den Erinnerungen Piatigorskys, Rubinsteins, Richters oder der Wischnewskaja vergleichbar ist bzw. diese abrundet und ergänzt. Barschai ist kein amüsanter und origineller Schreiber. Der Stil ist nüchtern, karg und ein wenig ungelenk, fesselt mehr durch Ernsthaftigkeit als Erzählkunst. Die großen Namen sind allgegenwärtig, Schostakowitsch, mit dem Barschai bis zu dessen Tod eng befreundet war, doch auch die Komponisten Weinberg, Bunin, Lokschin, die Geiger Oistrach und Kogan, die Pianisten Richter, Berman, Gilels, die Nikolajewa und Judina, usw. Traditionslinien, die durch Lehrer, wie den eminenten Leopold Auer von Joseph Joachim bis Heifetz, Elman und Milstein reichen, oder die Pädagogen Neuhaus und Goldenweiser, die enge Verbindung der russischen Musikkultur mit der deutschen Musik, die Entdeckung der Kammermusik durch erste westliche Gastspiele, die Information, die trotz des Eisernen Vorhangs mittels Schallplatten funktionierte („Von Platten kannte man in Russland I Virtuosi di Roma, I Musici di Roma, Solisti di Zagreb und eben das Münchner Kammerorchester von Wilhelm Stross“), die von Verboten, Repressalien und Einwänden gesteuerte Willkür des Kulturministerium als ein Reigen – wäre es nicht so tragisch – gogolhafter Szenen, von Künstlern, die sich andienten und anderen, die von einem Tag auf den anderen aus ihrem Amt geworfen wurde, wie der Bolschoi-Chef Nicolai Golovanov, der es gewagt hatte die Mezzosopranistin und Stalin-Freundin Vera Dawydowa auf einer Probe zu fragen, „Warum heulen Sie wie ein Wölfin?“. Abschied, Emigration, Rückkehr nach Moskau („Ich fand es grauer als vorher. Es war mir unbekannt geworden“). Manches ist fast komisch, wie der Besuch Menuhins in Moskau, der nun unbedingt Barschai zuhause besuchen wollte, während dieser Ausflüchte erfand, um den berühmten Gast nicht in die beengte Kommunalwohnung führen zu müssen, wie denn alle Ereignisse um Auslandsgastspiele, Reiseformalitäten und die Begleitung durch die allgegenwärtigen Spitzel durchwegs groteske Züge annehmen. Dann die Emigration und die großen Stationen im Westen als Leiter des Israeli Chamber Orchestra und der Orchester in Vancouver und Bournemouth sowie Gast bei zahlreichen internationalen Orchestern. Wichtig vor allem aber ist der erste Teil, „Moskaus goldene Ära“, deren musikalischer Reichtum nochmals nachdrücklich ins Bewusstsein gerufen wird (Rudolf Barschai, Leben in zwei Welten. Moskaus goldene Ära und Emigration in den Westen. Hrsg. Bernd Feuchtner, Wolke Verlag, 280 Seiten, ISBN 978-3-95593-066-0). Rolf Fath

 

Giacomo Meyerbeers „Vasco da Gama“

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Ungeteilten Beifall gab es nicht an der Deutschen Oper Berlin, als nun die zweite Folge der dortigen Meyerberer-Hommage am 4. Oktober 2015 zu sehen war. Zu viel Widerspruch regte sich wegen der Arme-Leute-Produktion, die dem Stück in den Augen vieler Würde und Nachdruck nahm – so die recht einhellige Stimme der Krtik und auch die unseres Rezensenten Bernd Hoppe. Mit Ikea-Optik und klebrig-spießiger Herangehensweise ist dieser absolut großbürgerlichen Oper nicht beizukommen. Dankenswerter Weise hatte sich die Deutsche Oper Berlin entschlossen, im Rahmen ihrer Meyerbeer-Hommagen 2015 (begonnen mit Dinorah konzertant und einem spannenden Symposium zu Beginn des Jahres 2015, das soeben in gedruckter Form bei der Deutschen Oper Berlin vorliegt) der Meyerbeer-Forschung zu folgen und nach Chemnitz 2013 (die cpo-Aufnahme ist die Studio-Einspielung des Ereignisses) die Neu- bzw. rekonstruierte Erstfassung, als Vasco da Gama, im Oktober 2015 aufzuführen.

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Meyerbeers "Vasco da Gama" an der DOB/ Szene/ Foto Stoeß

Meyerbeers „Vasco da Gama“ an der DOB/ Szene/ Foto Stoeß

Zuerst also die Aufführungskritik des Premierenabends. Verunglückter Auftakt mit Vasco da Gama: Nach Dinorah konzertant in der Berliner Philharmonie folgte nun am 4. Oktober in der Bismarckstraße mit Vasco da Gama die szenische Produktion im Rahmen des geplanten dreiteiligen Meyerbeer-Zyklus, der in den nächsten beiden Spielzeiten mit Les Huguenots und Le Prophète fortgesetzt werden soll. Das Werk ist unter dem Titel L’Africaine (in der von Fétis besorgten Uraufführung 1865 in Paris) bekannter, wenngleich selten gespielt. 2013 erwarb sich die Oper Chemnitz das Verdienst, die Urfassung des Stückes unter dem von Meyerbeer geplanten und selbst gewählten Titel in einer kritischen Edition von Jürgen Maehder herausgebracht zu haben.

Wenn Vera Nemirova eine Grand Opéra inszeniert, darf man den opulenten Pomp, die spektakulären szenischen Effekte und den exotischen Zauber dieses Genres nicht erwarten. Dass ihre Neuproduktion des Vasco in der Ausstattung von Jens Kilian/Bühne und Marie-Thérèse Jossen/Kostüme aber derart nüchtern, unsinnlich  und atmosphärelos geriet, enttäuschte freilich doch. Das Hauptproblem ist, dass die Regisseurin und ihre Mitarbeiterin Sonja Nemirova sich hinsichtlich des Stils nicht entscheiden konnten und einen Mix aus statuarischem Rampensingen, aufgesetzt wirkender aktueller Flüchtlingsproblematik und pseudo-exotischem Touristenkitsch präsentieren.

Meyerbeers "Vasco da Gama" an der DOB/ Szene/ Foito Stoeß

Meyerbeers „Vasco da Gama“ an der DOB/ Szene/ Foto Stoeß

Vor allem der erste Akt misslingt gänzlich mit seiner spartanischen Szenerie, die beherrscht wird von einer schwarzen, aufgestellten Weltkarte, auf der mit Kreide die Kontinente  nach dem Kenntnisstand der Zeit eingezeichnet sind und die auch als Spielfläche oder Verhandlungstisch herunter geklappt werden kann. Zu einer Kuppel verbinden sich dahinter mehrere Segelelemente – wenn sie in verschieden Farben aufleuchten oder schillernde Wellen reflektieren, ist das einer der wenigen wirkungsvollen Effekte des Abends. Weitaus weniger kann man sich mit dem Holzgestänge anfreunden, das beim Drehen der Segel auf deren Rückseite sichtbar wird. In der Eingangsszene agiert Ines in einem weißen Matrosenkleid an der Rampe, umgeben von weißen – aus Papier gefalteten – Schiffchen, die als Metapher für Sehnsucht und Hoffnung bis zum Schluss beibehalten, aber auch als Zufluchtsort für die Tochter des portugiesischen Admirals Don Diego oder als Kerker für den Titelhelden genutzt werden. Geradezu peinlich (in einer Grand Opéra!) sind zwei Öffnungen in der Weltkarte, die als Einstiegsluken oder Fenster für die Protagonisten dienen, was ihren Auftritten jegliche Größe nimmt und sie nachhaltig diskreditiert. Der Portugiesische Kronrat in der zweiten Szene zeigt deren Vertreter in heutigen Business-Anzügen, auch die im Regietheater gern und häufig verwendeten Requisiten – Mäntel, Brillen, Koffer – fehlen nicht. Tief in die Kitschkiste greifen die Damen Nemirowa schon im 2. Akt, wenn sie mit dem Frauenchor in schwarz-weiß karierten Kleidchen und rosa Hütchen eine Cocktailparty inszenieren (John Dew grüßt), während die Matrosen Flaschen drehen und Inès als Braut für die Hochzeit mit Don Pedro vor einem Altar mit Kerzen, Blumen und Banner eingekleidet wird. Noch ärger sind die Vorgänge im 3. Akt auf dem von Don Pedro geleiteten Expeditionsschiff, wo eine als Nonne verkleidete Hure in Strapsen, roten Strümpfen und Pumps von den Männern entblößt und vergewaltigt wird. Einen derart peinlichen und spießigen Einfall hätte man in einer heutigen Inszenierung nicht für möglich gehalten. Wenn danach der von flackernden Lichtern illustrierte Sturm einsetzt und indische Piraten das Schiff erobern – gezeigt als IS-Kämpfer, die mit Maschinengewehren die Seeleute niedermetzeln –, erreicht der Unmut des Premierenpublikums (4. 10.) seinen Höhepunkt.

Meyerbeers "Vasco da Gama" an der DOB/ Szene/ Foito Stoeß

Meyerbeers „Vasco da Gama“ an der DOB/ Szene/ Foto Stoeß

Im letzten Teil eskaliert der Kitsch bei der Hindu-Hochzeit von Selica und Vasco mit einer Liebesstatt aus roten Blüten, die einer mit Tomate belegten Pizza oder einem Bruschetta-Cracker irritierend ähnlich sieht. Elefantenköpfe, orangefarbene Girlanden und ein exotischer Shiva-Tanz sind die Zugaben, „gekrönt“ von einem in das Blütenbett projizierten Softporno. Nach Selicas Todeshalluzinationen unter dem giftigen Manzanillobaum, für den es keine szenische Entsprechung gibt, sieht man noch einmal das Volk (mit Frauen in Kopftüchern), das die Papierschiffchen vor sich her trägt, und einen durch die Szene geisternden Vasco mit seiner Landkarte unter dem Arm.

Auch musikalisch war der Abend zwiespältig. Enrique Mazzola, ein Rossini-Spezialist und in Pesaro eine Größe, arbeitete mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin die Belcanto-Elemente der Komposition deutlich heraus, ließ ihr schwelgerisches Melos und die orchestrale grandeur aufleuchten, schuf Momente wehmütiger Zartheit, flirrender Impressionismen und düsterer Farben. Vielleicht waren, vor allem im ersten Teil, einige Tempi etwas breit, was die Rezeption manch langer und spröder (eben nicht inszenierter Bühnen-)Passage des Werkes nicht kurzweiliger machte. Glanzvoll wie stets sang der Chor der Deutschen Oper Berlin (Einstudierung: William Spaulding).

Probenbild zu „Vasco da Gama“ an der Deutschen Oper Berlin mit Roberto Alagna/ Foto Stöß

Roberto Alagna, der in der Titelrolle debütierte, ließ sich wegen eines grippalen Infektes entschuldigen. Die Indisposition war fast durchgängig spürbar im strapazierten Klang der Stimme und den gefährdeten Höhen. Aber er sang ohne Schonung mit durchschlagskräftigem Ton und patriotischem Elan und vor allem mit exemplarischer Diktion. Eklatant wirkte sich seine Verfassung bei den lyrischen Stellen aus, in denen das Timbre besonders gequält klang. Auch die berühmte Arie (hier nun als „Oh paradis!“ und nicht als  originales „Oh doux climat!“) gelang ihm nicht. Danach aber, als wäre der Druck von ihm genommen, hörte man einige bemerkenswerte Klänge von tenoraler Pracht, und auch das Duett mit Selica darf man zu den vokalen Höhepunkten der Aufführung zählen. Sophie Koch gab ihr Debüt in dieser Rolle, die ihr in der Tessitura eine Spur zu hoch liegt und im Charakter zu dramatisch für die lyrische Mezzosopranistin ist. Das Zierwerk der berühmten Arie zu formen, fiel ihr deutlich schwer. Und leider verfügt sie nicht über die exotische und sinnliche Aura für die indische Königin, die bei ihr zu schlicht bleibt. In der großen Schluss-Szene hörte man einige leidenschaftlich flammende Töne und den nötigen trancehaften Ausdruck, so dass ihr am Ende der uneingeschränkte Jubel des Publikums gebührte. Erschrocken war man über die stimmliche Verfassung von Nino Machaidze als Ines, die noch vor einigen Jahren in Salzburg als Gounods Juliette bezaubert hatte. Der Sopran klang nun verhärtet und abgesungen, in der Höhe scharf und grell und zudem fast durchgehend wortunverständlich, nur in einigen lyrischen Passagen sowie im piano angenehm. So war es dem Ensemblemitglied Markus Brück als Nelusco vorbehalten, den größten Erfolg der Premiere zu erringen. Mit markantem Timbre, auftrumpfender Attacke und oft grimmigem Ausdruck formte er einen plastischen Charakter und vermittelte glaubwürdig – und zudem bei bestem Französisch – die inneren Konflikte dieses liebenden Mannes und religiösen Fanatikers. Und auch Seth Carico als sehr präsenter, spielfreudiger Don Pedro muss erwähnt werden, ebenso Clemens Bieber/ Don Alvar und Albert Pesendorfer/ Oberpriester.  Die Zuschauer feierten am Ende alle Interpreten herzlich – nicht ohne Zeichen der mentalen Erschöpfung nach der fünfstündigen Aufführung. Bernd Hoppe

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Aus diesem Anlass im Folgenden auch verschiedene Texte zur Berliner Aufführungsserie 2015, angefangen mit einem Interview mit dem Dirigenten Enrique Mazzola, der bereits die Dinorah in der Berliner Philharmonie leitete. Die DOB und ihr Chefdramaturg Jörg Königsdorf waren so freundlich, uns das Interview, das er für das Programmheft zum Vasco führte, zu überlassen. Im Anschluss findet sich ein Text von Boris Kehrmann  im Gespräch mit dem Dirigenten Frank Beermann anlässlich der Chemnitzer Uraufführung 2013 (mit Dank an die Zeitschrift Opernwelt). G. H.

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"Vasco da Gama": der Dirigent an der DOB, Enrique Mazzola/ Foto Martin Sigmund/ DOB

„Vasco da Gama“: der Dirigent an der DOB, Enrique Mazzola/ Foto Martin Sigmund/ DOB

Maestro Mazzola, Meyerbeers 1865 uraufgeführte letzte Oper steht in einem Umfeld von musikalischen Giganten: Fast zeitgleich erlebt Wagners „Tristan“ seine Premiere, Verdi schreibt am „Don Carlo“ und Berlioz an den „Troyens“. Welche Stellung bezieht Meyerbeer hier mit „Vasco da Gama“? Das Besondere an Meyerbeer ist, dass er mitten im Zentrum dieser Entwicklungen steht.  In seinen Opern gibt es Verbindungslinien zu allen damals wichtigen musikalischen Stilen. Das liegt natürlich vor allem an seiner biografischen Prägung, seiner deutsche Erziehung und seinem Leben in Paris, das zu dieser Zeit das Herz der musikalischen Welt war. Ein ganz wesentlicher Punkt für mich ist jedoch auch, dass  Meyerbeer das Erbe Rossinis angetreten hat und genau dort weitermachte, wo Rossini aufhörte. Oft wird ja Rossinis „Guillaume Tell“ als erste Grand Opéra bezeichnet, aber musikalisch ist sie das noch nicht. Rossini blieb im Grunde dem klassischen Belcanto verhaftet und hat sich vielleicht auch deshalb von der Oper zurückgezogen, weil er die sich abzeichnende Dramatisierung dieser Kunstform nicht mitmachen wollte. Und genau dort setzt Meyerbeer an und erfindet gewissermaßen  die Grand Opéra. Er beherrscht den Belcanto-Stil Rossini’scher Prägung, aber fügt der horizontalen, an der melodischen Linie entlang orientierten Denkweise des Belcanto das vertikale Denken in Harmonien hinzu, das Erbe der Wiener Klassiker. Und diese Kombination wendet er dann auf die große französische Theatertradition mit ihren fünfaktigen, opulenten Musikdramen an. Für mich ist Meyerbeer damit der erste europäische romantische Komponist.

Einer von Meyerbeers engsten Jugendfreunden  war Carl Maria von Weber, der erste große deutsche Komponist der Romantik. Würden Sie Meyerbeer ebenfalls als Romantiker bezeichnen? Aber sicher. Meyerbeer schwimmt mitten im romantischen Strom.  In seinen Opern öffnet er den Weg zu einer Neuformulierung des gesungenen Gefühls. Die Menschen seiner Zeit waren unzufrieden geworden mit der belcantistischen Musiksprache, die Gefühle über Koloraturen und Verzierungen ausdrückte. Sie brauchten einen stärkeren Gefühlsausdruck im Lyrischen wie im Dramatischen – und den lieferte ihnen Meyerbeer. Er hatte den Schlüssel, die großen romantischen Gefühle freizulassen.  Es war klar, dass sich mit dieser expressiven Entwicklung auch die Rolle des Orchesters ändern musste und dieses nicht mehr, wie im klassischen Belcanto, auf Begleitfiguren und Wiederholungen bestimmter rhythmischer Segmente beschränkt war. Das Orchester bei Meyerbeer wird zum lebenden Organismus, zum Spiegel und zum Kommentator des Geschehens. Einen ganz besonderen Punkt bei Meyerbeers Einsatz von Orchesterfarben dürfen wir allerdings nicht vergessen: das Folkloristische. Er liebt es, uns kleine Porträts einzelner Gruppen zu geben, die in einer jeweils ganz besonderen Koloristik ausgeführt sind: Nehmen Sie nur den dritten Akt von „Vasco“: Die Matelots oder auch der Auftritt der Piraten, wo Meyerbeer das Vokabular des Exotismus  für sich adaptiert. Es gehört ganz essenziell zu Meyerbeers Matrix als Komponist, dass er sich von solchen Klangwelten inspirieren lässt, Einflüsse und Moden aufgreift und sie in seine Sprache integriert.

Bühnenbild zur "Africaine"/OBA

„Vasco da Gama“: Bühnenbild zur „Africaine“/OBA

Bei Vasco da Gama, dessen endgültige Gestalt Meyerbeer nicht mehr bestimmen konnte, stellt sich insbesondere die Frage nach dem Umgang mit dem jetzt endlich vorliegenden Material aus seiner Hand – sprich: Wie gehen Sie mit Strichen um? Für jedes Stück sind Striche eine Gefahr. Aber Vasco da Gama ist eine sehr lange Oper und wir müssen sehen, dass die Sänger das durchhalten. An dieser Stelle möchte ich etwas ganz Grundsätzliches über Striche in Opern sagen. Die neuen kritischen Editionen, die mittlerweile von vielen Werken erhältlich sind, stellen eine große Versuchung dar. Man denkt automatisch: Das ist das reine Manuskript, also der Wille des Komponisten, und das muss alles präsentiert werden. Aber das stimmt für einen großen Teil der Opernliteratur des 19. Jahrhunderts nicht. Jeder wusste, dass die vorliegende Partitur ein Grundmaterial war, das den jeweiligen Umständen und Möglichkeiten einer Aufführung angepasst werden musste. Meyerbeer selbst hat das ja in allen seinen Opern immer wieder getan. Striche waren in dieser Zeit Teil der Aufführungspraxis. Das galt übrigens nicht nur für Meyerbeer, sondern auch für Wagner: In der Bibliothek meiner Familie gibt es viele alte Ausgaben von Wagner-Werken aus den 1890er Jahren – und da finden Sie eine Menge Striche! Unsere Vorfahren hatten damit auch überhaupt kein Problem. Ich nutze für meine Aufführungen immer gute quellenkritische Werkausgaben, aber ich möchte selbst entscheiden, was für eine Produktion wichtig ist. Also: Kein Dogmatismus! Wir müssen stattdessen das Ziel der Oper im Auge behalten, Charaktere und Handlung möglichst überzeugend zur Geltung kommen zu lassen. (Das Gespräch führte Jörg Königsdorf)

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Meyerbeers Grab auf dem Jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee in Berlin/Foto Winter

Meyerbeers Grab auf dem Jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee in Berlin/Foto Winter

Dazu auch Auszüge aus dem Artikel von Boris Kehrmann zur Chemnitzer Aufführung 2013, im Gespräch mit dem Dirigenten Frank Beermann (Quelle Opernwelt, s. unten):  Das Erstaunlichste an «Vasco de Gama», wie man Giacomo Meyerbeers Nachlassoper in der vom Komponisten hinterlassenen Fassung zur Unterscheidung von ihrer posthumen Bearbeitung als «L’Africaine» durch François-Joseph Fétis künftig nennen sollte, ist ihre Zartheit und Zerbrechlichkeit. Schumann, Berlioz, Wagner haben uns eingebläut, Meyerbeers Musik als Synonym für Schwulst und Knalleffekte zu verstehen. Debussy stöhnte, man müsse die jährliche Wiederaufnahme der «Hugenotten» an der Salle Garnier wie den unvermeidlichen Frühjahrsschnupfen über sich ergehen lassen. Der Begriff Grand Opéra suggeriert, dass auch ihr Klangaufwand «grand» sein müsse. Und dann erlebt man bei der nicht ganz strichlosen Uraufführung der historisch-kritischen Ausgabe Jürgen Schläders in Chemnitz (siehe OW 2013/3) von den ersten, merkwürdigen, unvergleichlichen Einleitungsakkorden an das Gegenteil: Einen melancholischen Schwanengesang, der eher flüstert als schreit, sich eher nach innen kehrt als nach außen, eher die Vergeblichkeit menschlichen Sehnens beklagt, als den Triumph des Willens ausposaunt. Alles ist zurückgenommen, reduziert, konzentriert. Oft singen die Stimmen völlig unbegleitet (niemand muss brüllen). Oft gehen nur eine oder zwei Instrumentalstimmen mit wie im intimen Selbstgespräch zu zweit (das ist schon in den «Hugenotten» so). Selbst in den großen Kampfduetten des 3. und 5. Akts gibt es eigentlich keinen Kampf mehr. Obwohl «Vasco» von einem Nobody handelt, dem die Etablierten seine Jugendliebe, seine Ideen, seinen Ruhm klauen (mit dem historischen Vasco da Gama hat die Oper nichts zu tun; Quelle war die Biographie seines Sängers, des Dichters Luis de Camoës – das ist der, der auch in Donizettis Oper Dom Sébastien vorkommtG. H.- , und sein Epos, «Die Lusiaden»), ist die Oper lyrisch, nicht martialisch.

"Vasco da Gama": Jean-Francois Fétis stellte nach Meyerbeers Ableben das Material zur "Africaine" zusammen/ Wiki

„Vasco da Gama“: Jean-Francois Fétis stellte nach Meyerbeers Ableben das Material zur „Africaine“ zusammen/ Wiki

Vascos heroische Melodiebildung ist «chevaleresk», um Meyerbeers eigene Formulierung zu benutzen. Sie wahrt Zurückhaltung und leugnet ihre weiche Seite nicht. Die wunderbare Traumerzählung des 2. Akts oder «Ô doux climat» (4. Akt), das Bizet zu seiner Blumenarie inspirierte, stehen dafür. Das kann man autobiographisch deuten. Carl Dahlhaus wies auf die «ängstliche Natur» des jüdischen Komponisten hin. Obwohl er überzeugt war, dass der «Richess» (Judenhass) bei 99 % des «versammelten Publikums» unausrottbar sei (Briefe an Michael Meyerbeer, 1818, und Heinrich Heine, 29.8.1839), hielt er Widerstand für zwecklos und zog sich konsequent in die «Schweigsamkeit» zurück. Nie hat er öffentlich auf anti-Meyerbeer-Pamphlete reagiert. So auch seine Musik. Obwohl er obsessiv auf Phänomene der Gewalt in der Geschichte starrte, ist seine Musik unkämpferisch. (…)

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Der Chemnitzer Vasco-Dirigent Frank Beermann hat sich 1990/91 erstmals mit «Robert le diable» und «Le Prophète» beschäftigt. 2004 setzte er im Rahmen des Leipziger Belcanto-Zyklus gemeinsam mit dem Chefdramaturgen und späteren Chemnitzer Intendanten Bernhard Helmich Meyerbeers frühe «Margherita d’Anjou» (1820) aufs Programm. (…) Der Kontakt mit dem Meyerbeer-Spezialisten Sieghart Döhring (…)  war etabliert, die Uraufführung der neuen «Vasco»-Ausgabe für Leipzig verabredet. Der Weggang des damaligen Intendanten Henri Maiers ließ das Projekt nach Chemnitz wandern (…).

Entwürfe zur "Africaine" 1865/Gallica/Wiki

„Vasco da Gama“: Entwürfe zur „Africaine“ 1865/Gallica/Wiki

Dabei waren die Schwierigkeiten für Sänger und Orchester enorm. Sie mussten sich in einen völlig neuen Stil einarbeiten. Die eingangs erwähnte Fragilität der Musik ist das Ergebnis eines spezifischen Orchestersatzes, der nur Meyerbeer eigen ist. Beermann spricht von der «Kleinteiligkeit der Partitur». Damit ist Meyerbeers Eigenheit gemeint, Phrasen, Melodien, größere Einheiten nicht einem Instrument anzuvertrauen, sondern wie ein Mosaik aus vielen kleinen Einzelbeiträgen zusammenzusetzen. «Die Musiker können aus ihrer Stimme auf dem Notenpult das Ganze überhaupt nicht mehr erkennen, weswegen Stimmgruppenproben fast sinnlos sind.» Sie müssten wieder lernen, in das Orchester hineinzuhören, um sich zu orientieren. Man könne sich fast nie auf einer Kantilene «ausruhen», sondern müsse fünf Stunden lang fast ununterbrochen «zuarbeiten».(…)

Meyerbeers tüftlerisches Interesse an Klangfarben bringt uns auf die Frage der historischen Instrumente. Dabei habe sich in der Vorbereitung als zusätzliche Schwierigkeit herausgestellt, dass bestimmte Erfindungen von Meyerbeers Freund, dem Instrumentenbauer Adolphe Sax, in dessen Werkstatt der Komponist Stammgast war, heute nicht mehr aufzutreiben sind. Aber auch jenseits solcher Material-Probleme gehöre die Arbeit an der Klangfarbe zu den großen Herausforderungen, bei denen die Meyerbeer-Interpretation noch ganz am Anfang stehe. (…) Und wie wirkt es sich für die Sänger aus, dass moderne Instrumente einen Halbton höher spielen als zu Meyerbeers Zeit? «Das ist vor allem für den Tenor ein Problem, weil sich seine Partie damit ständig in der unangenehmen Bruchlage bewegt, wo sich Kopf- und Bruststimme mischen.»

François-Xavier Mercier als Vasco de Gama/OBA

„Vasco da Gama“: François-Xavier Mercier als Vasco da Gama/OBA

Nicht nur Instrumentalisten, auch Sänger stellt Meyerbeer vor neue Herausforderungen. Für alle Beteiligten galt, dass sie erst einmal die Grundlagen des Meyerbeer-Gesanges legen mussten. Die bestehen – überraschend für Außenstehende – vor allem in der Phonation der französischen Sprache. (…) Ein Problem dabei bestehe darin, dass es keine allgemeingültige französische Gesangsschule und Phonation mehr gebe. «Wenn ich wissen will, wie Richard Strauss in den letzten 30 Jahren gesungen wurde, rufe ich den Korrepetitor der Münchner Staatsoper an, und der kann mir haarklein aufzählen, wie dieser oder jene das gemacht hat. Für Meyerbeer gibt es solche Erfahrungswerte nicht und schon was die Aussprache des Französischen betrifft, vertritt jeder eine andere Meinung.», sagt Beermann. Das wird auf den Proben immer dann zum Problem, wenn die musikalische Linie des Notentextes gegen den natürlichen Wort- und Sprachakzent verstößt. (…) Schon Meyerbeers posthumer Bearbeiter François-Joseph Fétis hat das Problem gesehen und den Text geändert, um ihn an Erfordernisse des Gesangs und der Sprachmelodie anzupassen. Berühmtestes Beispiel: Vascos Arie «Ô doux climat», die bei Fétis zu «Ô paradis» wurde. Die Kritische Ausgabe macht diese Eingriffe wieder rückgängig. (…) Die Rückgewinnung Meyerbeers steht eben auch in Bezug auf den Gesang noch ganz am Anfang. Immerhin ist mit der kritischen Edition des Ricordi-Verlages eine solide Textgrundlage gelegt. Praktiker können sich nun erstmals sicher sein, auch das vor sich zu haben, was Meyerbeer geschrieben hat.

Szene "Vasco da Gama" in Chemnitz/c. Dieter Wuschanski

Szene „Vasco da Gama“ in Chemnitz 2013/c. Dieter Wuschanski

Was unterscheidet sie eigentlich von der alten Ausgabe? Wer die Chemnitzer Aufführung 2013 mit dem herkömmlichen Klavierauszug vergleicht, entdeckt neben den erwähnten Textänderungen und abweichenden Instrumentations-Details im Wesentlichen radikale Striche. Der Akademiker Fétis, der von Meyerbeers Witwe den Auftrag erhielt, die laut Tagebuch des Komponisten vom 29.11.1863 bis auf «die Ouvertüre und Ballettstücke u. die möglichen Ändrungen» fertige Partitur aufführungspraktisch einzurichten (Ouvertüre und Ballett konnte Meyerbeer noch vor seinem Tod ein halbes Jahr später vollenden), setzte vor allem im 3. und 5. Akt den Rotstift an. Im 5. Akt fehlt die Arie der Inès, im 3. der «Ronde bachique» und 90 % des Septetts. Die Finalszenen beider Akte wurden um die Hälfte gekürzt.

„Vasco da Gama“: der Chemnitzer Dirigent Frank Beermann dirigierte erstmals 2013 die neue Fassung der Oper/ Foto Neda Nabaee/ Theater Chemnitz/ cpo

Darüber hinaus raffte Fétis den rezitativischen Dialog, wodurch die Handlung unverständlich wurde, und strich viele «Wiederholungen», womit er die klassischen Symmetrien der Partitur zerstörte, die auf Variation desselben Materials, subtiler Ironie (eine Person entgegnet auf der gleichen musikalischen Phrase das Gegenteil des Vorredners) und Rahmung (ABA-Formen) beruht. Auch thematische Bezugnahmen entfielen. 35 Striche, die sich auf 1200 Takte oder über eine Stunde Musik summieren, wurden gezählt. Trotzdem zog sich die Uraufführung 1865 wegen der langen, Grand-Opéra-üblichen Pausen von 19.15 bis 0.45 Uhr hin. Auch in Chemnitz kürzte man inszenierungsbedingt die Rezitative behutsam, ließ eine Sélica-Arie und einen Teil ihres Duetts mit Vasco weg. Für die cpo-Aufnahme wurden sie nachträglich eingespielt.

"Vasco da Gama": die vier Hauptdarsteller der Uraufführung der "Africaine"/ Gallica/ Wiki

„Vasco da Gama“: die vier Hauptdarsteller der Uraufführung der „Africaine“/ Gallica/ Wiki

Diskutieren kann man über die Natur des von Meyerbeer nachgelassenen Materials. Der Chemnitzer Dirigent Beermann schließt sich der Meinung der Herausgeber an. Gestützt auf die Praxis des Komponisten bei der Einstudierung seiner selbst uraufgeführten Opern, sehen sie im Gesamtkonvolut des «Vasco» eine Materialsammlung, aus der Meyerbeer bei den Proben die Fassung letzter Hand erstellt hätte. Die zitierte Tagebucheintragung erwähnt ja als ausstehend ausdrücklich auch «die möglichen Ändrungen». Dem gegenüber könnte man argumentieren, dass dieses Konvolut eben kein Konvolut sei, sondern die von Meyerbeer imaginierte Idealform der Oper vor ihrer Anpassung an Theaterpraxis, Konventionen und Aufnahmefähigkeit des Publikums. Insofern birgt das noch nicht durch die Mühlen der Praxis gegangene Werk die Chance, dem Innersten des Komponisten näher zu kommen als jedes andere. Die Schlussszene beispielsweise wirkt in der 15-minütigen Fassung viel unkonventioneller, weil es eben eine gewisse Zeit und mehrere Spiraldrehungen des Deliriums braucht, bis sich die unter den Ausdünstungen des Manzanilla-Baumes erstickende Sélica ins Nirwana hinaufschraubt, ja geradezu physisch auflöst («Madame Butterfly» hat die Idee inklusive Summchor weiter entwickelt; ebenso Massenets «Don Quichotte», Rimskis «Kitesch», Tanejews «Orestie»). Dagegen wirkt die Fétis-Fassung wie eine gewöhnliche Wahnsinnsszene. Beermann weist jedoch darauf hin, dass der komplette Schluss jede Sängerin nach fünf anstrengenden Stunden an den Rand ihrer Kräfte bringe, zumal sie im letzten Akt 35 Minuten ununterbrochen auf der Bühne steht. Boris Kehrmann

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"Vasco da Gama": der Autor Boris Kehrmann/ Foto Dieter-David Scholz

„Vasco da Gama“: der Autor Boris Kehrmann/ Foto Dieter-David Scholz

Für den „Nachdruck“ des hier nur in großen Auszügen wiedergegebenen Artikels von Boris Kehrmann danken wir ausdrücklich der Zeitschrift Opernwelt, wo der vollständige Text im Jahrbuch von 2013 noch immer nachzulesen ist. Wir wissen diese kollegiale Großzügigkeit sehr zu schätzen. Dank auch an den Autor und Musikwissenschaftler Boris Kehrmann, der am Badischen Staatstheater Karlsruhe als Dramaturg (gegenwärtig für Meyerbeers Propheten/Premiere 18. 10. mit Ewa Wollack als Fidès) arbeitet und der kürzlich  seine zweibändige Untersuchung über die frühen Tage des Regisseurs und ehemaligen Intendanten der Berliner Komischen Oper, Walter Felsenstein, im Tectum Verlag vorgelegt hat – s. dazu auch die Rezension auf operalounge.de. / G. H.

Fotos: Roberto Alagna/  c. Jean-Baptiste Millot/ Deutsche Grammophon Gesellschaft mit Dank an Bisséh Akamé/ Universal Music) / Foto oben Szene mit Roberto Alagna und Sophie Koch in der Produktion der DOB/ Foto Stoeß. Zu erwähnen bleibt auch das inhaltsreiche Programm der DOB zur Aufführung, leider ohne Libretto (das allerdings in der cpo-Aufnahme), mit informativen Beiträgen von Jürgen Schläder, Anselm Gerhard und anderen – sehr habenswert! Und Sammler werden stolz ihren DLR-Radio-Mitschnitt bewahren, der kaum gekürzt diese ebenfalls nur geringfügig gekürzte Aufführung der DOB bewahrt. Ein Meilenstein jeder Sammlung und bis heute (2023) nicht wiederholt. G. H.

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Und zum Schluß wiederholen wir den der cpo-Rezension der Oper in der Chemnitzer Aufführung beigefügten Artikel von Carla Neppl, Dramaturgin am Theater Chemnitz. Die Entstehung der Oper:Nach dem großen Erfolg von Robert le Diable und Les Huguenots in Paris, unterzeichneten Giacomo Meyerbeer und Eugène Scribe 1837 den Vertrag für eine weitere große Oper: L’Africaine sollte ihr Titel sein. Die Uraufführung war drei Jahre später in Paris geplant. Scribes Libretto erzählte die Geschichte einer afrikanischen Königstochter, die sich unglücklich in einen portugiesischen Seeoffizier verliebt. Als er sich zugunsten seiner langjährigen Geliebten gegen sie entscheidet, sucht sie den Tod in den giftigen Düften des Manzanilla Baums. Meyerbeers anfängliche Begeisterung für das neue Projekt wich schon bald der Erkenntnis, dass L’Africaine inhaltlich nicht an seine beiden ersten Opern heranreichen würde. Es folgten Jahre der Überarbeitung. Schließlich entschied er sich, seine Kraft zunächst in andere Werke zu investieren. So wurde u. a. 1843 in Berlin Das Feldlager in Schlesien, 1849 in Paris Le Prophète uraufgeführt.

vasco

Nach Meyerbeers Tod erklärte sich der belgische Musikwissenschaftler (und Komponist) François-Joseph Fétis bereit, im Auftrag der Pariser Grand Opéra das vorhandene Material zu sichten und eine spielbare Fassung herzustellen. Diese verdienstvolle Arbeit wurde insgesamt leider durch teilweise unglückliche Eingriffe in das Werk geschmälert. Zunächst war Fétis der Meinung, dass man der Musikwelt die versprochene Oper L`Africaine geben müsse, eine Titeländerung nach Meyerbeers Wunsch in Vasco de Gama nur Verwirrung stiften würde. Da er aber Vasco als Figur genauso beibehielt wie die indischen Brahma-Kult-Szenen, ergaben sich nun Ungereimtheiten in der Handlung, denn Sélika war definitiv keine „Afrikanerin“. Außerdem nahm Fétis inhaltliche Änderungen und Kürzungen am Werk vor. Neben diversen Textänderungen und Weglassungen von Wiederholungen betrafen die Kürzungen vor allem den dritten und den fünften Akt. Im dritten Akt sparte Fétis das Trinklied der Matrosen aus. Außerdem kürzte er den Akt nach dem Duett zwischen Vasco und Don Pédro extrem: Es folgte gleich die Sturmszene mit dem anschließenden Übergriff der Inder. Die Szene, in der Sélika Inès bedroht und damit Don Pédro zwingt, seinen Tötungsbefehl gegen Vasco zurückzuziehen, entfiel genauso wie das Duettino zwischen Sélika und Nélusko vor der erwarteten Erschießung. Dafür fand Fétis jedoch im fünften Akt Verwendung. Außerdem fehlte die Passage am Schluss des Aktes, in der Sélikas Identität von Nélusko öffentlich bekanntgegeben wird. Erwähnt sei im vierten Akt die Änderung an Vascos b erühmte  Arie „Ȏ paradis“:Dieser romantisierende Textbeginn stammt ebenfalls von Fétis. In Meyerbeers Version beginnt sie mit dem Text „Ȏ doux climat“ und ist auch musikalisch etwas anders gestaltet. Der fünfte Akt begann bei Fétis mit der Szene zwischen Sélika und Inès. Der Zuschauer erfuhr also weder, wieso Inès, die eigentlich mit den anderen Portugiesinnen unter dem Manzanilla-Baum den Tod finden sollte, noch lebt, noch dass Inès und Vasco sich wiedergefunden hatten. Auch Sélikas Szene am Manzanilla-Baum wurde verkürzt: Sowohl die Vision, in der ihr Vasco noch einmal erscheint, als auch ihr anschließendes langsames Verdämmern durch die Wirkung der giftigen Dämpfe strich Fétis zugunsten einer schnellen Schlussentwicklung. Offensichtlich wollte er der Nélusko-Figur noch einmal dramatisches Gewicht verleihen und stellte vor den Schlusschor das vorher im dritten Akt gestrichene Duettino.

Trotz aller dieser Änderungen war die Uraufführung knapp ein Jahr nach Meyerbeers Tod am 28.April 1865 in Paris ein Riesenerfolg. Wie groß die Wertschätzung für Meyerbeer war, lässt sich daran messen, dass das französische Kaiserpaar der Vorstellung beiwohnte und man am selben Abend auf der Bühne eine Büste des Komponisten enthüllte. Die Africaine  trat ihren Siegeszug um die Welt an, der erst durch das Verbot der Nazis im 20. Jahrhundert gestoppt wurde. Bis dahin war sie Meyerbeers meistgespielte Oper. Nach 1945 gab es deutlich weniger Aufführungen.

Nach und nach beschäftigte sich auch die Forschung intensiver mit dem Werk und mit Meyerbeers Originalmaterial. Anhand der umfangreichen hinterlassenen Schriften ist sein Arbeitsstil noch heute gut nachvollziehbar. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, seine Werke während der Proben intensiv zu überarbeiten. Aus diesem Grund wissen wir also nicht, wie Vasco  ausgesehen hätte, wenn Meyerbeer selbst bis zur Premiere dabei gewesen wäre. Uns liegt die Oper heute so vor, wie er sie zu diesem Zeitpunkt als beendet betrachtet hatte. Die kritische Ausgabe von Jürgen Schläder, erschienen beim Verlag Ricordi, ermöglicht damit erstmalig eine Aufführung aller veröffentlichten und unveröffentlichten Werkteile, die bei Meyerbeers Tod vorlagen. Carla Neppl (Den Artikel entnahmen wir dem Programm zur Aufführung in Chemnitz 2013 mit freundlicher Genehmigung der Autorin).

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Mannheimer Uraufführung

 

„Im Angedenken an Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch“ lautet die Zugeignung auf dem Klavierauszug von Mieczyslaw Weinbergs 1994 im Druck erschiener Oper Der Idiot. Weinberg setzte damit seinem 13 Jahre älteren und 1975 verstorbenen Kollegen und Förderer ein Denkmal, indem er Dostojewskis aufrechten, liebeswerten, gegen Konventionen verstoßenden Fürsten Myschkin, den angeblichen „Idioten“, mit dem sensiblen, Demütigungen erleidenden und illusionslos die Situation des Künstlers in einer Diktatur thematisierenden Schostakowitsch in Verbindung brachte. Zugleich schlug Weinberg einen Bogen zu Mussorgsyks Boris Godunow und dessen Figur des Gottesnarren, der als einziger dem Zaren die Wahrheit entgegenschleudert, sagt doch Myschkins Gegenspieler Rogoschin „Wahrhaftig, Fürst, du bist ja ganz und gar ein Jurodivyi“ – also Gottesnarr – „Und solche hat Gott der Herr lieb!“.

Weinberg gehört zu den großen Entdeckungen der Opernbühne, die auf den 1919 in Warschau geborenen und über Minsk und Taschkent nach Moskau gelangten Komponisten erst zehn Jahre nach seinem Tod stieß. Teilweise erst Jahrzehnte nach ihrer Entstehung erlebten seine Opern ihre posthume Uraufführung, darunter 2010 Die Passagierin. 2013 führte Mannheim den Idioten auf: Die Uraufführung des Jahres, deren Mitschnitt nun auf CD vorliegt (Pan Classics PC 10328) und den großen Eindruck, den das Werke seinerzeit machte, nochmals bestätigt. Der Idiot ist ein gewaltiges Stück, ein Literaturoper, die die Linien von Mussorgsky über Tschaikowsky und Prokofjew fortsetzt und, trotz ihrer Schostakowitsch-Assoziationen, von originär funkelnder Vielgestaltigkeit ist.

Das Stück ist lang, sehr lang, dreieinhalb Stunden, und die Anfangsszenen sind etwas hären. Natürlich fehlt der vielschichtigen Romanvertonung die Szene. Doch Thomas Sanderling, dessen Vater sich bereits in der Sowjetunions für Weinbergs sinfonisches Schaffen eingesetzt hat, gelingt es, eine soghafte Wirkung zu erzielen. Es entstehen plastische Szenen von ausgelassenen Festen und philosophischen Exkursionen, getragen von einer gestischen Bravour und Klangsprache, in der sich illustrative Konversationsbilder und bizarre Tanzszenen, grelle Fanfaren und romantisch satter Streicherklang, ironischer Witz und sinnlich arioser Tonfall durchdringen und leitmotivisch ergänzen. Dmitry Golovin war der der Uraufführung ein noch pointierter Myschkin, doch Juhan Tralla singt den Fürsten mit runderem Tenor. Den Mörder Rogoschin, den der Fürst am Ende in Armen hält, gestaltet Steven Scheschareg mit gegerbtem Bassbariton. Der von beiden geliebten Nastassja verleiht Ludmila Slepneva ordinäre Sinnlichkeit, dazu ein rundum stimmiges, intensiv agierendes Ensemble mit Anne-Theresa Möller als Aglaja, Bartosz Urbanowicz und Elzbieta Ardam als General Jepantschin und Gattin (irritierend die unterschiedlichen Schreibweisen der russischen Namen im Textheft und auf der Rückseite des 3 CD-Schubers), Lars Möller als Lebedjev und Bryan Boyce als Totsky.      Rolf Fath

 

Provokant subtil

 

Ich gebe zu – ich war misstrauisch, als ich die CD mit Mozart-Opern-Arien bei Sony in den Player legte. Große Lied- und Konzertsänger sind nicht immer gute Opernhelden. Viele neigen dazu, die Arientexte wie gute Lyrik zu interpretieren und dabei zu vergessen, dass es sich um handelnde Bühnenfiguren handelt.  Der Bariton Christian Gerhaher gehört zu den besten Lied- und Konzertsängern der Gegenwart, steht aber verhältnismäßig selten auf der Opernbühne. Nun bringt der Sänger endlich sein zweites Opernalbum heraus. Und das geizt nicht mit großen Hits: Gerhaher präsentiert nahezu alle großen Baritonarien Mozarts. Natürlich mit Vogelfängerlied. Und Champagner–Arie. Und das ist durchaus einen Schluck desselben wert! Christian Gerhaher singt für uns den Don Giovanni. Und den Leporello. Und den Figaro. Und überhaupt alles, was Mozart in seinen Reifejahren für Bariton geschrieben hat. Das haben sich bisher nur ganz Große wie Herman Prey getraut. Aber das passt schon – denn dies Album macht es wieder einmal unmissverständlich klar – dieser Sänger ist einer der ganz Großen. Der darf das.
Arientexte zu lyrisch, zu intellektuell, zu liedhaft? Davon kann bei Christian Gerhaher keine Rede sein. Schon deswegen nicht, weil er fast alle diese Rollen wirklich auf der Bühne gesungen hat. Und ihnen schon da einen unverwechselbaren Charakter verlieh. Gerhahers Mozart-Helden wirken erschreckend traurig, verblüffend nachdenklich und auffallend melancholisch. Gerhahers Interpretationen sind subtil, mitunter provokant subtil. Große Theatergesten fehlen fast ganz. Er besticht wie viele lyrische Sänger vor allem durch Nuancen. Aber was für Nuancen! Alle Nummern sind trotz Minimalismen durchweg überzeugend. Und, was bei solchen Super-Hits gar nicht mehr so einfach ist: Sie wirken allesamt frisch, spontan empfunden und kein bisschen abgenudelt.

Das ist sicher auch ein Verdienst des großartigen Freiburger Barockorchesters, einem der bedeutendsten und erfahrensten Mozart-Klangkörper überhaupt. Sie begleiten unter der Leitung von Gottfried von der Goltz nicht nur die Arien kongenial, sondern haben als Bonus noch die opernhafte Linzer Sinfonie dem Album hinzugefügt  – verstreut zwischen den Gesangsnummen. Das verleiht der CD eine freche und leicht chaotische Note, die dem Album gut bekommt (Christian Gerhaher, Mozart Arias, Bariton; Freiburger Barockorchester, Gottfried van der Goltz, Sony 88875087162). Matthias Käther

Auf in bessere Zeiten….

 

Das gibt es fast nur noch im unbeirrbar optimistischen Amerika: Der neue Herrscher Malcolm ist ein gütiger, der nicht die Terrorherrschaft Macbeth’s fortsetzt, sondern sogar den noch immer traurig sein Familienfoto betrachtenden Macduff in den allgemeinen Freudentaumel mit einbezieht. Gar nicht stört es, dass Regisseur Adrian Noble von Bühne- und Kostümbildner Mark Thompson für Verdis Macbeth die Mitte des vergangenen Jahrhunderts hat auf die Bühne zaubern lassen mit Hexen im spießigen Hausfrauenlook mit Söckchen und Handtäschchen, wobei erstaunlicherweise der Hexennachwuchs mit seinen Häubchen weiter in die Vergangenheit zurückweist. Auch beeinträchtigt es den Kunstgenuss nicht, wenn zwar mit Pistolen und schwererem Kaliber herumgefuchtelt wird, der finale Tötungsschnitt oder -stich aber wie im Libretto vorgesehen ein solcher bleibt. Die schottischen Soldaten laufen in einer Art Partisanenlook über die Bühne der MET, grüne Fahnen, die im Siegesrausch geschwenkt werden, erinnern eher an orientalische Gegenwart als an ein Schottland welcher Zeit auch immer. Die Geistererscheinungen zeigen sich in riesigen Seifenblasen oder in Weihnachtskugeln Ähnlichem. Stilistische Einheitlichkeit ist nicht die Stärke der Optik, die aber durchaus zu fesseln und die angemessene düster-unheilvolle Atmosphäre zu kreieren weiß.
Dabei hilft natürlich ganz entscheidend die musikalische Seite, für die im Orchestergraben Fabio Luisi verantwortlich ist, der schon einmal überaus kontrastreich beginnt, was Tempi und Lautstärke betrifft, und sich durch ein durchweg spannungsvolles Dirigat auszeichnet. Die Solisten gehören zu den besten, die ein Opernhaus momentan aufbieten kann. Zwar wirkt Zeljko Lucic etwas zu knubbelig und in sich ruhend für den in sich zerrissenen Macbeth, und die machtvolle dunkle Stimme hat ihre großen Momente eher in den Fortepassagen der Partie, aber insgesamt kann er mit seiner Rollengestaltung für sich einnehmen, besitzt eine sichere Höhe und den verzweifelten Aplomb für die Schlussszene. Anna Netrebko erinnert mit der blonden Löwenmahne an eine Hollywood-Diva der Fünfziger oder Sechziger, was die Darstellung einer überzeugenden Lady nicht leichter macht. Streckenweise wirkt sie zu gutmütig und naiv, einige Gesten zu angelernt, als unmittelbar der Gestaltung entspringend, so dass man in ihr nur stellenweise die Bühnenfigur, manchmal aber den verfremdeten Opernstar Netrebko wahrnimmt. Die sehr dunkel gewordene Stimme dagegen passt hervorragend zur Partie, besonders wenn sie auffahrend und schneidend eingesetzt wird. Die Mittellage ist so präsent wie die Höhe, sie schont sich nie, auch da nicht, wo andere Ladies in den Ensembles gern der Dama den Vortritt lassen. Obwohl die Stimme schwer geworden ist, gelingt ihr das koloraturreiche Brindisì, schweben die letzten Töne der Nachtwandlerszene wunderschön. Hoch kultiviert, ebenmäßig und wundervoll strömend setzt René Pape seinen Bass für den Banquo ein. Joseph Calleja ist eine Luxusbesetzung für den Macduff, dessen Arie er so schön wie sichtbar und hörbar innerlich beteiligt singt. Laudia Waite bereichert als Dama die Ensembles, James Courtney als Medico das Nachtwandeln.  Ein Sonderlob gebührt dem Chor (Donald Palumbo), der „Patria oppressa“ zum Weinen ergreifend schön singt und den Finali das kraftvoll Aufgewühlte verleiht (Blu-ray DG 073 5234). Ingrid Wanja

Lukasz Borowicz

 


Der RIAS Kammerchor und die Akademie für Alte Musik Berlin sind nach bald 25-jähriger Zusammenarbeit ein gut erprobtes Gespann. Für frischen Aufwind sorgte der 38-jährige Warschauer Dirigent Lukasz Borowicz: „Heute geht es uns darum, Musik wieder neu zu entdecken. Wenn Beethoven Wranitzky darum gebeten hat, seine Kompositionen zu dirigieren, sollten wir seinem Urteil vertrauen. Wranitzkys Zeit wird kommen und bald schon werden seine Stücke in den Konzertprogrammen häufiger zu finden sein, davon bin ich überzeugt!“ Mit einem buchstäblichen Paukenschlag gab Borowicz am 4. Oktober 2015 im Konzerthaus Berlin sein Debüt beim RIAS Kammerchor. Auf dem Programm stehen Joseph Haydns Te Deum und die Missa in tempore belli sowie die „Friedens“-Symphonie des Wiener Hofoperndirektors Paul Wranitzky. Fesselnder als in dieser Saisoneröffnung lässt sich Zeitgeschichte nicht vermitteln. Und Lukasz Borowicz sagt: „Eines meiner ersten Stücke als Konzertmeister des Jugendorchesters war Haydns Schöpfung – in diesem Moment entstand in mir der große Wunsch, Dirigent zu werden! Ich verehre Haydn sehr und stoße immer noch auf mir unbekannte Werke.“ (Quelle Rias Kammerchor)

 

Der Rias Kammerchor/ Foto matthias Heyde/ Rias kammerchor

Der RIAS Kammerchor/ Foto matthias Heyde/ Rias kammerchor

Dazu der Dirigent im Gespräch mit Nina Jozefowicz: Sie sind das erste Mal zu Gast beim RIAS Kammerchor und der Akademie für Alte Musik Berlin. Wie begegnen Sie dieser neuen Zusammenarbeit? Das Repertoire des 18. Jahrhunderts begeistert mich sehr und die Geschichte der Französischen Revolution ist und bleibt faszinierend. Ich bin sehr dankbar dafür, bei diesem spannenden musikalischen Abenteuer zwei so bedeutende Ensembles an meiner Seite zu haben, die für ihre bemerkenswerten Interpretationen genau jener Musikepoche weltweit bekannt sind. Ich bin der Meinung, dass die Musik aus der Zeit Beethovens, aber auch früher, auf historisch authentischen Instrumenten gespielt werden sollte. Denn nur auf diese Weise können wir jene Klangfarben erzeugen, die den Komponisten tatsächlich vorschwebten.

Das Konzerthaus Berlin ist Ihnen bereits vertraut: Erst im Januar erhielt Ihre Gesamteinspielung des Orchesterwerks von Andrzej Panufik mit dem Konzerthausorchester den International Classical Music Award. Welche Rolle spielt Berlin für Sie? Berlin ist die Musikmetropole Europas. Ich bin sehr glücklich darüber, häufig in Berlin zu sein und träume davon, eines Tages sagen zu können: „Ich bin ein Berliner!“ Für’s Erste gebe ich mich damit zufrieden, die Stadt ein bisschen besser kennengelernt zu haben. Ich hatte das große Glück, an der Komischen Oper Berlin und mit dem Konzerthausorchester arbeiten zu dürfen. Letztes Jahr haben wir mit der Poznań Philharmonic im Haus des Rundfunks das Requiem von Roman Maciejewski uraufgeführt.

Der Komponist Paul Wranitzky/ Wiki

Der Komponist Paul Wranitzky/ Wikipedia

Ihr Lebensmittelpunkt ist Warschau: Sie sind dort geboren und studierten zunächst Geige. Stimmt es, dass eine Aufnahme von Dietrich Fischer-Dieskau Sie Ihre Liebe zum Gesang entdecken ließ? Ja, das stimmt. Die Violine ist mein Hauptinstrument gewesen und meine erste große, lang-andauernde Liebe. Dabei ist ihre Nähe zum Gesang ganz offensichtlich. Ich erinnere mich daran, bereits sehr früh, viele große Sänger gehört zu haben. Die Aufnahmen von Dietrich Fischer-Dieskau bedeuteten mir besonders viel. Ich werde niemals vergessen, wie begeistert ich von seiner Interpretation des Wozzeck unter Karl Böhm war, aber natürlich auch von seiner Einspielung der Schubert-Lieder.

Mit der Missa in tempore belli steht ein Spätwerk von Haydn auf dem Programm. Der besonders prächtige Klang des groß besetzten Orchesters und des Chores verweisen auf sein Meisterwerk Die Schöpfung. Was verbinden Sie persönlich mit der Musik von Joseph Haydn? Eines meiner ersten Stücke als Konzertmeister des Jugendorchesters war Haydns Schöpfung – in diesem Moment entstand in mir der große Wunsch, Dirigent zu werden. Ich verehre Haydn sehr und stoße immer noch auf mir unbekannte Werke, Sinfonien, Quartette, Klaviersonaten. Ich bin von seiner Entwicklung als Komponist fasziniert, die sich über viele Jahrzehnte hinweg erstreckte. Haydns Musik war in Polen immer schon sehr beliebt. Der polnische Komponist Franciszek Lessel war in Wien Haydns Schüler gewesen. In Lessels Memoiren habe ich eine Anekdote gefunden, wo er davon berichtet, dass Haydn seine Schüler auf sehr prosaische Art und Weise unterstützte: Er besorgte ihnen das beste Notenpapier!

Paul Wranitzky, Wiener Hofoperndirigent, gehörte zu den einflussreichsten und beliebtesten Komponisten der österreichischen Hauptstadt. Seine Sinfonien und Opern werden heute jedoch nur noch selten aufgeführt. Auf welche Weise haben Sie die Friedens-Sinfonie von Wranitzky kennengelernt? Seit vielen Jahren sammle ich Aufnahmen und CDs. Es gibt bereits zwei sehr gute Aufnahmen der Friedens-Sinfonie. In den letzten Jahren konnten wir ein steigendes Interesse an vergessenen Komponisten beobachten. Wranitzkys Geschichte ähnelt der von Johann Adolph Hasse, einem der populärsten Komponisten seiner Zeit, der jedoch fast vollkommen in Vergessenheit geraten ist. Heute geht es uns darum, Musik wieder neu zu entdecken. Wenn Beethoven Paul Wranitzky darum gebeten hat, seine Kompositionen zu dirigieren, sollten wir seinem Urteil vertrauen. Wranitzkys Zeit wird kommen und bald schon werden seine Stücke in den Konzertprogrammen häufiger zu finden sein, davon bin ich überzeugt.

Der Komponist Josef Haydn/ (Ölgemälde von Thomas Hardy, 1791)/ Wiki

Der Komponist Joseph Haydn/ (Ölgemälde von Thomas Hardy, 1791)/ Wikipedia

Als Dirigent setzen Sie sich besonders dafür ein, selten gespielte Werke polnischer Komponisten bekannt zu machen. Welche Werke zählen für Sie zu den größten Entdeckungen? Ich dirigiere sehr häufig polnische Musik, deswegen fällt es mir schwer, einige wenige Aufnahmen hervorzuheben. Doch sicherlich ist es der Gesamteinspielung der sinfonischen Werke von Panufnik zu verdanken, dass diesem großen Komponisten des 20. Jahrhunderts wieder größere Aufmerksamkeit zukommt. Außerdem würde ich die Violinkonzerte von Grażyna Bacewicz nennen, die romantische Oper Monbar von Ignacy Dobrzyński sowie die Sinfonien von Zygmunt Noskowski. Vor kurzem habe

ich eine weitere Aufnahme mit dem BBC Scottish Symphony Orchestra für Hyperion Records in der Reihe Romantic Piano Concerto gemacht. Und mit dem Pianisten Jonathan Plowright haben wir bereits Werke von Zarzycki, Żeleński, Różycki eingespielt. Und immer wieder kommen neue Ideen!

Seit Ihrer frühen Jugend sammeln Sie leidenschaftlich gerne CDs und Schallplatten. Ihre eigene Diskographie umfasst mittlerweile über 70 Aufnahmen. Mit wem haben Sie die Wette abgeschlossen, dass Sie bis zu Ihrem 40. Geburtstag die hundertste Einspielung veröffentlichen werden? Oder haben Sie vielleicht andere Ziele? Ich liebe es, Musik aufzunehmen und CDs zu produzieren. Man könnte sagen, es ist meine Leidenschaft. Ich empfinde es als großes Glück, meinen Beruf als meine Leidenschaft bezeichnen zu können. Und als Sammler weiß ich, dass jede einzelne CD, die ich aufnehme, „die bedeutendste“ ist. Deshalb konzentriere ich mich auf jedes einzelne Projekt. Die Anzahl der aufgenommenen CDs ist dabei nicht von Bedeutung. Was wirklich zählt ist der Inhalt, die Botschaft und die Qualität. Das ist mein persönliches Credo. Wenn ich eines Tages die 100ste Aufnahme produzieren könnte, dann würde mich das wirklich sehr freuen, doch es ist kein persönlich auferlegtes Ziel.

Schauspielhaus/ Konzerthaus Berlin/ tr.wikipedia.org

Schauspielhaus/ Konzerthaus Berlin/ tr.wikipedia.org

Im Januar 2016 steht Ihr Amerika-Debüt beim Los Angeles Philharmonic Orchestra an, und es warten weitere neue Herausforderungen auf Sie. Worauf freuen Sie sich besonders? Ich freue mich sehr darauf, mit den fantastischen LA Philharmonics dieses schöne Programm mit polnischer Musik des 20. und 21. Jahrhunderts zu erarbeiten! Ich fühle mich geehrt und bin voller Vorfreude, diese zeitgenössischen Werke in Amerika aufzuführen. Ich glaube, ein Dirigent sollte immer in beiden Bereichen aktiv sein, sowohl Opernrepertoire als auch sinfonische Werke dirigieren, und moderne sowie ältere Werke aufführen. Denn beide Seiten bedingen einander und beeinflussen sich gegenseitig, auf diese Weise gewinnt das Musizieren an Tiefe. Außerdem freue ich mich sehr über meine Pläne mit verschiedenen Orchestern in Europa sowie in Asien. Dabei versuche ich dem lateinischen Motto treu zu bleiben, das mich seit meiner Studienzeit in Siena begleitet: Micat in vertice! – was für mich so viel bedeutet wie: „Arbeite hart, und Du wirst den strahlenden Gipfel erreichen.“

 

Mit Łukasz Borowicz sprach Nina Jozefowicz; wir danken der Interviewerin und dem RIAS Kammerchor für die Überlassung des Gespächs, das sich im Programmheft des Abends wiederfand. Weitere Informationen zum Konzert und zur laufenden Saison des RIAS Kammerchors gibt es hier; dort auch Tips für den Kartenverkauf etc. Foto oben: Lukasz BOROWICZ/ c. Justyna Mielniczuk/ RIAS Kammerchor.

I tedeschi in Egitto

 

Eine ungewöhnliche Aida-Aufnahme gibt es aus Rom, wo eine der ganz, ganz wenigen Studio-Produktionen unserer Zeit entstand und ihre Geburt wohl nur dem Umstand einer ungewöhnlichen Besetzung verdankt. Anja Harteros und Jonas Kaufmann, als bewährtes Traumpaar der Operngegenwart gehandelt, sangen ihre erste Aida und seinen ersten Radamès. Womit deutlich wird, dass nicht nur die Tatsache der Studioaufnahme ungewöhnlich – und das ist ganz wertfrei gemeint -, sondern auch die Gestaltung zumindest dieser Partien es ist. Wer mit Aida eine Arena-di-Verona-Produktion und Maria Chiara (oder die Met mit Leontyne Price) verbindet, wird seinen Ohren nicht trauen, wie ganz anders das Werk klingen kann. Damit soll den beiden deutschen Sängern nicht abgesprochen werden, italienische Partien singen zu können und zu dürfen, aber unüberhörbar bleiben doch die Unterschiede zu den „klassischen“ Aufnahmen, schon einmal was das Verhältnis zwischen Wortdeutung und Melodienfluss betrifft, Wobei man auch konstatieren kann, dass die beiden Künstler die Agogik-Vorgaben des Komponisten sehr ernst nehmen, auch da wo es fast unmöglich erscheint, sie einzuhalten.

Das beginnt bei Kaufmann mit „Celeste Aida“, wenn in der Arie auf ausgesprochen heldische Töne, mit denen sich viele italienische Sänger bis zum Schluss begnügen, sehr intime Passagen mit viel dolcezza folgen, ein schneller Wechsel vom Forte-„trono“ zum Piano-„Sol“ stattfindet, „del mio pensiero tu sei regina“ sehr langsam, weil nachdenklich gesungen wird, der Sänger sich als Meister des feinen Verklingens und eines wirklichen morendo am Schluss erweist. Dass er auch anders kann, zeigt das strahlende „Immenso Fthà!“ am Schluss des zweiten Bilds. Ein fast gesprochenes „sogno, delirio è questo“ ist diskussionswürdig, bewundernswert die letzte Szene, in die auch ein kleiner colpo di glottide eingebaut ist.

Anja Harteros ist eine sehr hell klingende, sehr lyrische Aida, die mit den vielen rund- und warmstimmigen Aiden der instrumentalen Stimmführung nicht allzuviel gemein hat. Zum Niederknien schön ist die Schlussszene, das „Son io“ voll tenerezza, „invan“ mit leicht bitterem Unterton, traumhaft schön „O, terra addio“ im ätherischen Schwebeton. Zuvor überstrahlte der Sopran oft die Ensembles, wurden innige „Numi, pietà“ gesungen, werden dem „patria mia“ zarte Tongespinste gewidmet, die Arie im Nilakt von einem wunderschönen C gekrönt. Aber obwohl Ludovic Tézier kein stimmorgelnder Barbarenkönig ist, klingt der Sopran bei dramatischen Anforderungen besonders in der Höhe zu hart und vor allem angestrengt.

Ungewöhnlich also auch die Besetzung des Amonasro mit einem Sänger, der mehr Wert auf kultivierten Gesang als auf vokale Überwältigung legt. Téziers „suo padre“ klingt zärtlich, als wenn die Vater ihm in diesem Moment wichtiger ist als die Herrscherrolle. Eine hochsolide Amneris der gesunden stimmlichen Mittel, höchst sparsam mit der Bruststimme umgehend und die Stimme schlank haltend, so im wirklich „fra se“ gestalteten Sehnsuchtsruf im Boudoir ist Ekaterina Semenchuk. In der dramatischen Gerichtsszene bleibt die Stimme stets rund und kontrolliert. Ihre Amneris steht in der soliden Tradition der italienischen Diven. Einzudunkeln und ihn damit manchmal dumpf werden lassend scheint Erwin Schrott seinen Bass für den Ramfis, gute Besetzungen sind Marco Spotti für den Rè, Paolo Fanale für den Messaggero und besonders aufhorchen macht Eleonora Buratto mit der Sacerdotessa. Erstklassig ist der Chor der Accademia Nazionale di Santa Cecilia, wie aus dem Nichts kommend lässt Antonio Pappano mit eben deren Orchester die Sphärenklänge zu Beginn erklingen, kontrastreich ist er auch, was die Tempi betrifft, Ballettmusik wird als solche glatt, eher beiläufig und nicht tiefgründelnd musiziert. Der Studioaufnahme folgte eine konzertante Aufführung im Renzo-Piano-Konzertsaal, die ein ungeheuer positives Echo bei Publikum und Presse fand (3 CDs, Warner Classics 0825646106639). Ingrid Wanja

Zedda in Antwerpen

 

Die Geburt von Verdis war gleichbedeutend mit dem Tod von Rossinis Otello,  im 19. Jahrhundert bekannt und häufig aufgeführt, die Canzone del Salice sogar doppelt parodiert in Rossinis Convenienze und Donizettis Campanello. Dazu kam im Laufe der Zeit die wachsende Schwierigkeit, drei gleichwertige Tenöre für Otello, Iago und Rodrigo, bei Rossini von ungleich größerer Bedeutung als der Verdis, zu finden. Selbst im Rahmen der Rossini-Renaissance nach dem Zweiten Weltkrieg blieb Otello eines der selten aufgeführten Werke und wenn doch, dann wenig authentisch, wie zum Beispiel die Aufnahme mit José Carreras in der Titelpartie beweist. Alberto Zedda hat sich auch dieses Werks 2014 angenommen und in dem Opernhaus von Antwerpen wie bereits bei anderen Rossini-Opern einen beherzten Mitstreiter gefunden.

Natürlich darf man nicht mit den gleichen Erwartungen an beide Opern herangehen,, sondern den Rossini als das nehmen, was er ist, als die Möglichkeit für Sänger, mit virtuosen Bravourarien zu brillieren, nicht unverwechselbare Charaktere zu porträtieren. So gesehen ist die Aufnahme von Dynamic eine begrüßenswerte, die bereits in der Sinfonia den Rossini-Experten mit einer raffinierten Agogik wahrnehmen lässt.

Eine zweite Karriere ganz besonderer Art ist dem Sänger des Otello, Gregory Kunde, häufig auch in Pesaro zu Gast, gelungen, der nicht nur den rossinischen, sondern nun auch noch den verdischen Otello singt. Die Stimme ist etwas schwergängiger als die der beiden anderen Tenöre, von großer Durchschlagskraft, ungefährdeten Höhen ohne Flucht ins Falsettieren und insgesamt etwas dunkler, besonders in  „Notte per me funesta“, als die des Rodrigo von Maxim Mironow, ebenfalls in Pesaro (und Wildbad)  künstlerisch zu Hause, mit jünglingshafter, weicherer Tenorstimme, die „Ti parli d’amore“ besonders schön einleitet, sicher in den Intervallsprüngen, mit raffinierten Abellimenti arbeitend und einem angenehm klingenden Falsettone ausgestattet ist. Passend zur Rolle ein bisschen Falschheit in der Stimme hat der Iago von Robert McPherson, ein gleisnerisch klingender Charaktertenor, dessen helle Stimmfarben ein ganz anderes Charakterbild, wenn auch ein gleich böses, im Vergleich zu Verdis Jago zeichnen. Den Vater Desdemonas, Elmiro Barberigo, singt Josef Wagner mit geschmeidigem Bariton, Maarten Heirman verleiht dem Dogen dunkle Töne und Stephan Adriaens hat für den Gondoliere die Schwermut für sein böse Ahnungen weckendes Lied in der Stimme.

Die leicht dunkle Färbung ihres Soprans macht aus Carmen Romeu eine Desdemona, deren Schicksal vorausbestimmt zu sein scheint, ihr Sopran ist nicht der eines unbefangenen Mädchens, verfügt aber über dolcezza, ist zu feinen Piani fähig. Manchmal, so in „Che smania“ geht die korrekte Artikulation etwas unter, in „non arrestar il colpo“ zeigt sie, dass die Stimme auch zu Dramatischem fähig ist. Raffaella Lupinacci ist eine Emilia mit Kammerkätzchensopran. Noch 2015 wird Alberto Zedda in Gent Rossinis Armida dirigieren (Dynamic CDs 7711/1-3). Ingrid Wanja

Cronique Scandaleuse

 

Das 125 Seiten schmale Bändchen mit dem gewichtigen Titel Meine Skandale von Gabriel Astruc handelt von immerhin vier derselben, die die Pariser Musikwelt vor dem Ersten Weltkrieg am stärksten erregten, wenn man dem Autor glauben mag, und die zu den Ursachen gehörten, die ihn als Erbauer und Direktor des Théâtre des Champs-Élysées nach einer nur wenige Wochen dauernden Spielzeit scheitern ließen. Voran gestellt sind den Ausführungen des Musikjournalisten, Impresario offensichtlich auch Gesellschaftslöwen einmal das Vorwort von Olivier Corpet, in dem dieser die Geschichte der Geschichten erläutert, die eigentlich bereits 1936 zur Veröffentlichung bestimmt  waren, die aber einer allgemeinen Krise des französischen Verlagswesens zum Opfer fiel.

Gabriel Astruc Meine Skandale Verlag BerenbergZum anderen folgt ein kurzer Abriss der Lebens- und Karrieregeschichte des Autors als einer „Schlüsselfigur der Musikgeschichte“, geschrieben von Myriam Chimènes, beginnend mit der Mittelung des Figaro vom 5.11.1913, nach der das Theater Astrucs „seine Aufführungen unterbrechen“ wird. Bereits 1902 hatte Astruc die Zeitschrift Musica gegründet, 1904 seine eigene Firma mit der Société Musicale ins Leben gerufen, einen Verlag für Musik und eine Künstleragentur zugleich. Die amerikanische Mentalität und das dortige Musikleben faszinierten ihn so sehr, dass er beschloss, seine „Projekte im Zeichen des Dollars“ zu konzipieren. Seine Memoiren erschienen unter dem Titel „Le pavillon des fantomes“, um die finanziellen Mittel für den Bau eines eigenen Theaters flüssig zu machen, gründete der Impresario eine Aktiengesellschaft, der Erwerb des dafür vorgesehen Grundstücks scheiterte unter anderem an antisemitischen Anfeindungen, so dass der Name des Theaters, das an der Avenue Montaigne gebaut wurde, über den wahren Standort trügt. Eröffnet wurde es mit Berlioz` Benvenuto Cellini, fortgeführt wurde die Saison mit dem achten Auftritt der von Astruc nach Paris geholten Balletts Russes von Diaghilew, der Boris Godunow konnte wegen einer finanziellen Katastrophe des Theaters nur mehr als einmalige, von den Mitwirkenden veranlasste Aufführung gezeigt werden. Bis zu seinem Tode 1938 arbeitete Astruc vor allem als Musikredakteur.

Die Texte Astrucs sprechen von einem gesunden Selbstbewusstsein, teilweise sogar von einer gewissen Arroganz und sind bei weitem nicht frei von einem selbstgefälligen name dropping, wenn er aufzählt, wer alles sich  in den Logen seines Hauses und anderer, von ihm bespielter Theater tummelte. Da wimmelt es von Namen aus internationalem Hochadel und berühmten Künstlern, von denen ihm besonders Proust bei Angriffen zur Seite stand. Den Skandal sieht der Verfasser als eng verbunden mit der Musikwelt, sieht beinahe in ihm eine Garantie für den späteren Erfolg eines Kunstwerks. Seine ganz persönlichen Skandale sind die Aufführung der Salome  mit dem Dirigenten Richard Strauss, der die Künstlerin, die anstelle von Emmy Destinn die Salome tanzte, zurecht wies, als sie sich beim Applaus ostentativ an seine Seite stellt; die Tänzerin Ida Rubinstein als Heiliger Sebastian in Debussys „Martyrium“, die den Erzbischof von Paris auf den Plan rief; die angeblich obszöne Geste von Nijinsky als Faun, der (weil der Vorhang zu schnell fiel) allzu lüstern sich über den Schleier der begehrten Nymphe warf und schließlich im Mai 1913 „Die denkwürdige Schlacht um den Sacre du Printemps“ .

Das alles ist mit leichter Feder, unterhaltsam und amüsant, dazu nicht ohne Selbstironie geschrieben, bitterer wird es, wenn sich Astruc über die Gründe äußert, die die klassische Musik, unter ihr die Oper, ruinieren werden: der Tango, der Sport, das Kino. Nun, inzwischen wurde auch schon das Kino totgesagt, und sowohl Kino als Oper leben noch (Verlag Berenberg, 125 Seiten; ISBN 978-3-937834-84-9). Ingrid Wanja  

Franco Fagiolis DG-Debüt

Die Deutsche Grammophon hat zum ersten Mal einen Countertenor exklusiv unter Vertrag genommen. Und man hat sich richtig entschieden: Franco Fagioli ist (für mich) der stimmlich flexibelste Kandidat seiner Stimmlage und das beweist er auch auf der neu erschienen und ganz auf ihn zugeschnittenen Gesamtaufnahme von Glucks Orfeo ed Euridice. Zu hören ist die italienische Originalfassung von 1762. Die französische Fassung Orphée et Eurydice von 1774 liegt ebenfalls bei DG-ARCHIV vor und zwar in der großartigen Einspielung Marc Minkowskis aus dem Jahr 2002, bei der der Tenor Richard Croft vorbildlich die Rolle des Orphée sang (und die Stimmung in die originale Tiefe gelegt wurde). Damals wie heute – die vorliegende Aufnahme wurde im Frühjahr 2015 angefertigt – erfolgte die Einspielung im Pariser Théâtre de Poissy. Damals wie heute handelt es sich um eine inspirierte und beachtenswerte Einspielung, die für Gluck-Freunde eine Bereicherung des Repertoires darstellt. Ein Rivale dieser Neueinspielung ist 2001 bei harmonia mundi erschienen: René Jacobs‘ Referenzaufnahme der italienischen Version mit dem Freiburger Barockorchester besetzte die ursprünglich für den italienischen Kastraten Gaetano Guadagni geschriebene Rolle des Orfeo mit der Mezzosopranistin Bernarda Fink. Der Verdienst und die Stärke dieser Neueinspielung liegen darin, dass man mit Fagioli die für mich bisher beste Aufnahme mit einem Countertenor vorlegen kann.

Wer Franco Fagioli bereits live erlebt hat, weiß um seinen drei Oktaven umfassenden Stimmumfang, seine Belcanto-Technik, das sensible Vibrato und die atemberaubende Virtuosität, mit der er rasend schnell Koloraturen singen und ein Publikum zum Staunen und Jubeln bringen kann. Bei dieser Neueinspielung setzt Fagioli verschiedene Ausrufezeichen und zeigt, dass der Orfeo für ihn eine Paraderolle ist, bei der er seine außergewöhnliche Stimme in Szene setzen kann: verführerisch und schmeichelnd (besonders schön in der 1. Szene des 2. Akts), sensibel und voller Ausdruck (z.B. in „Che puro ciel“ oder „Che faró senza Euridice“), und mit klarer Höhe und in typischer Manier Fagiolis („Addio, o miei sospiri“). Auch wer Fagiolis Timbre gewöhnungsbedürftig findet, muss den stimmlichen Fähigkeiten des Argentiniers hier seinen Tribut zollen. An Fagiolis Seite finden sich die schwedische Sopranistinnen Malin Hartelius als Euridice

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und Emmanuelle de Negri als Amore. Stimmlich kontrastieren und ergänzen sich die drei Sänger sehr gut; sie haben, wie auch Chor und Orchester, diese Oper bereits seit 2013 in identischer Zusammensetzung aufgeführt. Gespielt wird auf historischen Instrumenten. Die französische Dirigentin Laurence Equilbey, die Nicolaus Harnoncourt als ihren Mentor nennt, leitet das von ihr gegründete Insula Orchestra und den tadellos klingenden Choeur Accentus. Zu hören ist eine sehr gute, feinfühlige, anteilnehmende, die Ausdrucksmöglichkeiten zwischen Trauer, Hoffnung, Gedenken und Verzweiflung auslotende Interpretation, die den Originalklang-Klassikern (z.B. der oben erwähnte René Jacobs oder auch Sigiswald Kuijken mit La Petite Bande) wesensverwandt ist, ohne sich davon deutlich abzusetzen oder sie zu übertreffen. Die Box enthält drei CDs und überraschenderweise ist die Gesamtoper auf der zweiten und dritten CD. Die erste CD ist ein 66minütiger Querschnitt der Höhepunkte der vorliegenden Einspielung, ergänzt durch drei zusätzliche Stücke der Pariser Version (1774). Hier kann man dann den Reigen seliger Geister, den Tanz der Furien sowie die Bertoni-Arie „Addio, o miei sospiri“, als Bravourstück für Fagioni, hören. Diese Einstiegs-CD ist sowohl sehr guter Appetitanreger als auch zusammenfassende Highlight-CD für Fagioli-Fans oder die, die es werden wollen. (ARCHIV Produktion, 3 CDs, 479 5315). Marcus Budwitius

Russen in München

 

Eine hochdramatische Pique Dame ist dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zu verdanken, das unter Mariss Jansons 2014 bei mehreren konzertanten Aufführungen in der Philharmonie die Kontraste zwischen metereologischer Heiterkeit und Gewitterdüsternis im ersten Akt wie die zwischen harmloser Schäferromantik und seelischer Zerrissenheit des unseligen Hermann in den folgenden Akten wirkungsvoll herausarbeitet, in der Begleitung der Sänger stets rücksichtsvoll bleibt und die verhängnisvollen „tri karti“ in allen möglichen Variationen zu Gehör kommen lässt. Auch der Chor zeigt sich bei seinen anspruchsvollen Aufgaben von Martin Wright bestens vorbereitet, ebenso der vielgeforderte Kinderchor (Stellario Fagone).

Äußerst hochkarätig und durchweg muttersprachlich ist die Besetzung, an der Spitze Misha Didyk als

Hermann mit überaus wandelbarer Tenorstimme, zunächst ungewohnt weich und jünglingshaft klingend, dunkel verhangen und fast baritonal hingegen am Schluss, stets das Pathologische der Figur hören lassend und wie unter dauernder Anspannung stehend. Die auch heldentenoralen Einsatz erfordernde Partie des „russischen Otello“, die, von entsprechenden Sängern interpretiert, weniger interessant wirkt, hat in ihm einen idealen Interpreten gefunden. Eher väterlich als den Liebhaber herauskehrend wirkt der Jeletzkij von Alexey Markov, der seine schöne Arie mit viel dunkler Wärme erfüllt, auch diese Partie hat man anders, eher von einem helleren lyrischen Bariton gesungen im Gedächtnis. Mehr auf eine deftige Schilderung und humorvolles Singen als auf puren Schöngesang ist zu Recht der Tomskij von Alexey Shishlyaev in seiner Ballade bedacht. Tatiana Serjan besitzt für die Lisa einen trotz einigen Vibratos mädchenhaft klingenden Sopran sanfter Melancholie, singt die dramatische Szene an der Newa ohne jede slawische Schärfe, in der Höhe manchmal etwas knapp. Gar nicht klapprig wirkt die Gräfin von Larissa Diadkova, das dunkle Timbre von Oksana Volkova passt ausgezeichnet zu ihrem schwermütigen Lied. Die vom Bayerischen Rundfunk herausgegebene dreifache CD garantiert ein mitreißendes Hörerlebnis (BR Klassik 900129). Ingrid Wanja

Aus den Melodiya-Kellern

 

 

In den Kellern der staatlichen Melodija lagern vermutlich noch Kisten voller Aufnahmen mit Mark Ermler, die das Ende der Sowjetzeit ebenso gut überstanden haben wie die Firma. Ermler gehörte zu den prägenden Figuren des russischen Musiklebens; nach den kürzlich veröffentlichten  Puccini- und Prokofieff-Überraschungen (siehe nachstehend) darf man nun gespannt auf zwei Einakter Rimski-Korsakows sein (Mel CD 10 02344). Eine Zwei-CD-Ausgabe Orchestral and choral works by Sergej Taneyev (Mel CD 10.02374) dirigiert sein international noch höher geschätzter, vier Jahre älterer Kollege Jewgeni Swetlanow (1928-2002), der zeitweise Chef- und Ehrendirigent des Bolshoi Theaters war  und ab 1965 über Jahrzehnte das Staatliche Sinfonieorchester der UDSSR prägte.

rimsky mozart und salieri melodiyaDie beiden Einakter Rimski-Korsakows wurden im Dezember 1898 in Moskau durch das private Opernunternehmen des reichen Industriellen und Kunstliebhaber Sawwa Mamontow uraufgeführt: die beiden Szenen von Mozart und Salieri nach dem gleichnamigen Drama von Puschkin sowie der Einakter Die Bojarin Vera Scheloga, welcher eine Umarbeitung des Prologs von Rimski-Korsakows mehr als 25 Jahre zuvor uraufgeführtem Opernerstling Das Mädchen von Pskow darstellt.
In der 1986 entstandenen Aufnahme von Mozart und Salieri  schlüpft Jewgeni Nestorenko in die von Schaljapin kreierte Partie des Salieri, der seinen Konkurrenten Mozart vergiftet, mit suggestiver und höchst wandlungsfähiger Wort- und Tonbehandlung, in der Rimski-Korsakow dem von Dargomyschski eingeschlagenen Weg folgt. Wie bereits die anderen Aufnahmen wirkt die Einspielung sehr dicht, ist der Klang  direkt und nah. Die nicht sehr hoch liegende Partie des Mozart – Schaljapin behauptete, gelegentlich beide Partien gesungen zu haben – wird mit hellem, leuchtendem Tenor von Alexander Fedin gesungen, der kurz zuvor am Bolshoi debütiert hatte und seit den 1990er Jahren in Westen singt und in Köln in kleineren Partien (kürzlich als Welko in der Arabella) noch in Erscheinung tritt. Auf die umfangreiche Ouvertüre, viel zu mächtig und dramatisch aufgeladen, um die gut halbstündige Die Bojarin Vera Scheloga als eigenständiges Werk zu spielen, folgt eine wie von Tschaikowsky entworfene Frauenszene zwischen Amme und Veras Schwester Nadeja. Ihr gesteht Vera in einer ausgedehnten Erzählung, die im Mittelpunkt des Einakters steht, dass der Vater ihrer neugeborenen Tochter ein Fremder sei, in den sie sich im Wald auf Anhieb  verliebt habe. Als Veras Mann nach einjähriger Reise heimkehrt, behauptet Nadeja die Mutter des Neugeborenen zu sein. Wie im anderen Einakter erreicht Ermler in der ein Jahr zuvor aufgenommenen Einakter den Eindruck von Intimität und Nähe, musiziert subtil und spannungsgeladen, ist mit dieser Musik aufs innigste vertraut. Tamara Milashkina wirkt als Bojarin Vera liebevoll im Schlaflied, aber doch vor allem sehr resolut und etwas scharfkantig. Nina Grigorieva als Amme und Olga Teryushnova vervollständigen das Damen-Trio sehr vorteilhaft, die beiden Bässe spielen nur eine untergeordnete Rolle.


Von Swetlanow muss noch mehr in den Archiven lagern. 2000 Aufnahmen soll er allein mit dem Staatlichen Sinfonieorchester der UDSSR gemacht haben. Von 1988 stammt die Aufnahme der vierten Sinfonie des vor hundert Jahren verstorbenen Sergej Tanejew (geboren 1856), von 1990/91 die Konzertsuite für Geige und Orchester op. 29 sowie die Kantate Johannes von Damaskus für Chor und Orchester op. 1; das bekannteste Stück aus seiner einzigen Oper Oresteia ist die als Der Tempel des Apoll in Delphi überschriebene Zwischenaktmusik aus dem dritten Akt, deren Einspielung aus dem Jahr 1984 stammt. Tanejew studierte u. a. bei Tschaikowsky und Rubinstein und lehrte ab 1878 am Moskauer Konservatorium, dessen Direktor er zeitweise war und wo er 1883 die Kompositionsklasse übernahm. Auf der Basis eines Gedichts von Alexej Tolstois entstand 1884 die Kantate über den im 7. und 8. Jahrhundert wirkenden Kirchenvater und Theologen, in der sich Tanejews kontrapunktische Meisterschaft und seine Beschäftigung mit der mehrstimmigen Musik der Renaissance und des Barock zeigt. Die dreiteilige, etwa 25minütige Kantate ist ein grandios durchorganisiertes, hochromantisches Werk, deren Bläser und Streichersätze Swetlanow präzise herausmeißelt und deren Gesangspart der Große Chor des USSR All-Union Radio mit der Inbrunst formuliert, die diesem russischen Requiem zukommt. Die vierte Sinfonie aus dem Jahr 1898 gilt als beste von Tanejews vier Sinfonien, die zehn Jahre später entstandene Suite ist sein einziges Beispiel eines virtuosen Solokonzerts. Swetlanow, der nahezu alle russischen Orchesterwerke des 19. und 20. Jahrhunderts aufgenommen haben dürfte, ist ein fesselnder Interpret dieser Werke, die er mit kompaktem Klangbild und überbordendem Reichtum an Gefühlen dirigiert. In der fünfteiligen, nach barockem Muster entworfenen Suite op. 28, für die sich später auch gerne David Oistrach einsetzte, besticht der wenig bekannte Andrej Korsakov (1946-91) durch seinen stilgewandt schönen Ton sowie im umfangreichen 4. Satz – Thema und Variationen – durch eine Brillanz und Virtuosität wie aus dem 19. Jahrhundert . Viel bewundert, doch kaum aufgeführt mit Ausnahme der Ouvertüre oder der Zwischenaktmusik, ist Tanejews 1895 uraufgeführte Oresteia nach Aischylos eine hochromantische Antikenvergegenwärtigung, die in Swetlanow ihren kongruenten Interpreten findet.  Rolf Fath

 

Es war das teuerste Paket, das aus der Sowjetunion in den Westen geschickt wurde: Gleich im Dreier-Pack wurden der Tenor Vladimir Atlantov und seine Frau, die Sopranistin Tamara Milashkina, sowie der Bariton Yuri Mazurok in den 70er Jahre häufig an westliche Bühnen ausgeliehen, wo vor allem die beiden Männer geschätzt wurden; Atlantow vornehmlich an der Wiener Staatsoper, an der bis Anfang der 90er Jahre auftrat. Doch auch die Milashkina ist nicht zu unterschätzen, wie die die Moskauer Studio-Aufnahme der Tosca von 1974 mit dem Ensemble des Bolshoi-Theaters beweist, die zusammen mit Krieg und Frieden und der Geschichte eines wahren Menschen zu den jüngsten, sorgfältig restaurierten und in nette Klapp-Pappalben verpackten Schätzen aus den Archiven der Melodiya gehören, die den Zusammenbruch der Sowjetunion überlebte und im Vorjahr ihr 50jähriges Bestehen feierte. Alle drei werden von Mark Ermler (1932-2002) dirigiert, der 1957 am Bolshoi debütiert hatte und als einer der letzten Repräsentanten der alten russischen Schule galt. Es musizieren Chor, Orchester und Solisten des Bolshoi-Theaters.

Wir erleben bei Tosca ein glutvolles, leidenschaftliches Musizieren wie unter Live-Bedingungen, spüren eine Spannung, mit der uns diese technisch bestens aufbereiteten Aufnahme mitten in das Geschehen zwingt. Großartiges, raumgreifendes, hochdramatisch aufwühlendes Musiktheater, wie es in solch entfesselter Direktheit sicherlich noch die Zuhörer auf den obersten Rängen des Bolshoi-Theaters oder in den letzten Reihen des ungnädig großen Kreml-Palastes in seinen Bann gezogen hat (Mel CD 10 02359). Es ist unmöglich, von dieser Aufnahme nicht fasziniert zu sein. Alle drei Protagonisten befanden sich zum Zeitpunkt der Aufnahme auf dem Höhepunkt ihres Singschaffens. Wir haben uns angewöhnt, neben Vishnevskaja, die in ihrem Buch Unrühmliches über die drei („typische Produkte des Sowjetregimes“) wie zu den Begleitumständen dieser Aufnahme erzählt, andere Sowjetsängerinnen der Ära zu übersehen. Vishnevskaja, die ich in London in der Partie erlebte, war zweifellos eine atemberaubende, furiose und leidenschaftliche Tosca, Milashkina besitzt sicherlich nicht die Nuancen und die nervige Gespanntheit, und ihr Italienisch ist nicht sehr geschliffen, dafür einen in allen Lagen satten, dunklen Sopran und eine bombensichere Höhe. Hier singt eine russische Primadonna, die keinen Zoll weicht. Mit seinem expansiv höhenstarken Bariton gibt Mazurok einen zynischen Polizeichef, vielleicht mit nicht mit der Brutalität und der charakterbaritonalen Fiesheit, die man oft erlebt, denn Mazurok trumpfte auf der Bühne nicht mit dramatischer Kraft auf, sondern der noblen Linienführung seines bestes geschulten Kavaliersbaritons. Eine schiere Wucht sind die „Vittoria“-Rufe Atlantows, der als Cavaradossi jugendliches Feuer mit männlichem Draufgängertum und unbändiger Kraft verbindet und eine greifbare szenische Präsenz ausstrahlt. Atemberaubend. Wer hätte das gedacht. Die weitere Besetzung hat – bis hin zum Altisten Alexander Pavlov als Hirt – ein Gesicht. Die Aufnahme stelle ich doch gerne neben die anderen fünf Dutzend Toscas.

 

krieg und frieden ermler melodya1961 entstand unter Ermler, der bereits im Jahr zuvor (nach einer von den sowjetischen Offiziellen schlecht aufgenommenen konzertanten Uraufführung 1948 in St. Petersburg) im Bolshoi die szenische Uraufführung von Sergej  Prokofjews letzter Oper dirigiert hatte, die Studioaufnahme von Die Geschichte eines wahren Menschen. Ein Dokument aus erster Hand (Mel CD 10 02353, Booklet in engl., russ., frz.), zudem die einzige Aufnahme von Prokofjews op. 117, da offensichtlich nicht einmal Valery Gergiev, der immerhin den ebenfalls sehr raren Semyon Kotko einspielte, Prokofjews unbekannteste Oper in sein Prokofjew-Projekt integrierte. Der wahre Mensch in Prokofjews und Mira Mendelsohns Libretto nach dem gleichnamigem Roman, mit dem Boris Polewoi 1947 einem russischen Kampfflieger ein heroisches Denkmal setzte, ist der Pilot Alexej Maresjew, der 1942 hinter der Frontlinie abgeschossen wird und trotz seiner zwei schwer verletzten Beinen, trotz Hunger und Durst, zwei Wochen lang durch die Wälder bis zu seinen Leuten kriecht, wo ihm im Fronthospital beide Beine abgenommen werden müssen. Maresjew überlebte; er starb 2001. Er wurde zum Propagandainstrument und Vorzeigehelden. Stalin selbst soll den Prawda-Journalisten Polewoi auf das Thema aufmerksam gemacht haben. Immerhin war dem Roman ein längeres Leben beschieden als Prokofjews Oper, die – anders als man von solch einen Schulbuchstoff erwarten würde – überraschend originell ausgefallen ist. Prokofjew entledigte sich ganz offenbar nicht einfach einer Pflichtaufgabe, sondern schuf in Fortsetzung der Musiken zu Alexander Newski und Iwan der Schrecklich eine über weiteste Strecken sehr inspirierte Musik, die mit dem Volkstanz am Ende des ersten Aktes, dem Walzer und der Rumba im dritten Akt gewitzt mit Formen umgeht und in den orchestralen Zwischenspielen Virtuosität entfaltet; ähnliches gilt für die feingliedrigen Gesangsmuster, darunter ein Terzett im 4. Bild. Im Grunde ist der Dreiakter der umfangreiche Monolog des abgestürzten Alexej, in den Ängste, Gewissensqualen, Träume, Erinnerungen und Hoffnungen in Form vielfacher Begegnungen mit Freunden und Familie hereinwehen. Evgeny Kibkalo, der die Partie in Uraufführung gesungen hatte, gewinnt dem rezitativischen, sich manchmal arios aufraffenden Gesang des Alexej mit einem festen, dunkel männlichen Bariton viele Nuancen ab. Obwohl die weiteren Figuren nicht wirklich zum Leben erwachen liefern Kira Leonova als Krankenschwester Klavdiya, der überragende Artur Reisen als Kommissar, Georgy Pankov als Alexejs Freund Andrei und Alexei Maslennikov als Pilot Kukushkin gute Rollengestaltungen. Und Ermler merkt man an, dass er stolz darauf ist, die Oper im Studio einspielen zu dürfen.

 

Die Geschichte eines wahren Menschen beginnt mit einem Chorsatz, der in der Bolshoi-Produktion auch am Ende wiederkehrt, ähnlich dem Chor-Epigraph in Krieg und Frieden. Ermlers Aufnahme von Prokofjews Tolstoi-Oper, zu der dieser gemeinsam mit seiner Frau das Libretto geschrieben hatte, stammt aus dem Jahr 1982 (Mel CD 10 01444; Booklet in engl. und russ.). Wir befinden uns in einer anderen Ära. Gegenüber den beiden anderen Aufnahmen war ich ein wenig enttäuscht. Man spürt Ermlers Theatererfahrung, denn die Szenen besitzen einen Bogen, auch Timing und Spannung stimmen, doch irgendwie erwachen sie nicht richtig zum Leben, es fehlt diese besondere Unmittelbarkeit, welche die beiden anderen Aufnahmen ausstrahlten. Zuerst wirkt Yury Mazurok etwas zu hölzern, zu steif für den Fürsten Andrej Bolkonski, doch mit jedem Auftritt rückt er stärker ins Zentrum, erweist sich mit seiner tenoralen Höhe und den elegischen Linien als fabelhafter Sänger und Gestalter. Neben ihm wirkt Galina Kalinina als Natascha Rostowa scharf und streng und ältlich, während Nina Terentieva als Cousine Sonja für jugendliche Heiterkeit zuständig ist. Wenig Eindruck machen auf mich die beiden Tenöre, der heldischere Evgeni Raikov als Graf Pierre Besuchow und der scheue Evgeni Shapin als Anatol Kuragin, die bedeutende Tamara Siniavskaya ist Pierres Frau Gräfin Hélène. Larisa Avdeyeva ist eine eindringliche Marja Achrossimowa und Alexander Vedernikov, der Vater des gleichnamigen Dirigenten, geradezu erschütternd als Feldmarschall Kutusow.  Rolf Fath

Dan Jordachesku

 

„Wer war doch noch …?“:   In unserer Serie über weitgehend vergessene Sänger erinnern wir an uns wichtige Personen, die oft nur wenige oder keine Spuren hinterlassen haben, die aber für ihre Zeit und für den Fortbestand von Oper und Konzert so immens wichtig gewesen sind. Es waren und sind ja nicht allein die Stars, die die Oper am Laufen halten, sondern die Sänger der Nebenrollen und Komparsen, auch die Provinzsänger, die Diven und Heroen aus den kleineren Orten, wo Musik eine ganz andere Rolle spielte als hochgehypt in den großen Städten. Vor allem vor dem Krieg, aber auch in den Fünfzigern und Sechzigern hatte allein in Deutschland jedes der 36 und mehr Theater seine eigene Primadonna, seinen Haustenor und  langlebigen Bariton, die von der Operette bis zu Mozart und Wagner alles sangen. Das macht Oper aus. Nicht (oder nicht nur) die Auftritte der umjubelten Stars.

Mit Nicolae Herlea und David Ohanesian bildete Dan Iordăchescu das Triumvirat großer rumänischer Baritone der Nachkriegszeit. Obwohl ihm eine beachtliche internationale Karriere vergönnt war, die ihn auch an einige große deutsche Bühnen führte, ist er hierzulande kaum wirklich bekannt geworden. Am 30. August ist er im Alter von 85 Jahren gestorben, was in der deutschen Presse knapp und lakonisch vermeldet wurde. Ich erinnerte mich an ihn als Tomsky in der Pique Dame-Gesamtaufnahme unter Rostropovitch und als Posa in einem deutsch gesungenen Don Carlos-Querschnitt aus DDR-Zeiten, und wollte mehr von ihm wissen. Bei youtube bin ich fündig geworden und habe dabei einen Sänger entdeckt, der nicht nur ein hervorragender Stimmbesitzer war, sondern zugleich ein großer Musiker und Künstler.

Dan Iordăchescu als Posa/youtube

Dan Iordăchescu als Posa/youtube

Am 2. Juni 1930 wurde er in Vanja Mare geboren, einer rumänischen Stadt nahe der Grenze zu Moldawien; der Vater war Physiklehrer, die Mutter Volksmusiksängerin. Mit 18 Jahren begann er eine Ausbildung als Schauspieler und hatte sein Bühnendebut 1949 in einer rumänischen Operette. Der Erfolg ermutigte ihn, den Beruf des Sängers zu ergreifen. 1952 begann er sein Studium am Konservatorium im Bukarest, das er später am Mozarteum in Salzburg, in Paris und Rom fortsetzte. Im Dezember 1956 debutierte er als Opernsänger an der Bukarester Oper als Mozarts Figaro, noch in derselben Spielzeit sang er dort auch Vater Germont.

Schon vorher war er im Konzertsaal mit rumänischen, deutschen, französischen und russischen Liedern aufgetreten. In den 60er und 70er Jahren hatte er eine große internationale Karriere, die ihn an die Mailänder Scala, die Wiener Staatsoper, ans Bolschoj-Theater, an die Pariser Opéra und an einige der großen deutschen und amerikanischen Bühnen führte. Folgt man seiner Homepage, so hat er während seiner Laufbahn, die über ein halbes Jahrhundert währte, 45 Hauptrollen in 1080 Vorstellungen gesungen und in 1600 Konzerten mitgewirkt. Sein Repertoire reichte von Monteverdi bis in die Moderne. So sang er bei der RAI die Titelrolle in Vito Frazzis hierzulande unbekannter Oper Don Chisciotte (1950). Seit 1979 war er als Professor an der Bukarester Musikhochschule tätig und leitete zahlreiche internationale Meisterklassen.

Von den großen Plattenfirmen vernachlässigt, hat Iordăchescu in seiner Heimat zahlreiche Aufnahmen gemacht – im Studio, im Rundfunk, aber auch im Fernsehen. Eine ganze Menge davon ist heute auf youtube zu hören und teilweise auch zu sehen. Anders als sein Kollege Herlea war er kein dramatischer italienischer Bariton, sondern ein lyrischer Sänger mit großen dramatischen Möglichkeiten. Entsprechend wurde er international vor allem in Partien des Belcanto-Fachs und des lyrisch-dramatischen Zwischenfachs eingesetzt. An der Mailänder Scala sang er Riccardo in den Puritani unter Riccardo Muti, in Dallas Alfonso in La favorita neben Shirley Verrett und an der Wiener Staatsoper Enrico in Lucia di Lammermoor neben Renata Scotto. Ausschnitte aus diesen Aufführungen sind akustisch dokumentiert.

Dan Iordăchescu als Pêre Germont/ youtube

Dan Iordăchescu als Pêre Germont/ youtube

Unter seinen Verdi-Rollen verdienen vor allem Vater Germont, Marquis Posa und Renato Beachtung. Seine Interpretation von „Eri tu“ ist in jeder Hinsicht vorbildlich geraten – im Wechsel der Stimmungen, in der Farbgebung, aber auch im weich strömenden Legato, das bei mühelosem Registerwechsel eine glänzende Höhe aufweist. In Escamillos Torerolied kommt er ohne Brüllerei aus und auch in anderen Paradestücken wie der Figaro-Cavatine und „Nemico della patria“ verzichtet er auf vokale Kraftmeierei. Auf einem wahrscheinlich in den 60er Jahren entstandenen Recital bei Electrecord verbindet er Verdi-Arien mit solchen Mozarts, wobei hier auffällt, dass er nicht etwa Almaviva und Don Giovanni singt, sondern Figaro und Leporello – Rollen, deren Tessitura ihm zwar zugänglich ist, in denen er aber mehr komödiantisch als vokal brillieren kann.

Dan Iordăchescu im rumänischen Tv/ youtube

Dan Iordăchescu im rumänischen TV/ youtube

Wie schon erwähnt, hat das Lied in seiner Karriere eine bedeutende Rolle gespielt, und hört man seine entsprechenden Aufnahmen, so darf man feststellen, dass der Liedgesang seinen Opernrollen ausgesprochen gut bekommen ist, während andererseits die Bühnenerfahrungen seine Liedgestaltung beeinflussen. Das hört man in seiner packenden, differenzierten Interpretation des „Erlkönig“ wie in dem kultivierten Lied an den Abendstern. Iordăchescu war der deutschen Sprache nicht nur mächtig, er wusste sich in ihr auch auszudrücken. Und der leichte Akzent ist geringfügig angesichts einer ungemein plastischen Diktion. Die kommt auch Liedern von Schumann und Brahms und den Gesängen Gustav Mahlers zugute. Bei den Franzosen ist er aber ebenso zuhause, wie die Aufnahmen von Liedern Ravels, Duparcs und Reynaldo Hahns beweisen.

Dan Iordăchescu als Wolfram/ youtube

Dan Iordăchescu als Wolfram/ youtube

Zwei seiner Töchter sind in seine Fußstapfen getreten und Sängerinnen geworden, die dritte ist als Schauspielerin zum Film gegangen. Die Mezzosopranistin Cristina (*1966) und die Sopranistin Irina (*1977) haben sich und ihren berühmten Vater auf ihren Homepages verewigt. Da sieht man den weißhaarigen Patriarchen mit der älteren „La ci darem la mano“ anstimmen, mit der jüngeren „Bei Männern, welche Liebe fühlen“. Die Stimme ist rauer und körniger geworden, aber immer noch intakt. Diese Aufnahmen von einem öffentlichen Konzert sind zugleich ein anrührendes Dokument von Vaterliebe und Vaterstolz.

Nach eigener Aussage ist Iordăchescu bis 2005 noch häufig auf der Bühne und im Konzertsaal zu erleben gewesen. Im Netz habe ich ein noch späteres Dokument gefunden. Es entstand 2009 bei einem Gesprächskonzert in Bukarest, der Bariton ist hier auch mit einigen rumänischen Liedern zu hören, die er mit den noch ansehnlichen Resten seiner Stimme und ungebrochener Gestaltungskraft meistert. Ekkehard Pluta

 

Foto oben: Dan Iordăchescu/ youtube

Verdi und Manet

 

Der Stückvorhang zu Benoît Jacquots Neuinszenierung von Verdis La traviata an der Pariser Opéra Bastille zeigt Manets bekanntes Gemälde Olympia von 1865, welches auch Violettas Bett ziert – neben dem Sofa und einer kleinen Frisiertoilette das einzige Möbelstück des ersten Bildes (Bühne: Sylvain Chauvelot). Zum Vorspiel sieht man Violetta mit Dottor Grenvil und Annina, die wie auf dem Bild eine Farbige und wie diese gekleidet ist (Kostüme: Christian Gasc). Beide Figuren begleiten die Titelheldin bis zu ihrem tragischen Ende.

Erato hat eine Aufführungsserie von Verdis Oper im Juni 2014 aufgezeichnet und als DVD herausgebracht (0825646 166503), was der deutschen Sopranistin Diana Damrau Gelegenheit gibt, sich nach ihrer Mitwirkung in der kontroversen Inszenierung von Dmitri Tcherniakov zur Saisoneröffnung an der Mailänder Scala im Dezember 2013 nun in einer konventionellen szenischen Lesart und in opulenten Kostümen zu präsentieren. Sie hat die Partie vor dem Auftritt in Paris an der New Yorker Met, am Opernhaus Zürich, an der Bayerischen Staatsoper sowie an Covent Garden London gesungen und bietet nun ein gereiftes Porträt der Kurtisane mit vielen neuen Zwischentönen und überraschenden Details. So formt sie das Rezitativ vor der großen Arie sehr nachdenklich, beinahe zögernd. Die Arie selbst wird ungemein differenziert und mit starker innerer Erregung vorgetragen. Exquisit ist die Gesangslinie, bis das „Follie“ und „Sola, abbondonata“ einen jähen Stimmungswechsel bringen. Ungestüm und in atemlosem Taumel stürzt sie sich in das „Sempre libera“, das im Da capo einen trotzigen Unterton annimmt. Im 2. Akt, den optisch ein riesiger Baum dominiert und wo Violetta seltsamerweise im identischen Ballkleid auftritt wie zuvor bei ihrem Fest, zeigt sie eine spontane Freude beim Erscheinen Germonts, was sich freilich schnell in Irritation wandelt. In geradezu wilder Erregung reagiert sie auf seine Forderung, sich von Alfredo zu trennen, und lehnt diese zunächst vehement ab. „Dite alla giovine“ ist dann schon von visionärer Entrücktheit, das „Morrò!“ aufbegehrend und von tiefster Verzweiflung. Ergreifend dargestellt sind die Briefszene und der Abschied von Alfredo in höchster emotionaler Not.

Eine riesige Treppe illustriert den Ballsaal bei Flora, auf welcher der Chor als statuarische Masse postiert ist. Eine schwarze Robe gibt Violetta hier einen tragischen Umriss. In der Darstellung ihres Konfliktes zwischen Liebe und Pflicht überzeugt sie in diesem Bild besonders. Die Auseinandersetzung mit Alfredo ist gezeichnet von fiebriger Erregung, der Zusammenbruch nach seiner unfassbaren Beleidigung von schmerzlicher Wehmut.

Im letzten Akt ist das Bild abgehängt, das Bett wie für einen Umzug gerüstet und Violetta in einem ärmlichen Krankenhausbett gelagert. Das Rezitativ vor „Addio del passato“ gestaltet Damrau aufbegehrend gegen das Schicksal, die Arie zunächst verhalten und stockend, erst später mit ausbrechenden Tönen der Verzweiflung. Auf die Rückkehr von Alfredo reagiert sie mit geradezu ekstatischer Vehemenz. Hatte sie sich an der Scala  gegenüber den szenischen Kapriolen des russischen Regisseurs behauptet und vor allem im letzten Akt eine überwältigende Darstellung der liebenden und sterbenden Titelheldin geboten, so erreicht sie diese Wirkung in Paris nicht ganz, weil der Regisseur sie zu oft im Bett agieren lässt – liegend oder sitzend, was ihren Bewegungsradius einschränkt. Aber dennoch findet sie zu packender Wirkung in ihrem trotzigen Willen auszugehen und der grausamen Erkenntnis, dass ihr dafür die Kraft fehlt. In „Gran Dio“ erreicht sie gesanglich eine von ihr bisher nicht gehörte dramatische Dimension. Berührend ist ihr Abschied von Alfredo mit dem „Prendi, quest’ é l’immagine“, packend die Todesszene zwischen Ungläubigkeit und Trance.

Von ihren Partnern ist vor allem Ludovic Tézier als Germont père zu nennen, der mit seinem sonoren, ausdrucksstarken Bariton und der noblen Erscheinung der derzeit beste Vertreter dieser Partie sein dürfte. Seinen Schlager „Di Provenza“ singt er gänzlich  unsentimental, sondern mit energischem Nachdruck. Die Stimme strömt in wunderbarer Fülle, was vor allem in der Szene mit Violetta im 2. Akt große Wirkung macht.

Ein jugendlich attraktiver Alfredo ist Francesco Demuro, der das Brindisi mit Emphase anstimmt und auch das Liebesgeständnis gegenüber Violetta gleichermaßen sensibel wie leidenschaftlich formuliert. Die Arie zu Beginn des 2. Aktes singt er mit schöner lyrischer Substanz und schwärmerischem Ausdruck. Mit Verve geht er die Cabaletta an, wirkt nur an deren Ende etwas ermüdet, so dass der exponierte Ton am Schluss matt klingt. In den Nebenrollen überzeugen Anna Pennisi als Flora, Cornelia Oncioiu als Annina und Nicolas Testé als fürsorglicher Grenvil. Francesco Ivan Ciampa leitet Choeur und Orchestre de l’Opéra national de Paris mit sensiblem Gespür für die Facetten der Musik – die schmerzliche Lyrik, die rhythmischen Finessen, die temperamentvoll-hitzigen Festbilder und die Morbidität des Finales. Bernd Hoppe

 

 

Antonín Dvoráks „Alfred“

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Genau vor einem Jahr war in Prag ein wichtiger Beitrag des deutsch-tschechischen Kulturaustauschs zu erleben. Gefördert vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds erklang im September 2014 Antonin Dvořáks einzige original deutsche Oper Alfred – aufgeführt von deutschen und tschechischen Musikern. Ein Erstlingswerk. Aber nicht immer gelingt es, eine Wiederentdeckung auch adäquat umzusetzen.

Zum ersten Mal zu hören: Der junge Dvořák war ein flammender Wagnerianer. Als Wagner 1863 in Prag Konzerte gab, hat Dvořák sogar unter seiner Leitung im Orchester gespielt, er war begeistert von dessen Ideen, und so vertonte er 1870 als 29jähriger ein altes Heldendrama von Theodor Körner. Das gilt bis heute als absolute Schreibtischtat. Kurt Honolka, der Dvořák-Biograph, spricht es offen aus: „Alfred ist ein Beispiel perfekter Naivität, ohne jede Chance, je aufgeführt zu werden.“
Dennoch gab es einen Versuch, Dvořáks erste Oper zu reanimieren. Die Aufführungsserie Ende 1938 in Prag (auf Tschechisch) fand durch den Einmarsch der Nazis ein schnelles Ende, es kam nur zu 6 Vorstellungen. Und so ist der originale Alfred in Deutsch hier nun wirklich zum ersten Mal zu hören, denn bei der konzertanten Aufführung im Prager Rudolfinum 2014 handelte es sich um die Uraufführung der Originalfassung.

Ein sozialistisch angehauchter König: Es ist die etwas „tastende“ Musik eines aufsteigenden Genies. Alfred hat die typischen Kinderkrankheiten der meisten Erstlingsopern. Ähnlich wie bei Verdis Oberto oder Straussens Guntram hat man das Gefühl: da hat sich jahrelang Schaffensdruck aufgebaut, und nun entlädt er sich in einem wüsten Gewitter. Um das genießen zu können, braucht es eine Prise Humor. Ein Kuriosum, das der Oper  unfreiwillig einen komischen Anstrich verleiht, ist die Tatsache, dass  Alfreds Leitmotiv klingt wie die ersten Takte der Internationale – das konnte Dvořák natürlich nicht wissen; die Assoziationen stellen sich trotzdem ein. Ausgerechnet das Leitmotiv eines britischen Königs des 9. Jahrhunderts! Denn zelebriert wird hier vor allem das  martialische Hin- und Her-Gestapfe dänischer und englischer Krieger im 9. Jahrhundert mit ein ganz bisschen Liebesgeschichte dazwischen, die auch Kerkerszenen und Befreiungsphantasien nicht ausspart. Das Ganze erinnert ein wenig an Dalibor von Smetana,  auch dies Werk wurde übrigens ursprünglich auf ein deutsches Libretto komponiert.

König Alfred der Große/ Münze um 880/ Wikipedia

König Alfred der Große/ Münze um 880/ Wikipedia

Doch anders als Smetanas Meisterwerk hätte eine Übertragung ins Tschechische dem Alfred zu  Dvořáks Lebzeiten nichts genützt. Denn dieses Körner-Drama war 1870 schon fast 60 Jahre alt, die heroisch-abgenutzte Sprache damals schon angestaubt. Hier, im öden dramatischen Aufriss, merkt man ganz deutlich: So spannend der frühverstorbene Körner als Freiheits- und literarische Figur im napoleonischen Krieg als Lyriker auch war – er ist eben kein Kleist. Und Heines Spott auf den jungen Möchtegernchauvinisten, der gern und oft metaphorisch in Franzosenblut watete, war wohl berechtigt. Dennoch, und das ist ein wichtiges Trotzdem, springt einfach immer wieder die jugendliche Begeisterung des Komponisten Dvořák auf den Hörer über. Wunderbar, diese jungenhafte Freunde am Bombast, die unwiderstehliche Lust an der großen Operngeste! Hier probiert sich wie im Labor der Opernkomponist aus, viele Details erinnern schon angenehm an die späteren großen Opern-Schlachtschiffe wie Dimitrij und denJakobiner.

Miserabel präsentiert – für viel Geld: Leider ist die Präsentation vom kleinen CD-Label arco-diva erbärmlich. Ein böses Wort, gewiss, das aber besonders angesichts eines gepfefferten Preises gerechtfertigt ist. Wir bezahlen den Preis einer Luxus-Opernedition und bekommen den Service einer Billigfirma. Es beginnt schon mit dem Skandal, dass eine deutsche Oper, gefördert vom deutsch-tschechischen Zukunftsfonds (!), auf die CD kommt und der Einführungstext nur auf englisch und tschechisch ist – so als existiere der wichtige deutsche Klassikmarkt (einer der kaufkräftigsten Europas!) gar nicht. Auch die Track-Setzung des Booklets ist hundsmiserabel, man bekommt die Szenen nur durchnummeriert, ohne Angabe, welche Nummern genau zu hören sind. Für das deutsche Libretto wird auf das Internet und die Homepage verwiesen, und, um dem Dilettantismus die Krone aufzusetzen, dann ist das Libretto wiederum ohne Track-Angabe für die CD! Da möchte man die Aufnahme an die Wand werfen.

Ich hab mich aber doch bezähmt – denn abgesehen vom nadelspitzen, schmerzenden Sopran Petra Froeses als Alvina schlagen sich alle Sänger recht wacker, allen voran der helle, agile Bariton Felix Rumpf in der Titelrolle. Weiterhin singen Ferdinand von Bothmer/ Harald, Jörg Sabrowski/ Gothron, Peter Mikulas/ Sieward, Tilmann Unger/ Dorset und Bote sowie Jarmila Baxova/ Rowena und der Tschechische Philharmonische Chor Brünn (Petr Fiala). Das Prager Radiosinfonieorchester ist wie so oft hervorragend, zusammen mit dem Radiosinfonieorchester Warschau das beste osteuropäische Rundfunkorchester überhaupt. Und man spürt bei jedem Takt, dass der Dirigent, Heiko Mathias Förster, das Werk wirklich kompromisslos liebt. Dvořák-Freunde und entdeckungssüchtige Opernfans sollten also zugreifen, trotz der schludrigen Präsentation des Werks. Matthias Käther

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Abbildung oben: Theodor Körner, porträtiert von seiner Tante Dora Stock (nach einer Pastellminiatur von seiner Schwester Emma Sophie Körner), 1813/1814/ Wikipedia. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.