Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Belcanto und Atemtechnik

 

Fast so viele „richtige“ Gesangsmethoden wie Gesangslehrer gibt es, glaubt man leidgeplagten Sängern, aber in einem ist man sich unter den Pädagogen wohl so gut wie einig: der Wichtigkeit des korrekt geführten Atems für Langlebigkeit wie Qualität einer Stimme. Der sich um das Musikleben in vielerlei Weise verdient gemacht habende italienische Verlag Zecchini Editore, der auch die anspruchsvolle Zeitschrift Musica herausgibt, hat nun ein Buch mit dem Titel La Scuola del Respiro- Antalogia commentata delle testimonianze sulla respirazione nel Belcanto auf den Markt gebracht. Der Autor ist Alessandro Patalini, Bariton und als solcher Gewinner des Wettbewerbs Toti dal Monte, der sich jedoch schnell auf eine Lehr- und Forschungstätigkeit, vorwiegend das Zeitalter des Belcanto betreffend, zurückgezogen hat und nun ein mit viel Akribie verfasstes Werk darüber, insbesondere die Atemtechnik desselben vorlegt. Dabei gelten als Belcanto, ein verwirrend vielseitig gebrauchter Begriff, hier  vorwiegend Rossini und Teile des Werks von Donizetti und Bellini. Die große Überraschung ist dabei für den Laien, was Gesangstechnik angeht, die Feststellung, dass Sänger bis in die Mitte des 19.Jahrhunderts sich einer vollkommen anderen Atemtechnik bedienten als danach, als es nicht mehr auf den vollkommenen Ziergesang, sondern um die Interpretation von Partien und deren Leidenschaften, also einen expressiven Gesang ging, der seinen Höhe- und Endpunkt im Verismo findet.

Der Autor, Alessandro Palatini/ Zecchini

Der Autor, Alessandro Palatini/ Zecchini

In seiner Presentazione betont Alberto Triola, dass die Gesangs- und damit die jeweilige Atemtechnik sich mit dem vorherrschenden Musikstil und dem Geschmack des Publikums ändert. Was an den ersten Tonaufzeichnungen den Zeitgenossen als sängerische Tugend galt, wird heute teilweise als Defekt angesehen. Die respirazione toracica war durch die respirazione costo-diaframmica abgelöst worden, deren Unterschiede im Verlauf der Lektüre erläutert werden.. Der Belcantostil schien fast vergessen, ehe man in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eine Art Renaissance, beginnend nördlich der Alpen, erlebte, es wieder Sänger gab, die sich auf ihn einließen und das Publikum dafür begeistern konnten.

Das Buch ist unterteilt in Sezioni, Capitoli und einzelne Stichwörter und erweist sich dadurch als angenehm übersichtlich. Die für den Belcanto typische Brustatmung ist durch eine Schrift von Bernardo Mengozzi (2. Hälfte des 18.Jahrhunderts) belegt, ab ca. 1850 wird sie, so der Verfasser, von der Zwerchfellatmung abgelöst. Das ästhetische Ideal der vocalità fiorita, nur für den Buffo nicht verpflichtend, wird gleichzeitig abgelöst durch den Ausdrucksgesang. Mengozzis Buch wurde am Konservatorium der Scala eingeführt, was es zu einer Art Dogma werden ließ. Manuel Garcia, Sohn des berühmten gleichnamigen Gesangspädagogen und Patriarch einer Sippe berühmter Sänger, fasste, wohl auch, weil er sie durch die neuen Gesangsmethoden gefährdet sah., die Ansichten seines Vaters zusammen, die ausführlich zitiert werden, ebenso wie die anderer Gesangspädagogen wie Rodolfo Celletti oder die von Lucia Tetrazzini oder Lilli Lehmann. So entsteht ein vielschichtiges Bild von der Respirazione nel Belcanto, das sich zudem durch Klarheit auszeichnet. Dem eiligen Zeitgenossen kann man die jeweilige Conclusione eines Kapitels empfehlen, in der alles Wesentliche zusammengefasst wird.

Aufschlussreich ist auch die unterschiedliche Einordnung von appoggio und sostegno durch die Gesangslehrer, die Beschreibung des Anteils, den die Muskeln einzelner Körperteile am Zustandekommen von Höhe und Intensität eines Tons haben.

Nachdem 1855 Louis Mandl die Bedeutung des Diaframma für die ideale Atmung in einer wie eine Revolution wirkenden Schrift herausgehoben hatte, entstand eine ganz neue Gesangstechnik. Lustig wird es, wenn man die Ratschläge z. B. von Toti Dal Monte an ihre Schüler zur Kenntnis nimmt, die die Hände beim Singen hinter dem Rücken halten sollten, erst so würde der Körper zum idealen Musikinstrument. Da würden sich heutige Regisseure bedanken. Von der lotta vocale ist die Rede, aber auch von dem erstrebenswerten antagonismo vocale, wenn beim Ausatmen, also Singen, auch die Muskeln, die zum Einatmen benötigt werden, aktiviert werden sollen.

Das vorletzte Kapitel widmet sich vor allem den Veränderungen, die u.a. durch Gilbert Duprez und sein Do di Petto in die Gesangstechnik Eingang fanden, das letzte dokumentiert die Bescheidenheit des Autors, der sich quasi beim Leser für das entschuldigt, was unvollkommen an seinen Ausführungen sein mag. Für Schüler wie Lehrer ist es auf jeden Fall interessant zu wissen, welche Schlachten um die wahrhafte und reine Lehre, d.h. um die richtige Gesangstechnik, insbesondere die Atmung betreffend, geschlagen wurden und für sich selbst daraus wichtige Lehren zu ziehen (Zecchini Editore, 190 Seiten; ISBN 978 88 6540 134 7). Ingrid Wanja    

„Herculanum“ von Félicien David

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Hurrah! Große Freude für Liebhaber der französischen Grand Opéra: Félicien Davids Vesuv-Oper Herculanum gibt´s bei Palazzetto Bru Zane/ Edciones Singulares (ISBN 978-84-606-8439-8; Note 1). Nun endlich, nachdem die Aufführung in Versailles wegen der akuter Heiserkeit der Mezzosopranistin Karine Deshayes in der zentralen Rolle der verführerischen Königin Olympia nur gekürzt stattfinden und ebenso bei Radio France nur so übertragen werden konnte. Rund ein Viertel der Oper fehlten (und man hört auf dem In-house-Mitschnitt die Arme nur ihre Rezitative kraftlos murmeln). Aber keine Sorge, man war bereits im März 2014 in die Brüsseler Oper La Monnaie gegangen, und es gibt das Ganze nun ungekürzt. auf CD im eleganten CD-Buch mit Infos und einführenden Artikeln nebst zweisprachigem Libretto.

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Was für ein bemerkenswertes Werk – 1859, ein Jahr vor Wagners umgearbeitetem Tannhäuser (Livret en francais de M. Nuitier, dem Bibliothekar der Opéra und von dem unglücklichen M. Dietsch dirigiert, der mit dem Vaisseau phantôme), stellt es so etwas wie den Apex der konservativen französischen großen Oper dar: ausladend, üppig, mit allen Griffen in die Trickkiste der Pariser Oper. Da bebt die Erde, schwingen Nackte die Hüften, und der alte Streit zwischen Christentum und heidnischer Fleischeslust feiert Urständ´. Die wollüstige Olympia versucht kurzfristig erfolgreich , den keuschen Christen Hélios vom rechten Weg abzubringen, und als Bestrafung für ihre und seine Sünden spuckt der Vesuv die todbringende Lava aus – was für ein Sujet!!! Das Ganze dazu wirklich wunderbar gesungen (Véronique Gens, Karine Deshayes, Edgaras Montvidas, Nicolas Courjal und Julien Véronèse; Choer de la Radio Flamande) und fesch gespielt (Brussels Philharmonic; Hervé Niquet) – man kann sich freuen!!! Sowas hört man nicht alle Tage, und die Champagnerkorken poppen beim „Hoch“ auf alle Beteiligten.

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"Herculanium"/ Bühnenbild von Sanquirico für Pacinis Oper "L´ultimo giorno di Pompei" 1827 an der Scala/OBA

„Herculanum“/ Bühnenbild von Sanquirico für Pacinis Oper „L´ultimo giorno di Pompei“ 1827 an der Scala/OBA

Die Aufnahme: Dabei stehe ich nicht an, diese Einspielung zu den best besetzten der letzten zehn Jahre zu zählen. Selten hat man ein so stimmiges Ensemble gehört: Die Solisten alle in extrem guter und vor allem auch engagierter Form, der fabelhafte Flämische Radio-Chor als Hofgefolge der Olympia superb, die Brüsseler Philharmoniker mit Avec und Schwung, aber auch mit seidiger Sinnlichkeit. Musikalisch ist dies eine ebenfalls interessante Sache, denn David gönnt sich einen beinahe rossinianisch geführten Mezzo für die anspruchsvolle der Olympia, der Karine Deshayes absolut und mit Elan gerecht wird – man weiss erst jetzt, was man in Versailles verpasst hatte. Gleich zu Beginn hat sie eine höllisch schwere Koloraturarie, und sie stirbt ebenso. Véronique Gens habe ich kaum je so leuchtend und höhenstark-dramatisch (in der Partie der srandfesten Christin Lilia) gehört, in besserer Form als jüngst in Montpelliers Lalo-Oper. Der junge Tenor Edgares Montvidas glänzt als Hélios zwischen der Frauen (und eben zwischen lustvollem Heidentum und entsagendem Christenglauben – die Parabel ist mehr als offensichtlich) mit heroisch-jugendlichen, feurigen Noten und wie seine Kollegen mit absolut erster Diktion: Es ist eine Freunde, dieses wichtige Werk des Grand Repertoire so idomatisch von nur Francophonen zu hören. Sexy Bariton Nicolas Courjal lässt Körnig-Sonores für den fiesen Verführer/Satan selbst hören und erfreut das Ohr, während Julien Vénonèse gebührend dräuend als der Prophet Magnus zu hören ist. Stilistisch/musikalisch horcht man bei den verdianischen Wendungen auf, die man in manchen Ensembles erkennt.

"Herculanum"/ Illustration zum 4. Akt/ Sammlung Günther Braam aus dem Buch zur Neuausgabe bei Ediciones Singolares

„Herculanum“/ Illustration zum 4. Akt/ Sammlung Günther Braam/ aus dem Buch zur Neuausgabe bei Ediciones Singolares

Und überhaupt schlägt das zeitgenösische Idiom zwischen Rossini, Meyerbeer (Nonnenballett und ganze Teile aus Robert le Diable wie auch Le Prôpète), Verdi oder Gounod immer wieder durch – eine Hörstunde in Sachen Musik aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Und eine Lektion in Orchestrierung, denn mir scheint, die musikalische Erfindung steht hinter der üppigen, einfallsreichen Orchestersprache zurück. Die Melodien werden gerne parallel geführt und vermeiden, bis auf die beiden Soli der Königin Olympia, das Ausladend-Virtuose. Bewundernswert sind allerdings die Übergänge in die großen Ensembles, an denen die Oper reich ist. Ein wenig wie bei Spontini: Kaum ist wer auf der Bühne kommt der nächste und noch einer, und schon haben wir wieder ein Ensemble. Dies bei sehr abwechslungsreichem Einsatz namentlich der Holzbläser. Was sehr schöne Wirkungen erzielt und vom belgischen Orchester mit Glanz wahrgenommen wird.

Ausgestattet ist dies CD-Buch im etwas unbequemen Format beispielhaft, wenngleich die groben Drucke der Abbildungen doch stören. Die Texte über David und seine Oper, ob Einschätzungen von Alexandre Dratwicki, Etienne Jardin, Günther Braam oder anderen, breiten eine Palette an Aspekten aus, und das zweisprachige Libretto (französisch-englisch) ermöglicht das Verfolgen des Gesungen. Fabelhaft – in der Reige der bislang veröffentlichten französischen Opern dieses Projektes, ob nun die Ediciones, Decca oder Glossa etc. will mir diese Aufnahme die wichtigste und bestdurchgeführte scheinen.  G. H.

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"Herculanum"/ Hervé Niquet probt/Répétition et enregistrement avec l'orchestre le ... francemusique.fr

„Herculanum“/ Hervé Niquet probt/Répétition et enregistrement/ francemusique.fr

Zum Werk: Félicien David (1810-1876) war einer der wichtigsten Repräsentanten der Grand Opéra in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er war vor allem mit meist orientalisch inspirierten Werken erfolgreich, und sein Herculanum, das am 4. März 1859 in Paris uraufgeführt wurde, festigte seine enorme Popularität. Diese Grand Opéra in 4 Akten auf ein Libretto von Joseph Méry ist von der Vulkan-Katastrophe im Jahre 79 n. Chr. inspiriert und reiht sich in die in dieser Epoche angesagten religiösen Interpretationen der Zerstörung antiker Städte ein – mit dem offensichtlichen Ziel der Förderung der katholischen Doktrin. In dieser Sicht galt der Ausbruch des Vesuvs als eine Strafe Gottes, die über eine dekadente antike Welt der Vielgötterei hereinbricht, in der die ersten Christen verfolgt werden. Es finden sich ab den vierziger Jahren des Jahrhunderts zahlreiche Opern- und Bühnenwerke (und auch reichlich Belletristik) mit diesem Sujet. Man denke nur an Les Martyrs, Le Dernier Jour de Pompei, L´Ultimo Giorno di Pompei oder Bulwer-Lyttons Roman.

"Herculanum"/Cover des "Univers Illustré"/Wiki

„Herculanum“/Szene 2. Akt/ Cover des „Univers Illustré“/Wiki

Davids cinematographische, an Meyerbeer orientierte (und deshalb eigentlich beim Nur-Hören um die Hälfte ihrer Wirkung beraubte) Oper beginnt im Palast der Olympie in Herculanum, in einem antiken, orientalisch angehauchten Dekor, das an der Pariser Oper entscheidend zum Erfolg beitrug. Die Menge führt der Königin (gleichzeitig Oberpriesterin eines nicht näher bezeichneten Kultus)  zwei junge Christen zu, Hélios und Lilia, und verlangt ihren Tod als Ketzer. Olympie entbrennt sofort für den schönen jungen Mann und beschließt, ihn zu verschonen, während ihr bruder, der grausame Prokonsul Nicanor, der sich zeitweise auch mal schnell in den Satan selbst verwandelt, versucht, die unschuldige Lilia zu verführen. Was nicht klappt. Der Vesuv grummelt so vor sich hin. Hélios, berauscht von einem Zaubertrank, verfällt der Königin, begeht Voraussehbares und leugnet seinen Glauben. Nach einigem Hin und Her verzeiht ihm aber schließlich die ihn liebende Ilia (die Dramaturgie lässt wirklich zu wünschen übrig, ebenso auch die Musik in den entscheiden Momenten, denn der vom Blitz erschlagene Bösewicht sinkt bei nur leichtem Trommelrumpeln zu Boden, da hätte man mehr erwartet). Ballette und Bacchanale, Chöre, virtuose Melodien und Donnerhall des Orchesters folgen aufeinander, während der Vesuv grollt und die Erde bebt zu den Verwicklungen der wüsten Handlung. In einem Schwall von Lava, Flammen und Blitzen begräbt die endgültige Eruption des Vesuvs die Stadt und ihre Bewohner: eine Bestrafung der Ungläubigen und die Erlösung für die die beiden Christen (im Himmel, denn sie sterben natürlich auch, wenngleich fröhlich).

"Herculanum": Karikatur aus der Gazette de Paris/Gallia/Wiki

„Herculanum“: Karikatur aus der Gazette de Paris/Gallia/Wiki

Die Uraufführung 1859 war ein stürmischer Erfolg. Hector Berlioz schreibt eine genaue und begeisterte Kritik in Le Journal des débats : „Ich glaube nicht, dass man je in der Oper etwas Großartigeres gemacht hat als die Aufführung von Herculanum. Man ist geblendet durch die Pracht der Kostüme, der antiken Waffen: Etliche Bühnenbilder sind wahre Wunderwerke; das der letzten Szene, die an das berühmte Gemälde von Martin Die Zerstörung von Ninive „ist ein Meisterwerk.“. Man stelle sich die üppigen Bühnenbilder und die genialen Einfälle vor, die allein technischen und pyrotechnischen Kunstgriffe, um den Vulkanausbruch am Ende der Oper zu bewerkstelligen. Es war eine absolut cinematographische Schöpfung, ganz im Geiste der Meyerbeerschen Bühnenwerke.

Der zeitgenössische Musikkritiker Paul Scudo äußert sich zwar weniger lobend als Berlioz in seiner Rezension über Herculanum in der Revue des deux mondes im Jahr 1859, aber er hebt wie sein Kollege hervor, was er als unzweifelhafte Erfolge bezeichnet, nämlich stupende Wirkung der Bühnenbilder. Und er verspottet geistvoll die zu ausladenden oder zu schlichten Melodien ebenso wie die Schwächen eines Librettos, dessen Urheberschaft auch Gegenstand heftiger Debatten unter den zahlreichen Mitstreitern Davids war.

„Herculanum“: noch einmal zwei karikaturen zur Oper aus der gazette de Paris/Gallia/Wiki

Als Beispiele: „Die Melodie dieser Art Gesanges ist ein wenig traurig und erinnert eher an alte Weihnachtslieder, als dass sie die Idee dieser ursprünglichen Kirchenhymnen vermittelt, von denen der heilige Augustinus mit solcher Begeisterung in seinen ´Konfessionen´ spricht“ oder bei der Verwandlung von Nicanor in den Satan: „Nach dieser Szene vollzieht sich eine Verwandlung, die man nur schwer versteht, selbst wenn man das Libretto in der Hand hat.“ Die Gazette de Paris vom 26 März 1859 bringt eine sehr unterhaltsame Satire über das Werk von David, voll von Stilblüten und Anachronismen. Die Personen sind nun Ricanor und Camélia geworden. Man befindet sich in der Babylonstraße in Herculanum. Und nicht genug, dass die Libretto-Texte parodiert werden, schreibt die Gazette sie zu allem Überfluss diesen oder jenen Mitarbeiter Davids zu, die sich eben darüber gestritten hatten. Aus dem Zaubertrank ist eine „Zauberpflaume“ geworden, dargereicht durch Lamm-ehr-mohr-oh (orientalisierende Übersetzung, die gleichzeitig an die Oper von Donizetti erinnert und an die Mère Moreau, ein Argot-Ausdruck für einen Pflaumenschnaps). Und man macht sich über den Propheten lustig, dessen Arie nur aus einem einzigen Ton komponiert zu sein scheint, einem H. Fleißige Musikverlage machen zudem aus den bekanntesten Melodien Lieder und Tänze, die den Erfolg der Oper verlängern (so eine sehr beliebte Quadrille und eine Polka). Mehr kann man von der Nachwirkung einer Oper nicht verlangen… Antoinette Parcour (Übersetzung wie stets durch die liebenswürdige Ingrid Englitsch – danke!)

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Foto oben: The last day of Pompei/ Karl Bruellow/Ausschnitt /Wiki; und auch der Bericht auf der Seite von Radio France ist informativ. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

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Denkmal auf tönernem Sockel

 

Zwar nicht vor den Türen der Komischen Oper Berlin ein „Felsenstein“, wohl aber in deren Foyer steht eine Büste des ersten und langjährigen Intendanten Walter Felsenstein und scheint von einer unanfechtbaren und unangefochtenen fruchtbaren künstlerischen Arbeit zu künden, einen Mythos zu bewahren und Anlass für manchen älteren Besucher zu sein, der guten alten Opern-Zeit dankbar zu gedenken.

Boris Kehrmann: Walter Felsenstein/ Tectum Verlag

Boris Kehrmann: Walter Felsenstein/ Tectum Verlag

Gründlich auf räumt die in zwei Bänden und auf 1365 Seiten als dritte der Dresdner Schriften zur Musik erschienene Dissertation von Boris Kehrmann mit dem Titel Vom Expressionismus zum verordneten “Realistischen Musiktheater“ – Walter Felsenstein- Eine dokumentarische Biographie 1901 bis 1951 mit jeder verklärenden Sicht auf Leben und Werk des österreichischen Theatermanns und zeichnet anhand von Dokumenten, vor allem auch von Briefen an und von der Hand Felsensteins ein beinahe bemitleidenswertes Bild eines von seiner Mission Besessenen, der unter zwei Diktaturen alles daran setzt, erduldet und in Kauf nimmt, um seine Vorstellungen von der Oper, oder besser gesagt vom „Musiktheater“ zu realisieren. Dabei verlagert sich das Interesse wohl manchen Lesers von der Person Felsensteins (laut Wikipedia * 30. Mai 1901 in Wien; † 8. Oktober 1975 in Berlin; Intendanz 1947 – 1975) auf die Umstände, unter denen er leben und arbeiten musste, angefangen von Kindheit und Jugend in einer konservativen österreichischen Familie bis schließlich zur in Ost wie West gleichermaßen betriebenen Demontage des künstlerischen Vermächtnisses des Regisseurs.

Bereits der Titel lässt aufhorchen, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass die noch immer weit verbreitete Meinung über Felsensteins künstlerischen Standpunkt mit der Vokabel „verordnet“ in ein trübes Zwielicht getaucht wird. Das Werk ist chronologisch gegliedert, übersichtlich trotz der Vielzahl der Themen durch eine Untergliederung in bis zu vier Ziffern. In einem „Epilog“ wird über die angegebene Zeit (1951) bis zum Tod von Felsenstein hinausgegangen. Innerhalb der einzelnen Themenkomplexe gibt es Exkurse, Überblicke über den jeweiligen Stand der Forschung. Der kritische Apparat ist immens umfangreich, der Anhang mit Rollenverzeichnis, Bibliographie, Personenregister, Bühnenwerken und Filmtiteln akribisch und jedem wissenschaftlichen Anspruch gerecht werdend. Fotos gibt es, dem Charakter des Werks entsprechend, nur als Cover: ein Kinderbild vor einem Auto und ein Blick auf Die Fledermaus von 1947.

Felsenstein und Anny Schlemm bei den Dreharbeiten zu "Ritter Blaubart" an der Komischen Oper/arthaus

Felsenstein und Anny Schlemm bei den Dreharbeiten zu „Ritter Blaubart“ an der Komischen Oper/arthaus

Im Vorwort des Herausgebers Matthias Herrmann wird auf die Bedeutung des Briefwechsels zwischen Felsenstein und seiner ersten, jüdischen Frau Ellen hingewiesen und die Behauptung aufgestellt, dass des Regisseurs „Gemeinschafts-Begriff weder im Nationalsozialismus noch in der Theorie des Sozialistischen Realismus wurzelt, sondern eine Auseinandersetzung mit dem „System der K. u. K.-Monarchie“ darstellt. Das Buch selbst geht allerdings über diese Sichtweise hinaus.

Mehr noch anzuzweifeln ist der Teil des Nachrufs von Elia Kazan, in dem es heißt: „Er herrschte wie ein König bis zu dem Tag, an dem er starb…“  Eher als einen von einer künstlerischen Idee Getriebenen, der er alles unterordnet, sei es Familie oder auch Selbstachtung, unerbittlich gegenüber sich selbst und gegenüber seinen Mitarbeitern dokumentieren ihn die vielen Quellen, die zitiert werden.

Als typisch und durchgehend festzustellen ist das Fehlen jeder Auseinandersetzung mit der Musik der Opern, die der Regisseur inszeniert, stets geht es um das Libretto, den Stoff, die Übersetzung, von denen er viele selbst wegen des Ungenügens der vorhandenen anfertigt.

Felsenstein bei den Proben zu "Othello"/ arthaus

Felsenstein bei den Proben zu „Othello“/ arthaus (oben daraus ein Ausschnitt)

Wichtig für den Leser ist die wiederholte Gegenüberstellung von dem, was man in der DDR als Sozialistischen Realismus als politischem Machtinstrument und Realistischem Musiktheater verstand und welche Vorstellungen Felsenstein davon hegte und umzusetzen versuchte, vom Autor „realisiertes Musiktheater“ genannt.  Vergleiche mit Wieland Wagners Bestrebungen , die Beschränkung des Begriffs auf den Inhalt, nicht die Ausweitung auf die Form, der Hinweis auf den „expressionistischen Überdruck“ bei den ersten schauspielerischen Versuchen sind aufschlussreich und werfen ein neues Licht auf den Künstler. Die Frage nach Kontinuität oder Bruch in der künstlerischen Entwicklung wird erörtert, der Einfluss der Künstler der jungen Sowjetunion, die Nöte der Weimarer Republik, die Akzeptanz der Rahmenbedingungen, unter denen sein Wirken im Nationalsozialismus möglich ist, der zusätzliche Druck durch die Angst um Frau und Söhne.

Der Leser erhält einen umfangreichen und detaillierten Einblick in das Wiener wie das Berliner Theaterleben. Ein besonderes Kapitel gilt der Zusammenarbeit mit Heinrich George, und auch ein bitterer Brief von Bertha Drews wegen der Verweigerung eines „Persilscheins“ für den Gatten wird dem Leser nicht vorenthalten. Besonderes Interesse verdienen die Kapitel mit Zutatencharakter wie „Meine rigorosen und sehr selbständigen Regieforderungen“ oder „Dass die Realität nicht zum Realismus veräußerlichte“, die bereits dem von der DDR verbreiteten Bild widersprechen, als es diese nach gar nicht gab. Mit „nicht sagen – meinen“ und mit „Zustand“ anstelle von „Darstellung“ wird er seine Sänger traktieren, von denen er einigen „Flügel verleiht“, sie anderen eher gebrochen hätte, wie dem jungen Fischer-Dieskau.  Auch die Auseinandersetzungen um die Inszenierung von Schillers „Braut von Messina“ sind interessant. Sieht man von der Sorge und den Kampf um die Familie ab, verläuft die künstlerische Arbeit Felsensteins im Dritten Reich eher reibungsloser als in der DDR, wo er als Intendant natürlich auch mehr im Fokus der Bestrebungen der Machthaber stand.

Beu arthaus ist eine dicke Box mit Filmaufnahmen einiger seiner im DDR-TV-gezeugten Opern erschienen, gleichzeitig enthält die Box auch Proben- und Aufführungs-Dokumente der vorausgehenden Bühnenproduktionen von Walter Felstein an der Komischen Oper Berlin

Bei arthaus ist eine dicke Box mit Filmaufnahmen einiger seiner im DDR-TV-gezeigten Opern erschienen, gleichzeitig enthält die Box auch Proben- und Aufführungs-Dokumente der vorausgehenden Bühnenproduktionen von Walter Felstein an der Komischen Oper Berlin

Um Personalpolitik im geteilten Berlin vor und nach dem Mauerbau, um den Aufbau des ehemaligen Metropol-Theaters, von dem nur der Zuschauerraum samt Kronleuchter von den Bomben verschont blieb, um die geschickte Umleitung vom von der Besatzungsmacht geplanten Operettentheater zur Komischen Oper geht es im zweiten Band, und zunehmend um die schikanöse DDR-Kulturpolitik, wie nicht nur das Beispiel Carl Orff zeigt. Abgründe klaffen zwischen dem Kampf um Pajok-Pakete und künstlerischen Idealen. Kein Wunder, dass in den vielen privaten Briefen fast ausschließlich von Krankheiten, Arbeitsüberlastung, Enttäuschungen, Verzögerungen oder dem Ausfall von Premieren die Rede ist. Diese sind dann immer Riesenerfolge und haben zahlreiche Einladungen auch ins westliche Ausland zur Folge, die nicht immer angenommen werden können. Nicht nur der Autor ist erstaunt darüber, wie kritiklos Felsenstein nach Reisen in die SU und nach China  das dortige Kulturleben und nicht nur dieses verklärt.

Der Kalte Krieg zwingt Felsenstein zwischen seine Fronten. Ihm wird von beiden Seiten übel mitgespielt, was der Autor trotz aller wissenschaftlichen Ernsthaftigkeit spannend wie einen Krimi darzustellen weiß.

Trauerfeier für Walter Felsenstein 1975/ Foto Reiche/ Bundesarchiv/ Wikipedia

Trauerfeier für Walter Felsenstein 1975 in der Komischen Oper Berlin/ Foto Reiche/ Bundesarchiv/ Wikipedia

Dass Götz Friedrich sich bereits damals zu leicht ironischen Bemerkungen hinreißen lässt, kann man verstehen, wenn man die Interpretation der Zauberflöte durch Felsenstein als den Kampf zwischen dem guten Politbüro (Sarastro und die Seinen) und dem westlichen Imperialismus nachvollziehen soll. Die meisten Zuschauer dürften das ebenso wenig bemerkt haben wie den Willy-Brandt-Scarpia in einer Tosca-Inszenierung durch Friedrich. Auch allein die Vorstellung einer Zusammenarbeit zwischen Felsenstein und Carlos Kleiber (Freischütz in Stuttgart) bewegt die Lachmuskeln oder das Ringen um einen antiamerikanischen Schluss für Der Fiedler auf dem Dach das widerspenstige Werktätigenpublikum, das die Freikarten lieber weiter verkauft, statt sich dem Kunstgenuss hinzugeben.

Walter Felsenstein hinter der Kamera für "Othello"/ Foto Arthaus

Walter Felsenstein hinter der Kamera für „Othello“/ Foto arthaus

Geradezu tragisch aber mutet die allmähliche Entmachtung des einst Verhätschelten an, die besonders deutlich nach dessen Umsiedlung in die DDR wird, doch nicht ganz nachvollziehen kann man die Meinung des Verfassers, der einst gegen das Elternhaus Revoltierende sei gegen Ende seines Lebens zu den Idealen der fromm-konservativen Mutter zurück gekehrt. Auf jeden Fall wird ein nachdenklich-mitleidiger Blick beim nächsten Besuch der Komischen Oper die Büste des Walter Felsenstein streifen, der viel, vielleicht zu viel den künstlerischen Bestrebungen opferte, die er für die allein richtigen, ja seligmachenden hielt, Ulbricht nicht widersprach, als der in seinem Beisein meinte, die Mauer sei eine Grenze wie jede andere Staatsgrenze auch, die man mit den richtigen Papieren überqueren könne.

Der Autor, Boris Kehrmann/ Foto Scholz/ dieterdavidscholz.de

Der Autor Boris Kehrmann/ Foto Scholz/ dieterdavidscholz.de (ebendort auch eine weitere  ausgiebige Rezension des Buches).

Der Verfasser des so dickleibigen wie informationsreichen Buches hat die Felsenstein-Büste von Wieland Förster im Foyer der Komischen Oper Berlin nicht zertrümmert, ihren Sockel aber etwas tiefer gestellt (Dresdner Schriften zur Musik, Tectum Verlag Marburg 2015, 1365 Seiten, ISBN 978 3 8288 3266 4). Ingrid Wanja

Nicola Porporas „Germanico“

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Eine Oper nach fast 300 Jahren wieder auszugraben, ist fast wie eine Uraufführung einer neuen. So äußerst erfolgreich geschehen bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik mit Nicola Porporas Oper Il Germanico durch Alessandro de Marchi. Doch wie soll man ein Werk heute realisieren, das so lange vergessen war? Die Schwierigkeiten beginnen schon bei den Sängern. Denn Nicola Porporas opera seria erblickte 1732 in Rom das Licht der musikalischen Welt, vor allem gefeiert wegen der virtuosen Kunst der Kastraten. Da traten nämlich die berühmtesten der damaligen Zeit auf, Caffarelli, Annibali, Mondicelli und Galimberti; sie konnten mühelos die geforderten Tiefen und Höhen bewältigen und ellenlang den Atem aushalten. Warum in Rom aber keine Frauen, sondern nur verstümmelte Männer auf der Bühne singen durften, lag am strikten Verdikt des Papstes: Weiblichen Personen war aus Gründen der „Moral“ der Auftritt in der Oper verboten. Dass sich der Palazzo Capranica in seinem Theater diese Stars der Szene leisten konnte, lag einmal am Geld und zum anderen daran, dass der Komponist, der in Neapel 1686 geborene Porpora, einer der gefragtesten Gesangslehrer seiner Zeit war, viele „goldene Kehlen“ ausbildete, u. a. den bekannten Farinelli, und für Aufführungen seiner Werke auf ehemalige Schüler zurückgreifen konnte. Aber auch als Komponist hatte Porpora einen hervorragenden Ruf, war europaweit tätig, überflügelte in London eine Zeit lang sogar Händel an Ansehen, der ihn übrigens sehr schätzte und Arien von ihm weiter verwendete, so die „Täubchenarie“ der Rosmonda aus dem 2. Akt des Germanico; in Wien ging der junge Haydn bei ihm in die Lehre.

Nicola Porporas "Germanico" bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik/ Szene/ Foto Rupert Larl

Nicola Porporas „Germanico“ bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik/ Szene/ Foto Rupert Larl

Heute ist natürlich die Besetzung der Rollen mit Kastraten unmöglich. Außerdem war die Stimmung des Orchesters in Rom damals einen ganzen Ton tiefer. Alessandro de Marchi entschied sich dafür, diese Stimmung beizubehalten, weil dies einen wärmeren Klang erzielt. Doch für heutige Countertenöre sind die Partien wegen der Tiefen und der extremen Höhen kaum singbar. Also transponierte der musikalische Leiter „kritische“ Stellen so, dass sie zu bewältigen sind, und wählte außerdem für die Titelpartie eine Mezzosopranistin, die über eine satte Tiefe, eine warme Bruststimme und mühelos glänzende Höhen verfügt. Die Schwestern Rosmonda und Ersinda konnte er nun in Innsbruck mit Frauen besetzen.

Wer aber die bejubelte Aufführung im Tiroler Landestheater miterlebte, fragte sich natürlich, warum diese Oper unentdeckt im Staub einer Bibliothek Jahrhunderte lang ruhte. Ein wenig liegt dies auch an der konventionellen, allerdings äußerst kunstvollen Art, in der Porpora seine Oper anlegte: Bei ihm sind die ausgedehnten Rezitative Träger der Handlung; auf sie folgt immer eine lange da-capo-Arie, in der die Gefühle der handelnden Personen ausführlich dargelegt werden. Das wirkt alles ziemlich gleichmäßig und schematisch und braucht Zeit. In Innsbruck dauerte die Oper 4 ½ Stunden (ohne die Pausen zu rechnen); eine eigentlich dramatische Handlung findet nicht statt, auch wenn zwei Höhepunkte oder Topoi eingebaut sind, eine Schlacht- und Kerkerszene. Die Personen der Oper sind außerdem weniger Menschen aus Fleisch und Blut, eher Protagonisten „moralischer“ Haltungen, also gibt es hier den „guten“ Herrscher (Germanico), den edlen Wilden (Arminio) und dessen treue Gattin (Rosmonda); lediglich Ersinda, ihre selbstbewusste Schwester, scheint menschlicher, ihr Geliebter Cecina aber als Befehlsempfänger mehr der Obrigkeit als dem Gefühl zugeneigt. Aus all dem ergibt sich für einen Regisseur die nächste Schwierigkeit: Wie soll er das inszenieren? Alexander Schulin löste das Problem genial: Er beließ die handelnden Personen in ihrer Zeit, stattete sie also durch Alfred Peter mit üppigen Barockkostümen und Allonge-Perücken aus, wobei Germanico als idealer Herrscher in hellseidenem, glänzenden Gewand und schlichter Frisur besonders hervorstach, markierte die beiden Paare Arminio und Rosmonda durch blaue, Cecina und Ersinda durch rote Roben. Mit ein paar dunkel gekleideten Statisten deutete er den Hofstaat an. Der Sohn Arminios, der wie ein Attribut der Mutterliebe herumgeschleppt wird, ist anfangs eine Puppe, erst im letzten Akt ein „echtes“ Kind. Alles das findet statt in einem theatralischen Rahmen, einer Kulisse auf der Drehbühne, wechselnd zwischen Innen- und Außenansichten eines Palastes und Arkaden, deutlich eine Illusion von Auftrittsorten. Auch die Hinrichtungsstätte am Schluss zeigt sich als theatralische Attrappe. Nicht durch kriegerische Handlung, sondern durch Argumente gewinnt am Ende der Vernünftige, sprich der römische Herrscher die Oberhand und bringt Zivilisation und Frieden ins „wilde“ Germanien. Das ist die Botschaft des Librettos von Niccoló Coluzzi; zusätzlich finden sich die Familien vereint im „lieto finale“, also ganz nach dem Geschmack der Barockzeit.

Nicola Porporas "Germanico" bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik/ Szene/ Foto Rupert Larl

Nicola Porporas „Germanico“ bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik/ Szene/ Foto Rupert Larl

Dass in der Innsbrucker Wieder-Aufführung dies so glücklich funktionierte, lag vor allem im Musikalischen. Die Accademia Montis Regalis spielte unter der inspirierenden Leitung von Alessandro de Marchi einsatzfreudig und schwungvoll mit nachdrücklicher Betonung, bot so den warmen Klang-Hintergrund für die ausgezeichneten Sänger-Darbietungen. Allen voran begeisterte die irische Mezzosopranistin Patricia Bardon nicht nur durch ihr würdevolles Auftreten als elegante Lichtgestalt Germanico, sondern vor allem durch ihre weiche, in der Tiefe volle, runde, in der Höhe strahlend schöne Stimme, die gefühlvoll auch empfindsame Arien zu gestalten wusste. Ebenbürtig in der Ausdrucksbreite war der australische Countertenor David Hansen als Arminio, mal beharrlich, mit großer, nie zu enger Höhe und locker laufenden Verzierungen, mal wild und verzweifelt, mal im betörenden Schönklang vereint im Duett mit seiner Frau Rosmonda. Die schwedische Sopranistin Klara Ek verlieh ihr großartig weibliche Würde und unterstrich dies mit ihrer klaren, großen Stimme durch lange, dynamische Bögen, dramatische Steigerungen, geläufige Koloraturen, glänzende Höhen, und bei ihrer „Täubchen-Arie“ vermeinte man fast das Gurren zu hören. Ihre Schwester Ersinda, mit ihrer etwas kapriziösen Art genau ihr Gegenteil, wurde von der britischen Mezzosopranistin Emilie Renard mit hellem, beweglichen Mezzosopran gesungen und konnte mit ihrem temperamentvollen Spiel nicht nur das Publikum, sondern vor allem ihren zukünftigen Gemahl Cecina bezirzen, von Hagen Matzeit mit angenehm vollem Countertenor männlich stark gestaltet. Eine wichtige Rolle im Konflikt der verfeindeten Lager der Römer und Germanen hat der Vater der beiden Schönheiten, Segeste, inne, denn er hat sich schon frühzeitig auf die Seite des Siegers Germanico geschlagen. Carlo Vincenzo Allemanno konnte ihn mit seinem fülligen, kraftvollen Tenor sehr überzeugend zeichnen. Dass alles am Ende des 3. Aktes in einen kurzen Jubelchor mündet, ist quasi unumgänglich, konnte aber so die Begeisterung des Publikums, das diese schon durch Zwischenbeifall und an den eindrucksvollen vorherigen Aktschlüssen kundgetan hatte, nochmals steigern, und mit minutenlangen, stehenden Ovationen feierte es alle Mitwirkenden. Renate Freyeisen

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Mario Sereni

 

Zu den Stars seiner Epoche zählte er eher nicht, aber in der Ära der Callas und lange darüber hinaus war der Bariton Mario Sereni eine feste Säule im internationalen Opernbetrieb. Seine Karriere währte dreieinhalb Jahrzehnte. Am 15. Juli ist er im Alter von 87 Jahren in Perugia gestorben, wo er am 28. März 1928 zur Welt kam. Er erlernte erst den Beruf des Drehers, bevor er in seiner Heimatstadt mit dem Gesangsstudium begann, das er in Rom fortsetzte, bis er in Siena Schüler von Mario Basiola wurde, der Opernfreunden als häufiger Partner von Beniamino Gigli noch heute ein Begriff ist. Basiola wiederum war Schüler des legendären Antonio Cotogni (1831-1918), so dass Stimmenkenner wie Rodolfo Celletti und John B. Steane nicht falsch liegen, wenn sie Sereni als einen Abkömmling der „Grand Tradition“ einordnen.

Mario Sereni/youtube

Mario Sereni/youtube

Trotzdem lief seine Karriere im damals von starken Baritonisten geradezu überquellenden Italien nur zögerlich an. 1953 debutierte er beim Maggio Musicale Fiorentino in Il diavolo nel campanile von Adriano Lualdi, einer heute vergessenen Oper nach einer Erzählung von Edgar Allan Poe, die Arturo Toscanini 1924 aus der Taufe gehoben hatte. In den kommenden Jahren findet sich im Archiv der englischen Zeitschrift OPERA allerdings kein Eintrag über weitere Auftritte. Erst 1957 taucht sein Name dort wieder auf. So wirkte er in Parma in dem Einakter La figlia del diavolo von Virgilio Mortari mit und war Wolfram in einer italienisch gesungenen Tannhäuser-Produktion unter Heinrich Hollreiser, die am Teatro Massimo in Palermo herauskam und kurz darauf in Cagliari wiederholt wurde; Carlos Guichandut und Anna de Cavalieri waren seine arrivierten Partner.

 

Mario Sereni/ Pêre Germont/Mario Sereni Memorial Page cs.princeton.edu

Mario Sereni/ Pêre Germont/Mario Sereni Memorial Page/ cs.princeton.edu

Bekannt wurde Sereni aber erst fern der Heimat. Nachdem er 1956 am Teatro Colón in Buenos Aires als Valentin und Germont-père aufgetreten war, gab er ein Jahr später sein Debut als Carlo Gérard an der Metropolitan Opera, der er dann mehr als ein Vierteljahrhundert angehören sollte. Über 550 Vorstellungen hat er – laut dem Archiv des Hauses – in dieser Zeit gesungen, nicht wenige wurden vom Rundfunk übertragen. Viele große Vorstellungen waren darunter, etwa Lucia mit der Callas, Aida unter Solti, Falstaff unter Bernstein, Trovatore und Ernani neben Corelli – und und und. Einige Mitschnitte dieser Aufführungen liegen mittlerweile auf CD vor.

Im dramatischen Fach wurde ihm von Rudolf Bing allerdings Anselmo Colzani vorgezogen; der übernahm nach Leonard Warrens tragischem Bühnentod dessen Partie in La forza del destino, obwohl Sereni der offizielle understudy war, und auch den Part des Jack Rance in der Fanciulla del West, den ursprünglich Sereni singen sollte. Der hat immerhin die große Pokerszene aus dieser Oper mit Dorothy Kirsten im Fernsehen aufgenommen – das Dokument ist auf youtube zu besichtigen.

Mario Sereni Enrico in "Lucia di lammermoor"/Memorial Page cs.princeton.edu

Mario Sereni Enrico in „Lucia di Lammermoor“/Memorial Page/ cs.princeton.edu

Von New York aus unternahm Sereni viele Gastspielreisen in Amerika und nach Old Europe. An der Mailänder Scala kam er 1964 als Germont in Herbert von Karajans Traviata-Produktiojn zu späten Ehren, auch die anderen großen Theater Italiens interessierten sich jetzt für ihn, sein europäisches Stammhaus wurde jedoch die Wiener Staatsoper, in der er von 1961 bis 1976 regelmäßig auftrat und 13 Partien in 118 Vorstellungen sang – neben seinen bewährten Verdi- und Puccini-Rollen auch Figaro, Escamillo und Valentin.

Von der Met verabschiedete sich Sereni 1984 in einer von Placido Domingo dirigierten Bohème-Serie, in der er diesmal nicht den Maler Marcello sang, eine seiner Paraderollen, sondern den Musiker Schaunard. Sein Sohn Rodrigo, eines von vier Kindern, hat bei youtube ein klavierbegleitetes Abschiedskonzert vom August 1986 eingestellt, in dem Sereni mit unvermindert stabiler Stimme die Arien einiger seiner Glanzpartien – Germont, Valentin, Belcore, Gérard – vortrug. Der letzte öffentliche Auftritt wie behauptet, war dies allerdings nicht. Ich habe den Sänger noch anderthalb Jahre später als Partner Luciano Pavarottis im Elisir an der DOB erlebt. Diese Produktion wurde kurz darauf auch in Monte-Carlo gezeigt. Das war dann – folge ich dem Archiv von OPERA – tatsächlich seine letzte Aktivität als Sänger.

Mario Sereni/ Gérard in "Andrea Chénier/Met Opera Archive/ Memorial Page cs.princeton.edu

Mario Sereni/ Gérard in „Andrea Chénier/Met Opera Archive/ Memorial Page/ cs.princeton.edu

In Wikipedia wie auch in diversen Nachrufen wurde immer wieder betont, dass Sereni zeitlebens im Schatten großer Kollegen wie Warren, Bastianini oder Gobbi gestanden habe. Das ist sicher nicht falsch und gilt wohl auch für seinen Nachruhm. Ein unterschätzter oder gar verkannter Sänger war er trotzdem nicht. Er war an einem vollen Dutzend Studio-Gesamtaufnahmen renommierter Firmen wie EMI und RCA beteiligt, die alle den Übergang in die CD-Ära überlebt haben – eine Zahl, von der seine Kollegen und Konkurrenten Colzani oder Giangiacomo Guelfi nur hätten träumen können. Dazu kommen wenigstens 30 Live-Mitschnitte. Die Erklärung für diesen Erfolg liegt in der hohen Kompatibilität von Serenis geschmeidiger, anschmiegsamer Stimme, die sich ausgezeichnet mit den Stimmen anderer Sänger in anderen Stimmlagen mischte, ob Callas, Tebaldi, Price oder Freni, ob Corelli, Bergonzi, Gedda oder Domingo.

Oft wurde Serenis Stimme mit der von Ettore Bastianini verglichen – so in John B. Steanes „The Grand Tradition“ -, und was Wärme und Klangfülle angeht, konnte er es mit dem großen Kollegen aufnehmen, über dessen Pathos und vokales Charisma er allerdings nicht verfügte. Serenis Qualitäten lagen in der Gleichmäßigkeit der Klangemission, dem bruchlosen Registerwechsel und einer mühelosen Höhe, weniger im dramatischen Biss und in der scharfen Charakterisierung der Figuren. Nicht ohne Grund fehlt Scarpia in der Galerie seiner etwa 30 Bühnenrollen. Er war ein Meister des Legato und er konnte seine im Wesen lyrische Stimme organisch expandieren lassen. Deshalb hatte er in Partien wie Germont-père oder Carlo Gérard nur wenig Konkurrenz, aber auch sein Luna, sein Marcello, sein Belcore waren erste Klasse. In dramatischen Partien wie Macbeth und Amonasro verstand er es, stimmgewaltig aufzutrumpfen. Ob er auf der Bühne ein guter Rigoletto gewesen wäre, weiß ich nicht, in einer konzertanten Aufführung von 1979 macht er rein vokal einigen Effekt.

 

Mario Sereni/ Edgardo in "Lucia di Lammermoor"/ Met Opera Archive/ Memorial Page cs.princeton.edu

Mario Sereni/ Edgardo in „Lucia di Lammermoor“/ Met Opera Archive/ Memorial Page/ cs.princeton.edu (oben Ausschnitt)

Was wird von ihm bleiben? Ich denke, eine ganze Menge. Von seinen Studio-Aufnahmen dürften vor allem Madama Butterfly (mit Björling und de los Angeles), „Andrea Chénier“ (mit Corelli und Stella), La Bohème und L’elisir d’amore (beide mit Gedda und Freni) zeitlos bleiben. Bei La Traviata ziehe ich die Lissaboner Kult-Aufführung mit der Callas, aber auch den Mailänder Mitschnitt mit der Moffo unter Karajan der Studio-Aufnahme mit de los Angeles vor, bei Ernani den Live-Mitschnitt von der Met mit Corelli und Siepi der RCA-Aufnahme mit Bergonzi. Für Sammler unverzichtbar sind die Aida von 1963 unter Solti (mit Price, Gorr, Bergonzi und Siepi) und der Wiener Don Carlo von 1968 (mit Jurinac, Cossotto, dem jungen Domingo und Siepi). Doch auch die Fedora aus Neapel (1961) mit Renata Tebaldi und Giuseppe di Stefano ist eine feine Sache. Rundfunkmitschnitte der RAI von Macbeth (1961) und – aus den frühen 70er Jahren – La favorita (mit Fiorenza Cossotto), Alzira, Giovanna d’Arco und La battaglia di Legnano ergänzen Serenis diskographische Hinterlassenschaft überzeugend. Anders als bei manchen Livies etwa von Bastianini oder Taddei würde ich keine der genannten Aufnahmen allein wegen des Baritons empfehlen, aber die Mitwirkung Serenis ist in jedem Falle ein zusätzliches Gütesiegel. Ekkehard Pluta

Die Predigt vom American Dream

 

„Das Buch, das Sie in Händen halten, ist Jessyes jüngstes Kunstwerk. Es ist keine Karriere-Chronik wie so viele andere („Und dann habe ich…“), sondern die Geschichte ihres großartigen  Lebens in ihren eigenen Worten – und nicht in denen eines „Ghostwriters“ – und  natürlich auch mit ihrer eigenen Stimme“, gibt James Levine, nachdem er zehn außerordentliche Begegnungen mit ihr aufgelistet hat, in seiner Einführung den Erinnerungen Jessye Normans (Sing the music of my heart – Erinnerungen) mit auf den Weg. Alle, die eine solche chronologische Künstlerautobiografie erwarten – und wer wäre das nicht? -,  müssen enttäuscht sein. Mehr als die Hälfte der großzügig bemessenen, kurz vor Normans 70. Geburtstag am 15. September bei dtv erscheinenden 330 Seiten nimmt die Schilderung und Erzählung ihrer Heimat, Familie, Herkunft, Schule usw. in Anspruch. Erst dann widmet sich Norman ihrer Karriere, pickt dabei, was wiederum ganz sympathisch ist, eigentlich nur einige Momente heraus. Erst am Ende, wo sie die mantraartig wiederholten Worte, die ihre Jugend  und ihr Leben geprägt haben, die Predigen, wie sie es nennt, nochmals auflistet, „Die Predigt über das ‚Mach etwas daraus‘ „, „Die Predigt über Dankbarkeit“, „Die Predigt über Respekt“ und „Die Predigt über Bescheidenheit“, erkennt man, worum es ihr geht. Spiritualität, Erkenntnis, Gläubigkeit. „Ihr sprachliches Können entspricht haargenau ihrem musikalischen, und ihr Arbeitsethos ist ein Traum. Ich wollte, es wäre ein Vorbild für alle Sänger“, so nochmals Levine. Es ist ein Klischee, wenn man von einem persönlichen Buch spricht, wie es hier auf besondere Weise der Fall ist, doch als Biografie, als Beschreibung einer Laufbahn kurz vor Normans 70. Geburtstag am 15. September, die ihre Höhen hatte, die sich aber doch nicht ganz erfüllte und dann etwas verhauchte, ist die etwa redundante, in einem weihevoll hohen Ton verfasste Autobiografie (dtv ISBN 978-3-423-28056-3) nicht zu lesen.

Bevor sie sich ihrer Familie zuwendet, kommt Norman im Vorspiel-Kapitel doch gleich auf jenen Moment zu sprechen, der ihre Karriere in die entscheidenden Bahnen lenkte, die Teilnahme und schließlich der Sieg beim ARD-Wettbewerb 1968 in München. Sie schildert, wie man ihr nach dem ersten erfolgreichen Durchlauf sagte, dass sie, wie alle anderen, nicht ihren eigenen Klavierbegleiter haben könne. Egal, wer im Recht war. Norman war damals schon mit einem gesunden Selbstbewusstsein ausgestattet, pochte auch bei der Wahl der Stücke auf die Teilnahmebedingungen und schildert die Episode, als gelte es gegen alle Ungerechtigkeiten der Welt ins Feld zu ziehen. Ein Gefühl, das man auch im Lauf des Buches nicht los wird, als sie einmal meint, aufgrund ihres Geschlechts finanziell übers Ohr gehauen worden zu sein, weil der Tenor mehr Gage als sie erhielt oder sie in Hotel achtlos behandelt wurde.
Gehegt und geliebt, großgezogen „in einer Familie voller starker Frauen“, aufgewachsenen mit dem Gesang von Großmutter Mamie, boten Nat ‚King Cole‘, Ella Fitzgerald, Dinah Washington, Duke Ellington, Louis Armstrong und Mahalia Jackson im Radio erste musikalische Offenbarungen, der Ende der 50er Jahren als eine der ersten Opern, ebenfalls im Radio, Lucia aus der Met folgte, aber auf einer Platte bei der Nachbarin auch die Alt-Rhapsodie mit Marian Anderson, die sie später kennen lernte und die in jener  Ariadne auf Naxos-Aufführung an der Met anwesend war, die als VHS und später DVD erschien. Norman erzählt von ihrer Ausbildung, ihrem unendlichen Arbeitseifer, Wissensdurst und der Hingabe an Text und Sprache und Werke: Singen als Handwerk im umfassenden Sinn. Wenig erfahren wir über die Stationen ihrer Laufbahn, wobei diese ihr auch nicht gleichgültig sind, denn nicht unerwähnt lässt sie die Großen der Welt, vor denen sie sang: Nelson Mandela, vor Carter anlässlich der Verleihung des Friedennobelpreises in Oslo, für Obama im Weißen Haus, vor zahllosen Staatsoberhäuptern in Paris anlässlich der 200-Jahr-Feier der Revolution, bis sie schließlich selbst mit der Verleihung des Kennedy Preises u. a. zusammen mit.Lauren Bacall, Bob Dylan und Charlton Heston (mit feiner Ironie, „persönlich war ich froh, dass ich jedwede politische Diskussion mit Mr. Heston vermeiden konnte“) geehrt wurde. Ihre Plattenaufnahmen, ihre Pläne und Hoffnungen scheinen kaum durch. Zwar erzählt sie wie die Weihnachts-CD „Christmastide“ zustande kam, berichtet kurz von der Carmen in Paris, dem Fidelio 1989 in Dresden, von Oedipus Rex unter Ozawa 1992 beim Matsumoto-Festival („einer der wenigen wirklich guten Opernfilme“). Lebendig werden in dem Buch nur wenige Orte und Situationen, etwa ihre aufwühlende Schilderung der Rassendiskriminierung und Apartheid im Augusta der 1950er Jahre, und das Berlin ihrer Anfängerjahre – vor allem auch Ost-Berlin („Ost-Berlin bildete einen großen Teil meiner Welt-Universität“), wo sie des nachts beim Grenzübergang festgehalten wurde, „Es gab keine Toilette, kein Wasser, keine Möglichkeit, irgendwem in West-Berlin mitzuteilen, was mit mir passiert“, und einer Kollegin (U. W., die später viele Mezzorollen an der DOB sang/G. H.) bei ihrer Flucht in den Westen beistand. Plastisch vermittelt sie auch eine Taxi-Fahrt von Frankfurt nach Baden-Baden 2012, bei der sie philosophischen Gedanken nachhängt. Wenige Kollegen oder Menschen aus dem Business werden erwähnt, immerhin sehr wohlwollend Egon Seefehlner, der sie an die Deutsche Oper Berlin holte. Nach drei Jahren entschied sie, „das Opernhaus für ein paar Jahre zu verlassen, um meine weitere Stimmentwicklung zu fördern und erst in meinen Dreißigern wieder auf die Opernbühne zurückzukehren“. Es folgt der kometenhafte Aufstieg zur Lied- und Konzertsängerin, die Beschränkung auf ein bestimmtes Repertoire, das deutsche Kunstlied von der Romanik bis zur Zweiten Wiener Schule, das französische Chanson, Wagner und Strauss, die italienische Oper erschien ihr dagegen, abgesehen von Tosca, wenig interessant, die „Verdi-Rolle, die mich am stärksten fesselt, ist wohl die Lady Macbeth“. Aida (oft in Berlin wie ja auch Mozart und Wagner ebendort) und die frühen Verdi-Aufnahmen für Philips werden wie Jugendsünden abgetan, ihre Africaine findet beispielsweise keine Erwähnung, ebenso wenig Riccardo Muti. Sie spricht über Alter und Verfall, „Ich sage immer, dass ein guter Wein mit den Jahren besser wird. Ich habe mich entschieden, ein Pomerol  zu sein“auch über Liebe, Freundschaft und Familie, „ich lebe praktisch in jedem Moment voller Liebe und Leidenschaft“ (das wirklich Private bleibt ausgeklammert: „Es ist privat. Es ist persönlich. Möge es immer so sein“), doch stets in einem priesterlichen Ton eines Baptistenpredigers, auf den sich der Leser einlassen muss.       R. F.

Festspiel-Erinnerungen von 2014

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Manchmal ist es ohne Bühne auch ganz schön. So bei den konzertanten Mozart-Aufführungen, welche die DG jeden Sommer im Festspielhaus Baden-Baden mitschneidet. Im Vorjahr gab’s Die Entführung aus dem SerailDas Beste aus drei Konzerten liegt nun auf CD vor (DG 00289 479 4064). Und man ist auch nicht richtig glücklich. Im Konzerts klang es schöner – oder einfach anders. Yannick Nézet-Séguin, um den sich – außer um Villazón – alles dreht, dirigiert das Singspiel auf altmodisch spritzige Weise, mit zügigen Tempi, gleich in der Ouvertüre spontan mitreißend, ebenso im Marsch Nr. 5a, er spielt die instrumentalen Soli und die Janitschareneinsprengsel delikat aus. Das Chamber Orchestra of Europe und das Vocalensemble Rastatt ziehen tüchtig mit. Diana Damrau dürfte die derzeit beste Konstanze sein, erinnert ein wenig an Gruberova, klang aber, wenn die Erinnerung nicht täuscht, im Konzert voller und runder, weniger stählern. Franz-Josef Selig hat den nötigen Stimmumfang für den Osmin, dessen Intervalle er gut meistert, er bleibt dabei seriös und zurückhalten, etwas leichtgewichtig, nicht prall und rund, wie man sich das wünscht. Anna Prohaska und Paul Schweinester runden das Ensemble ab, sie eine Edelsoubrette mit einem einfarbigen Sopran für die Blonde, er auch etwas neutral als Pedrillo, doch tapfer und stilsicher in „Frisch zum Kampfe“. Beide gehen in den Sprechpassagen, die beispielsweise Thomas Quasthoff als Bassa Selim genüsslich zelebriert, etwas unter. Der Schwachpunkt ist Rolando Villazón, der als Belmonte vieles sehr schön macht, mit geschmeidigem Legato und guten Bögen singt, beispielsweise „O wie ängstlich, o wie feurig“, in den Koloraturen aber häufig ungenau ist und nicht nur in den Sprechtexten ein Fremdkörper bleibt, weil er sehr pauschal und allgemein singt und sein lacrymoser Ton immer wieder fingiert und faserig wirkt, als würde er gleich wegkippen.

 

don giovanni mozart unitelHotellobbys sind besondere Orte. Wer liebt nicht das elegante Flair und die aufgeladene Atmosphäre eines Ersten Hauses. Das erste Haus am Platz ist das Hotel des Commendatore nicht. Für Sven-Eric Bechtolfs Salzburger Don Giovanni (Unitel Classics 2072734) hat Rolf Glittenberg 2014 ein 20er-Jahre-Interieur mit Art-Deco-Anmutung geschaffen, mit einer viel zu engen Mitteltreppe, die sich wenig elegant  nach recht und links zur oberen Etage zweigt, vorn einer Bar, von der alle kräftig Gebrauch machen, links einer Sitzgruppe. Obwohl in den drei Stunden viel passiert, ist es ein mäßig interessanter Ort, dessen einzige Attraktion der gut aussehende Typ im Schlangenledermantel und schwarzem Anzug mit Weste – doch im Gegensatz zum bäuerlichen Masetto – immer unkonventionell ohne Hemd ist, der mit schwarzer Kriegsbemalung auf die Pirsch geht. Mit bebenden Nasenlüstern tänzelt er wie ein Model, gefällt sich in der Verkleidung als Conferencier mit Zylinder oder holt seinen roten Anzug vom Zimmer: der Latin Lover par excellence, der Zerlina im Tanz zu ihrem Glück verhelfen will. Die Frauen im Hotel sind ihm verfallen. Donna Anna führt ihm sozusagen das Messer, mit dem ihr Vater getötet wird, weshalb sie vor der in der Mitte des Foyers auf einem Sockel aufgestellten Totenmaske bei „Crudele… Non mi dir“ unter um so stärkeren Schuldkomplexen leidet, nicht jedoch gegenüber ihrem Verlobten Don Ottavio, dem sie das corpus delicti, das rote Unterkleid, in dem sie Don Giovanni bekommen hatte, achtlos entgegenschleudert. Vieles ist vorhersehbar, wenngleich Bechtolf im Detail behutsam und vorsichtig gearbeitet hat, die slapstickhafte Verbundenheit von Don Giovanni und Leporello klar legt, der mit seiner Brille und dem treuherzigen Blick an Buster Keaton erinnert, alle Taten seines Herren getreulich fotografiert und sie dann in einem dicken Fotoalbum Elvira präsentiert, der es daraufhin übel wird – unklar ob wegen des vielen Alkohols oder vor Ekel. Das Problem ist auch nicht der Einheitstraum, der Friedhof und Hochzeitsfest unterbringen muss, denn das lässt sich, wie im gesamten zweiten Akt mit Verkleidung und Rollentausch, mit gedimmtem Licht, bei dem man sich um das ganze Ringsum nicht kümmern muss, problemlos bewerkstelligen. Das Problem ist die fehlende Linie und Aussage, wobei es nicht hilft, dass der Komtur schon zum Finale des ersten Aktes und während des Ständchens zugegen ist und zur Hollenfahrt mit einer Heerschar von Teufeln auftaucht,  Don Giovanni nicht zur Hölle fährt, sondern sich nach der Schlussmoral gleich dem nächsten Zimmermädchen an die Fersen heftet.

In der letzten Begegnung mit dem Commendatore entlädt sich auch Christoph Eschenbachs romantisch glutvolle, drängende und kraftvolle Sicht, die ansonsten relativ konventionell bleibt. Tomasz Konieczny, dessen Bass, nicht balsamisch genug für den Komtur ist, gestaltete diese letzte Begegnung mit der hier richtigen, wuchtig dröhnenden Grabesstimme, wobei er auf Ildebrando D‘ Arcangelos attraktiven Don Giovanni trifft, der hier aus dem Vollen schöpft, großstimmig, laut und drängend singt, während man zuvor doch Farben und Nuancen vermisste und von der gesanglichen Leistung des smarten Verführers wenig enflammiert war. Luca Pisaroni ist ein schelmischer, verschmitzter Leporello, ein Intellektuellentyp (macht’s die Brille?), von dem man nicht weiß, was man von ihm halten soll. Pisaroni singt das sehr gut, wie immer, fast ein bisschen zu schlank und nobel; vielleicht wäre er mal ein guter Don Giovanni. Auffallend Alessio Arduni, mit dem Zerlina eine jüngere Ausgabe des Don Giovanni als Masetto zum Altar führt und der das italienische Männer-Trio auf auffallende Weise komplett macht, ein kraftvoll saftiger, dunkler, wunderbar artikulierender Bariton, sicherlich bald der kommende Leporello und Figaro. Mit der reizenden Valentina Nafornita, die ihren Masetto bei „Vedrai, carino“ verführt, indem sie die Hüllen fallen lässt, was er ihr sofort gleichtut, gelingt Bechtolf eine erotisch knisternde Szene. Elvira, die schon zu Giovannis Mahl in Klostertracht erscheint, wird von Anett Fritsch mit auffahrend sehniger Leidenschaft gesungen, Lenneke Ruiten tut sich als Anna schwerer, und Andrew Staples, dem man leider die Perücke so faltenreich aufgeklebt hat, singt den Ottavio stilistisch gut, doch mit ungefälligem Timbre. Rolf Fath

José van Dam zum 75.

 

Zum 75.Geburtstag des berühmten Bassbaritons hat Warner Classics in der Reihe „autograph“ eine umfassende Übersicht über das künstlerische Schaffen José van Dams herausgegeben. Die Box mit 10 CDs enthält Musikbeispiele aus den mittleren 30 Jahren seines 50 Jahre währenden Bühnenlebens, wobei der Schwerpunkt seines umfangreichen Repertoires auf französischen Werken liegt. So kam es nicht von ungefähr, dass er sich im Brüsseler Théâtre Royal de la Monnaie 2010 in der Rolle des Don Quichotte (Massenet) von der Bühne verabschiedete.

Auf der 10. CD ist ein Interview von Jon Tolansky mit dem belgischen Sänger zu hören, in dem van Dam Kommentare zu einzelnen Opernrollen und Liedern gibt. Leider ist die Tonqualität der Sprechenden durch den Aufnahmeort, eine gut besuchte Hotelbar, doch etwas beeinträchtigt. Entscheidend an van Dams Aussagen ist, dass für ihn beim Singen der Fokus stets auf dem Wort liegt, erst danach kommt die Musik: „Man muss die Konsonanten singen! Für einen Künstler reicht Stimme allein nicht!“ So ist neben dem prachtvollen Bass-Bariton, der durch phantastische Atemführung und gekonntes Legato-Singen besticht, vor allem seine Textverständlichkeit in allen Sprachen zu konstatieren. Jon Tolansky steuert kurze Berichte zu Entstehung oder Inhalt der Werke bei, zu denen sich der Sänger äußert. Ein dreisprachiges, instruktives Beiheft gibt weitere Informationen. Die Aufnahmen selbst stammen (soweit Opern-Ausschnitte) aus Aufnahmen von van Dams „Heimatfirma“, der ehemaligen EMI, und der Erato, beide inzwischen im Besitz der Warner Classics.

Auf den übrigen 9 CDs sind Opernszenen oder Lieder unter allgemeinen oder besonderen Aspekten zusammengestellt: Die erste CD mit dem Titel „Devils“ („Teufel“) enthält Ausschnitte aus Berlioz‘ „La Damnation de Faust“, Gounods „Faust“ und Offenbachs „Les Contes d’Hoffmann“. Da werden in der Interpretation die verschiedenen Farben der Mephisto-Charaktere deutlich: Bei Berlioz ist er eher sarkastisch angelegt mit Tendenz zur Romantik; im Gegensatz zu

dem fast übermütigen „Une puce gentille“ (Flohlied) präsentiert van Dam in „Voici des roses“ seine unglaublich dichte Legatotechnik. Bei Gounod dagegen ist Mephisto eher ein „menschlicher“ Teufel, was der Sänger an mehreren Ausschnitten deutlich macht; die subtil ausgesungenen „Il était temps“ und das ironische „Qu‘attendez-vous encore?“ sind beste Beispiele für die variable stimmliche Gestaltungskraft. Bei Offenbachs „Bösewichten“ lässt er als zwielichtiger Coppélius seinem Ärger freien Lauf, ist ein Miracle mit gefährlichen Untertönen und schlägt als Dapertutto einen eleganten, leichteren Ton an; Höhepunkt ist hier mit sattem Klang „Scintille, diamant!“

Allzeit gültige Schwierigkeiten in Vater-Sohn- oder Vater-Tochter-Beziehungen sind Thema der mit „Fathers“ betitelten CD 2. Da führt van Dam in Glucks „Iphigenie en Aulide“ als innerlich zerrissener Agamemnon seine Stimme schlank und klar, aber auch mit der notwendigen Attacke. José van Dam empfindet Verdis „Don Carlos“ in der italienischen Fassung als Oper, in der französischen dagegen als Drama, als Verbindung von Theater und Musik. Mit entsprechend intensiver Gestaltung überzeugt er in der Rolle des ungeliebten Königs, so dass man wenige Schwächen in der Tiefe gern in Kauf nimmt; großartig sein „Elle ne m’aime pas“ wie auch die Auseinandersetzung mit dem Großinquisitor und später der Dialog mit Carlos (eindrucksvoll Roberto Alagna)! Die weiteren Szenen unterschiedlichster Vater-Konflikte aus Delibes‘ „Lakmé“, Massenets „Manon“, Charpentiers „Louise“ und Poulencs „Dialogues des Carmélites“ werden durch den intelligenten Einsatz der weich fließenden Stimme und die Ausdrucksvielfalt van Dams zu speziellen Charakterstudien.

Einer seiner Lieblingsrollen, dem Don Quichotte, ist CD 3 der Sammlung gewidmet. Massenets Quichotte ist für van Dam ein naiver, verliebter Träumer und Künstler, der „alles hat, was man braucht, um ein guter Mensch zu sein“. Mit gekonnten crescendi und decrescendi sowie sauberen Intervallen und klingenden Konsonanten kostet er „Quand aparaissent les étoiles“, „Elle m’aime et va me revenir“ und „Je suis le chevalier errant“ genussvoll aus. Die jeweils aus vier bzw. drei Chansons bestehenden kleinen Liedzyklen zum Thema Don Quichotte von Ibert und Ravel erfahren hier eine interessante, vergleichende Wiedergabe, d.h. einmal mit Klavierbegleitung und einmal als Orchesterlied; mir persönlich gefallen die Orchesterlieder Iberts sehr gut, da die aparte Orchestrierung viele Farben für die impressionistischen Lieder benutzt und dem Sänger damit viel Raum zur Gestaltung lässt; dagegen wirken die Ravel-Lieder prägnanter in der originalen Klavierfassung.

Die nächsten drei CDs (4-6) geben – etwas anfechtbar annonciert – einen Überblick über 200 Jahre Oper von Rameau bis Enescu und Landowski. Da gelingen van Dam Isménors Arien („Dardanus“/Rameau) mit schlanker Stimmgebung ebenso gut wie die kurzen Einblicke in Don Alfonsos intrigantes Wesen („Cosi“/Mozart). Ich erinnere mich an seine treffende Leporello-Interpretation 1976 in der Noelte-Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin (u.a. mit Gundula Janowitz als Donna Anna). Als Fliegender Holländer beweist er eindrucksvoll, welch großen Umfang seine Stimme hat; auch Feinstdifferenzierung vom dreifachen piano bis zum fortissimo kommen zur Geltung, dabei immer bei bester akzentfreier Diktion. Das gilt gleichermaßen für Amfortas („Parsifal“/Wagner), den er am Ende der CD berührend singt. Die folgende Szene aus Gounods „Mireille“ mit van Dam als eifersüchtigem Ourrias gefällt ebenso wie zwei Mönchsdarstellungen („Don Carlo“/Verdi; „Roméo et Juliette“/Gounod), die aufnahmetechnisch 17 Jahre auseinander liegen: Stimmschmelz mit balsamischen Übergängen und tragende Tiefe sind weitgehend erhalten geblieben, nur der Kern ist etwas viriler geworden. Bizet ist durch den enttäuschten Ralph („La Jolie Fille de Perth“) und den locker protzenden Escamillo („Carmen“) vertreten.

CD 5 umfasst die große Szene aus Strauss‘ „Salome“, in der der standhafte Jochanaan den Verführungsversuchen Salomes widersteht, und das gleich zweimal: Zuerst erklingt die gewohnte deutsche Fassung (u.a. mit der großartigen Hildegard Behrens Wien 1977), im Vergleich dazu dasselbe in französischer Sprache (mitreißend Karen Huffstodt, Lyon 1990). Beide Fassungen haben ihre Vorzüge: Ist die deutsche doch genau auf die Sprache komponiert, so klingt in der Übersetzung einiges durch andere Vokale und Silbenverteilung auf einzelnen Tönen ganz neu. Die Erotik der Szene kommt im Französischen mehr zum Tragen.

Der Fokus der CD 6 liegt auf Débussys Konversationsoper „Pelléas et Mélisande“, in der Gesang im Sprech-Rhythmus zelebriert wird; vor allem die sechs Gespräche Golauds mit Mélisande vermitteln in van Dams Interpretation einen guten Einblick in das Seelenleben dieser Figur bis hin zu dem großen Ausbruch in „Une grande innocence“. Mit dem kurzen, süffigen Auszug „Où suis-je?“ aus Albéric Magnards „Guercoeur“ stellt van Dam einen hier weitgehend unbekannt gebliebenen französischen Komponisten (1865-1914) vor, bevor er den köstlich listigen Gianni Schicchi grandios zu Wort kommen lässt. Einen Ausflug in die franzöische Operette wagt er erfolgreich als Duparquet in Hahns „Ciboulette“, die musikalisch mit ihren weichen Aufschwüngen und Bögen an Léhar-Melodien erinnert. Schließlich ist noch die klassische Moderne mit Szenen aus Enescus „Edipe“ und Landowskis „Le Fou“ eindrucksvoll vertreten.

Die CDs 7 – 9 sind Liedinterpretationen vorbehalten, wobei es sich ausnahmslos um französisches Liedgut handelt, das José van Dam besonders am Herzen liegt. Da gelingen Berlioz‘ „Les Nuits d’été“ ebenso farbenreich wie die verschiedenen Lieder von Saint-Saens, Gounod und Massenet, die allesamt durch expressive perfekte Diktion überzeugen. Der häufig ausladende Klaviersatz wird von Jean-Philippe Collard mitatmend ausgebreitet. Bei den Ravel-Liedern sind die „2 Mélodies hébraiques“ eine interessante Abwechslung zu den übrigen; ist man doch mit dieser Musik in unserem Kulturkreis viel zu wenig vertraut. Etwas Besonderes sind auch die „Quatre Poèmes d’après l’Intermezzo de Heinrich Heine“ von Joseph Guy Ropartz (1864-1955), einem bei uns ebenfalls wenig oder gar nicht bekannten französischen Komponisten, die van Dam zu kleinen Szenen formt. Poulencs

teils satirisch verspielten, teils ernsthaften Klavier-Lieder „Chansons gaillardes“ und Orchester-Lieder „Le Bal masqué“, (intelligente Musik, die nicht schockt, wie van Dam es in seinem Interview beschreibt), runden die CDs 7 und 8 ab.

Nach drei bekannten Fauré-Liedern ist der Rest der CD 9 dem Oratorium vorbehalten. Da gibt es zunächst „Sechs Monologe aus Jedermann“ von Frank Martin, die zwischen Deklamation und Gesang schwanken, beides von van Dam grandios beherrscht. Als Herodes in Berlioz‘ „L’Enfance du Christ“ bewährt sich abermals die absolut sichere Atembeherrschung verbunden mit hoher, klangvoller piano-Kultur. Davon lebt auch Brahms‘ „Herr, lehre doch mich“ aus dem „Deutschen Requiem“ das van Dam nachdrücklich aussingt. Dagegen dürfte Gounods mit „Geistliche Tragödie“ bezeichnetes Oratorium „Mors et Vita“ in unseren Breiten eine Rarität sein; van Dam macht uns hier mit drei Bariton-Soli bekannt. Den Abschluss dieser CD bilden das „Libera me“ aus Faurés „Requiem“ (Toulouse 1984) und der gleiche Teil aus dem „Requiem“ von Duruflé (ein Live-Mitschnitt aus Paris 1984), in denen van Dam Glaubenssicherheit erlebbar macht (Warner Classics 10 CD, 0825646190492). Marion Eckels

„Mein Werk ist getan!“

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In meiner Wohnung gehe ich mehrmals täglich an ihrem Foto vorbei. Es zeigt sie als Brünnhilde nach ihrer Erweckung aus langem Schlaf im dritten Aufzug von Wagners Siegfried: „Heil dir Sonne!“ Das berühmte Zitat hat sie selbst auf den unteren Bildrand geschrieben. Für mich – Herrn Winter herzlichst Ludmila Dvorakova. Das Foto hängt zwischen Inge Borkh und Martha Mödl. Ein guter Platz. Oft bleibe ich davor stehen. Einfach nur so. Weil mir das Foto gefällt. Ein anderes Mal geht mir durch den Kopf, was ich mit dieser Sängerin verbinde. Das sind vor allem die vielen aufregenden Abende in der Oper. Isolde, Fidelio-Leonore, Ariadne, Marschallin, Herodias, Kundry, Ortrud, Brünnhilde.

Heil dir Sonne! Das Foto als Brünnhilde in "Siegfried".

Heil dir Sonne! Das Foto als Brünnhilde in „Siegfried“ mit Autogramm / Winter

Im Laufe der Jahre bin ich ihr ein paar Mal begegnet. Beruflich und als ihr leidenschaftlicher Verehrer. Die Jugend sucht gern direkten Kontakt zu ihren Auserwählten und bemerkt gar nicht, dass diese sich dadurch auch gestört fühlten könnten. Wenn es denn so gewesen ist, ließ sie es sich nicht anmerken. Erst im Nachhinein kommt es mir in den Sinn. Ich habe die Dvorakova als sehr zurückhaltend in Erinnerung. Sie war das, was man eine Dame nennt. Den Abstand, den sie allein durch ihre Erscheinung hielt, verband sie mit großer Freundlichkeit. Sie sprach leise, was man bei dem Volumen, das ihre Stimme auf der Bühne entfalten konnte, gar nicht erwartete. Einmal empfing sie mich in ihrer Garderobe in der Berliner Staatsoper vor einer Vorstellung der Frau ohne Schatten. Sie gab die Färbersfrau. Diese Rolle war für mich eine ihrer besten Leistungen, weil sie nicht nur stimmlich, sondern auch darstellerisch völlig aus sich heraus ging. Nicht immer war das so. Das Gespräch drehte sich um die bevorstehende Neuinszenierung von Tristan und Isolde mit Jess Thomas in Covent Garden. Sie war die Ruhe selbst. Viel später erfuhr ich, dass sie panisch unter Lampenfieber litt. Alle großen Opernhäuser dieser Welt hat sie mehr von innen denn von außen wahrgenommen. Sie verbarrikadierte sich in ihren Hotels. Nur die jeweilige künstlerische Aufgabe vor sich. Die Weitgereiste hat nach eigenem Bekunden nicht viel von der Welt gesehen. Ludmila Dvorakova ist tot. Sie starb am frühen Morgen des 30. Juli 2015 mit 92 Jahren bei einem Brand in ihrem Haus in Prag. Mit ihr kam die 87järige Schwester ums Leben. Beide lebten gemeinsam in der Villa. Nach Angaben der Prager Feuerwehr kam jede Hilfe zu spät. Einzelheiten will und kann ich mir nicht vorstellen. Ich versuche mich im Rückblick.

Die erste Langspielplatte von Ludmila Dvorakova mit einem Wagner-Programm bei Supraphon.

Die erste Langspielplatte von Ludmila Dvorakova mit einem Wagner-Programm bei Supraphon.

Die Frage ist so alt wie die Schallplatte selbst: Kann das Medium die Ausstrahlung von Sängern bewahren oder gar wiederherstellen, die einst das zeitgenössische Publikum ergriff? Bereiten uns die Töne aus Lautsprechern dieselbe Erschütterung, das gleiche Glücksgefühl wie einst? Erleben wir noch einmal jenes Staunen, das uns vor vierzig Jahren ergriff und das von vielen anderen Eindrücken offenbar nur überlagert, nicht aber wirklich getilgt ist? Ich trete in den Zeugenstand und schwöre, dass dies im Falle von Ludmila Dvorakova so ist.

1923 im tschechischen Kolin bei Prag geborenen, stieg die Dvorakova in den frühen sechziger Jahren an der Berliner Staatsoper Unter den Linden zu Weltruhm auf. Nach einem Gastspiel als Fidelio-Leonore hatte sie der damalige Generalmusikdirektor Franz Konwitschny aus dem Stand als Octavian im Rosenkavalier engagiert. Damit zeichnete sich nach ersten Ausflügen ins jugendlich-dramatische Fach noch in der Tschechoslowakei (Rusalka, Figaro-Gräfin, Aida) zunächst eine Mezzo-Karriere ab. Ihre in die Tiefe neigende Stimme hätte das hergegeben. Es sollte anders kommen, weniger aus künstlerischen, denn – das dürfte einmalig sein – aus politischen Gründen. Der Bau der Berliner Mauer im August 1961 setzte eine Zäsur im Leben der aufstrebenden Sängerin. Mehrere im Westen beheimatete hochdramatische Kolleginnen hatten Ostberlin den Rücken gekehrt und Ludmila Dvorakova sah sich plötzlich mit der Herausforderung konfrontiert, diese schmerzliche Lücke zu füllen – voller Selbstzweifel, die schwierige Aufgabe bestehen zu können. Sie bestand und eroberte sich in diesem Fach alsbald alle führenden Opernhäuser Europas, Nord- und Südamerikas.

Das Cover der CD zum 90. Geburtstag der Sängerin, erschienen ebenfalls bei Supraphon.

Das Cover der CD zum 90. Geburtstag der Sängerin, erschienen ebenfalls bei Supraphon.

Ihre Bühnenpräsenz war umwerfend. Eine schöne Frau von scheinbar ewiger Jugend – blond, natürlich, gertenschlank. Sie gab der Brünnhilde und der Isolde nicht nur die angemessene Stimme sondern auch die einzig mögliche Gestalt. Wenn sie die Bühne betrat, kamen Ohr und Auge des Publikums gleichermaßen auf ihre Kosten. Es grenzte immer an Wunder, mit welcher Kraft sie selbst den größten Raum erfüllte, das größte Orchester übertrumpfte. Die Dramatik ihres auch höhensicheren Organs kannte scheinbar keine Beschränkungen. Trotz ihrer Vielseitigkeit machte sie um bestimmte Rollen einen großen Bogen. Es blieb 1973 bei einer einzigen Elektra in Graz, und sie unterlag nicht der Verlockung, an der Metropolitan Opera die Turandot zu singen. Hätte sie das nicht doch gekonnt? Das ist die typische Frage der Fans, die sich gern nach dem verzehren, was nicht ist. Ludmila Dvorakova hat anders entschieden und damit ohne Zweifel ihre Karriere verlängert, die an ihrem Stammhaus, der Deutschen Staatsoper Berlin, 1987 endete, ohne dass sie sich dort zum Abschied eine Traumrolle verwirklichen konnte, die ihr ohne Zweifel zugestanden hätte – die Küsterin in der Oper Jenufa ihres Landmannes Leos Janacek. Aber in der DDR mangelte es auch bei solchen Gelegenheiten an Stilempfinden.

Auf den Grünen Hügel kam sie erstmals 1965 und trat dort in insgesamt fünf Sommern in Folge als Venus, Ortrud, Kundry, Brünnhilde (Walküre und Siegfried) und auch als Gutrune in Erscheinung. Offiziell ist nur die Gutrune in der legendären bei Philips veröffentlichten Gesamtaufnahme des Ring des Nibelungen unter Karl Böhm überliefert. Das ist wenig, wenngleich sie diese an sich undankbare Partie sehr eindringlich gestaltet. Es war über Jahre Bayreuther Besetzungspolitik, dass sich beispielsweise die Kundry von heute bereits morgen als Norn oder eben Gutrune wiederfand. Martha Mödl hat das ebenso völlig uneitel praktiziert wie Astrid Varnay, und die Botschaft ist, dass es in den Werken Richard Wagners keine unwichtigen Rollen gibt. Diese Art von Ensemblegeist wurde nirgends sonst so konsequent gepflegt wie in Bayreuth zu Zeiten von Wieland Wagner. Und die Küsterin selbst erzählte gern, dass in einer Götterdämmerung gleich vier Brünnhilden auf der Bühne versammelt waren: Birgit Nilsson, die Varnay als dritte Norn, die Mödl als Waltraute und sie selbst als Gutrune.

Der Titel der Zeitschrift "Opera" von Dezember 1966 kündigt die Brünnhilde in London an.

Der Titel der Zeitschrift „Opera“ von Dezember 1966 kündigt die Brünnhilde in London an.

Als Berlin noch geteilt war, gab es am Bahnhof Friedrichstraße einen tschechoslowakischen Shop. Dort stöberte ich eine Dvorakova-LP des Labels Supraphon auf, die ausschließlich Wagner gewidmet ist, aufgenommen 1966 in Prag. Darauf meine allererste Aufnahme des Schlussgesangs der Brünnhilde aus der Götterdämmerung. Ich höre die Platte ohne Ende, habe sie heute noch, bei allen Umzügen mit mir genommen. Es dauerte bis zu ihren 90. Geburtstag, dass sie endlich auf CD gelangte, aufgefüllt mit Szenen aus Opern von Bedrich Smetana. Längst vergriffen ist eine weitere frühe tschechische LP, auf der sich die Szene Senta-Erik aus dem Fliegenden Holländer mit dem unvergessenen DDR-Heldentenor Ernst Gruber findet. Nicht zu reden von gleichfalls verschollenen Szenen aus der Dvorák-Oper Dimitrij und einer kleinen Platte unter anderem mit der Arie der Santuzza. Greifbar als CD indessen ist der Lohengrin-Querschnitt von Berlin Classics mit der Szene zwischen Ortrud und Telramund zu Beginn des zweiten Aufzugs. Walhall überraschte vor wenigen Jahren mit einem bis zur Unkenntlichkeit gekürten Don Carlos in deutscher Sprache aus der Berliner Anfangszeit. Bei allen Kürzungen dieser großen Oper, die einst üblich waren, kommt die Rolle der Elisabeth immer noch am besten weg. So auch hier. Mehr wäre nicht, wenn es nicht das umsichtige Golden-Melodram-Label gegeben hätte, das die Venus (1966) und die Ortrud (1968) aus Bayreuth sowie die Londoner Brünnhilde in der Walküre von 1967 zur Veröffentlichung auftrieb. Wer sich als hartnäckiger musikalischer Pfandfinder betätigt, stößt auf Radiobänder der BBC aus Covent Garden mit kompletten Mitschnitten von Götterdämmerung und Tristan – jener Produktion mit Jess Thomas – unter Georg Solti.

Venus und Tannhäuser: Ludmila Dvorakova und Spas Wenkoff als Venus und Tannhäuser in der Berliner Inszenierung.

Venus und Tannhäuser: Ludmila Dvorakova und Spas Wenkoff in der Berliner Inszenierung von 1982 – ein Screenshot aus dem Film.

Es versteht sich von selbst, dass auch die bereits eingangs erwähnte Färbersfrau in der poetischen Harry-Kupfer-Inszenierung der Frau ohne Schatten in Berlin ebenso erhalten ist wie die Ariadne auf Naxos aus San Francisco, die Sieglinde (erster Aufzug Walküre) aus Budapest beziehungsweise Kopenhagen oder auf die Katerina Ismailowa von Dmitri Schostakowitsch aus Wien, die übrigens die erste Bühnenrolle in ihrer Heimat nach dem Gesangsstudium war. Auch die Ortrud an der Metropolitan Opera New York von 1968 und ein Fidelio mit Wolfgang Windgassen als Florestan von 1969 aus Bern finden sich in privaten Sammlungen. Das Download-Label Pappilon (www.opera-club.net) hat jüngst wieder andere Quellen erschlossen, darunter Auszüge aus einem Tristan aus Torino. Beim DDR-Fernsehfunk wurde 1982 die damals aktuelle Inszenierung des Tannhäuser von Chefregisseur Erhard Fischer abgefilmt. Vor einigen Jahren wurde die Produktion im Festival-Kultursender der ARD gezeiegt. Ludmila Dvorakova ist die Venus, Celestina Casapietra die Elisabeth und Spas Wenkoff der Tannhäuser.

Das Archiv des Prager Rundfunks bewahrt viele Dokumente aus der frühen Zeit, als die Stimme noch sehr leicht war und nur das unverwechselbare Timbre keinen Zweifel lässt, dass es die „Dvorscha“ ist, wie sie von ihrer großen Fangemeinde genannt wurde. Der bisher letzte Fund im neunzigsten Jahr ihres langen erfolgreich Lebens hat mich sehr berührt: die Peri in Robert Schumanns Oratorium „Das Paradies und die Peri“. Ja, die Peri, die sich am Schluss mit atemberaubenden stimmlichen Höhen in den Himmel emporschwingt: „O ew’ge Freude, mein Werk ist getan.“ Plötzlich finden wir uns 1954 im Prager Smetana-Saal wieder. Das ist wie Zeitmaschine. Ein Kreis schließt sich. Ich bin dieser Künstlerin unendlich dankbar.

Das große Foto oben zeigt Ludmila Dvorakova als Venus in Tannhäuser. Es ist ein Screenshot aus  dem Film, der 1982 nach der Inszenierung der Berliner Staatsoper gedreht wurde. Die ARD zeigte ihn in ihrem Festival-Kanal.

Paolo Bordogna

 

Das originellste an der Tutto Buffo-CD (Decca 481 1685) des Mailänder Baritons Paolo Bordogna ist die Galerie der Figuren auf dem Cover, die zeigt, mit welcher Lust sich der 43jährige in Maske und Kostüm wirft und sich in Falstaff, Mamma Agata, Leporello und Gianni Schicchi verwandelt, wozu im italienisch-englischen Beiheft (Arientexte nur auf italienisch) noch Don Geronimo aus Il matrimonio segreto, Bartolo, Don Geronio aus Il turco in Italia, Don Magnifico, Dulcamara, Don Pasquale sowie die weniger bekannten Tartaglia aus Mascagnis Le maschere und Beaupertius aus Rotas Il cappello die paglia di Firenze hinzu kommen. Leider gelingt es Bordogna nicht im gleichen Maß die Verkleidungen auch stimmlich nachzuvollziehen und sich in die die Figuren zu verwandeln, die eine Geschichte des Buffos vom späten 18. bis in frühe 20 Jahrhundert erzählen, und diesen Vätern, Dienern, Betrogenen und Clowns ein Gesicht zu verleihen. Auf dem Cover sticht natürlich die gar nicht bräsig bufforunde, sondern schrille Mamma Agata hervor, wie sie in diesem Outfit einem Aldomovar-Film entsprungen sein könnte, und die Bordogna, der bei Roberto Coviello studierte, selbst ein wunderbarer Interpret zahlreicher Buffo-Partien, mit flüssigen Koloraturen, beeindruckend strahlender Höhe und ansprechender vis comica in Szene setzt. Überhaupt liegt ihm der verzierte Gesang, vor allem die Plapperkoloraturen Rossinis, ziemlich gut; seinen Cimarosa- und Mozart-Arien fehlt es an Timing und stilistischer Verve . Im Textheft, das einen informativen Abriss zur Geschichte des Buffos zwischen Bass und Bariton liefert, werden als ideale Interpreten auch Salvatore Baccaloni, Sesto Bruscantini und Enzo Dara aufgezählt, Vertreter unterschiedlicher Stimmtypen. Bordogna wäre wohl eher der Bruscatini-Erbe, wobei dieser anfangs ebenso die großen Verdi-Partien übernahm und sich erst in seinen späteren Jahren gänzlich diesen Rollen zuwandte und Bordogna beispielsweise an dessen anrührende und menschliche Darstellung des Don Pasquale nicht heranreicht; das Duett mit sich selbst als Malatesta ist eher ein Gag und offenbart nur die mangelnde Gestaltungskraft des jungen Buffos. Bordognas wenig individuellem Bariton fehlen Rundheit, Fülle und Charakterisierungskunst, und – nicht nur für Dulcamara und Falstaff – die saftig dralle Potenz eines Taddei beispielsweise, es fehlen Farben und Situationen, weshalb diese ehrgeizige, im September 2014 in Parma entstandene Aufnahme sehr rasch an Reiz verliert. Dieser Tendenz arbeiten auch Francesco Lanzilotta und die Filarmonia Arturo Toscanini nicht entgegen. Schade. Rolf Fath

 

 

Und nun ein Gespräch mit dem Bariton: Wie nur wenigen Interpreten gelingt es Paolo Bordogna, Figuren wie Don Magnifico, Leporello, Don Pasquale, Bartolo oder Figaro Leben einzuhauchen. Der vielseitige italienische Basso buffo besticht mit immenser Wandlungsfähigkeit, mit Spielwitz und Originalität seiner Rollenportraits. Dies hat er nun auf einem interessanten Soloalbum verewigt, Tutto Buffo, erschienen bei Decca. Franz Stuckeneder sprach wenige Tage vor seinem Debüt an der Wiener Staatsoper, wo er noch bis zum 19. Juni als Leporello auf der Bühne steht, mit dem Sänger.

Paolo Bordogna/© Amati-Bacciardi

Paolo Bordogna/© Amati-Bacciardi

 

Sie haben vor kurzem Ihr erstes Soloalbum mit dem Titel Tutto Buffo bei Decca vorgelegt. Wir waren fasziniert vom Detailreichtum Ihrer Interpretationen und wie Sie ohne das „Hilfsmittel“ der Bühne solch detailreiche Charakterstudien kreieren. Man hat fast den Eindruck, dass Ihnen das im Tonstudio genauso leicht wie auf der Bühne fiel..Es handelt sich bei dem Album um etwas wirklich Besonderes, da in der Geschichte des Plattenlabels Decca der Figur des Buffo selten zuvor ein ganzes Soloalbum gewidmet wurde. Ich wollte mit dem Projekt, das auch  auf meiner Idee basiert, die Geschichte des Buffo musikalisch erzählen. Während der Aufnahmen war mir natürlich immer bewusst, dass man mich dieses Mal nur würde „hören“ und nicht „sehen“ können. Es hätte aber keinen Sinn gemacht, auf spezielle „Effekte“ zu setzen, die auf der Bühne eigentlich nicht zu vertreten wären.

Paolo BordognoDon Pasqualer/© Amati-Bacciardi

Paolo Bordogna/Don Pasqualer/© Amati-Bacciardi

Als ich die Aufnahme eingespielt habe, war mir immer genau klar, was ich mit meiner Stimme erreichen wollte – und das war nur möglich, weil ich mich stimmlich sehr diszipliniert vorbereitete. Dem jeweiligen Interpretationsansatz, den ich auch bei der Verkörperung der entsprechenden Partie auf der Bühne vertrete, blieb ich übrigens immer treu. Meine Interpretationen hinterfrage und erforsche ich immer aufs Neue und versuche, neue Ansätze zu finden. Unterschiedliche Inszenierungen lassen mich immer neue Farbe finden. Außerdem, was ich immer aus Neue betone: Alles ist schon vom Komponisten geschrieben worden! Und ich habe das Glück, dass alle auf der CD vertretenen Komponisten fantastisch sind!

Paolo Bordogno/© Amati-Bacciardi

Paolo Bordogna/© Amati-Bacciardi

 

Der Hörer wird auf der CD durch drei Jahrhunderte „Buffo-Geschichte“ geführt. Wie entwickelt sich die Geschichte des Basso buffo grob von Cimarosa bis Nino Rota? Erst einmal muss man sagen, dass die stimmliche Kategorie des „Bariton“, als die Opera Buffa geboren wurde, noch nicht einmal existierte und dass die Autoren von den Masken der Commedia dell’arte inspiriert wurden. Buffo-Partien waren meist „väterliche Geschäftsmänner“, die Profit aus der Verheiratung ihrer Töchter in höhere Gesellschaftsschichten schlugen, oder geizige, lüsterne Stiefväter, die es auf die Mitgift ihrer unglückseligen Ziehkinder abgesehen hatten. Die natürliche Stimmfarbe dieser Rollen war ohne Frage die eines Basses.

Paolo Bordogno/Don Magnifico/"La Cenerentola"/© Amati-Bacciardi

Paolo Bordogna/Don Magnifico/“La Cenerentola“/© Amati-Bacciardi

Die Buffos haben nach der französischen Revolution immer menschlichere Züge angenommen und die Masken abgelegt, sodass das Publikum sie auf eine viel direktere Art und Weise erleben konnte – als ob es sich selbst in einem Spiegel sehen würde. Die letzte Entwicklung vollzieht sich dann zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert: Die Introspektion der Charaktere wird auf subtilere Art und Weise offen gelegt. Chaplin erfindet die Idee der “Masken” mit seinem Carlot neu und Pirandello erzählt bzw lehrt uns, dass Humor über “Komik” hinausgeht. Ich verweise hier auf das berühmte Essay Pirandellos “Der Humor” von 1908. Ich persönlich glaube, dass ein moderner Künstler Stücke des 18. Jahrhunderts nicht interpretieren kann, indem er sich vorstellt, wie man dies in dieser Zeit getan hätte, auch wenn man natürlich den philologischen Aspekt nicht aus den Augen verlieren darf. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass man dem heutigen Publikum gegenübersteht und darüber, wie viel in den letzten Jahrhunderten passiert ist. Denn genau dies macht unsere Interpretationen der Meisterwerke der Vergangenheit aktuell.

Paolo Bordogno/Falstaff/© Amati-Bacciardi

Paolo Bordogna/Falstaff/© Amati-Bacciardi

 

Wie ist Ihre Karrriere als basso buffo bisher verlaufen? Wann haben Sie sich auf dieses Stimmfach spezialisiert? Es erfordert viel Arbeit und Übung, komische Rollen darzustellen, eben weil man von einer Basis ausgeht, die leicht zu erlangen ist: Die “Natürlichkeit”. Diese “Flamme”, die dich glücklich macht, wenn du andere glücklich machst. Auch das sogenannte Comic Timing kann sehr natürlich sein. Aber, wie es bei allen Talenten eben so ist: Wenn sie nicht vom genauen Studium der Technik “genährt” und vom kontinuierlichen Gegenüberstellen mit bildenden Künsten und unnachgiebiger Disziplin genau geleitet werden, sind sie zur Wiederholung und damit zur Routine und Langeweile verdammt. Dank meiner stimmlichen Flexibilität habe ich weder in der Höhe noch in der Tiefe Probleme. Wenn ich Don Pasquale singe (die Titelpartie), vermeide ich es, kurz zuvor oder danach eine reine Baritonpartie zu singen, das ist einfach gesünder für die Stimme. Beim Rossini Opera Festival konnte ich in zehn verschiedenen Inszenierungen in den großen Buffopartien Rossinis auftreten, der ein wahrer Meister in dieser Disziplin ist. Daraufhin hatte ich das Privileg, viele dieser Partien mit großen Dirigenten und tollen Regisseuren auf der ganzen Welt zu singen.

Paolo Bordogno/Gianni Schicchi/© Amati-Bacciardi

Paolo Bordogna/Gianni Schicchi/© Amati-Bacciardi

 

Zur Zeit treten Sie an der Wiener Staatsoper als Leporello auf. Können Sie uns mehr über Ihre Interpretation dieses Charakters und die stimmlichen Anforderungen sagen? Ich habe ein paar Jahre gewartet, bis ich diese Rolle in Angriff genommen habe, weil ich für sie wirklich bereit sein wollte. Ich halte Mozart für einen Komponisten, der Reife erfordert. Und ich spreche hier vor allem vom darstellerischen Aspekt. Es ist einfach, als Buffo in leicht erzeugte Lacher abzugleiten, die Versuchung ist groß. Leporello ist eigentlich sehr unglücklich. Gleichzeitig ist er unterwürfig und auf seinen Herren neidisch. Es ist eine Art Hassliebe zwischen ihm und Don Giovanni. All das muss neben dem komischen Aspekt sichtbar sein, wenn man den Leporello nicht als alberne Maske darstellen will. Meinen ersten Mozart habe ich übrigens vor 15 Jahren gesungen, das war der Guglielmo in Così fan tutte. Aber eigentlich wollte ich immer Don Alfonso singen. Besonders glücklich schätze ich mich, diese Rolle mit großen Dirigenten wie Abbado und Nagano gesungen zu haben.

 

Paolo Bordogno/Mamma Agata/"Viva la mamma"/© Amati-Bacciardi

Paolo Bordogna/Mamma Agatà/“Viva la mamma“/© Amati-Bacciardi

Welche neuen Partien sind in Zukunft geplant? Können Sie uns schon etwas über konkrete Pläne und Projekte der kommenden Jahre verraten? Vor drei Wochen habe ich an der Washington National Opera als Don Magnifico debütiert, dort sind bereits weitere Projekte geplant. Aber auch an anderen amerikanischen Theatern, beispielsweise an der Lyric Opera in Chicago. Sofort nach dem Leporello hier in Wien werde ich nach Sydney reisen, wo ich Mozarts Figaro singen werde, in einer Neuproduktion von McVicar. Darauf folgt Don Pasquale in Neapel und zur Saisoneröffnung beim Donizetti-Festival in Bergamo. Am Teatro alla Pergola in Florenz werde ich eine Serie von Liederabenden eröffnen, die Rossini gewidmet sein werden, basierend auf meiner eigenen philologischen Arbeit. Der Titel ist Une soirée chez Rossini und ich werde mit einem außergewöhnlichen Begleiter auftreten: Bruno Canino. In Sydney werde ich außerdem als Gianni Schicchi debütieren und Rossinis Figaro singen. Nach Turin, Palermo und Bilbao werde ich mit Cenerentola zurückkehren, nach München mit Le nozze di Figaro und nach Marseille, Bologna und an das NCPA in Peking mit Il barbiere di Siviglia. Ich habe außerdem viele neue Ideen für weitere CD-Projekte. Aber alles zu seiner Zeit!

Foto obern: Paolo Bordogna © Amati-Bacciardi

Bei youtube ist Paolo Bordogna ebenfalls zu erleben: 
https://youtu.be/INj9ZOEb2VI /  https://youtu.be/Q-t9SBHGVqA

Oper in Deutsch

 

Bei Berlin Classics ist ein sehr repräsentativer DDR-Querschnitt gelungen. Nun gibt es zwanzig Originalaufnahmen der DDR-Firma ETERNA, deren Rechte Berlin Classics/Edel besitzt (und branchenkundige Berliner werden sich an die turbulenten Übergangszeiten unmittelbar nach der Wende erinnern, wo die Firma Edel robusten Wachschutz im Lager der Schallplatte der DDR installierte, um nächtlichen Angängen vorzubeugen…). Die Querschnitte  sind hier zu einer voluminösen Box zusammengefügt worden. Es handelt sich ausschließlich um deutschsprachige Aufnahmen fremdsprachiger Opern. Die Mischung reicht von den großen internationalen Repertoireopern wie CarmenToscaRigoletto über russische Werke wie Boris Godunow bis hin zu Raritäten wie Fra Diavolo. Enthalten sind auch einige vollständige Einakter, darunter Rimsky-Korsakows Oper Mozart und Salieri und Offenbachs Operette Salon Pitzelberger. Heute ist er ja fast ausgestorben – der Opernquerschnitt in deutscher Sprache, der seine Glanzzeit in der Langspielplatten-Ära der 1960er und 70er Jahre hatte. Jetzt hat das Label Berlin Classics 20 Werke aus DDR-Zeiten herausgebracht.

Viele davon kannte ich schon als Teenager in der LP-Variante. Doch auch jetzt, um so einige Hörerfahrungen reicher, war ich beim Wiederhören erstaunt darüber, auf welch hohem Niveau da insgesamt  gespielt und gesungen wurde. Nur weniges scheint mir stilistisch aus heutiger Sicht etwas veraltet, Aubers Fra Diavolo klingt dann  letztendlich doch zu sehr nach Lortzing und Verdis Don Carlos zu sehr nach Wagner. Doch davon abgesehen müssen sich diese Aufnahmen vor westlicher Konkurrenz nicht verstecken. Hier finden sich echte Opernhighlights von internationalem Rang, Sänger wie Peter Schreier und Theo Adam und Dirigenten wie Otmar Suitner und Orchester wie die Dresdner Staatskapelle sorgen für hohe Standards.

Verblüffend ist die große Zahl an Sängern, die nicht aus der ehemaligen DDR stammen.  Tatsächlich gab es in der Klassikszene während des kalten Krieges ein unglaublich freizügigen Kulturaustausch. Auch in dieser Hinsicht sind diese ETERNA-Aufnahmen ein faszinierendes historisches Dokument. Einigen DDR-Querschnitten merkt man das „Made in GDR“ kaum an,  z.B. der Einspielung von Verdis Macht des Schicksals: in den Hauptrollen Nicolai Gedda, Hermann Prey, Grace Bumbry und Gottlob Frick.

Eine glanzvolle Reihe von Stars ist hier in dieser Box versammelt mit Künstlern aus dem, wie es damals so schön hieß, „nichtsozialistischen Ausland“: Anny Schlemm, Brigitte Fassbaender, Ingvar Wixell, Anton de Ridder, Anneliese Rothenberger. Letztere ist erstaunlich präsent auf diesen Alben, vielleicht, weil sie hier die Möglichkeit bekam, große Belcanto-Rollen zu singen, für die sie im Westen nicht (mehr) so gern engagiert wurde. Sie singt Norina, Violetta und Gilda – nicht immer zu ihrem Vorteil. Die Ensembleszenen hören sich mit ihr oft angenehmer an als die virtuosen Soloarien, mit denen die Sopranistin, eine ausgezeichnete Strauss-Sängerin, leicht überfordert war.

Vergleicht man die opulente Box etwa mit der kürzlich erschienenen Warner-Edition mit westdeutschen Querschnitten von Eurodisc, muss man die größere Benutzerfreundlichkeit bei Berlin Classics loben. Niemand will die Tracks erst mühsam in einem Extraheft nachschlagen müssen (wie bei Warner), sondern auf der CD-Hülle finden. Und: Anders als bei der Verramschung von alten EMI- und Eurodisc-Querschnitten gibt’s hier auch zu jeder Oper einen kleinen Einführungstext. Was Warner pfiffiger umgesetzt hat, ist die Gestaltung der Cover, die entsprechen nämlich denen der Original-Schallplatte. Berlin Classics hat hier sehr langweilige Fotos benutzt, dabei wäre es wirklich schön gewesen, die zum Teil abscheulichen DDR-Cover der Platten noch einmal sehen zu können. Schade, dass man da nicht konsequent war. M. K.

Oper in Deutsch: Die Highlights aus 20 Opern in deutscher Sprache (Aufnahmen des DDR-Labels ETERNA) 10 CD, Berlin Classics 0300680BC (+Auber: Fra Diavolo (Aufnahme von 1972) +Bizet: Carmen (Aufnahme von 1972) +Donizetti: Don Pasquale (Aufnahme von 1971) +Dvorak: Rusalka (Aufnahme von 1971) +Gounod: Margarethe (Aufnahme von 1971) +Mozart: Cosi fan tutte (Aufnahme von 1967) +Mussorgsky: Boris Godunov (Aufnahme von 1970) +Offenbach: Salon Pitzelberger (Aufnahme von 1970) +Prokofieff: Verlobung im Kloster (Aufnahme von 1971) +Puccini: Tosca (Aufnahme von 1961); Turandot (Aufnahme von 1972); Gianni Schicchi (Aufnahme von 1972) +Rimsky-Korssakoff: Mozart und Salieri (Aufnahme von 1980) +Rossini: Der Barbier von Sevilla (Aufnahme von 1965) +Smetana: Die verkaufte Braut (Aufnahme von 1962) +Verdi: Aida (Aufnahme von 1972); Don Carlos (Aufnahme von 1965); La Forza del Destino (Aufnahme von 1965); Rigoletto (Aufnahme von 1971); La Traviata (Aufnahme von 1971)

Künstler: Günter Neumann, Reiner Süß, Eberhard Büchner, Hannerose Katterfeld, Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Wolf Dieter Hauschild (Fra Diavolo), Brigitte Fassbaender, Ludovic Spiess, Anneliese Rothenberger, Staatskapelle Dresden, Giuseppe Patane (Carmen), Reiner Süß, Günther Leib, Peter Schreier, Anneliese Rothenberger, Staatskapelle Dresden, Siegfried Kurz (Don Pasquale), Elka Mitzewa, Peter Bindszus, Theo Adam, Annelies Burmeister, Staatskapelle Berlin, Arthur Apelt (Margarethe), Celestina Casapietra, Annelies Burmeister, Peter Schreier, Theo Adam, Staatskapelle Berlin, Otmar Suitner (Cosi fan tutte), Theo Adam, Roswitha Trexler, Staatskapelle Dresden, Herbert Kegel (Boris Godunow), Reiner Süß, Renate Hoff, Harald Neukirch, Staatskapelle Berlin, Robert Hanell (Salon Pitzelberger), Günter Kurth, Wolfgang Hellmich, Elisabeth Breul, Annelies Burmeister, Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig, Herbert Kegel (Die Verlobung im Kloster), Stefania Woytowicz, Sandor Konya, Kim Borg, Werner Enders, Reiner Süß, Staatskapelle Berlin, Horst Stein (Tosca), Ingrid Bjoner, Harald Neukirch, Siegfried Vogel, Anneliese Rothenberger, Staatskapelle Dresden, Giuseppe Patane (Turandot), Konrad Rupf, Anna Tomowa-Sintow, Renate Härtel, Wolfgang Hellmich, Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig, Herbert Kegel (Gianni Schicchi), Peter Schreier, Theo Adam, Staatskapelle Dresden, Marek Janowski (Mozart und Salieri), Hermann Prey, Peter Schreier, Ruth Margret Pütz, Fritz Ollendorff, Staatskapelle Berlin, Otmar Suitner (Der Barbier von Sevilla), Günther Leib, Annelies Burmeister, Anny Schlemm, Fred Teschler, Staatskapelle Dresden, Otmar Suitner (Die verkaufte Braut), Ingrid Bjoner, Gisela Schröter, Ludovic Spiess, Staatskapelle Dresden, Giuseppe Patane (Aida), Gottlob Frick, Hanne-Lore Kuhse, Martin Ritzmann, Staatskapelle Berlin, Heinz Fricke (Don Carlos), Siegfried Vogel, Grace Bumbry, Hermann Prey, Nicolai Gedda, Gottlob Frick, Staatskapelle Dresden, Giuseppe Patane (La Forza del Destino), Robert Ilosfalvy, Ingvar Wixell, Anneliese Rothenberger, Annelies Burmeister, Staatskapelle Dresden, Siegfried Kurz (Rigoletto), Anneliese Rothenberger, Ingeborg Springer, Anton de Ridder, Wolfgang Anheisser, Staatskapelle Dresden, Giuseppe Patane (La Traviata) Berlin, ADD/DDD, 1961-1980 Bestellnummer: 7713508) cpo

Aus den Anfängen

 

Die Bekanntschaft mit der Stimme Janet Bakers eröffnete mir ein Universum! Ein Fenster tat sich auf in eine Welt, die ich vorher nicht kannte – Lieder von Fauré, Débussy oder Fauré, Schumann oder vor allem Schubert, der damals für mich – mit meinen Anfang Zwanzig – nicht wirklich auf meiner Agenda stand. Ich war ein fast ausschließlicher Opernmann, saß jeden Abend auf dem 2.. Rang der Deutschen Oper Berlin und lernte Repertoire mit wirklich guten Sängern des Hauses – Inge Borkh, noch Margarete Klose, Christa Ludwig, aber eben auch die von mir damals stark unterschätzte Gladys Kuchta.

Janet Baker als Penelope/Monteverdi in Glyndebourne 1970/youtube

Janet Baker als Penelope/Monteverdi in Glyndebourne 1970/youtube

Mehr durch Zufall empfahl mir ein Verkäufer im damaligen Platten-Mekka Berlins, Bote & Bock im Europa-Center, die Baker, eben Schubert-Lieder („Hören Sie doch mal hinein, das ist was für Sie!“), und ich bin Peter B. wirklich mein Leben lang dankbar für diesen Höranstoß. Denn nur wenige Stimmen haben mich mit einem so persönlichen Ausdruck, mit einer solchen Intensität und vor allem auch mit einer solchen präzisen Diktion (fast ohne jeden Akzent und absolut idomatisch) wieder so erreicht. Wie gesagt – ein Fenster tat sich auf in eine neue Welt.

 

Ich bin der Baker hinterher gereist, erlebte sie in Endiburgh 1969 bei den Festspielen als intensivste Berlioz-Dido (hocherkältet mit weißem Hankie im Ausschnitt neben Helga Dernesch als Cassandra) und danach manche Male im Konzert und auch in Covent Garden in beiden Partien, sah sie oft im Konzert in London, später in Hannover, auch einige Male in Berlin bei Liederabenden an der DOB (und nur Britinnen können zitronengelbe trägerlose Corsagen zu der weißen Haut einer Brünetten tragen…), war enorm bewegt bei ihren drei Abschiedsvorstellungen in London und Glyndebourne, wo ich sie vorher als überwältigende Penelope von Monteverdi erlebt hatte.

Janet Baker/Dido/Purcell/youtube

Janet Baker/Dido/Purcell, ca. 1965/youtube

Ich gestehe, ich war irgendwie süchtig nach dem Impakt dieser Stimme und Persönlichkeit, die meine formativen Jahre so geprägt hatte. Und ich besaß natürlich ihre ersten zwei LPs von Saga von 1961/1966 mit Martin Isepp am Klavier, dem Sohn ihrer ersten Lehrerin Helena Isepp, die nun nach einigen Wiederveröffentlichungen anderswo bei Heritage (HTGCD 290/1) herausgekommen sind (Brahms, Schubert und Schumann von 1961, English Songs von 1966). Dazu hat die Firma ganz frühe BBC-Brahms-Aufnahmen mit Ernst Lush 1960/61 losgeeist, also vom allerersten Aufnahme-Beginn.

 

Janet Baker/Dido/"The Troyans at Carthage"/Edinburgh 1969/youtube

Janet Baker/Dido/“The Troyans at Carthage“/Edinburgh 1969/youtube

Durch ihre unendlich vielen Studio- und Live-Aufnahmen (kurz vor dem Verkauf ihrer Stammfirma EMI gab es noch einmal eine 20-CD-Box zu ihrem 80. Geburtstag, 2013) ist Janet Baker über die viele Jahre eine konstante Präsenz für Millionen von Zuhörern und Fans  geblieben. Bis heute, so dass es fast unwirklich scheint, dass sie bereits mit 56 Jahren 1989 mit dem Singen aufhörte. Diese beiden bei Heritage von Saga übernommenen CDs/LPs bringen den Hörer zurück zu ihren Anfängen ihrer Aufnahmetätigkeit, als sie in ihren späten Zwanzigern/Beginn Dreißigern war, aber bereits eine gewisse Karriere als gut ausgebildete Sängerin auf dem Sprung zum großen Ruhm begonnen hatte. Bereits 1953, mit 20, nahm  sie – neben ihrer Tätigkeit als Bankangestellte in York – bei Helena Isepp, einer emigrierten Österreicherin, in London Unterricht. Erste Kontakte ergaben sich für die BBC. 1956 debüttierte sie auf einer Studenten-Opernbühne in Oxford mit der Partie der Roza in Smetanas Secret. Bei den Festpielen im irischen Wexford trat sie 1959 als Pippo in Rossinis Thieving Magpie auf. Die Sommer 1956/57 verbrachte sie als Chormitglied in Glyndebourne, bis heute die Wiege des britischen Nachwuchses. Sie erinnert sich in Interviews an Sesto Bruscantini und was dieser mit der Sprache alles anstellte, an Geraint Evans als Falstaff, an das gründliche und erbarmungslose Training durch Carl Ebert, an die Vorbereitungen durch Vittorio Gui und Jani Strasser. Sie studierte in London französische mélodies mit Meriel St. Clair und nahm 1957 an Lotte Lehmanns Londoner Master Class teil. 1958 sang sie ihren ersten Orfeo an einer Studentenbühne und darauf die Zauberin in Dido and Aeneas 1961 unter Antony Lewis (einem ihrer Förderer, der sie dann auch 1962 als Dido für L´Oiseau Lyre/Decca auswählte), in Drottningholm dann die Dido 1962.

Janet Baker/Foto Saga 1961

Janet Baker/Foto Saga 1961

In diesem Jahren nahm sie erste Platte bei Saga auf. Martin Isepp, ein langer Begleiter, saß am Klavier und sorgte für Stabilität  angesichts der Kürze der Aufnahmezeit. In einem späteren Interview spricht sie über die Bedeutung der Sprache in diesen Liedern, über die Länge der Vokale, über die Wichtigkeit der Mitteilung („Gesang ist eine Art verzerrte Sprache!“). Auch darüber wie unterschiedlich sich die einzelnen Sprachen singen lassen, über die Schwierigkeit des Legato im englischen Gesang.Sie war eine sehr bewusste Sängerin, Zufälle gab es bei ihr nicht, alles war hart erarbeitet – zumal sie auch gegen das Erbe der unvergessenen Kathleen Ferrier anarbeiten musste, die in Großbritannien eine Nationalheilige war. Das war nicht leicht für sie.

 

Janet Baker mit Ileana Cotrubas in "La Calisto", Glyndebourne 1970/youtube

Janet Baker mit Ileana Cotrubas in „La Calisto“, Glyndebourne 1973/youtube

Auch wenn Janet Baker nach diesen ersten zwei LPs bei Saga unendlich viele andere Aufnahmen namentlich bei EMI, später bei DG, Philips und vielen anderen Labels machte, so halten diese ersten eben doch ihre unverwechselbare jugendliche Vitalität fest, nur vergleichbar mit dem überwältigenden Liederabend in der New Yorker Townhall 1966, wo sie mit Mozart beginnt und mit einer wunderbaren französischen Gruppe endet. Wo sie aber auch – unglaublich – über Nacht als Smeton in dem berühmten Anna-Bolena-Konzert der Kolleginnen Suliotis/Horne einspringt und eine ihrer wenigen Live-Opern-Vorstellungen in der Originalsprache gibt. Denn es war ihr Credo, Oper nur zu Hause und dann nur in Englisch zu singen, um eben das Publikum direkt zu erreichen. Ein Entschluss, den sie nur für Glyndebourne und ganz am Schluss für die herzzerreißende Abschieds-Alceste an Covent Garden durchbrach (für Studioeinspielungen  galt das nicht). Und ich erinnere mich an etwas verstörende konzertante und szenische Aufführungen der Troyens in London, wo sie neben der französisch-sprachigen Besetzung eines Jon Vickers und Robert Massards in klarem Englisch auftrat. Konsequent war sie, willensstark und unerbittlich…

 

janet baker heritageDie Lieder ihrer britischen Komponisten waren ihr stets ein Anliegen, und sie hat sehr verdienstvoll oft diese in ihre Liederabende eingeschlossen. Briten wissen das sicher zu schätzen. Aber Butterworth, Ireland und Warlock in allen Ehren – mich berühren ihre Brahms-, Schumann- und Schubert-Lieder zutiefst, ob nun der „Musensohn“ oder die „Mainacht“. Und selbst der zu oft gehörte Zyklus Schumanns, „Frauenliebe und -leben“ gewinnt durch ihre schlichte, unprätentiöse und eben jugendliche Interpretation eine ganz eigene Dimension, wenngleich vielleicht nicht sonderlich erfüllt – das kam später mit der Oper. Aber das Highlight der ersten CD ist für mich „Von ewiger Liebe“, denn hier durchmischt sich beispielhaft die Sehnsucht mit dem Schwärmerischen zu einem wirklich transzendenten Ausdruck, wie ihn die Baker – für mich – kaum je wieder erreicht hat. Die Kostbarkeit dieser Heritage-Ausgabe ist auch der Bonus mit ersten Aufnahmen (Brahms) von 1961 von der BBC mit dem Pianisten Ernst Lush (der auch Sena Jurinac auf ihren ersten internationalen Radio-Einspielungen begleitet hatte/Immortal Performances, s. auch den Artikel in operalounge.de dazu). Geerd Heinsen

 

John Shirley-Quirk HeritageAuch der eminente Bass John Shirley-Quirk (1931 – 2014) nahm in den frühen Sechzigern bei der Firma Saga englische Lieder auf, 3 LPs, die nun bei Heritage (HTGCD 283/4) wieder veröffentlicht wurden. Wieder ist Martin Isepp am Klavier, in anderen Aufnahmen ersetzt durch Viola Tunnard, Eric Parkin, Nona Liddell und Ivor McMahon an den Geigen und Ambrose Gauntlett an der Viola da Gamba. Letztere treten vor allem in den stimmungsvollen Stücken des Protestanten Pelham Humfrey und Purcell auf, in denen sich die sonore Sinnlichkeit der markanten Stimme Shirley-Quirks entfaltet. Andere Komponisten sind die „üblichen“: Ireland, Butterworth, Warlock, Stanford, Keel (den ich nicht kannte) und Vaughn Williams – eben Komponisten, zu denen Briten eine besondere Zuneigung haben. Nicht immer sind die Texte die ganz große Literatur, aber die melodischen Bögen dieser interessanten Postromantik vermitteln eine ganz eigene, insulare Ästhetik, die durch die flexible, kommunikative Bass-Stimme Shirley-Quirks in kleinen Universen Universen zur Geltung kommt. Ich bin nicht wirklich ein Fan dieser (zu) späten britischen Musiksprache, aber Shirley-Quirk gehörte seit meiner ersten Begegnung mit dieser prachtvollen Stimme zu meinen Lieblingen, und ihm zuzuhören ist nach wie vor ein Genuss. G. H.

 

Puccini und die Frauen

 

Puccini war ein Aufreißer. Mehr als nur eine Affäre haben der auf Fotos immer etwas pikiert blickenden junonischen Gattin Elvira das Leben sauer gemacht. Neben der unersättlichen Jagd nach einer „vagina fresca“ unterhielt Puccini vor allem innig liebevolle Beziehungen zu Cio-Cio-San, Mimì und Liù, zu den Frauen seiner Oper, was es für eine Sopranistin reizvoll macht, diesen Kosmos auszuschreiten und sich dem Komponisten anzunähern.

Diesmal ist es die armenische Sopranistin Karine Babajanyan, die nach einem ersten Engagement im heimatlichen Eriwan ab 1999 an verschiedenen deutschen Bühnen auftrat, darunter 2003 bis 2011 in Stuttgart. Die bereits 2007 in Budapest mit dem unter Pier Giorgio Morandi nicht immer sehr sensibel spielenden Budapest Symphony Orchestra entstandene Aufnahme (EMI 5099926773124) kann noch von keinen weiteren Stationen berichten, die – mit der Deutschen Oper am Rhein, Genf, Zürich und Warschau – und der Ausnahme der Elena im Mefistofele an der Bayerischen Staatsoper noch nicht den erhofften Sprung in die nächste Liga gebracht haben. Das könnte verwundern. Die junge aparte Armenierin singt die Butterfly, Mimì, Tosca, Manon Lescaut, Suor Angelica und Liù mit einer warmen, dunkel flirrenden Stimme, die sich bestens für dieses Repertoire eignet. Man hört ihr gerne zu, wenngleich sie den Figuren nicht unbedingt Persönlichkeit verleiht und ihr Italienisch, etwa als Suor Angelica, etwas schwammig ist, doch sie singt mit viel Gefühl und Anmut. Es fehlt ihr sicherlich die Feinzeichnung, die Höhen sind, wenngleich als Suor Angelica gut angesetzt, etwas pauschal, oftmals wünscht man sich einen zarteren Stift. Ihre Cio-Cio-San, die sie vermutlich am häufigsten gesungen hat, hat viel zu bieten, was auch an dem überraschenden Partner liegt: Giuseppe Giacomini, der zum Zeitpunkt der Aufnahme 67 war und noch drei Jahre später durch China tourte, ist als Sänger ein ganz anderes Kaliber. Mit seiner großen und massigen Otello- Stimme verleiht er dem Pinkerton eine derbe Macho-Note, natürlich ist die Stimme auch nicht mehr jugendlich geschmeidig, doch Giacomini singt und gestaltet mit unfehlbarem Gespür und Sicherheit, mit großem Atem, schönen gerundeten Tönen und triumphalen Höhen. Fast vergessen wir darüber Babajanyan. Ihre Manon ist gleichermaßen interessant, die Liù ebenso, was der Partie aber vermutlich nicht gut ansteht. Neben Giacominis „Nessun dorma“ und den in einem Atem genommenen Vinceròs tritt die Armenierin in den Hintergrund. Rolf Fath

Spaziergang durch Alt-Kopenhagen

 

Ein ganz und gar anachronistisches Stück. Sozusagen die Fortsetzung von Edvard Griegs Suite Aus Holbergs Zeit, die er 1884 zum 200. Geburtstag des Dichters Holberg schrieb, Maskerade ist eine Oper, die sich nach der Wende zum 20. Jahrhundert zurückträumt in das alte Kopenhagen und die Zeit von König Friedrich IV., in das frühe 18. Jahrhundert und dessen Maskenfeste. Die Maskerade ist zugleich eine musikalisch-operngeschichtliche Verkleidung, denn die 1906 uraufgeführte dänische Nationaloper Maskerade von Carl Nielsen (1865-1931) greift zurück auf ein Stück des dänisch-norwegischen Dichters Ludvig Holberg von 1724 und setzt sie gewitzt und mit altertümlichen Referenzen als ein Stück Alt-Kopenhagen in Szene. Ein gesungenes Bournonville-Ballett sozusagen. Es erinnert mich ungemein an Ermanno Wolf-Ferraris zeitgleiche Quattro rusteghi und seine mit Il Campiello noch bis in die 1930er Jahren reichenden Venedig-Veduten aus der Goldoni-Zeit. Es ist das Übliche: Leander will nicht die von seinen Eltern Jeronimus und Magdelone ausgewählte Braut heiraten, die Tochter ihres Nachbarn Leonard, sondern die Unbekannte, in welche er sich auf einem Fest verliebt hat. Schließlich stellt sich heraus, dass Leanders Wahl auf ebenjene Leonora fiel, die ihm seine Eltern ausgesucht hatten.

Es herrscht eigentlich kein Mangel an Einspielungen von Carl Nielsens Oper: Dänische Einspielungen von 1954 unter Launy Gröndahl, 1977 unter John Frandsen und 1996 unter Ulf Schirmer stehen nebeneinander im Regal. Michael Schønwandt, der im Vorjahr in Kopenhagen ins Studio ging, um nun pünktlich zu Carl Nielsens 150. Geburtstag eine neue Einspielung anzubieten, hatte bereits 2007 eine Aufnahme realisiert, weshalb er wohl als Experte für das Werk gelten darf. Dacapo hat die Aufnahme, wie es sich für ein Geburtstagsgeschenk gehört, in eine schöne Klappbox mit zwei Papptüten und englisch-dänischem Booklet mit ebenfalls zweisprachigem Libretto verpackt (Dacapo 6.220641-42). Alles bestens, da uns auch Schønwandt gleich mit der Ouvertüre in eine andere Epoche zoomt und das Geschehen liebevoll ausmalt, da sind zum einen die tänzerischen Elemente, zum anderen die Spitzweg-Szenen und knorrigen Details wie Jeronimus‘ Beschwörung alter Zeiten, die so schlicht anmutet, aber hinsichtlich ihres von Stephen Milling genüsslich ausgekosteten Stimmumfangs weit über eines von Nielsens dänischen Volksliedern hinausgeht, das Lied das Nachtwächters, der Zwiegesang zwischen ihm und dem Knecht Arv (Steffen Bruun und Christian Damsgaard), die lustige Szene zwischen Leanders Diener Henrik (Johan Reuter) und Arv, dem er eine Aufzählung seiner Sünden entlockt, und das flüsternd hinhuschende Duettchen zwischen Magdelone (etwas zu leicht: Anne Margarethe Dahl) und dem Nachbarn Leonard (eine kleines Kabinettstückchen des einstigen Wagner-Tenors Stig Fogh Andersen), die sich gemeinsam auf das Maskenfest stehlen: ein drollige nächtliche Szene, die uns Schønwandt und das Ensemble bildhaft suggestiv vorführen. Zu recht weist Schønwandt im Vorwort auf die Meistersinger und Falstaff-Bezüge hin. Dazu pulsierende und brillante Ensembleszene, wie das Finale des ersten Aktes, und vor allem das von Kotillon und dem gelegentlich auch auf dem Konzertpodium anzutreffenden Hahnentanz durchwobene Maskenfest des dritten Aktes, in dem sich endlich Leander und Leonora (Nils Jorgen Riis und Dénise Beck) finden. Das ist recht vergnüglich und klanglich vorzüglich. Man bekommt Lust, Maskerade auf der Bühne zu sehen. Doch wo? Die große Geburtstagsfeier, welche die Königliche Oper Kopenhagen, im Frühjahr mit Nielsens beiden Opern – auch dem Erstling Saul und David – ausrichtete, ist vorbei. Rolf Fath

 

Foto oben: Carl Nielsen als Kind / Royal Danish Library/npr.org

Und warum nun dies?

 

Leo Fall gehört zu den großen Operetten-Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts und ist berühmt geworden durch Werke wie Die Rose von Stambul und vor allem Madame Pompadour. Beim Label cpo ist nun seine Oper Paroli erschienen. Ein erstaunliches Frühwerk – das viel Talent beweist. Leo Falls Paroli ist seine allererste gedruckte musikdramatische Partitur – ein Frühwerk von 1902, ein einstündiger heiterer Einakter, aber keine Operette.
Paroli wurde in Berlin uraufgeführt (obwohl man in manchen Quellen falsch Hamburg als Premierenort angibt). Fall lebte damals in Berlin und versuchte, als Komponist Fuß zu fassen; er schlug sich als dritter Kapellmeister am Metropoltheater durch, komponierte Couplets für die aufstrebende Kabarett-Szene. Leider fand er keinen guten Librettisten für seine ehrgeizigeren Projekte. Text und Handlung von Paroli sind derart schlecht, dass schon 1902 die nicht sehr verwöhnte Kritik völlig fassungslos über den gestelzten Unsinn und vor allem die schlechten Witze und Verse war, die da in einem kleinen Theater am Alexanderplatz geboten wurden.

Es geht um einen abgehalfterten Adligen, der einer schönen Müllerin nachstellt, die aber einen einfachen Burschen liebt. Beide überlisten den Mann am Schluss und verpassen ihm einen Denkzettel. Warum klingt so ein Plot bei Offenbach immer geistreich und im deutschen Schwank meist peinlich? Tragikomisch wirkt auch heute noch die Fallhöhe von Wort und Musik. Der Text zieht einem die Schuhe aus, und vertont wird er von einem jungen Mann, der jede Note originell, ambitioniert und hochintelligent setzt.  Da gibt es raffinierte Taktwechsel, sublime Melodik und harmonische Frechheiten – das bewegt sich weit über Niveau des üblichen Singspiels –, mitunter ist sogar schon der musikdramatische Drive Künnekes vorweggenommen.  Der Effekt ist etwa so, als würde Richard Strauss eine Folge von „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ vertonen.

Für Ausgrabungen soll man ja immer dankbar sein. Bin ich auch. Danke, WDR! Dennoch irritiert mich hier die Unwichtigkeit des Werks in Relation zum noch nicht Aufgenommenen. Da gäbe so viel Wichtigeres aus Falls Reifezeit zu entdecken – und auch neu einzuspielen, da das Wenige, das auf alten Bändern vorliegt, oft gekürzt, verstümmelt, neu instrumentiert wurde.  Die Spanische Nachtigall könnte man ausgraben, den Nachtschnellzug, auch eine Neufassung der Geschiedenen Frau wäre erfreulich. Warum muss es ein musikalisch zwar interessantes, aber eben doch recht entlegenes und Fall-untypisches Frühwerk sein?

Musikalisch umgesetzt wurde das Ganze jedenfalls in großen Teilen mit vom WDR gewohnter Liebe und Seriosität; ich vermute, das WDR-Funkhausorchester Köln klingt sogar besser als das magere Orchesterchen der Uraufführung. Dirigent Axel Kober macht keinen Versuch, die so vielschichtige, kluge Musik in die Operettenecke zu schieben; der Opern-Ton bleibt gewahrt, und die Sänger sind ausgezeichnet (Anke Krabbe) bis passabel (Andrea Böning).  Der Versuch, das Stück selbst zu retten, ist leider gescheitert, trotz der beim WDR seit den 50er Jahren in Funkoperetten  so bewährten Hörspiel-Technik, Dialog und Erzähler zu verbinden. Ich jedenfalls habe beim Anhören der CD kein Wort verstanden von dem, was da grade passiert. Ist vielleicht auch besser so. Schade, dass das Libretto so miserabel ist (Leo Fall: Paroli mit Anke Krabbe, Andrea Bönig, Jörn Dürmüller, Ralf Lukas; WDR Rundfunkchor Köln; WDR Funkhausorchester Köln, Dirigent Axel Kober; cpo 777 899-2). M. K.