Belcanto und Atemtechnik

 

Fast so viele „richtige“ Gesangsmethoden wie Gesangslehrer gibt es, glaubt man leidgeplagten Sängern, aber in einem ist man sich unter den Pädagogen wohl so gut wie einig: der Wichtigkeit des korrekt geführten Atems für Langlebigkeit wie Qualität einer Stimme. Der sich um das Musikleben in vielerlei Weise verdient gemacht habende italienische Verlag Zecchini Editore, der auch die anspruchsvolle Zeitschrift Musica herausgibt, hat nun ein Buch mit dem Titel La Scuola del Respiro- Antalogia commentata delle testimonianze sulla respirazione nel Belcanto auf den Markt gebracht. Der Autor ist Alessandro Patalini, Bariton und als solcher Gewinner des Wettbewerbs Toti dal Monte, der sich jedoch schnell auf eine Lehr- und Forschungstätigkeit, vorwiegend das Zeitalter des Belcanto betreffend, zurückgezogen hat und nun ein mit viel Akribie verfasstes Werk darüber, insbesondere die Atemtechnik desselben vorlegt. Dabei gelten als Belcanto, ein verwirrend vielseitig gebrauchter Begriff, hier  vorwiegend Rossini und Teile des Werks von Donizetti und Bellini. Die große Überraschung ist dabei für den Laien, was Gesangstechnik angeht, die Feststellung, dass Sänger bis in die Mitte des 19.Jahrhunderts sich einer vollkommen anderen Atemtechnik bedienten als danach, als es nicht mehr auf den vollkommenen Ziergesang, sondern um die Interpretation von Partien und deren Leidenschaften, also einen expressiven Gesang ging, der seinen Höhe- und Endpunkt im Verismo findet.

Der Autor, Alessandro Palatini/ Zecchini

Der Autor, Alessandro Palatini/ Zecchini

In seiner Presentazione betont Alberto Triola, dass die Gesangs- und damit die jeweilige Atemtechnik sich mit dem vorherrschenden Musikstil und dem Geschmack des Publikums ändert. Was an den ersten Tonaufzeichnungen den Zeitgenossen als sängerische Tugend galt, wird heute teilweise als Defekt angesehen. Die respirazione toracica war durch die respirazione costo-diaframmica abgelöst worden, deren Unterschiede im Verlauf der Lektüre erläutert werden.. Der Belcantostil schien fast vergessen, ehe man in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eine Art Renaissance, beginnend nördlich der Alpen, erlebte, es wieder Sänger gab, die sich auf ihn einließen und das Publikum dafür begeistern konnten.

Das Buch ist unterteilt in Sezioni, Capitoli und einzelne Stichwörter und erweist sich dadurch als angenehm übersichtlich. Die für den Belcanto typische Brustatmung ist durch eine Schrift von Bernardo Mengozzi (2. Hälfte des 18.Jahrhunderts) belegt, ab ca. 1850 wird sie, so der Verfasser, von der Zwerchfellatmung abgelöst. Das ästhetische Ideal der vocalità fiorita, nur für den Buffo nicht verpflichtend, wird gleichzeitig abgelöst durch den Ausdrucksgesang. Mengozzis Buch wurde am Konservatorium der Scala eingeführt, was es zu einer Art Dogma werden ließ. Manuel Garcia, Sohn des berühmten gleichnamigen Gesangspädagogen und Patriarch einer Sippe berühmter Sänger, fasste, wohl auch, weil er sie durch die neuen Gesangsmethoden gefährdet sah., die Ansichten seines Vaters zusammen, die ausführlich zitiert werden, ebenso wie die anderer Gesangspädagogen wie Rodolfo Celletti oder die von Lucia Tetrazzini oder Lilli Lehmann. So entsteht ein vielschichtiges Bild von der Respirazione nel Belcanto, das sich zudem durch Klarheit auszeichnet. Dem eiligen Zeitgenossen kann man die jeweilige Conclusione eines Kapitels empfehlen, in der alles Wesentliche zusammengefasst wird.

Aufschlussreich ist auch die unterschiedliche Einordnung von appoggio und sostegno durch die Gesangslehrer, die Beschreibung des Anteils, den die Muskeln einzelner Körperteile am Zustandekommen von Höhe und Intensität eines Tons haben.

Nachdem 1855 Louis Mandl die Bedeutung des Diaframma für die ideale Atmung in einer wie eine Revolution wirkenden Schrift herausgehoben hatte, entstand eine ganz neue Gesangstechnik. Lustig wird es, wenn man die Ratschläge z. B. von Toti Dal Monte an ihre Schüler zur Kenntnis nimmt, die die Hände beim Singen hinter dem Rücken halten sollten, erst so würde der Körper zum idealen Musikinstrument. Da würden sich heutige Regisseure bedanken. Von der lotta vocale ist die Rede, aber auch von dem erstrebenswerten antagonismo vocale, wenn beim Ausatmen, also Singen, auch die Muskeln, die zum Einatmen benötigt werden, aktiviert werden sollen.

Das vorletzte Kapitel widmet sich vor allem den Veränderungen, die u.a. durch Gilbert Duprez und sein Do di Petto in die Gesangstechnik Eingang fanden, das letzte dokumentiert die Bescheidenheit des Autors, der sich quasi beim Leser für das entschuldigt, was unvollkommen an seinen Ausführungen sein mag. Für Schüler wie Lehrer ist es auf jeden Fall interessant zu wissen, welche Schlachten um die wahrhafte und reine Lehre, d.h. um die richtige Gesangstechnik, insbesondere die Atmung betreffend, geschlagen wurden und für sich selbst daraus wichtige Lehren zu ziehen (Zecchini Editore, 190 Seiten; ISBN 978 88 6540 134 7). Ingrid Wanja