Meyerbeers „Dinorah“

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Seit 2014 präsentiert die Deutsche Oper Berlin eine große Meyerbeer-Reihe. Los ging’s mit Dinorah, und der Mitschnitt ist jetzt bei cpo auf CD erschienen. Dinorah konzertant war ein origineller Auftakt, denn die Deutsche Oper hatte sich entschlossen, vier Meyerbeer-Opern über einige Spielzeiten hindurch zu präsentieren, zwei recht bekannte, nämlich 2015 Vasco da Gama, (die Originalfassung der Africaine), im Herbst 2016 Les Huguenots sowie  Le Prophête. Den Beginn machte also Dinorah. ganz bewusst als Rarität im Herbst 2014 konzertant in der Berliner Philharmonie aufgeführt.

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Hier die Kritik zur neuen cpo-Ausgabe von Matthias Käther: Die Oper spielt – wie bereits hier in operalounge.de sehr ausgiebig gewürdigt – in einer einzigen Nacht auf dem Land, und wir sind drei entgrenzten Gestalten völlig ausgeliefert: dem wahnsinnigen Landmädchen Dinorah, einem schrulligen Dudelsackpfeifer und einem zwangsneurotischen Ziegenhirten. Und ach ja, richtig: Eine Ziege spielt auch mit (wenngleich im Konzert nur musikalisch). Offenbachs Operettenhandlungen wirken gegen diese Groteske geradezu seriös. Ein Segen, dass man dies nur konzertant gab. Und so ist die Oper auf der neuen cpo-CD – als musikalisches und weniger dramatisches Meisterwerk – gut aufgehoben.

Meyerbeers Ausflug ins (angeblich) Komische: Dinorah ist die zweite Opera comique Meyerbeers und die einzige ohne Anleihen bei älterer verunglückter Musik wie im „Nordstern“/ „L´Etoile du Nord“. Dass nach dem verquasten und umstrittenen Nordstern noch eine komische Oper (eigentlich opéra comique) nachgereicht wurde, hat 1859 viele Kritiker überrascht. Seit wenigen Jahren gab´s in Paris einen ernsthaften Konkurrenten für´s komische Fach: Jacques Offenbach, den Meyerbeer nicht nur kannte, sondern sehr schätze, er war sogar ein richtiger Offenbach-Fan. Es ist vielleicht nicht immer genussreich, aber doch hochinteressant zu hören, wie Meyerbeer sich mit diesen neuesten Pariser Einflüssen auseinandersetzt. Also mal nicht Verdi und Wagner im Nacken, sondern die leichte Muse. Die leider bei ihm so leicht nicht ist.

"Dinorah": Patrizia Ciofi im Konzert der DOB in der Berliner Philharmonie 2014/Foto Bettina Stöß/DOB

„Dinorah“: Patrizia Ciofi im Konzert der DOB in der Berliner Philharmonie 2014/Foto Bettina Stöß/DOB

In einem frühen Woody-Allen-Film wird ein missglücktes Soufflé von zwei Personen taumelnd und schweißgebadet aus der Küche getragen. Das ist es: Ein Drei-Zentner-Soufflé, eine viel zu komplizierte, intellektuelle Musik für einen solch simplen Stoff. Es gibt durchaus Musikwissenschaftler, die genau daraus versuchen, einen Meilenstein absurden Theaters zu konstruieren, die also sagen: Wir haben eine ländliche idyllische Geschichte und dazu den gesamten überbordenden Opernapparat der damaligen Moderne, aber ich weiß nicht recht: Diese Musik trifft nicht ins Herz, alles ist hochartifiziell, raffiniert, klug durchdacht, ausgefeilt, aber sie hat keinen Charme. Mit wenigen Ausnahmen – dazu gehören der wirklich geniale Anfang, die stimmungsvolle Ouvertüre und der Eröffnungschor samt Gewitter, eine Szene, die fast von Offenbach sein könnte. Aber eben nur fast.

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Meyrbeers verpasste Chance: Der Gestus der durchkomponierten großen italienischen Oper, eine semiseria á la Donizetti dürfte zu Meyerbeers Stil viel besser passen als der der leichtgeschäumten Opera comique mit ihren gesprochenen Dialogen. Aber Moment mal, da war doch was … Hat nicht Meyerbeer genau das auch gespürt? Hat er nicht später das gesamte Werk als italienische Oper großes Stils neu überarbeitet, Rezitative komponiert, neue Nummern geschrieben und das Ganze dann in London als extrem sorgfältig revidierte Fassung herausgebracht? Hat er! Warum nur nimmt das niemand auf? Diese nun schon dritte Einspielung der heterogenen ersten französischen Fassung hätte auch eine Welterstaufnahme der von Meyerbeer autorisierten zweiten italienischen Version sein können. Wieder mal eine Chance vertan.

"Dinorah": Philippe Talbot und Etienne Dupuis/Foto Bettina Stöß/DOB

„Dinorah“ im Konzert: der DOB Philippe Talbot und Etienne Dupuis/Foto Bettina Stöß/DOB

Stilistisch brillante Aufnahme: Davon abgesehen, kann man nur sagen: Nun haben wir das mit dieser neuen cpo-Aufnahme umstrittene Werk eines Meisters in einer unumstritten glanzvollen Darbietung! Das ist umso erstaunlicher, als die beiden Hauptpersonen der Aufnahme mich nicht immer überzeugen konnten in letzter Zeit. Dirigent Enrique Mazzola kann auch recht dröge Tempi anschlagen, wenn er einen schlechten Abend hat. Hier übertrifft er sich selbst, ist ganz Feuer und Flamme und zelebriert wirklich einen fast offenbachschen Meyerbeer. Patricia Ciofi, eine der wichtigen Koloratursopranistinnen der Gegenwart, hat in den letzten Jahren ihre mädchenhafte Leichtigkeit dann und wann verloren, hier ist sie trotz kleiner Schärfen in guter Form. Ganz vorzüglich auch der Tenor Philippe Talbot, der sich in den besten Augenblicken fast so strahlend anhört einst wie der große Alain Vanzo. Dazu kommt auch der hinreißende Etienne Dupuis: Beide können vor allem auch ihre Dialoge mit Elan sprechen und wirklich bestes Französisch singen. Stilistisch ist das die bessere Dinorah – wesentlich überzeugender, dichter und besser gesungen als die verdienstvolle alte Opera-Rara-Aufnahme, die zum Kennenlernen damals ihre unbestreitbaren Meriten hatte (zudem in einer abweichenden Fassung, denn die neue folgt der aktuelle Meyerbeer-Edition). Und auch wenn Dinorah wirklich nicht meine Lieblingsoper von Meyerbeer ist, muss ich zugeben: Idiomatischer bekommt man die französische Version nicht hin (2 CDs mit dickem Booklet und einführendem Aufsatz von Sieghard Döhring, cpo 555014-2. Und als Tip: Die Deutsche Oper Berlin hat als broschierte Ausgabe die Vorträge des zeitgleich stattfindenden Symposiums zu Meyerbeer herausgegeben – unbedingt empfehlenswert!) Matthias Käther/ G. H.

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Und nun das Ganze etwas ausführlicher in einem Beitrag von Michael Scott: Giacomo Meyerbeer ist uns nur als etwas grämlicher, strengblickender Herr des 2me Empire überliefert – nicht wirklich der Charakter, von den man sich eine komische Oper vorstellen kann, mit Ziege und latentem Wahnsinn nebst Schattentanz in einem wirklich absurden Plot. Aber – er hat´s geschrieben, Ziege oder nicht. Nach seinen triumphalen Grand-Opéra­-Erfolgen Robert le Diable, Les Huguenots und Le Prophète brachte Meyerbeer 1854 L’étoile du Nord heraus, der einen Wendepunkt in seinem Schaffen markierte.

dinorah1ox9Der Stoff des Etoile war eben eine historisch angesiedelte Opéra comique – im Wesentlichen handelte es sich um eine Überarbeitung des Feldlagers in Schlesien, das Meyerbeer 1847 für die Berliner Hofoper komponiert hatte (und ganz grundsätzlich ist eine Opéra comique nicht wirklich eine komische Oper, sondern im französischen Verständnis der Zeit eine Oper mit Sprechdialogen, möglicherweise heiteren Sujets, aber eben nicht mit durchkomponierten Rezitativen, unserer deutschen Spieloper gleich. Aber auch tragische Opern wie Roméo et Juliette nahmen ihren Anfang als Opern mit Dialogen an der Pariser Comique und wanderten dann mit Rezitativen an die Opéra, da waren die Pariser strikt und danach sehnte sich Offenbach). Meyerbeers nächstes Werk, Le Pardon de Ploermel, war dann ganz und gar unabhängig und original heiter.

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Giacomo Meyerbeer/OBA

„Dinorah“/Giacomo Meyerbeer/OBA

Das Werk: Diese Oper ist – wenn überhaupt – besser bekannt unter dem Namen Dinorah (während sie in Frankreich weitgehend unter dem ersten Titel lief – andere waren Die Wallfahrt nach Ploermel, The Pilgrimage of Ploermel oder Le Pardon de Notre-Dâme und Les Chercheurs). Die Premiere fand am 4. April 1859 in der Opéra-Comique in der Anwesenheit ihrer kaiserlichen Hoheiten Kaiser Napoleon III. und Kaiserin Eugénie statt. Musikalisch unterstrich das Ereignis die Bedeutung Meyerbeers, bewies seine große Virtuosität und seine Fähigkeit, sein Publikum in Begeisterung zu versetzen. Im Alter von 67 Jahren verließ der Quasi-Erfinder der Grand Opéra sein großangelegtes historische Genre, das ihn mehr als 30Jahre lang beschäftigt und berühmt gemacht hatte. Stattdessen komponierte er nun eine Schäferidylle.

L‘ Étoile du Nord und Dinorah waren nicht Meyerbeers erste Versuche mit dem Genre der Opéra comique. Als Student hatte er die Spieloper Abimelech kompo­niert, die 1813 in Stuttgart aufgeführt wurde, offensichtlich ohne Konsequenzen. Es dürfte jedoch unwahrscheinlich sein, dass sich irgendjemand, auch Meyerbeer selbst, nach 45 Jahren noch an dieses Werk erinnerte.

Dinorah ist sicher das einfachste, am wenigsten komplizierte der reifen Werke Meyerbeers, sie benötigt die wenigsten szenischen Hilfsmittel und verlangt die kleinste Besetzung. Doch obwohl das Werk auf den ersten Blick gar keine Ähnlichkeit mit Robert le Diable, Les Huguenots und Le Prophète zu haben scheint, zeichnet es sich dennoch durch die gleichen kühnen und malerischen Effekte und die für die Grand Opéra typische anspruchsvolle Aufmerksamkeit in der Detailgestaltung aus.

"Dinorah": Finale in Compiegne 2000/TIC

„Dinorah“: Finale in Compiegne 2002/TIC

Meyerbeers Theatererfahrung war enorm, und er überließ nichts dem Zufall. Wie bei seinen anderen Werken legte er auch bei der Dinorah großen Wert auf gründliche Probenarbeit, die weit über die bloße Vorbereitung auf den Premierenabend hinausging. Er nutzte die Proben vielmehr als Experimentierfeld, als eine Gelegenheit, alle möglichen Effekte auszuprobieren: zusätzliche Arien, Variationen in der Stimmführung, Kadenzen, alternative Orchestrierungen, Regieeinfälle und Bühnenbilder. Hier war die Gelegenheit für die Feinarbeit. Meyerbeer musste erst alles gesehen und gehört haben, die Meinungen aller Beteiligten gesammelt haben (nicht zuletzt die des Chefs der Claque ..), bevor er endgültig entschied, wie er alles haben wollte. Erst dann wurden die Veränderungen aufgeschrieben, wobei die musikalischen Abänderungen sorgfältig in die Partitur integriert wurden.

"Dinorah": Szene 2. Akt im Entwurf von Mühldorfer für Paris/OBA

„Dinorah“: Szene 2. Akt im Stich von Mühldorfer/OBA

Es gab wohl kaum einen Komponisten zu seiner Zeit, der derartig skrupulös mit der Aufzeichnung seiner Kompositionen umging. Sänger, Chor und Orchestermusiker erhielten genauste Anweisungen, so z.B. für den Gebrauch des Portamento und des Phrasierens oder für die präzise Ausführung von verschiedenen nicht-legato Markierungen: pique, martelle etc . Auf diese Weise wurde eine größtmögliche Ausdrucksvariation erreicht. Obwohl eine Meyerbeer­-Partitur keine Anweisungen für alles enthält, bietet sie dennoch mehr Informationen über den gewünschten Aufführungsstil als die aller anderen wichtigen Komponisten. Vom heutigen Standpunkt aus macht das eine Wiederbelebung seiner Werke einfacher als die der Opern von z.B. Rossini oder Donizetti.

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"Dinorah": Frotespièce der Partitur/OBA

„Dinorah“: Frontespièce der Partitur/OBA

Verwirrende Vorspiele: Ursprünglich hatte Meyerbeer einen Einakter schreiben wollen und die renommierten Librettisten Barbier und Carré (und nicht Scribe!) für die Zusammenarbeit engagiert. Den Stoff entnahmen sie einer Sammlung von alten bretonischen Legenden, die der Forscher Emil Souvestre zusammengestellt hatte. Sie verwendeten Teile von zweien dieser Legenden als Grundlage für ihre Geschichte: Aus La Chasse aux tresors und La Kacouss de l’armour bastelten Barbier und Carré ein Libretto mit 3 Szenen und 3 Charakteren und nannten es Dinorah. Meyerbeer hatte das Ganze in kürzester Zeit vertont und zeigte das neue Werk Perrin, dem Direktor der Opéra-Comique. Perrin sah es (ähnlich wie Intendant Carvalho vom Theatre-Lyrique) geradezu als seine Pflicht an, für jedes Werk, das ihm angeboten wurde, Änderungen zu verlangen. (Carvalho ging dabei noch weiter und veränderte auch Klassiker wie Orphée und Don Giovanni.) Dinorah machte natürlich keine Ausnahme. Aber da Meyerbeer der renommierteste lebende Opernkomponist war, musste Perrin einige Tricks anwenden, um zu seinem Ziel zu gelangen. Was wirkte besser als Schmeichelei? „Nur ein einziger Akt von Ihnen, Maestro? Ist es möglich? Was sollen wir im Anschluss spielen? Ein neues Werk von Meyerbeer sollte abendfüllend sein… „ usw. usw.

Aber es funktionierte, 61sbeXbDwNL._SX300_zumal Meyerbeer selber definitiv eine geradezu manische Vorliebe für Veränderungen hatte. Er nahm das Manuskript mit an die Riviera, wo er stets seine Winter verbrachte, und baute es dort zu einem dreiaktigen Werk aus, erfand einen Chor hinzu sowie einige Nebenfiguren. Für die neuen Teile schrieb er nicht nur die Musik, sondern auch den Text. Zusätze kamen (laut Arsenty) in deutsch von Charlotte Birch-Pfeiffer und Meyerbeer selbst und wurden von Georges-Fréderic Burguis und Joseph Duesburg ins Französische übersetzt. Später, bei der Londoner Premiere in Covent Garden am 26. Juli 1859, schrieb er den Text für die Canzonetta des Ziegenhirten (eine für Constance Nantier-Didiée komponierte Travestierolle) und auch für die Rezitative, die in der nun italienischen Version den gesprochenen Dialog ersetzten. Barbiers und Carrés Anteil am Libretto macht insgesamt daher – abgesehen von der Entwicklung der eigentlichen Story – kaum ein Viertel aus.

"Dinorah": Marie Cabel war die erste Titelsängerin/OBA

„Dinorah“: Marie Cabel war die erste Titelsängerin/OBA

Nachdem die Oper fertig war, gab es eine weitere Verzögerung, bevor das Werk endlich auf die Bühne gehen konnte: Besetzungsprobleme! Meyerbeer wollte Marie Miolan-Carvalho als Dinorah und Jean­ Baptiste Fauré, aber die beiden waren bei verschiedenen Häusern unter Kontrakt: Miolan-Carvalho (die Erstsängerin der Carmen) am Haus ihres Mannes, Fauré (der erste Hamlet von Thomas) an der Opéra­ Comique. Schließlich akzeptierte Meyerbeer Marie Cabel als Dinorah und gab das Werk an die Opéra-Comique. Wahrscheinlich waren diese Verhandlungen jedoch eher eine Art Schattenboxen, das nur deswegen inszeniert worden war, um dafür zu sorgen, dass ein anderes Werk mit bretonischem Hintergrund (Limanders Les blancs et les bleus) von beiden Häusern abgelehnt werden würde, solange beide Intendanten noch die Hoffnung hatten, Dinorah für sich zu gewinnen.

"Dinorah": Der Bariton Sainte-Froy als Hoel in der Uraufführung

„Dinorah“: Der Bariton Sainte-Froy als Hoel in der Uraufführung/OBA

Die Premiere unter der musikalischen Leitung Meyerbeers war ohne Zweifel ein großer Erfolg. Wie üblich hatte Meyerbeer dafür gesorgt, dass sein Werk gut auf genommen werden würde, doch offensichtlich war der Kritiker von L’Annee musicale wirklich enthusiastisch. Er lobte die Oper als die melodienreichste Meyerbeers, pries die lnstrumentationskunst des Komponisten, den Harmonienreichtum und die kühnen und neuartigen Modulationen. Auch die Story mit ihrem rustikalen Charme wurde gerühmt.

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Verbreitung: Die Oper eroberte sich schnell einen festen Platz an der Opéra-Comique; 1874 sah die hundertste Vorstellung, und 1900 war sie mehr als 200mal gehört worden. Knapp vier Monate nach der Premiere kam Dinorah in einer italienischen Fassung nach Covent Garden. Bei dieser Gelegenheit sang Madame Miolan-Carvalho die Titelpartie zum ersten Mal und machte großen Eindruck. Die Oper wurde sechs Mal gespielt und erfuhr im folgenden Jahr noch einmal sechs Aufführungen; dazwischen gab es Versionen in englischer Sprache. In Deutschland hörte Coburg sie erstmals im Jahre 1859 (in der deutschen Übersetzung von Grünbaum). Es folgte im deutschsprachigen Raum die Königliche Oper in Berlin 1881. In Europa zählten Städte wie Brüssel 1859, Genf 1860, St. Petersburg 1860, Prag dto., Budapest dto. (in ungarisch!), Wien 1865, Florenz 1867, Barcelona 1868 (italienisch), Warschau 1870 (dto.), Stockholm 1870 (schwedisch!), Lissabon 1874 (italienisch) und schließlich Kopenhagen 1875 (dto ) zu den wichtigsten.

"Dinorah": Adelina patti war die bedeutende Dinorah ihrer zeit/OBA

„Dinorah“: Adelina Patti war die bedeutende Dinorah ihrer Zeit/OBA

Die ersten amerikanischen Vorstellungen der Dinorah fanden in der Saison 1860/61 in New Orleans statt. Die Titelpartie wurde von einer Siebzehnjährigen gesungen, die einen überwältigenden Erfolg hatte und die berühmteste Interpretin dieser Rolle wurde: Adelina Patti, die damals am Anfang ihrer legendären Karriere stand. Innerhalb von zwei Jahren sang sie als Nachfolgerin von Miolan-Carvalho die Dinorah in Covent Garden. Sie trat in dieser Rolle in jeder Saison von 1869 bis 1884 mit wechselnden Hoels auf, darunter Francesco Graziani, Santley, Victor Maurel, Jean Lassalle und Antonio Cotogni. Als sie die Rolle schließlich aufgab, wurde die Oper nur noch einmal aufgeführt, bevor sie aus dem Repertoire verschwand. Patti verschaffte Dinorah den absolut internationalen Ruhm; sie sang die Oper in Berlin, New York, St. Petersburg, Wien und anderswo. Selbst der immer etwas sauertöpfische Wiener Kritiker Eduard Hanslick konnte sich in ihrer Interpretation für das Werk begeistern.

Seit der großen Zeit der Patti ist Dinorah einige Male für verschiedene Operndiven wieder ausgegraben worden. 1882 und 1883 wurde sie in Monte-Carlo von Marie van Zandt, der ersten Lakmé, gegeben, die 1892 auch damit eine einmalige Vorstellung an der Metropolitan Opera präsentierte. 1904 brachte Gatti-Casazza die Oper an der Scala für Maria Barrientos auf die Bühne; Giuseppe de Luca war der Hoel.

„Dinorah“: Auch der grosse Bariton Jean-Baptiste Faure (Thomas´ erster Hamlet) war Hoel/OBA

New York hörte sie 1907 am Manhattan Opera House während der Hammerstein Saisons mit der polnischen Sopranistin Regina Pinkert (ein Kritiker beschrieb das Werk als „tote Oper mit einer lebenden Ziege“); im folgenden Jahr scheint jedoch Luisa Tetrazzinis atemberaubende Virtuosität die Oper wiederbelebt zu haben. Dinorah war eine der Lieblingsrollen von Amelita Galli-Curci, die sie mit großem Erfolg im Herbst 1917 an der Chicago Opera sang. Wiederum Gatti­ Casazza sorgte dafür, dass die Oper für sie aufgeführt wurde, diesmal an der Metropolitan Opera im Jahre 1925. Es gab jedoch nur zwei Vorstellungen mit ihr, bei denen de Luca wieder der Hoel war. Michael Scott/ Geerd Heinsen

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In den letzten Jahren ist die Oper in keinem Opernhaus von internationaler Bedeutung szenisch aufgeführt worden (naja, 2002 nun doch in Compiege), obwohl die „Schattenarie“ ein Konzert- und Schallplattenhit vieler berühmter Sopranistinnen – darunter Lily Pons, Maria Callas und Joan Sutherland – war. Die modernen Aufführungsserien liefen, neben einer von 1953 am Théâtre la Monnaie in Brüssel, 1983 in Triest am Teatro Verdi (Luciana Serra sang sauer die Titelpartie, natürlich in Italienisch/ Living Stage). Louis Jourdan, Intendant des renommierten Théâtre Imperial und Pionier in Sachen französische Oper, präsentierte Dinorah 2000 – Isabelle Philippe sang sehr niedlich die Titel-Partie, Armand Arapian den Hoel. Die reizende John-Dew-Aufführung in Dortmund (man erinnert die Regenschirme) geschah im selben Jahr. Dann brachte die Deutsche Oper Berlin das Werk konzertant im Oktober 2014 in der Berliner Philharmonie mit Patrizia Ciofi und Etienne Dupuis unter Enrique Mazzola, wie es bei cpo ( 555014-2) als CD herausgekommen ist…

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Amelita Galli-Curci als Dinorah/ Victrola Book of Opera/Wikipedia

Von der Aufführung in Compigene gibt´s ein DVD-Video (Cascavelle VEL 7000), sehr süß. Die lange Zeit einzige Schallplattenaufnahme von Opera Rara (ORC5) mit der agil-insularen Deborah Cook/Dinorah und dem virilen Christian du Plessis/Hoel (neben der prachtvollen Della Jones in der Hosenrolle unter James Judd als Garant flotten Dirigats) enthält die Originalversion in französischer Sprache mit allen Zusätzen, die Meyerbeer für die Oper geschrieben hat, einschließlich der Ziegenhirten-Arie und den Rezitativen (!). Dies war 1996 mit Sicherheit eine Weltpremiere, da die Oper wahrscheinlich in Frankreich und anderswo nie vollständig aufgeführt worden ist und im Ausland nur die italienische Version (Serra, Living Stage) oder eine andere Übersetzung gespielt wurde.

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Von allen Meyerbeer-Opern ist Dinorah wohl diejenige, die heute am einfachsten auf die Bühne zu bringen ist. Mit einer Ausnahme: die Ziege! Man fragt sich, wie Meyerbeer und seine Librettisten auf die Idee kamen, ein so störrisches und unsoziales Tier zu wählen. Die Ziege, die jahrelang an der Opéra-Comique mitwirkte, war ein echtes Komödiantentier. 1882 hatte man in Monte-Carlo jedoch weniger Glück. Die Ziege machte ihrem Charakter alle Ehre, lernte ihre Rolle nicht, schubste die Primadonna am Ende des 2. Aktes in eine Gasse und sprang schließlich selbst hinterher. Es ist wohl kaum nötig, die Auswirkung auf die dramatische Illusion zu beschreiben. Geerd Heinsen

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(Dem Artikel liegt der Aufsatz von Michael Scott in der Beilage zur Aufnahme bei Opera Rara/ORC5 zugrunde; Bild oben: Poster der Pierre-Jourdan-Produktion der „Dinorah“ am Théâtre Imperial in Compiegne 2002 in der Ausstattung von Jean-Pierre Capeyron mit Isabelle Philippe, Armand Arapian, Frederic Mazotta und Lucille Vignon unter Olivier Opdeneck/ DVD-Still von Cascavelle VELD 7000/OBA). Geerd Heinsen).

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

  1. Boris Kehrmann

    Darf ich zu den Akten ergänzen, dass es auch eine Parodie von Franz von Suppé: Dinorah oder Die Turnerfahrt nach Hütteldorf, Kuriose Oper in 3 Akten, Wien, Carltheater 1865, gibt. Die Turnerfahrt parodiert natürlich die Wallfahrt.

    Ich persönlich finde Dinorah übrigens auch sehr poetisch und in ihrer Zartheit und Sensibilität berührend.

    Diese Qualität hatte ich allerdings im Konzert weniger gehört, weswegen es auch mich nicht so überzeugte. Mazzola hat das Stück in Richtung Verdi und Schicksalsdrama mit einer apokalyptischen Sturmszene hochgepusht. Ich denke, es müsste eher in Richtung Weiße Dame gehen: Leicht und duftig und leise ironisch. Dann entfaltet es möglicherweise eine viel reichere Farbpalette und einen überzeugenderen Zauber.

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  2. Peter

    Von drei französischen Dinorah-Aufnahmen weiss ich nichts. Es gibt nur die Opera Rara-Einspielung und die neue von cpo. Ich wäre deshalb neugierig zu erfahren, welches die dritte – im Internet nicht zu findende – Aufnahme sein sollte. Was es aber schon gibt, entgegen der Aussage im Text: die italienische Fassung in einem Live-Mitschnitt mit Luciana Serra!

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    1. matthias käther

      Die dritte Aufnahme ist ein Mitschnitt aus Brüssel aus dem Jahre 1953 unter Maurice Bastin (gabs allerdings nur auf LP). Dafür kenne ich die Serra-Aufnahme nicht. Danke für den Hinweis! Was für eine fassung das ist, ob nur eine Übertragung der französischen ind Italieinsche sondern wirklich die originale für London – das müsste man herausfinden, das wär wirklich spannend.

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  3. Geerd Heinsen Beitragsautor

    wo sie recht haben, lieber herr wiertz, haben sie recht – da war auch ich schlampig bei dem redigieren und hab die vertauschten namen nicht korrigiert – was ich auf grund ihrer zuschrift nun nachholte und mich für den hinweis bedanke.
    dass herr käther nun meyerbeer eher kopfig findet und nicht so emotional eingängi (und da teile ich seine meinung)g, ist eben seine einschätzung – jeder tickt anders.
    herzlich gh

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  4. Walter Wiertz

    Dass Meyerbeers Musik „hochartifiziell“ ist, mag zutreffen, aber dass sie „nicht ins Herz trifft“, ist Herrn Käthers Meinung, die ich nicht nur in diesem Punkt seiner Besprechung nicht teile. Unstrittig ist jedoch, dass Herrn Käther, den ich wegen seiner Opernsendungen auf rbb Kultur sehr schätze, die beiden Stimmlagen der männlichen Protagonisten durcheinandergeraten sind: Der (übrigens wirklich großartige und idiomatische) Tenor ist Philippe Talbot; Etienne Dupuis ist ein Bariton.

    Walter Wiertz

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    1. matthias käther

      Lieber Herr Wierts,
      zur Kenntnis genommen! Zur Beruhigung – die Annäherung an Dinorah und L’etoile fand ich immer schwierig – dennoch bin ich ein großer Meyerbeer-Fan! Ich liebe die Grand operas und die itlienischen Opern, denen ich ja neulich auch eine Sendung gewidmet habe. Meine Vorbehalte bezeihen sich also nur auf diese beiden comiques – das ist eben ein streitbares Feld.

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