Aus den Melodiya-Kellern

 

 

In den Kellern der staatlichen Melodija lagern vermutlich noch Kisten voller Aufnahmen mit Mark Ermler, die das Ende der Sowjetzeit ebenso gut überstanden haben wie die Firma. Ermler gehörte zu den prägenden Figuren des russischen Musiklebens; nach den kürzlich veröffentlichten  Puccini- und Prokofieff-Überraschungen (siehe nachstehend) darf man nun gespannt auf zwei Einakter Rimski-Korsakows sein (Mel CD 10 02344). Eine Zwei-CD-Ausgabe Orchestral and choral works by Sergej Taneyev (Mel CD 10.02374) dirigiert sein international noch höher geschätzter, vier Jahre älterer Kollege Jewgeni Swetlanow (1928-2002), der zeitweise Chef- und Ehrendirigent des Bolshoi Theaters war  und ab 1965 über Jahrzehnte das Staatliche Sinfonieorchester der UDSSR prägte.

rimsky mozart und salieri melodiyaDie beiden Einakter Rimski-Korsakows wurden im Dezember 1898 in Moskau durch das private Opernunternehmen des reichen Industriellen und Kunstliebhaber Sawwa Mamontow uraufgeführt: die beiden Szenen von Mozart und Salieri nach dem gleichnamigen Drama von Puschkin sowie der Einakter Die Bojarin Vera Scheloga, welcher eine Umarbeitung des Prologs von Rimski-Korsakows mehr als 25 Jahre zuvor uraufgeführtem Opernerstling Das Mädchen von Pskow darstellt.
In der 1986 entstandenen Aufnahme von Mozart und Salieri  schlüpft Jewgeni Nestorenko in die von Schaljapin kreierte Partie des Salieri, der seinen Konkurrenten Mozart vergiftet, mit suggestiver und höchst wandlungsfähiger Wort- und Tonbehandlung, in der Rimski-Korsakow dem von Dargomyschski eingeschlagenen Weg folgt. Wie bereits die anderen Aufnahmen wirkt die Einspielung sehr dicht, ist der Klang  direkt und nah. Die nicht sehr hoch liegende Partie des Mozart – Schaljapin behauptete, gelegentlich beide Partien gesungen zu haben – wird mit hellem, leuchtendem Tenor von Alexander Fedin gesungen, der kurz zuvor am Bolshoi debütiert hatte und seit den 1990er Jahren in Westen singt und in Köln in kleineren Partien (kürzlich als Welko in der Arabella) noch in Erscheinung tritt. Auf die umfangreiche Ouvertüre, viel zu mächtig und dramatisch aufgeladen, um die gut halbstündige Die Bojarin Vera Scheloga als eigenständiges Werk zu spielen, folgt eine wie von Tschaikowsky entworfene Frauenszene zwischen Amme und Veras Schwester Nadeja. Ihr gesteht Vera in einer ausgedehnten Erzählung, die im Mittelpunkt des Einakters steht, dass der Vater ihrer neugeborenen Tochter ein Fremder sei, in den sie sich im Wald auf Anhieb  verliebt habe. Als Veras Mann nach einjähriger Reise heimkehrt, behauptet Nadeja die Mutter des Neugeborenen zu sein. Wie im anderen Einakter erreicht Ermler in der ein Jahr zuvor aufgenommenen Einakter den Eindruck von Intimität und Nähe, musiziert subtil und spannungsgeladen, ist mit dieser Musik aufs innigste vertraut. Tamara Milashkina wirkt als Bojarin Vera liebevoll im Schlaflied, aber doch vor allem sehr resolut und etwas scharfkantig. Nina Grigorieva als Amme und Olga Teryushnova vervollständigen das Damen-Trio sehr vorteilhaft, die beiden Bässe spielen nur eine untergeordnete Rolle.


Von Swetlanow muss noch mehr in den Archiven lagern. 2000 Aufnahmen soll er allein mit dem Staatlichen Sinfonieorchester der UDSSR gemacht haben. Von 1988 stammt die Aufnahme der vierten Sinfonie des vor hundert Jahren verstorbenen Sergej Tanejew (geboren 1856), von 1990/91 die Konzertsuite für Geige und Orchester op. 29 sowie die Kantate Johannes von Damaskus für Chor und Orchester op. 1; das bekannteste Stück aus seiner einzigen Oper Oresteia ist die als Der Tempel des Apoll in Delphi überschriebene Zwischenaktmusik aus dem dritten Akt, deren Einspielung aus dem Jahr 1984 stammt. Tanejew studierte u. a. bei Tschaikowsky und Rubinstein und lehrte ab 1878 am Moskauer Konservatorium, dessen Direktor er zeitweise war und wo er 1883 die Kompositionsklasse übernahm. Auf der Basis eines Gedichts von Alexej Tolstois entstand 1884 die Kantate über den im 7. und 8. Jahrhundert wirkenden Kirchenvater und Theologen, in der sich Tanejews kontrapunktische Meisterschaft und seine Beschäftigung mit der mehrstimmigen Musik der Renaissance und des Barock zeigt. Die dreiteilige, etwa 25minütige Kantate ist ein grandios durchorganisiertes, hochromantisches Werk, deren Bläser und Streichersätze Swetlanow präzise herausmeißelt und deren Gesangspart der Große Chor des USSR All-Union Radio mit der Inbrunst formuliert, die diesem russischen Requiem zukommt. Die vierte Sinfonie aus dem Jahr 1898 gilt als beste von Tanejews vier Sinfonien, die zehn Jahre später entstandene Suite ist sein einziges Beispiel eines virtuosen Solokonzerts. Swetlanow, der nahezu alle russischen Orchesterwerke des 19. und 20. Jahrhunderts aufgenommen haben dürfte, ist ein fesselnder Interpret dieser Werke, die er mit kompaktem Klangbild und überbordendem Reichtum an Gefühlen dirigiert. In der fünfteiligen, nach barockem Muster entworfenen Suite op. 28, für die sich später auch gerne David Oistrach einsetzte, besticht der wenig bekannte Andrej Korsakov (1946-91) durch seinen stilgewandt schönen Ton sowie im umfangreichen 4. Satz – Thema und Variationen – durch eine Brillanz und Virtuosität wie aus dem 19. Jahrhundert . Viel bewundert, doch kaum aufgeführt mit Ausnahme der Ouvertüre oder der Zwischenaktmusik, ist Tanejews 1895 uraufgeführte Oresteia nach Aischylos eine hochromantische Antikenvergegenwärtigung, die in Swetlanow ihren kongruenten Interpreten findet.  Rolf Fath

 

Es war das teuerste Paket, das aus der Sowjetunion in den Westen geschickt wurde: Gleich im Dreier-Pack wurden der Tenor Vladimir Atlantov und seine Frau, die Sopranistin Tamara Milashkina, sowie der Bariton Yuri Mazurok in den 70er Jahre häufig an westliche Bühnen ausgeliehen, wo vor allem die beiden Männer geschätzt wurden; Atlantow vornehmlich an der Wiener Staatsoper, an der bis Anfang der 90er Jahre auftrat. Doch auch die Milashkina ist nicht zu unterschätzen, wie die die Moskauer Studio-Aufnahme der Tosca von 1974 mit dem Ensemble des Bolshoi-Theaters beweist, die zusammen mit Krieg und Frieden und der Geschichte eines wahren Menschen zu den jüngsten, sorgfältig restaurierten und in nette Klapp-Pappalben verpackten Schätzen aus den Archiven der Melodiya gehören, die den Zusammenbruch der Sowjetunion überlebte und im Vorjahr ihr 50jähriges Bestehen feierte. Alle drei werden von Mark Ermler (1932-2002) dirigiert, der 1957 am Bolshoi debütiert hatte und als einer der letzten Repräsentanten der alten russischen Schule galt. Es musizieren Chor, Orchester und Solisten des Bolshoi-Theaters.

Wir erleben bei Tosca ein glutvolles, leidenschaftliches Musizieren wie unter Live-Bedingungen, spüren eine Spannung, mit der uns diese technisch bestens aufbereiteten Aufnahme mitten in das Geschehen zwingt. Großartiges, raumgreifendes, hochdramatisch aufwühlendes Musiktheater, wie es in solch entfesselter Direktheit sicherlich noch die Zuhörer auf den obersten Rängen des Bolshoi-Theaters oder in den letzten Reihen des ungnädig großen Kreml-Palastes in seinen Bann gezogen hat (Mel CD 10 02359). Es ist unmöglich, von dieser Aufnahme nicht fasziniert zu sein. Alle drei Protagonisten befanden sich zum Zeitpunkt der Aufnahme auf dem Höhepunkt ihres Singschaffens. Wir haben uns angewöhnt, neben Vishnevskaja, die in ihrem Buch Unrühmliches über die drei („typische Produkte des Sowjetregimes“) wie zu den Begleitumständen dieser Aufnahme erzählt, andere Sowjetsängerinnen der Ära zu übersehen. Vishnevskaja, die ich in London in der Partie erlebte, war zweifellos eine atemberaubende, furiose und leidenschaftliche Tosca, Milashkina besitzt sicherlich nicht die Nuancen und die nervige Gespanntheit, und ihr Italienisch ist nicht sehr geschliffen, dafür einen in allen Lagen satten, dunklen Sopran und eine bombensichere Höhe. Hier singt eine russische Primadonna, die keinen Zoll weicht. Mit seinem expansiv höhenstarken Bariton gibt Mazurok einen zynischen Polizeichef, vielleicht mit nicht mit der Brutalität und der charakterbaritonalen Fiesheit, die man oft erlebt, denn Mazurok trumpfte auf der Bühne nicht mit dramatischer Kraft auf, sondern der noblen Linienführung seines bestes geschulten Kavaliersbaritons. Eine schiere Wucht sind die „Vittoria“-Rufe Atlantows, der als Cavaradossi jugendliches Feuer mit männlichem Draufgängertum und unbändiger Kraft verbindet und eine greifbare szenische Präsenz ausstrahlt. Atemberaubend. Wer hätte das gedacht. Die weitere Besetzung hat – bis hin zum Altisten Alexander Pavlov als Hirt – ein Gesicht. Die Aufnahme stelle ich doch gerne neben die anderen fünf Dutzend Toscas.

 

krieg und frieden ermler melodya1961 entstand unter Ermler, der bereits im Jahr zuvor (nach einer von den sowjetischen Offiziellen schlecht aufgenommenen konzertanten Uraufführung 1948 in St. Petersburg) im Bolshoi die szenische Uraufführung von Sergej  Prokofjews letzter Oper dirigiert hatte, die Studioaufnahme von Die Geschichte eines wahren Menschen. Ein Dokument aus erster Hand (Mel CD 10 02353, Booklet in engl., russ., frz.), zudem die einzige Aufnahme von Prokofjews op. 117, da offensichtlich nicht einmal Valery Gergiev, der immerhin den ebenfalls sehr raren Semyon Kotko einspielte, Prokofjews unbekannteste Oper in sein Prokofjew-Projekt integrierte. Der wahre Mensch in Prokofjews und Mira Mendelsohns Libretto nach dem gleichnamigem Roman, mit dem Boris Polewoi 1947 einem russischen Kampfflieger ein heroisches Denkmal setzte, ist der Pilot Alexej Maresjew, der 1942 hinter der Frontlinie abgeschossen wird und trotz seiner zwei schwer verletzten Beinen, trotz Hunger und Durst, zwei Wochen lang durch die Wälder bis zu seinen Leuten kriecht, wo ihm im Fronthospital beide Beine abgenommen werden müssen. Maresjew überlebte; er starb 2001. Er wurde zum Propagandainstrument und Vorzeigehelden. Stalin selbst soll den Prawda-Journalisten Polewoi auf das Thema aufmerksam gemacht haben. Immerhin war dem Roman ein längeres Leben beschieden als Prokofjews Oper, die – anders als man von solch einen Schulbuchstoff erwarten würde – überraschend originell ausgefallen ist. Prokofjew entledigte sich ganz offenbar nicht einfach einer Pflichtaufgabe, sondern schuf in Fortsetzung der Musiken zu Alexander Newski und Iwan der Schrecklich eine über weiteste Strecken sehr inspirierte Musik, die mit dem Volkstanz am Ende des ersten Aktes, dem Walzer und der Rumba im dritten Akt gewitzt mit Formen umgeht und in den orchestralen Zwischenspielen Virtuosität entfaltet; ähnliches gilt für die feingliedrigen Gesangsmuster, darunter ein Terzett im 4. Bild. Im Grunde ist der Dreiakter der umfangreiche Monolog des abgestürzten Alexej, in den Ängste, Gewissensqualen, Träume, Erinnerungen und Hoffnungen in Form vielfacher Begegnungen mit Freunden und Familie hereinwehen. Evgeny Kibkalo, der die Partie in Uraufführung gesungen hatte, gewinnt dem rezitativischen, sich manchmal arios aufraffenden Gesang des Alexej mit einem festen, dunkel männlichen Bariton viele Nuancen ab. Obwohl die weiteren Figuren nicht wirklich zum Leben erwachen liefern Kira Leonova als Krankenschwester Klavdiya, der überragende Artur Reisen als Kommissar, Georgy Pankov als Alexejs Freund Andrei und Alexei Maslennikov als Pilot Kukushkin gute Rollengestaltungen. Und Ermler merkt man an, dass er stolz darauf ist, die Oper im Studio einspielen zu dürfen.

 

Die Geschichte eines wahren Menschen beginnt mit einem Chorsatz, der in der Bolshoi-Produktion auch am Ende wiederkehrt, ähnlich dem Chor-Epigraph in Krieg und Frieden. Ermlers Aufnahme von Prokofjews Tolstoi-Oper, zu der dieser gemeinsam mit seiner Frau das Libretto geschrieben hatte, stammt aus dem Jahr 1982 (Mel CD 10 01444; Booklet in engl. und russ.). Wir befinden uns in einer anderen Ära. Gegenüber den beiden anderen Aufnahmen war ich ein wenig enttäuscht. Man spürt Ermlers Theatererfahrung, denn die Szenen besitzen einen Bogen, auch Timing und Spannung stimmen, doch irgendwie erwachen sie nicht richtig zum Leben, es fehlt diese besondere Unmittelbarkeit, welche die beiden anderen Aufnahmen ausstrahlten. Zuerst wirkt Yury Mazurok etwas zu hölzern, zu steif für den Fürsten Andrej Bolkonski, doch mit jedem Auftritt rückt er stärker ins Zentrum, erweist sich mit seiner tenoralen Höhe und den elegischen Linien als fabelhafter Sänger und Gestalter. Neben ihm wirkt Galina Kalinina als Natascha Rostowa scharf und streng und ältlich, während Nina Terentieva als Cousine Sonja für jugendliche Heiterkeit zuständig ist. Wenig Eindruck machen auf mich die beiden Tenöre, der heldischere Evgeni Raikov als Graf Pierre Besuchow und der scheue Evgeni Shapin als Anatol Kuragin, die bedeutende Tamara Siniavskaya ist Pierres Frau Gräfin Hélène. Larisa Avdeyeva ist eine eindringliche Marja Achrossimowa und Alexander Vedernikov, der Vater des gleichnamigen Dirigenten, geradezu erschütternd als Feldmarschall Kutusow.  Rolf Fath