Archiv für den Monat: März 2014

Gérard Mortier

(Baron) Gérard Alfons August Mortier (* 25. November 1943 in Gent; † 9. März 2014 in Brüssel) war belgischer Opern- und Theaterintendant und künstlerischer Leiter u. a. der Salzburger Festspiele sowie zuletzt des Teatro Real in Madrid (das Foto oben zeigt ihn bei der Pressekonferenz am Teatro Real in Madrid zu Rihms Eroberung von Mexico/(c).Javier del Real / Teatro Real). Mortier war der Sohn eines Bäckers und stammte aus der flämischen Stadt Gent. Er wuchs dort im Muidekwartier auf, einem Arbeiterviertel im Norden der Stadt. Nach Beendigung seiner Schulzeit am Sint-Barbaracollege, einem Jesuitenkolleg in der Savaanstraat, studierte er von 1960 bis 1965 an der Universität Gent Jura und wurde anschließend promoviert. Von 1966 bis 1967 absolvierte er ein Zweitstudium in Kommunikationswissenschaften.

Seine Karriere begann er 1968 als Assistent des Direktors des Flandern-Festivals. In den Jahren 1973 bis 1980 leitete er die Betriebsbüros von Christoph von Dohnányi und Rolf Liebermann in Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg und Paris. 1981 übernahm er für zehn Jahre die Leitung der Brüsseler Oper La Monnaie. Gemeinsam mit dem musikalischen Leiter Sylvain Cambreling entwickelte er ein neues Opernverständnis, modernisierte sie und machte so das Opernhaus international bekannt. 1991 berief man Mortier zum Intendanten und künstlerischen Leiter der Salzburger Festspiele. Er sollte die Festspiele einem jüngeren Publikum erschließen und das Festival programmatisch auf das 21. Jahrhundert vorbereiten. Unter seiner Ära erlebten 25 Opern des 20. Jahrhunderts ihre Aufführung in Salzburg.

Auf Einladung der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen gestaltete er den ersten Zyklus der Ruhrtriennale von 2002 bis 2004. Ab der Spielzeit 2004/05 leitete er bis Juli 2009 die Pariser Oper. Eine Woche vor dem Zusammentreten des Stiftungsrates zur Neubesetzung der Leitung der Bayreuther Festspiele am 1. September 2008 bewarb er sich gemeinsam mit Nike Wagner. Für den Fall eines Engagements in Bayreuth wollte er außerhalb der sechswöchigen Bayreuther Festspiele auch die New York City Opera leiten, hätte Bayreuth im Falle eines Zeitkonflikts jedoch den Vorrang gegeben. Den Zuschlag zur Leitung erhielten allerdings unerwartet einstimmig Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier, und die City Opera zog sich ebenfalls zurück.

Ab 2009 sollte Mortier die Leitung der New York City Opera als General Manager und Artistic Director übernehmen. Aufgrund schwerwiegender finanzieller Einbußen der New York City Opera durch die Finanzkrise ab 2007 sah sich Mortier trotz einer zweijährigen Vorbereitung nicht mehr in der Lage, ein künstlerisch anspruchsvolles Programm anbieten zu können, und nahm von der bevorstehenden Leitung Abstand. Im Jahre 2010 übernahm er die Nachfolge von Antonio Moral am Madrider Opernhaus Teatro Real.

Mortier starb im Alter von 70 Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs, welcher im Jahr davor diagnostiziert worden war.

Auszeichnungen: Gérard Mortier war Mitglied der Akademie der Künste Berlin. 1991 Commandeur in de Kroonorde, Brüssel; 1991 Großes Bundesverdienstkreuz; Ehrendoktor der Universität Antwerpen; Ehrendoktor der Universität Salzburg; Träger des Ehrenzeichens Belgien und Bundesrepublik Deutschland; Commandeur der Arts et des Lettres in Frankreich; 2002 Silberne Mozartmedaille der Internationalen Stiftung Mozarteum (ISM); 2005 Chevalier de l’ordre de la Légion d’honneur (Wikipedia)

https://de.wikipedia.org/wiki/Gérard_Mortier

Zudem ist bei Metzler Gérard Mortiers letztes Buch in deutscher Übersetzung erschienen (eine Rezension folgt) : Oper mit Leidenschaft – Gérard Mortier zieht die Bilanz seines Lebens für das Musiktheater: Gerard Mortier: Dramaturgie einer Leidenschaft. Für ein Theater als Religion des Menschlichen. Aus dem Französischen von Sven Hartberger. Bärenreiter-Verlag / Verlag J. B. Metzler 2014. ISBN 978-3-7618-2060-5. 126 Seiten. € 24,95.

Anneliese Rothenberger lächelt fort

Die neue Namensgebung ist etwas verwirrend. Erst Electrola Connection, jetzt Cologne Collection. Nach der Übernahme der EMI durch Warner Classics nimmt sich der neue Hausherr Zeit, für die Vermarktung der alten Produkte des Tochterunternehmens Electrola das passende neue Spartenetikett zu finden. Nun also Cologne Collection! Damit ist zumindest ein lokaler Bezug aufgetan, weil das 1925 in Berlin gegründete legendäre Label Electrola seinen Firmensitz 1952 nach Köln verlegte. Fortan wurden am Maarweg 149 Aufnahmen geplant und konzipiert. Ein neues Aufnahmestudio mit allen technischen Erfordernissen der Zeit stand von 1956 an zur Verfügung – vornehmlich für die Schlagerbranche. Die großen Titel wurden in der Regel dort produziert, wo die Klangkörper beheimatet sind.

Ob nun unter diesem oder jenem Markenzeichen, die Aufnahmen bleiben immer die gleichen. Wiedererkennungswert ist auch dadurch garantiert, dass die ursprünglichen LP-Cover im Geschmack der Zeit in leichter Schräglage auf den neuen Ausgaben erscheinen. Da lächelt sie uns wieder entgegen, die Anneliese Rothenberger. Sie gab der Electrola über Jahre ein Gesicht und wurde sogar für die Einspielung der Schauspielmusik Rosamunde von Franz Schubert mit Chor und Sinfonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks unter Robert Heger bemüht, obwohl es für sie nur die kurze Romanze „Der Vollmond strahlt“ zu singen gibt (5054196055424). Diese klingt anrührend und stellt die Verknüpfung her zu sieben Liedern des Komponisten, die den Bonus bilden, damit die CD voll wird. „Die Forelle“, „Gretchen am Spinnrad“, „Nähe des Geliebten“, „Der Hirt auf dem Felsen“ etc. Neuigkeiten sind nicht darunter, alle Titel wurden bereits in anderen Kompilationen verbreitet. Der Wert dieser CD besteht vor allem darin, dass die Musik zu dem unspielbaren Stück der Euryanthe-Librettistin Helmina von Chézy erstmals komplett auf Platte kam und sich als eigenständiges Werk behaupten konnte. Rosamunde ist also mehr als die oft gespielte Ouvertüre, die nicht einmal das Original darstellt, sondern dem Singspiel Die Zauberharfe entlehnt ist. Bei der Uraufführung 1823 in Wien war die Ouvertüre der Oper Alfonso und Estrella, die noch in der Schublade lag, vorangestellt. In seiner kompletten Einspielung der Schubert-Ouvertüren hat das Label Naxos dankenswerter Weise diese Tatsache auch editorisch deutlich gemacht.

MessiasAnfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wetteiferten Dirigenten und Labels um Einspielungen der Bearbeitung des Messias von Händel durch Mozart. EMI wollte da nicht fehlen und steuerte eine besonders schlanke Fassung mit der Rheinischen Kantorei / Das kleine Konzert, geleitet von Hermann Max bei, die nun aus dem Archiv geholt wurde (5054196055523). Solisten sind Monika Frimmer, Mechthild Georg, Christoph Prégardien und Stephan Schreckenberger. Die Aufnahme klingt merkwürdig uneinheitlich, mal federnd, in Teilen wie hingehaucht und schließlich auch wieder robust auftrumpfend. So entsteht der Eindruck, als würde der originale Händel nach den Regeln der historischen Aufführungspraxis gespielt und nicht als Bearbeitung von Mozart, der das Werk dem Geschmack seiner Zeit anpassen wollte. Mit Helmuth Rilling (Hänssler Classic), Charles Mackerras (Archiv Produktion), Michel Corboz (Erato) und dieser Wiederveröffentlichung sind nunmehr mindestens vier verschiedene Produktionen der Mozart-Fassung auf dem Markt.

VerkündigungAls Mitschnitt einer Aufführung in der Kölner Philharmonie vom 4. März 1992 wurde Verkündigung, ein Mysterium von Walter Braunfels in vier Aufzügen und einem Vorspiel in den Katalog aufgenommen (5054196055325). Es entstand zwischen 1934 und 1937, nachdem Braunfeld als Halbjude von den Nationalsozialisten seines Amtes als Direktor der Musikhochschule in Köln beraubt worden war. Die Textvorlage ist das stark gekürzte Schauspiel „L’Annonce faite à Marie“ von Paul Claudel – eine symbolträchtige Geschichte um Aussatz, Ausgestoßen sein, Einsamkeit, Schuld und Sühne. Der Tod gilt als Erlösung. Eine Geschichte also, mit der Braunfels, der geächtet in Deutschlang blieb, seiner inneren Emigration Ausdruck verlieh. Musikalisch ist das Werk konservativ gehalten, erinnert an Palestrina. Braunfels, bekennt sich wie zum Trotz als deutscher Spätromantiker zur Tradition. Dennis Russell Davis arbeitet das mit Chor und Sinfonieorchester Köln sehr eindrucksvoll heraus. Violaine, die weibliche Hauptrolle, wird von der Sopranistin Andrea Trauboth, die nicht eben gesegnet ist mit offiziellen Aufnahmen, anrührend gestaltet. John Bröcheler ist in der Geschichte ihr Verlobter, Claudia Rüggeberg die Mutter, Siegmund Nimsgern der Vater Andreas Gradherz.

BoccaccioIn Franz von Suppés Operette Boccaccio bekommt Anneliese Rothenberger einen weiteren Auftritt, diesmal als hübsche Fiametta, die sich als hoch geborene Tochter eines Herzogs herausstellt, in ihrer Liebe aber an Boccaccio, der zunächst als armer Student durch die ereignisreiche Handlung saust, festhält. Boccaccio, der Verfasser frivoler Geschichten wird zu guter Letzt gar an die Universität von Florenz berufen. Ende gut, alles gut. Handlung und Musik haben Schmiss und hohen Unterhaltungswert. Willy Boskovsky, der umtriebige Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, der seine Berühmtheit durch die von ihm dirigierten  Neujahrskonzerte errang, macht am Pult des Symphonie-Orchesters des Bayerischen Rundfunks – hier Bayerisches Symphonie-Orchester genannt – viel her. Seine Aufnahmen sind stets handfest und robust, verbreiten gute Laune. Er hat leichtes Spiel, weil die Produktion bis in der kleinen Rollen hochkarätig besetzt ist, was so nicht häufig vorkommt. Die Rothenberger singt betörend schön, bleibt aber das junge Mädchen schuldig. Hier zählt nur noch der Name, nicht die Glaubwürdigkeit. Das gilt so auch für Hermann Prey in der Rolle des Boccaccio, der viel zu jovial ist und sich ganz auf seine Professionalität verlässt. Wer ist noch unterwegs? Edda Moser als Beatrice, Adolf Dallapozza als Lotteringhi, Kari Lövas als Isabella, Gisela Litz als Peronella. Mit Kurt Böhme (Scalza) und Walter Berry (Leonetto) sind zwei weitere Schwergewichte aufgeboten. Friedrich Lenz kann mit seinem berühmten Couplet „Um des Fürsten Zorn zu meiden“ punkten (5054196055226).

FriederikeEs braucht viel Enthusiasmus für Franz Lehár und das Genre Operette als solches, um bei Friederike durchzuhalten. Hintergrund ist die Affäre des jungen Goethe mit der siebzehn Jahre alten Pfarrerstochter Friederike Brion aus dem Elsass. Goethe hat in diversen Äußerungen den Speck für die seichte Handlung selbst ausgelegt. Mit Biographik hat das aber nichts zu tun. Goethe wird zur Unterhaltungsfigur für das klassische Operettenpublikum, das den Faust häufig im Schrank, aber selten gelesen hatte, zurecht geschnitzt. So etwas hat Tradition und gibt es bis heute im Fernsehen und im Kino. Anschließend wiegt sich das Publikum in der irrigen Annahme, „seinen Goethe“ zu kennen. Aus Goethe kann getrost auch Schiller werden, Mozart oder Thomas Mann, dessen späte Jahre, verfilmt mit Armin Mueller-Stahl, in Wahrheit kaum etwas anderes sind als Friederike. Eine Melange aus Fakten zur Projektion. Weg zum Original, hin zum Abbild. Musikalisch ist auch diese Operette, die der Komponist als Singspiel verstanden wissen wollte, wie immer gut gearbeitet. Und es gibt mit „O Mädchen, mein Mädchen“ zumindest einen der berühmten Tenor-Hits. Schließlich spielte bei der Uraufführung 1928 Richard Tauber den jungen Goethe. Adolf Dallapozza kann zwar nicht mit dessen berühmten Schmelz aufwarten, sein schön geführter Tenor ist dafür glaubhafter, so man sich denn auf die Geschichte einlässt. Helen Donath macht als Friedericke auf kleines Mädchen. Je stärker sie diese Vorstellung forciert, umso reifer klingt sie. Ihre vierzig Jahre zur Zeit der Aufnahme sind nicht zu überhören, spätestens in den Dialogen nicht. Damit ist nichts gegen diese bedeutende Künstlerin gesagt, die hier nur fehlbesetzt ist. Wir hören Marschallin, nicht die Pfarrerstochter. Dennoch hat diese Aufnahme mit dem von Heinz Wallberg geleiteten Münchner Rundfunkorchester dokumentarischen Wert (5054196055127). Sie galt 1981 als komplette Ersteinspielung und brachte den beiden Solisten großes Lob ein. Der hält eben nicht immer vor.

Rüdiger Winter

Aus der Zeit gefallen

In der kaum mehr zu überblickenden Reihe der 10-CD-Boxen, die inzwischen fast schon Kult-Status genießen, sind nun auch ein Arturo-Toscanini– und ein Glenn-Gould-Album erschienen. Der konsumentenfreundliche Preis dieser Boxen ist natürlich wesentlicher Teil ihres Erfolgs. In manchen Fällen würde man  lieber etwas mehr bezahlen, dafür aber technisch besser aufbereitete Einspielungen hören. Im Fall der Toscanini-Box (Documents 231057) bewegt sich das Klangbild mancher Aufnahmen hart am Rande der Kakophonie. Beethovens 8. Symphonie beispielsweise klingt wie das Kratzen einer zerdrückten Konservenbüchse auf Steinboden. Erstaunlicherweise klingen manche der noch älteren Aufnahmen klarer, präsenter und besser. Der absolute Knüller der Box ist Gershwins Rhapsody in Blue, mit Benny Goodman am Saxophon und Earl Wild am Klavier. Im Zeitalter des Spezialistentums ist man über die Vielzahl und Verschiedenartigkeit der von Toscanini interpretierten Werke erstaunt. Sein NBC-Orchester folgt ihm auch willig durch nahezu die gesamte Musikgeschichte. Beginnend mit der süßlichen Respighi-Bearbeitung der Bachschen Passacaglia und Fuge, über Mozart, Beethoven, Schumann, Brahms, Richard Strauss – hier versteht einer sein Handwerk! Dass manche seiner Interpretationen ein bisschen aus der Zeit gefallen sind, wen wundert’s? Die ältesten hier vorhandenen Aufnahmen sind über siebzig Jahre alt, also auch von ihrer Interpretation her historisch.

GouldDie in gleicher Aufmachung erschienene Glenn-Gould-Box (Documents 232851) macht vom Klangbild her mehr Freude. Die Auswahl der Aufnahmen, wenn auch vom Kriterium der Rechtefreiheit diktiert, ist klug getroffen. Vier CDs sind ausschließlich Bach gewidmet, wobei die legendäre Aufnahme der Goldberg-Variationen natürlich nicht fehlen darf. Ganze fünf CDs gehören Beethoven, besonders interessant hier der Vergleich zwischen jeweils zwei Einspielungen der ersten drei Klavierkonzerte. Die letzte CD ist komplett der Zweiten Wiener Schule gewidmet, die Bergsche Klaviersonate und verschiedene Stücke für Klavier von Schönberg und Webern runden das Porträt dieses früh vollendeten Ausnahmepianisten ab. Beschämend, dass die Box außer Geburts- und Sterbejahr keinerlei biographische Daten über Gould enthält. Auch ein Foto des Künstlers sucht man vergebens. Der günstige Preis der Boxen kommt natürlich auch durch die konsequente Vermeidung geschützten Materials zustande.

Peter Sommeregger

 

 

Telemanns „Germanicus“

.

Verglichen mit Italien, Frankreich und selbst England gibt es für die deutsche Oper bis Mitte des 18. Jahrhunderts musikhistorisch noch vieles aufzuarbeiten. Relativ wenig ist aufgeführt oder eingespielt von der berühmten Hamburger Gänsemarktoper, dem ersten bürgerlichen Opernhaus. Deutlich weniger noch vom zweiten bürgerlichen Opernhaus in Deutschland, der Leipziger Oper. Heinichen, Fasch, Pisendel, Stölzel und Telemann komponierten hier zu Beginn des 18. Jahrhunderts; zwischen 1693 und 1720 lassen sich 74 aufgeführte Opern nachweisen. Alleine Georg Philipp Telemann will in seinen frühen Leipziger Jahren nach eigenen Angaben „etliche und zwanzig Opern“ komponiert haben. Das meiste davon muss heute freilich als verschollen gelten. Das gilt allgemein für die Leipziger Oper dieser Jahre, zumeist haben lediglich die Textbücher überlebt. So der verbreitete Forschungsstand.

Telemann, Titelkupfer zur Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste nach dem Porträt von Lichtensteger (1764)/ Uni Erlangen

Offenbar, so zeigt die nun als Produktion der Magdeburger Telemanntage 2010 bei cpo  erschienene Telemann-Oper Germanicus (1704), ist dieser Befund nur teilweise wahr. Denn: „bei der neuerlichen Auseinandersetzung mit der Überlieferungssituation der Leipziger Barockoper stellte sich jedoch Überraschendes heraus. So manche anscheinend unwiderruflich verklungene Musik ist eben doch noch vorhanden – wenn auch an entlegener Stelle und auf den ersten Blick nicht als solche erkennbar“, wie der Leipziger Musikwissenschaftler und Editor Michael Maul im aufschlussreichen Beiheft schreibt. In Frankfurt entdeckte er 40 teils deutsche, teils italienische Arien, die er einer überarbeiteten Fassung von Telemanns Germanicus von 1710 zuweisen konnte. Diese Fassung folgte der damaligen Mode gemischtsprachlicher Opern und ersetzte 16 deutsche Arien durch italienischsprachige Neukompositionen. Die nun noch fehlenden Arien und  Instrumentalstücke wurden für eine Rekonstruktion der Oper durch andere bisher unbekannte Stücke von Heinichen, Hoffmann, Vogler and Telemann ergänzt. Das Ergebnis ist, bis hier her, absolut überzeugend. Nur bei den fehlenden Rezitativen hat man eine unglückliche Entscheidung getroffen: sie wurden weder rekonstruiert (im Sinne einer stilistischen Nachempfindung), noch von den Akteuren gesprochen, sondern  einem Erzähler anvertraut, der nun nach jeder Nummer durch die Handlung führt („Wir schreiben das Jahr 16 nach Christi Geburt. Römische Legionen haben sich erbitterte Gefechte mit den Germanen geliefert, zuletzt vor 6 Jahren ….“)  – und damit jeglichen dramatischen Fluss killt, zumal diese Erzähltexte staubtrocken sind und von Dieter Bellmann, allwissend und ablesend,  reichlich lähmend dargebracht werden. Das wirkt wie ein Rückfall in die Ästhetik früherer Zeiten von Hörspiel-Schallplatten und langweilt in der sachlichen Studioästhetik maßlos. Die zumeist kurzen Arien Telemanns stehen in diesem Kontext isoliert und bekommen keine Bindung zum Geschehen.

Die Handlung folgt im Wesentlichen Tacitus’ Annales, spielt vor dem Hintergrund des zweiten Germanien-Feldzugs Nero Claudius Germanicus’ und beinhaltet die üblichen Zutaten der Barockoper, wie die tugendhafte Ehefrau (Agrippina), einen tot geglaubten Erzfeind (Arminius), den Bösewicht (Florus), die Herrschertochter (Claudia) die den ihr zugedachten Mann (Lucius) nicht heiraten möchte, sondern einen anderen liebt (Arminius). Aus dieser Grundkonstellation ergeben sich  nun die üblichen, erwartbaren Verwicklungen, Täuschungen und Intrigen, inklusive Erdbeben und Geistererscheinung, die die Anlässe für die musikalischen Nummern abgeben. Die Handlungsstränge lösen sich nach gut 160 Minuten erwartungsgemäß, so dass abschließend Treue und Beständigkeit besungen werden können.

Gotthold Schwarz leitet dabei sein Sächsisches Barockorchester routiniert und begleitet zuverlässig. Natürlich ist das alles auf gutem Niveau musiziert und dennoch: das wirkt alles bedächtig, zu wenig variantenreich und setzt kaum eigene Akzente, auch einige schöne Soli,  vor allem der Holzbläser, können darüber nicht hinwegtäuschen. Der Klang kennt keine Ecken und Kanten; man höre exemplarisch Track 29 der ersten CD, wo illustrierend heiße, zusammenschlagende  Flammen und Feuerglut komponiert sind. Die Orchesterbegleitung jedoch verharrt dabei in reichlich harmlos klingenden Akkordfolgen und Gesten, ist auf Schönklang statt auf Illustration bedacht – und verpasst hier wie an vielen anderen Stellen die Chance zur tatsächlichen Lebendigkeit und zu einer Gestaltung, die in den Dialog mit dem Sänger eintritt.

Zu Telemanns „Germanicus“: „La mort de Germanicus“ von Nicolas Poussin/Wikipedia

Die Sänger sind ordentlich, alleine es fehlen Persönlichkeiten. Das gelingt am ehesten noch Henryk Böhm in der Titelrolle, andere wie Olivia Stahn (Claudia) oder der Countertenor Matthias Rexroth  (Lucius und Florus) lassen schon mal Intonationsschwächen oder technische Probleme in den Läufen hören. Vor allem von Elisabeth Scholls (Agripina) hier ungewohnt unsicher und scharf klingendem Sopran hat man schon deutlich besseres gehört (z.B. CD 2, Track 23). Albrecht Sacks (Segestes) Spieltenor klingt viel versprechend, jedoch mehr nach Pedrillo denn nach Barockoper (z.B. CD 3, Track 14). Tobias Berndts (Arminius) Bassbariton wartet mit schönem Material auf, sein Ausdrucksspektrum jedoch wirkt begrenzt. Das wichtigste jedoch: Allen Sängern fehlt es an dramatischer Gestaltungskraft, an Emphase, an Empfindung und überzeugender Gestaltung – und das trifft sich dann mit dem braven Orchester. Wirklich mitreißend oder begeisternd ist das alles nicht.

Ist Telemanns Oper tatsächlich so monoton, wie sie hier drei CDs lang erscheint? Oder ist es jene mitteldeutsche Barockästhetik, die man bis heute in Leipzig, Dresden, Halle und Magdeburg so oft antreffen kann und die scheinbar nur wenig vom Rest der Entwicklungen der letzten Jahrzehnte mitbekommen hat? Eines ist jedenfalls sicher: So ausdrucksarm wie hier ist die barocke Klangsprache Telemanns nun wirklich nicht, das kann man in zahlreichen Aufnahmen anderer Interpreten überprüfenMoritz Schön

.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Lohnender Britten Nachschlag

Diskographisch gesehen sind das Beste am Wagner- und Verdi-Jahr vielleicht die vielen, wunderbaren Veröffentlichung der Werke Benjamin Brittens, der ebenfalls ein Jubilar des Jahres 2013 war. Neben der Decca, die diverse Boxen mit Werkgruppen Benjamin Brittens herausbrachte, die zeitgenössisch entstanden und auch den Pianisten und Dirigenten Britten nicht vergaßen, sind auch bei der EMI entsprechende Sammelboxen erschienen, hier allerdings vornehmlich mit Aufnahmen, die nach dem Tod des Komponisten entstanden.

brittenDie Sammlung Choral Works & Opera for Children (auf 7 CDs) enthält dabei eine ganze Reihe von Raritäten. Brittens Interesse für Poesie und Sprache fand neben seinen Opern in seinem reichen Werk für den Chor besonderen Ausdruck. Die Adaptionen und Transformationen der Texte zeugen von seinen beachtlichen künstlerischen und intellektuellen Fähigkeiten. Doch außer dem War Requiem ist hierzulande davon kaum etwas bekannt. Selbiges ist in der packenden, fein ausgehörten 1983er Aufnahme unter Simon Rattle mit seinem City of Birmingham Symphony Orchestra & Chorus enthalten. Eine noch immer gültige Interpretation, in der Elisabeth Söderström, Robert Tear und Thomas Allen mit großer Suggestionskraft und Emotionalität fesseln. Kontrastierend dazu folgt Brittens zweites großes chorsymphonisches Werk in André Previns effektvolle  Lesart von 1978, die Spring Symphony (mit Sheila Armstrong, Janet Baker und abermals Robert Tear). Ein Vielzahl unterschiedlicher Chorwerke, die bekanntesten darunter darunter sind A Ceremony of Carols, Rejoice in the Lamb oder Sacred and Profane, zeigen, wie sehr Britten auch in der englischen Chortradition verankert war. Mit The Little Sweep und Noye’s Fludde ist die Gattung der Kinderoper in zwei mustergültigen Produktionen unter Philip Ledger bzw. Richard Hickox vertreten. Die interessanteste Entdeckung jedoch ist The Company of Heaven, ein kantatenähnliches Opus, das Britten 1937 als eine Art Radiomusik für die BBC geschrieben hat. Philppe Brunelle hat dieses völlig vergessene Werk 1989 in einer Konzertversion mit dem English Chamber Orchestra aufgenommen  (EMI 0151562).

Britten & Pears. A unique musical cooperation ist Titel und Programm zugleich für eine 10-CD-Box von United Classics, die sich dem Zusammenwirken der beiden Künstlerpersönlichkeiten widmet. Der Tenor Peter Pears war Brittens Muse und eine große Anzahl seiner Werke schrieb dieser für seinen Lebenspartner. Ein hervorragender, ausführlicher Essay im Beiheft beleuchtet die verschiedenen Aspekte dieses gegenseitigen künstlerischen und privaten Befruchtens als Interpret, Komponist und Lebensgefährte – in einer Zeit, als Homosexualität in Großbritannien strafbar war. Nahezu vierzig Jahre lang, bis zu Brittens Tod, währte diese besondere Künstlerpartnerschaft. Sieben Liedzyklen, zwölf Opernrollen, fünf Canticles und sieben Orchesterwerke mit Tenor schrieb Britten in diesen Jahren für Peter Pears. Pears’ musikalische Intelligenz und die sinnlichen Farben seines charakteristischen Tenors inspirierten Britten. Pears auf der anderen Seite fand in Britten jemand, der für seine speziellen Bedürfnisse komponierte und zudem eine kongenialer Begleiter am Klavier und auf dem Dirigierpodium war. Es ist unzweifelhaft eine der großen Künstlerpartnerschaften des 20. Jahrhunderts. Diese Zusammenstellung gibt einen wunderbaren Überblick über die verschiedenen künstlerischen Aspekte dieser einmaligen Partnerschaft.

Zudem vereint diese verdienstvolle Kompilation einige längst vergriffene Aufnahmen, darunter die intensive 1946er Aufnahme von The Rape of Lucretia unter Reginald Goodall (mit Kathleen Ferrier) und die nicht minder fesselnde 1954er Produktion von The Turn of the Screw unter der Leitung des Komponisten und der wunderbaren Jennifer Vyvyan als Gouvernante. Geradezu betörend sind die frühen Liedaufnahmen Peter Pears’ aus den 1940ern mit einem feinsinnigen Britten selbst am Klavier. Frühe Aufnahmen der Simple Symphony von 1939 und der Variations on a Theme of Frank Bridge von 1938 unter Boyd Neel haben sich als ‚themenfremde’ Raritäten auf die 9. CD geschlichen. Aber auch Malcolm Sargent und Edmund von Beinum sind als frühe Britten-Interpreten vertreten. Schon die Eröffnungs-CD mit der Saint Nicolas-Kantate in einer Aldenburgher, vom Komponisten geleiteten Einspielung von 1955 atmet eine ganz besondere Aura des Authentischen. Tatsächlich schafft es diese wunderbare Box, einen Einblick in jene besondere Schaffensphase bis etwa Mitte der 1950er Jahre zu geben, aus der die Aufnahmen stammen. Eine höchst interessante Hörerfahrung, die so manche Vordergründigkeit moderner Britten-Interpretationen relativiert  (United Classics T2CD 2013017).

britten dvd 3Britten’s Endgame heißt die zweistündige BBC-Filmdokumentation von John Bridcut, die sich den letzten Jahren Benjamin Brittens widmet, in denen er sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte. Freunde und Mitarbeiter sowie bekannte Britten-Interpreten kommen dabei zu Wort und zeichnen das Bild eines an seinen eigenen Kräften zehrenden, herzkranken, disziplinierten Komponisten im Schaffensrausch. Brittens letzter Oper, dem auf Thomas Manns Erzählung basierenden Death in Venice, sowie Phaedra und dem Dritten Streichquartett werden dabei besonderes Augenmerk geschenkt, autobiographische Spuren darin aufgespürt und die Frage nach der besonderen Aura ‚letzter Werke’ diskutiert. Künstlerische Schöpfung im Angesicht des Todes, könnte man als einen der Hauptstränge dieser faszinierenden Dokumentation herausstellen und würde dabei doch zu kurz greifen, denn John Bridcut gelingt in seinem immer wieder auch sehr persönlichem Filmporträt mehr, wenn er allgemeingültig Fragen von Jugend und Alter mit Schöpfungsprozessen verbindet oder künstlerische Krisen und Lebenskrisen in Beziehung setzt. Auch deshalb ist dies ein sehenswerter Film, nicht nur für Britten-Fans. (PS: Der Film ist in englischer Originalfassung erschienen und enthält weder eine deutsche Tonspur noch Untertitel/Decca 074 3861).

Moritz Schön

 

 

Gluck/Wagners „Iphigenia in Aulide“

.

Anlässlich der Aufnahme bei Oehms Classics Gedanken zu Wagners modernem psychologischem Drama: Iphigenia in Aulis (1847): Gedanken zur Umarbeitung von Glucks Iphigénie en Aulide (1774) – der Dirigent Christoph Spering im Gespräch mit Norbert Bolín 

Christoph Willibald Gluck auf dem Gemälde von Duplessis/OBA

Christoph Willibald Gluck auf dem Gemälde von Duplessis/OBA

Norbert Bolín: Mit der Umarbeitung von Glucks Tragédie-Opera Iphigénie en Aulide stellt sich Wagner in eine historische Dimen­sion, die ihn selbstverständlich mit dem be­deutenden Opernreformator des 18. Jahrhun­derts, Christoph Willibald Gluck, verbindet. Ob Wagner damit eine der Uraufführung von Glucks Iphigénie (1774) folgende ästhetische Debatte um das Wesen der Oper einleiten wollte, wie sie im Gluckisten-Piccinnisten-Streit erbittert geführt wurde, ist nicht zu entscheiden und letztendlich unerheblich.

Wagner, seit 1843 zum Königlichen Sächsi­schen Hofkapellmeister ernannt, lebt in den Jahren 1842 bis 1849 Dresden. In dieser Schaffensperiode wird Der fliegende Holländer (1843) uraufgeführt, es entstehen mit Tann­häuser (UA 1845) und Lohengrin (UA 1850) zentrale Werke seines Oeuvres. Parallel dazu finden sich Prosaentwürfe zur Oper Siegfrieds Tod (später: Götterdämmerung) und zu den Meistersingern und Tristan. Deutlich erkennbar ist Wagner auf dem Weg zu Neuem, zum „Kunstwerk der Zukunft“; ein Element davon ist die Umarbeitung von Glucks Iphigénie en Aulide zur „eigenen Oper  „Iphigenia in Aulis“.

.

.

Im Konzert: Christoph Spering/(c) musikforum koeln

Gluck/Wagners „Iphigenia in Aulide“: Christoph Spering/(c) musikforum koeln

Christoph Spering: Im Vorfeld zu dieser Tonträger-Produktion stellte sich die Frage, wie diese CD denn nun heißen solle, bezie­hungsweise wer der Komponist des Ganzen sei. Schließlich gab es mehrere – wenn auch unvollständige – Einspielungen der Oper in den 1960er und 70er Jahren, und die Glucksche Aulide wurde, wenn sie in deutscher Sprache interpretiert wurde, immer in der Wagnerschen Fassung aufgeführt. Man unter­schied also gar nicht zwischen Gluck und Wagner.

Dabei ist es aber zweifelsohne so, dass – obwohl die Grundsubstanz des Werkes von Christoph Willibald Gluck komponiert wurde – Richard Wagner durch seine vielfältigen Veränderungen ein beinahe neues Werk schuf. Wagners Leistung, die die Wissenschaftler gerne mit dem Begriff der „Übermalung“ beschreiben, lässt neben der neuartigen Struktur auch einen vollkommen andersarti­gen Klang entstehen, so dass sein Anteil am Kunstwerk nicht zu gering eingeschätzt wer­den darf. Der Musikwissenschaftler Helmut Kirchmeyer bringt es auf diesen Punkt: „Am Ende ließ sich fragen, ob der Anteil Wagners an dieser Oper nicht ebenso groß sei wie der Glucks! Von Glucks Musikdrama jedenfalls war nicht mehr viel übrig geblieben; kaum ein Takt fand sich noch, den Wagner nicht nach eigenem Empfinden übermalt hätte“ *.

Was wären wir ohne die schönen Liebig-Bildchen: Hier eins zu Glucks Aulidischer Iphigenie/Sammlung Schneider

NB: Wagners Arbeitsphase be­gann mit der Übersetzung des Librettos, die sich eng an dem von Gluck zur Komposition herangezogenen Original-Libretto de Roullets orientiert. Mit der Auflösung der altherge­brachten Nummernoper und der Verwand­lung in eine szenisch gedachte Struktur of­fenbart sich Wagners Vorstellung vom neuen musikalischen Drama, das auf einem viel ge­radlinigeren Handlungsverlauf beruht als dasjenige Glucks. Wagners Eingriffen fiel die auf andere Partien verteilte Rolle des Patroklus zum Opfer, vor allem aber mit wenigen Ausnahmen die der französischen Opera verpflichten Instrumentalmusiken der Ballette.

CS: Für mich offenbart sich in Wagners Eingriffen in den Handlungsverlauf der unbedingte Wille zur erzählerischen Stringenz. Indem Wagner dramaturgische Einheiten schafft, reduziert er die Dominanz einzelner Nummern zugunsten eines zielstrebig konstruierten Handlungsverlaufs, der allein auf die psychische Befindlichkeit der Iphigenia zielt. – Immerhin machen die Streichungen von Personen etwa ein Viertel des Gesamtumfangs aus. Das wiederum kommt der musikalischen Dimension zugute, denn in der Auskomposition von musikalischen Motiven und Gedanken Glucks im Sinne von Vor-, Zwischen- und Nachspielen schafft Wagner eine fortlaufende musikalische Erzählung da­durch, dass er „nahtlose Übergänge zwischen den verbliebenen Nummern [schafft] und sie zu Szenen verknüpfte, die eine tableauartige Dramaturgie erkennen lassen“, wie Christa Jost in ihrem Kritischen Bericht der Wagner-Gesamtausgabe schreibt.

Norbert Bolìn/(c) musikforum koeln

Gluck/Wagners „Iphigenia in Aulide“: Norbert Bolìn/(c) musikforum koeln

NB: Wagner formt aus der ty­pisch französischen Hof-Oper Glucks ein psychologisches Drama. Im Zentrum stehen nicht mehr Prunk und Gepränge – für die Dresdner Uraufführung am 24. Februar 1847 hat Wag­ner selbst Regie geführt -, sondern wesentlich die Hauptpersonen, im Mittelpunkt Iphigenia.

CS: Deshalb ist es auch voll­kommen konsequent, den schon zu Glucks Opernpremiere kritisierten, weil unglaubwür­digen Tragödienschluss zu streichen und durch eine Hinwendung zu Euripides die Er­scheinung der Göttin Artemis (Diana) in einer Gewitterwolke zu inszenieren, die Iphigenia dann zur Priesterin erhöht und mit ihrer Him­melfahrt in überirdische Gefilde dem Gesche­hen entzieht. Ins Zentrum der Handlung ist jetzt die Wandlung Iphigenias gerückt, von ihrem Opferdasein zur Selbstopferung und (nach Euripides) ihrer Verklärung. Darauf hin hat Wagner alle Handlungsfäden verknüpft und gestrafft.

NB: Ein Ergebnis dieser sze­nisch-dramatischen Denkart ist die neuartige Verbindung von Arien und Chören durch Vor-, Zwischen- und Nachspiele in durch­komponierten Szenen; die althergebrachte Nummernreihenfolge ist in szenische Einheiten aufgelöst, in denen die vormals streng voneinander geschiedenen musika­lischen Formen wie Rezitativ, Arioso und Arie fließend ineinander übergehen und damit das gesamte Gefüge dem Wagnerschen Ideal der durchkomponierten Form näher kommt.

Das Dresdner Hoftheater zu Wagners Zeit/OBA

Gluck/Wagners „Iphigenia in Aulide“: Das Dresdner Hoftheater zu Wagners Zeit/OBA

CS: Nicht allein dies, son­dern auch die Erweiterung des Orchester­satzes und die Instrumentation folgen der neuartigen dramatischen Konstellation. Im dramaturgischen Sinn steht die Geschichte durchaus romantisch – viel zwingender und schlüssiger – vor uns. Dazu trägt die In­strumentierung einen gewichtigen Teil bei; Wagner hat sie vollkommen im Sinne eines größeren romantischen Orchesters geändert, indem er den vollen Bläsersatz neu kompo­niert hat. Das allerdings nicht in einer Form, wie wir es beispielsweise in Mozarts Bear­beitungen von Händel-Oratorien oder Men­delssohns Einrichtungen von Händel oder Bach sehen, vielmehr hat er die Bläser dem im damaligen romantischen Orchester übli­chen „normalen“ Bläsersatz angepasst. Selbst in die Streicherbesetzung hat er ein­gegriffen, indem er fast durchgehend die Bratschen verdoppelte und im Streichersatz die Stimmführungen änderte, um einen tra­genderen romantischen Klang zu erreichen. Letztlich hat Wagner etwa zehn Prozent des Werkes neu komponiert. Natürlich nicht in diesem offensichtlich auffälligen Sinne, dass er dem Werk seine Harmonik überstülpt, son­dern indem er den Stil Glucks mit seinem Personalstil verbindet. Da gibt es Stellen, die gemahnen immer wieder an seine Opern, und bei mehrmaligem Hören kristallisieren sich diese neu komponierten Stellen deutlich her­aus.

Das Ganze geht also weit über ein Arrange­ment hinaus, auch die relativ lange Unter­brechung seiner Arbeit am Lohengrin, also in seiner mittleren Schaffensperiode, weist dar­auf hin, wie ernst er diese Arbeit für seine Entwicklung genommen hat.

NB: Rein statistisch ist das Or­chester im Bläsersatz um ein drittes Fagott, ebenso um eine dritte Trompete sowie durch­gehend um zwei zusätzliche Hörner erweitert. Dazu kommt eine vollständige Bühnenmusik. Vollkommen neu ist der dreistimmige Posaunensatz, den der zeitgenössische Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick besonders lobend erwähnt hat, und natürlich die spektakulär dreinschlagende Blitz- und Donnermaschine zur zur Erscheinung der Göttin.

Zu Gluck/Wagners „Iphigenie“: Fresco aus Pompeji/Wikipedia

CS: Die Erweiterung des Klangapparates scheint mir in zweifacher Hiinsicht wichtig zu sein: zum einen, um dem Streicherapparat einen selbständigen Holzbläsersatz gegenüberzustellen, der frei geführt werden kann und auch durch seine Klang­farben zur Entstehung eines romantisch­ durchkomponierten Musikdramas beiträgt. Zum anderen zielt der vergrößerte Instrumentalapparat auf die Dramatisierung des Gesche­hens; er dient vorrangig zur abwechslungs­reichen sensiblen klanglichen Zeichnung einzelner Personen in ihren besonderen Situa­tionen, vor allem in Momenten von Verzweif­lung, Schmerz und Leid. Die Erweiterung der Klangfarbenpalette, die größere dynamische Extreme ermöglicht, hilft bei der Dramatisie­rung des Werkes.

NB: Man wird Wagner in seinem gesamten Bestreben nicht unterstellen wollen,  dass er sich in Umarbeitungen oder Bearbeitungen als Vertreter irgendeiner historisch informierten Aufführungspraxis verstand. Seine Ziele verfolgten doch eher die Entwicklung von Neuem und, im Falle der Umarbeitungen, die Modernisierung von Althergebrachtem.

gluckCS: In meiner nun doch einige Jahrzehnte dauernden dirigentischen Praxis habe ich eine Vielzahl von Verständnisvarianten des oft genug schillernd ge­brauchten Begriffes von Aufführungspraxis erlebt und muss für diese Einspielung sagen, dass sie den Wagnerschen Geist atmet. Einfach deshalb, weil Wagners Anliegen, sein neues Verständnis von Dramaturgie und Klangregie zu probieren, sich uns in der Rückschau als eine Art von Testinstallation darstellt, ein Terrain, verschiedene Möglich­keiten auszuprobieren. Genauso habe ich mir die Partitur auch erarbeitet und das Ensemb­le zusammengestellt, wobei wir heutzutage das Glück haben, die klanglichen Wirkungen aus Wagners Zeit relativ genau rekonstruieren zu können. Angefangen bei aufführungspraktischen Details, die wir aus dem originalen Auflührungsmaterial der Bayerischen Staats­bibliothek erschließen können, über Gesangstechniken, die mehr dem von Wagner immer geforderten Belcanto-Ideal verpflichtet sind, bis hin zum verwendeten Instrumentari­um, auch wenn dieses in einem gewissen Sin­n unvollkommener als das heutige ist, dafür aber viel farbiger in seinen klanglichen Facetten. Tatsächlich eröffnet sich in der Verbin­dung mit dem etwas niedrigeren Stimmton (437′) ein ganz interessanter neuer Zugang zum Werk, vielleicht zu Wagner überhaupt, was sich noch erweisen muss.

Und noch einmal: der junge Wagner, hier auf dem Gemälde von Willich c. 1862/Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, Foto: Jean Christen

Und noch einmal: der junge Wagner, hier auf dem Gemälde von Willich c. 1862/Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, Foto miut genehm,igung des Museums: Jean Christen

Dann hat sich Wagner aber durchaus auch gewissermaßen zum Sachwalter Glucks in aufführungspraktischen Belangen gemacht. So plädiert er zum Beispiel in gleich mehre­ren streitbaren Aufsätzen dafür, im vermeint­lichen Gluckschen Sinne das Grundtempo der Ouvertüre nach der langsamen Einleitung nicht wie üblich Allegro, also schnell zu spielen, indem er sich vermeintlich auf die Originalangaben Glucks bezieht.

Freilich hat sich Wagner zwar hier – weil ihm kein aufführungskritisches Material im modernen Sinne zur Verfügung stand – getäuscht, denn Gluck hatte den Temposprung im Original eindeutig gefordert, aber es ist interessant, wie er sich hier aufführungspraktisch regelrecht aus dem Fenster lehnt, um im Sinne Glucks zu argumentieren. Überhaupt ist ja die Tempofrage bei Wagner ein großes Thema.

NB: Die Tempofrage ist deshalb besonders pikant, weil Wagner von der Kritik seiner Zeit angegriffen wird, Mozartsche Tempi im französischen Sinne zu nehmen, also für das Empfinden der Zeitgenossen zu extrem, nämlich langsame Tempi zu langsam und schnelle Tempi zu schnell. Nach der Auswertung seiner gesamten Dresdner Musi­zierpraxis kristallisiert sich heraus, dass seine Temponahme – ausgenommen die Ouvertüre – recht zügig und dem dramati­schen Gestus entsprechend war. Die Klage gleich mehrerer Kritiker, dass das Tempo der Ouvertüre verschleppt gewesen sein soll, ist auf Wagners Fehlinterpretation der Gluckschen Tempoangaben zurückzuführen, und in späteren Kritiken wird der zeitweilige Ein­druck des Schleppenden und Willkürlichen tatsächlich korrigiert. Es scheint also so gewesen zu sein, dass die relativ großen Tem­poschwankungen in der Premiere einer ge­wissen Unsicherheit des gesamten Apparates zuzuschreiben waren.

Iphigenie wird durch Diana gerettet/Zeichnung von Baur/OBA

Iphigenie wird durch Diana gerettet/Stich von Baur/Wikipedia

CS: Sicherlich interessierte Wagner nicht die wissenschaftliche Aufführungspraxis in unserem heutigen Sinne, son­dern eher die Transformierung des Werkgehaltes in seine Gegenwart. Dabei hat er die Fragen der historischen Klanglichkeit eher zurückgesetzt zugunsten des Inhaltes und seiner zu vermittelnden Bot­schaft. Dass für ihn die klangliche Umsetzung im historischen Sinne nicht vorrangig war, klingt wirklich an vielen Stellen an, an denen es wie Wagner klingt, obwohl die Harmonik reinster Gluck ist. Zwar bringt Wagner seine Instrumentationseigenheiten schon vollkom­men zur Anwendung, zeigt, dass er souverän damit spielen kann, sich aber bei seinen Um­arbeitungen und neu komponierten Überlei­tungen doch an den Gluckschen Harmonie­stil hält.

Diese Klangdimension von den Schlacken der inzwischen über 160 Jahre Interpreta­tionsgeschichte wieder zu befreien, war meine Aufgabe, das heißt, die von Wagner klang­lich in die Partitur komponierte Dramatik zu erwecken und damit die Schärfe seiner Übermalung in ihrer eigenen Klangwelt wiederer­stehen zu lassen, so dass auch an dieser Stelle, bei der Vielzahl seiner Eingriffe – vom Text über die Instrumentierung bis hin zur Neu­komposition – wenn auch nicht von einer eigentlichen Wagner-Oper, so doch von einer Wagnerischen Oper gesprochen werden kann, die auch endlich für jeden Wagner-Kenner und -Freund zum unbedingten Bildungs­kanon gehören sollte.

.

.

(Norbert Bolìn ist promovierter Musikwissenschaftler, Autor, Ex-Dramaturg, ehemaliger Chefredakteur der Musikzeitschrift Concerto, Lehrbeauftragter und Mitarbeiter am Musikwissenschaftlichen Institut der Uni Köln und vieles mehr. Wir danken ihm und dem Dirigenten Christoph Spering für die Genehmigung zum Nachdruck dieses vorstehenden Gesprächs, das wir der Beilage zur neuen Iphigenia in Aulis von Gluck/Wagner bei Oehms Classics OC 953 entnommen haben. G. H.)

.

Den vorstehenden Artikel entnahmen wir der Beilage zur Nauaufnahme der Iphigenia in Aulis unter Christoph Spering mit Camilla Nylung, Michele Breedt, Christian Elsner, Oliver Zwarg, Raimund Nolte u.a.; dazu Chorus Musicus Köln und Das Neue Orchester – herausgekommen bei Oehms Classics (OC 933, 2CD). 

* Zitat aus: Kirchmeyer, Helmut, Situationsgeschichte der Musikkritik und des musikalischen Pressewesens in Deutschland, dar­gestellt vom Ausgang des 18. bis zum Beginn des 19. Jhds., = Das zeitgenössische Wagner-Bild, 1. Bd.: Wagner in Dres­den, = Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts Bd. 7, Regensburg 1972,, S. 723.

.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Eigenwilliges erstmals zum Klavier

Eigentlich für Maria Callas und um ihr einen ungeteilten Applaus zu sichern, war Poulencs La Voix Humaine  aus dem Jahre 1951 gedacht (sagt das Booklet), denn der Komponist hatte einer unrühmlichen Szene beigewohnt, in der der Sopran und Partner Mario Del Monaco  um die Solovorhänge gerangelt hatten. Schließlich aber entschied sich Poulenc doch für Denise Duval, auch die erste Blanche, als Sängerin der Elle, der Heldin ohne Namen seines Einpersonenstücks. Es ist die Vertonung einer Szene von Jean Cocteau aus dem Jahre 1927, der Telefondialog einer verlassenen Geliebten, in dem man das vom Partner Gesagte lediglich erschließen kann und in dem sich Elle in einem Spannungsfeld von Gesagtem, Gemeintem und wirklich Gefühltem bewegt. Obwohl Poulenc einer Aufführung nur mit Klavier nie zustimmen wollte und dies,  obwohl er selbst sich einiger Verstöße gegen sein Gebot schuldig machte, erlaubten die Nachkommen Felicity Lott und Graham Johnson die Aufnahme, die im Dezember 2011 in Champs Hill in Sussex entstand. Es ist dies die erste visuelle Aufnahme der Partie mit ihr, eine CD mit Armin Jordan stammt ebenfalls aus den vergangenen Jahren. Bekannte Vorgängerinnen in der Rolle sind auf CD außer Denise Duval  noch Julia Migenes und Franҫoise Pollet (nicht zu vergessen Renata Scotto auf einem Live-Mitschnitt).

Die Szene, über deren Urheber sich das Booklet in Schweigen hüllt, zeigt einen kleinen Raum mit Recamier, Teppich, Nachttischchen, Stehlampe, impressionistischen Bildern und eine kleine Hundestatuette. Keine junge Frau, wie es die Opernführer wollen und der man eine baldige neue Liebe zutrauen könnte, ist La Lott, sondern ältlich und vergrämt und deswegen noch erbarmenswürdiger in ihrem verzweifelten Versuch, den Geliebten, wenn nicht zurück, so doch wenigstens am Telefon zu (be)halten. Beinahe obzön wirkt der prächtige rote Morgenmantel, von dem im Gespräch die Rede ist. In dieser Szene sitzt, kniet, steht oder windet sich die Sängerin auf dem Boden, umklammert, streichelt, schlägt sie auf das Telefon ein, das eines der alten Art aus der Frühzeit der Telekommunikation ist.

Bewundernswert ist die Spannung, die Felicity Lott zwischen mühsam bewahrter Haltung und  fast unerträglichem Leid aufbaut, wie sie beteuert, beschwört, beschwichtigt, wie sie zwischen beherrschtem Rezitativ und verzweifeltem vokalem Ausbruch wechselt bis hin zum „Je t’aime“-Schrei. Vokal bleibt sie dabei immer ladylike, was aber an der Expression des Gesangs keinerlei Abstriche verursacht. Unterbrochen wird der Quasi-Monolog durch den Kampf mit den technischen Unzulänglichkeiten des Telefons und den Einwürfen des Partners, auf die sie unterwürfig, aufbegehrend und immer wieder von Hoffnung getragen eingeht. Die Begleitung nur mit Klavier verstärkt die Intimität der Szene, wirkt insgesamt aber härter und eher eindimensional im Vergleich zur raffinierten Orchestrierung. In jedem Fall aber hinterlässt hier eine ganz große Charakterdarstellerin und fabelhafte Sängerin ein Zeugnis ihrer großen Kunst. Die Packung enthält sowohl eine DVD als auch eine Blue-ray Disc mit der Signatur CHRBR045.

Ingrid Wanja  

Aus goldener Buffa-Zeit

Ein Viva la Mama ohne Mama ist Cimarosas  L’impresario in angustie, zu Deutsch Der Impresario in der Klemme, in dem typische Missstände italienischen Opernlebens im 18. Jahrhundert und teilweise noch heute dargestellt werden. Es geht um den Kampf dreier Primadonnen um die Herren am Theater wie um die beste Rolle und um die ständige Finanznot der Impresari, die für die Aufführungen verantwortlich waren und sie finanzierten, oft ohne den erwünschten Gewinn aus dem Unternehmen zu ziehen und deshalb zur Flucht vom Schauplatz des Geschehens gezwungen.

Das Personal besteht aus drei Sängerinnen der unterschiedlichen Fächer, dem Impresario, dem Dichter, dem Kapellmeister und dem Beschützer einer der Sängerinnen. Weiter als bis zur ersten Probe gelangt die Aufführung des vorgesehenen Stückes nicht, dann ist der Impresario mit der Kasse verschwunden und die Prima Buffa um einen Verlobten reicher sowie die anderthalbstündige Oper zu Ende. Die Musik karikiert ebenso wie das Libretto das damalige Opernwesen, indem sie die gängigen musikalischen Formen als übertreibend leere Virtuosität bloßstellt, typische Handlungsmuster in Frage und die prekäre Lage der Kunstschaffenden an den Pranger stellt.

Im Jahre 1963 gab es in Neapel noch wie in jeder größeren Stadt Italiens ein RAI-Orchester für klassische Musik, hier das mit der Musik des 18. Jahrhunderts besonders vertraute Orchestra Alessandro Scarlatti, das im gleichnamigen Auditorium der Stadt vor Publikum die Farsa zur Aufführung brachte. Illuster sind die Namen auf dem Besetzungszettel, insbesondere die der Herren mit Sesto Bruscantini und Italo Tajo. Sie und alle anderen versprühen hörbar gute Laune, sind überaus präzise und gewandt im unmerkbaren Übergang vom gesprochenen zum gesungenen Wort. Man merkt ihnen an, wie viel Spaß es bereitet, sich spritzig und flott über das eigene Metier lustig zu machen, und dabei werden sie aufs Beste unterstützt vom Orchester unter Luigi Colonna.

Gleich drei Soprane wetteifern im Stück wie auf der Aufnahme um die Gunst der Zuhörenden. Die Fiordispina von Dora Gatta ist mehr Spina als Fiore mit herber, klarer Stimme, guter Mittellage und in „“Io son placida e serena“ voll virtuoser Qualitäten. Eine ihrer Rivalinnen ist die Merlina von Gianna Galli, eine spitzzüngige Soubrette mit durchaus charaktervoller Stimme. Die dritte im zänkischen Bunde ist die Doralba von Laura Londi, die ebenfalls Haare auf den Zähnen und diese wiederum in der Stimme hat – insgesamt also ein lustig-streitbares Trio. Sesto Bruscantini glänzt als Poet Don Perizonio durch die schlanke Farbigkeit der Stimme und zieht alle Register eines so übermütigen wie kontrollierten Buffo, baut seine Arie „Lo Impresario“ sehr geschickt auf und kann mit seinem schönen Bariton wunderbar schmeicheln. Ihm das Wasser reichen kann Italo Tajo als Komiker, und auch die flexible Bassstimme, in der Lachen wie Intrige hörbar werden, ist einmalig. In „Vado e giro“ zeigt sich aufs Schönste seine ungeheure Behändigkeit des Singens, und sein Parlando ist beispielhaft. Einen scharfen Charaktertenor hat Piero Bottazzo für den Kapellmeister Gelindo, wenig in Erscheinung tritt der Strabinio von Renzo Gonzales. Wer echte alte Buffakunst von dazu berufenem Ort aus berufenen Kehlen hören will, dem sei die CD anempfohlen. Allerdings wird er vom Booklet schmählich im Stich gelassen, das über das Allernotwendigste an Informationen nicht hinausgeht (Myto 000330).

Ingrid Wanja   

Renato Cioni

 

Renato Cioni war 84 Jahre alt, stammte aus einer Künstlerfamilie: Sein durch ein plötzliches Unwohlsein verursachter Tod am 3. März 2014 geschah im Krankenhaus von Portoferraio. Er war einer der bedeutenden Opernsänger des 20. Jahrhunderts. Cioni wurde am 15. April des Jahres 1929 in Portoferraio geboren und hätte in wenigen Wochen das 85. Lebensjahr vollendet. Trotz seines Alters war der Maestro, so nannten ihn seine Mitbürger auf Elba liebevoll, eine sehr aktive, selbständige Persönlichkeit, so dass man ihn gewöhnlich auf den Straßen seines Geburtsorts treffen konnte, wo er an der Piazza Dante Aligheri wohnte.

als Pinkerton/OBA

als Pinkerton/OBA

Renato Cioni wurde in eine Fischerfamilie geboren, und deren reiche künstlerische Begabung zeigte sich sehr bald in vielen ihrer Mitglieder: Der Bruder Dello war Tänzer in der Fernsehsendung Canzonissima in den sechziger und siebziger Jahren und arbeitete auch mit Garinei und Giovannini und Renato Rascal zusammen, die beiden anderen Brüder Franco und Gustavo waren beide exzellente Sänger. Ganz anders verlief die Karriere des Maestro Renato Cioni. Zunächst studierte er Musik am Konservatorium Luigi Cherubini  in Florenz. 1956 gewann er den wichtigen Wettbewerb „Adriano Belli“ des Opernhauses Teatro lirico sperimentale von Spoleto, der in Zusammenarbeit mit der Römischen Oper organisiert worden war, und debütierte in der umbrischen Stadt als Edgardo in Lucia di Lammermoor. Im selben Jahr erschien er in einer Fernsehproduktion von Madama Butterfly neben Anna Moffo. Renato erreichte sehr schnell einen  hohen Bekanntheitsgrad und wurde überall in Italien engagiert: Rom, Neapel, Palermo, Venedig, Genua, Triest, Bologna, Catania. Er begann auch im Ausland zu singen: in der Schweiz, in Spanien, Deutschland (namentlich auch Berlin/Deutsche Oper), Belgien, Frankreich.

Cavaradossi mit Maria Callas an Covent Garden/EMI

Cavaradossi mit Maria Callas an Covent Garden/EMI

Im Jahre 1959 debütiere er in den USA an der Akademie für Musik in Philadelphia, trat dann in der Carnegie Hall in New York auf in Le Duc d’Albe (darin auch in Spoleto) und an der San Francisco Opera in Lucia di Lammermoor. Am 4. März 1962 debütierte er an der Scala in der Rolle des Pinkerton, und 1964 nahm er an zwei historischen Vorstellungen teil: Tosca in Covent Garden an der Seite von Maria Callas und Tito Gobbi und La Traviata an der Scala mit Mirella Freni und danach Anna Moffo, mit Mario Sereni, dirigiert von Herbert von Karajan.

"Bohème" mit Renata Tebaldi an der Met/OBA

„Bohème“ mit Renata Tebaldi an der Met/OBA

Andere Opern, in denen er auftrat, sind La Sonnambula, La Straniera, Lucrezia Borgia, Rigoletto, Un Ballo in Maschera, La Bohème, La Gioconda, Cavalleria Rusticana, Francesca da Rimini. Renato Cioni war auf der  ganzen Welt auch bekannt wegen seiner Aufnahmen von Lucia di Lammermoor und Rigoletto mit  der Sutherland, 1961 für die Decca aufgenommen. Für lange Zeit vergessen, ist er am 8. Dezember 2012 in der Show „The Winner Is…“ im italienischen Fernsehen aufgetreten. Die Trauerfeier fand Mittwoch, den 5. März, im Dom von Elba statt. Er war einer der wirklich großen Tenöre der Callas-Zeit, unglaublich vielseitig und mit einem wirklich schönen, leuchtenden Tenor beschenkt, auch einen wie ihn gibt es nicht wieder!

Stefan Lauter/Ingo Kern

Sullivans Oper „The Beauty Stone“

.

Wenn die romantische Oper Ivanhoe (1891) von Arthur Sullivan (1842 – 1900) uns heute nur wie eine Fußnote zu seiner Zusammenarbeit mit W.S. Gilbert erscheint, dann löst sich The Beauty Stone („Der Schönheitsstein“, Uraufführung am 28. Mai 1898) sicherlich noch zögerlicher aus den Nebeln der Vergangenheit.

Arthur Sullivan/Wiki

Zwei Dinge standen lange Zeit dem Wunsch entgegen, diese Oper wiederzubeleben – oder sie auch nur ernst zu nehmen. Zum einen währte ihre einzige Spielzeit (am Londoner Savoy Theatre) lediglich fünfzig Aufführungen, und das Werk war somit Sullivans größter Misserfolg – und wie könnte sein Publikum sich damals geirrt haben? Zum anderen lässt sich dieses Werk von allen Savoy-Opern (einer Gattung, die immerhin weit genug definiert war, dass sie Trial by Jury und The Yeomen of the Guard, ganz zu schweigen von HMS Pinafore und Haddon Hall umfassen konnte) am wenigsten klassifizieren, ja eigentlich erscheint es kaum sinnvoll, das Stück überhaupt als Savoy-Oper zu bezeichnen. Die Tragik liegt darin begründet, dass – trotz aller Schwächen, die die Entstehung von The Beauty Stone so erschwerten – dies eine von Sullivans schönsten und gelungensten Schöpfungen und in ihrer Gesamtheit die künstlerisch ambitionierteste von allen am Savoy inszenierten Opern ist.

Karikatur/c. Downey/Lovell Collection/Chandos

Karikatur/c. Downey/Lovell Collection/Chandos

Sullivan war es gewohnt, mit nur einem Librettisten zusammenzuarbeiten; The Beauty Stone ist der einzige Fall, in dem ein Text von einem Autoren-Paar verfasst wurde. Auch gehörten diese beiden Männer nicht zum üblichen Typus des (komischen) Opernlibrettisten – beide zählten, wenn auch auf unterschiedlichen Gebieten, zu den herausragendsten Künstlern ihrer Zeit. Die treibende Kraft bei der Entstehung dieser Oper war Joseph William Comyns Carr (1849 – 1916), ein führender Protagonist des Londoner Kulturlebens, der viele der unterschiedlichen Facetten von Sullivans Karriere zu bündeln wusste. (…)  Seine publizistische Tätigkeit und seine Funktion als Direktor mehrerer Galerien bedingten einen vertrauten Umgang mit zahlreichen führenden Malern seiner Zeit, darunter nicht zuletzt Dante Gabriel Rossetti, Edward Burne-Jones, James McNeill Whistler und John Singer Sargent, der ein Porträt von Carrs Frau malte. Alice Comyns Carr war kaum weniger künstlerisch interessiert als ihr Mann; sie wirkte unter anderem als Kostümbildnerin und war weitgehend verantwortlich für eines der berühmtesten Bühnenkostüme aller Zeiten – das prächtige Käferflügelgewand, das Ellen Terry als Lady Macbeth trug und das selbst wiederum Sujet eines der berühmtesten Porträts von Sargent war. Übrigens war es Sullivan, der die Zwischenaktmusik für diese Macbeth-Inszenierung (1888) von Henry Irving komponierte; sie zählt zu seinen modernsten und dramatischsten Schöpfungen und man war einhellig der Meinung, dass sie wesentlich zum Erfolg der Produktion beitrug. (…)

Foto aus der Uraufführung/Chandos/Lovell Collection

Foto aus der Uraufführung/Chandos/Lovell Collection

Die Kombination der Namen Sullivan, Irving und Burne-Jones auf einem Theaterplakat war ziemlich außergewöhnlich und machte das Stück für seinen Schauspieler-Intendanten zu einem großen Erfolg. Irving stellte den Kontakt zwischen Carr und dem zweiten Librettisten von The Beauty Stone her, dem Dramatiker Arthur Wing Pinero (1855 – 1934). Pinero (auch er ein Abtrünniger der Rechtsgelehrtheit) war in den 1870er Jahren Schauspieler in Irvings Truppe gewesen, bevor er sich als erfolgreicher Dramatiker einen Namen machte: The Magistrate (1885), The Second Mrs Tanqueray (1893), The Notorious Mrs Ebbsmith (1895) u. a. (…)

Die drei "Väter" des "Beauty Stone"/Chandos/Lovell Collection

Die drei „Väter“ des „Beauty Stone“/Chandos/Lovell Collection

The Beauty Stone wurde also von drei Männern entwickelt – Sullivan, Carr und Pinero -, deren Wege sich schon häufig gekreuzt hatten und die für eine Zusammenarbeit die bestmögliche Kombination von Talenten einbringen würden. (…)  Sullivan stand an der Spitze der musikalischen Zunft in Großbritannien: Die 1890er Jahre waren ihm bis dahin nicht so wohlgesonnen gewesen wie die 1880er, doch auch wenn seine beiden letzten komischen Opern – The Chieftain (1894, Libretto von F.C. Burnand) und The Grand Duke (1896, Libretto von W.S. Gilbert) – relative Misserfolge gewesen waren, bedeutete der Triumph seines bezaubernden Ballett zum sechzigsten Thronjubiläum von Queen Victoria, Victoria and Merrie England (1897), dass er gegenwärtig geradezu im Erfolg badete. Hätte man sich eine vielversprechendere Zusammenarbeit vorstellen können? Richard D’Oyly Carte (1844-1901) muss darauf vertraut haben, dass sich nun der Erfolg einstellen würde, der dem Savoy Theatre seit The Gondoliers (1889) versagt geblieben war.

Zeitgenössische Karikatur/Chandos/Lovell Collection

Zeitgenössische Karikatur/Chandos/Lovell Collection

Doch es sollte anders kommen. Der Kern des Problems findet sich bereits in der Beschreibung von The Beauty Stone als einem „originellen romantischen Musikdrama“. Ebenso wie Carr, der für die Konzeption des Werks verantwortlich war und die lyrischen Texte schrieb, sah auch Pinero, den Carte anscheinend engagierte, um die Dialoge des Librettos zu verfassen, das Stück als Drama mit Musik; Sullivan hingegen sah es als Oper mit Dialogen. Das allein hätte nicht zu einem unüberwindbaren Problem werden müssen, allerdings gab es einen solchen Überfluss an gesprochenem im Gegensatz zu gesungenem Text, dass die Balance des gesamten Werks auf dem Spiel stand. (…) Es lässt sich allerdings nicht abstreiten, dass das Werk immer noch eine enorme Menge an Dialog enthält. Pinero scheint hier die pseudomittelalterliche Diktion von Carrs King Arthur nachgeahmt zu haben, und Max Beerbohm machte sich im Saturday Review einen Spaß daraus, seinen Prosastil zu parodieren. (…) Tatsächlich scheinen die Schwierigkeiten, die Sullivan mit der Textvorlage hatte, sich überwiegend konstruktiv ausgewirkt zu haben, da deren Komplexität ihn zu einigen seiner längsten Melodielinien und ungewöhnlichsten musikalischen Umsetzungen inspirierte.

Foto zur Uraufführung/Chandos/Lovell Collection

Foto zur Uraufführung/Chandos/Lovell Collection

Die Premiere von The Beauty Stone fand am 28. Mai 1898 statt und dauerte etwa vier Stunden; damit war dies wohl die bei weitem längste von allen Savoy-Opern. Sofort begann man mit dem Kürzen von Dialogen und Musik (…alle ausgesonderten Musikpassagen wurden für die vorliegende Einspielung wiederhergestellt). Die Kürzungen waren tiefgreifend, konnten das Werk jedoch nicht retten. Letztlich wurde der Oper ihr Libretto zum Verhängnis (fatal waren vor allem die Dialoge – es scheint  kaum vorstellbar, dass diese Texte und die modernen Dramen Pineros von ein und demselben Autor stammten). Gleichzeitig wusste das Publikum des Savoy – das Wiederaufnahmen von älteren Stücken von Gilbert und Sullivan sowie auch neue Werke im selben Stil mit loyaler Begeisterung begrüßte – genau, was es wollte, und The Beauty Stone traf einfach nicht seinen Geschmack. (…)  Die Cartes scheinen bis zur fünfzigsten Aufführung durchgehalten zu haben, dann gaben sie auf. Nachdem er so viel Mühe in dieses Stück investiert hatte – die Art von romantischer Historie, die er so liebte -, war Sullivan von den Ergebnissen verständlicherweise demoralisiert.

Arthur Passmore als The Devil in der Uraufführung/Chandos/Lovell Collection

Arthur Passmore als The Devil in der Uraufführung/Chandos/Lovell Collection

Trotz allem, was an diesem Werk misslungen ist, wäre es doch unfair, nicht auch auf seine Stärken hinzuweisen. Sullivan hatte eine natürliche Begabung für Komödien, war aber immer darauf bedacht, sich ernsteren Materien zuzuwenden; in seiner Korrespondenz mit Pinero spricht er von dessen „schönem Drama“, und dies trifft in vielerlei Hinsicht auch genau zu. Der Text hat grundsätzliche Schwächen, aber es gab auch positive Aspekte, die dem Komponisten zugutekamen – zum einen die lebhafte und kontrastreiche Charakterisierung und zum anderen das Vorhandensein von ausgedehnten Szenen (Sullivan nannte sie „konzertierende Stücke“), die es ihm ermöglichten, die einzelnen Charaktere sowie die ganze Atmosphäre der Oper in langen ungebrochenen Abschnitten zu entwickeln. (…). Carrs berufliche Tätigkeit verweist noch auf einen anderen Aspekt des Stücks. Wenn es so etwas wie eine präraffaelitische Oper gibt, dann liegt sie uns mit diesem Werk vor: Ein historischer Schauplatz, höfische Romanze, eine dunkle Grundstimmung, der Einsatz von magischen Kräften, Liebe und Schönheit als Schlüsselthemen – all das ist in dieser Oper versammelt.  (…) Der Musikdirektor des Savoy, Francis Cellier (1849 – 1914), lag sicherlich richtig in seiner Vermutung, dass dieses für The Beauty Stone einfach das falsche Theater war und dass das Stück an einem anderen Spielort vielleicht bessere Chancen gehabt hätte; Cellier bedauerte, dass eine von Sullivans bezauberndsten Kompositionen nun begraben sein sollte, ihre Musik weitgehend ungehört, doch unvergesslich den vergleichsweise wenigen Privilegierten, die ihren wunderbaren Nummern gelauscht hatten.

Rory Mcdaonald ist der Dirigent der neuen Aufnahme/Foto Chandos

Rory Macdonald ist der Dirigent der neuen Aufnahme/Foto Chandos

Die nun bei Chandos vorliegende erste vollständige professionelle Einspielung korrigiert dieses Unrecht. Nicht lange vor seinem Tod hatte Sullivan mit Carr eine überarbeitete Fassung ihres King Arthur erwogen. The Beauty Stone gewährt uns einen wunderbaren Blick auf das, was Sullivan im Herbst seines Lebens, doch immer noch auf der Höhe seiner künstlerischen Fähigkeiten, aus seiner langerträumten Artus-Oper hätte machen können. © 2013 William Parry/ Übersetzung: Stephanie Wollny

.

.

Den vorliegenden Artikel und die IIlustrationen/Chandos/Lovell Collection entnahmen wir mit Dank und starken Kürzungen der Beilage zur neuen Aufnahme von The Beauty Stone von Arthur Sullivan, der jüngst bei Chandos in ihrer Opernserie in englischer Sprache erschienen ist. Auf der Website von Chandos gibt´s es eine ausführliche Inhaltsangabe –  unter Rory Macdonald am Pult des BBC National Chorus of Wales und des BBC National Orchestra of Wales singen Toby Spence, David Stout, Stepen Gadd, Richard Stone, Alan Opie, Elin Manahan Thomas, Madeleine Shaw, Rebecca Evans und andere, die Aufnahme stammt aus dem Januar 2013/2 CD Chandos 10794 – eine Rezension folgt in Kürze. Redaktion G. H.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Ein Grieche aus Perm krempelt Mozart um

Wahre Wunderdinge waren im Vorfeld dieser Veröffentlichung bei Sony (LC 06868.88883709262) zu vernehmen. Ein junger griechischer Dirigent, Chef des Opernhauses von Perm, im tiefsten Russland nahe dem Ural gelegen, wolle alle da-Ponte-Opern Mozarts mit seinem Ensemble Musicaeterna einspielen. Die erste Aufnahme, Le Nozze di Figaro, liegt nun vor, und tatsächlich, von einigen Wundern ist zu berichten. Vom ersten Takt an versteht es Teodor Currentzis (1972 in Athen geboren), mit fast allem zu brechen, was sich an interpretatorischer Routine bei dieser meistgespielten aller Opern eingeschlichen und verfestigt hat. Es gelingt ihm sogar, den Hörer mit den – zumeist als notwendigem Übel erduldeten – Rezitativen zu versöhnen: er ersetzt das zumeist doch eher anämisch klingende Cembalo durch ein Hammerklavier (ausgezeichnet: Maxim Emelyanychev). Und plötzlich ist da ein runder, wärmerer Klang, der dem Ohr schmeichelt. In der Wahl seiner Tempi ist er ebenso unkonventionell: die Aufnahme enthält die schnellsten, aber auch langsamsten Passagen, die ich jemals bei einem Figaro gehört habe.

Currentzis folgt da seiner ganz eigenen Dramaturgie, und das Ergebnis gibt ihm Recht. Mit seinem Musicaeterna-Ensemble stehen ihm aber auch ausgezeichnete Instrumentalisten zur Verfügung. Wie das schmeichelt, wie das schnurrt! Die nächste Überraschung: Er kehrt zu einer fast vergessenen, lange als verpönt geltenden Praxis der Appoggiaturen und reicher Verzierungen bei den Arien zurück. Jede einzelne „Nummer“ klingt anders als gewohnt, frischer, spannender. Das so genannte Briefduett beispielsweise ist kaum wieder zu erkennen, und das im positiven Sinn. Es sind diese erfrischenden, innovativen Ansätze, die diese Aufnahme spannend und sympathisch machen. Aber, auch das ferne Perm ist keine Insel der Seligen, Mozart will und muss gesungen werden! Currentzis verordnet seinen Sängern einen auffallend vibrato-armen Gesangsstil. Das hat leider zur Folge, dass vieles recht steif und kurz klingt, wo es doch die Freiräume der Auszierungen zu nutzen gälte.

Um das Kind beim Namen zu nennen: Das Sängerensemble ist insgesamt schwach, eine so ausgetüftelte, präzise Interpretation verlangt auch nach adäquaten Stimmen. Am ehesten vermag mich noch die Contessa der zwischenzeitlich als schriller Kasper der Barockszene verschrieenen Simone Kermes zu überzeugen, die hier auf alle Mätzchen verzichtet und so etwas wie einen Charakter zu formen versteht. Im Weg steht ihr dabei eine gewisse Steifheit der Stimme, die aber vielleicht vom Dirigenten so gewollt war. Die Schwachstelle der Aufnahme ist eindeutig der Figaro des Christian Van Horn. Da ist einfach zu wenig Substanz, zu wenig Gestaltungswille, immerhin handelt es sich um die Titelfigur. Der Graf des Andrej Bondarenko gefällt da schon etwas besser, aber auch er ist für diesen Macho von Almaviva ein wenig zu brav und unerotisch. Wenig profilieren können sich auch Mary-Ellen Nesi als Cherubin, der es an Wärme im Ausdruck, und Fanie Antonelou als Susanna, der es an Farbe und Volumen fehlt. Die vielleicht zentrale Stelle, der magische Moment von Susannas „Giunse alfin il momento“ verschenken Sopran wie Dirigent gleichermaßen. Schade! Die Comprimari sind durchaus anständig besetzt, klingen den Hauptpersonen aber fatalerweise zum Verwechseln ähnlich.

Ein Wort zum Booklet: Die etwas vollmundig als De-Luxe-Edition bezeichnete Aufnahme kommt zwar tatsächlich in Form eines dicken Buches daher, enthält aber außer einem interessanten Interview mit dem Dirigenten und dem viersprachigen Libretto nichts. Keine Fotos der Sänger, keine Biographien, kein Foto des schönen klassizistischen Theaters von Perm, in dem die Einspielung entstand. Das ist für eine Vollpreis-Aufnahme bei einem großen Label schon etwas kümmerlich. Diese Einschränkungen schmälern natürlich den Gesamteindruck, machen aber doch sehr neugierig auf die bereits eingespielte Così fan tutte und den geplanten Don Giovanni. Vom Dirigat her eine deutliche Bereicherung der Figaro-Diskographie!

Peter Sommeregger

 

 

 

Maria José Siri

Sie wurden in Uruguay geboren und sind dort aufgewachsen. Wie ist Ihr Weg von dort bis hin auf die großen internationalen Bühnen verlaufen? Uruguay ist ein fruchtbares Land, wenn es darum geht, neue Stimmen hervorzubringen. Mein Gesangsstudium habe ich zu einem für die dortige Kultur weniger vorteilhaften Zeitpunkt begonnen, alle Opernhäuser Uruguays waren damals geschlossen. Ich habe zunächst in Produktionen im Ausland mitgewirkt, anfangs im Chor. 2005 hat eines der Opernhäuser meines Heimatlandes überhaupt erst wieder den Spielbetrieb aufgenommen und 2010 ein weiteres. Während der ersten Jahre meines Studiums und meiner professionellen Laufbahn musste ich zwischen Buenos Aires und Uruguay pendeln – in Buenos Aires habe ich studiert und meine ersten Schritte auf der Bühne gemacht. Da ich mich stimmlich weiterentwickeln wollte, habe ich an Wettbewerben im Ausland teilgenommen, nachdem ich schon ein paar in Uruguay und in anderen Ländern Südamerikas gewonnen hatte. Die Wettbewerbe gaben mir die Möglichkeit in Europa zu reisen, mir Opernvorstellungen anzusehen, andere Sänger dort kennenzulernen, an Meisterklassen teilzunehmen und vor allem meinen Blick für die dortige Opernkultur im Allgemeinen zu schärfen.

als Tosca/Siri

als Tosca/Siri

Ich habe dann einige Wettbewerbe in Europa gewonnen. Bei manchen war der Preis eine Partie in einer Opernproduktion – ich konnte es mir allerdings damals nicht leisten, nur für ein paar Vorstellungen aus Uruguay anzureisen – vor allem nicht ohne Gage. Im Jahr 2006 habe ich in Dresden den für mich wichtigsten Wettbewerb gewonnen: die Competizione dell’Opera. Anschließend bin ich aus persönlichen Gründen nach Italien gezogen, habe dort eine Agentur gefunden und 2008 in Puccinis Le Villi debütiert. Das war mein Durchbruch und von diesem Zeitpunkt an an kam es zu Zusammenarbeiten mit etwa Franco Zeffirelli, Graham Vick, Daniel Barenboim, Zubin Metha und vielen mehr.

als Aida/Siri

als Aida/Siri

Unter Ihren Gesangslehrern ist auch die große Ileana Cotrubas. Was konnten Sie von ihr lernen und wie haben Sie die Arbeit mit ihr empfunden? Ileana ist eine großartige Lehrerin, ihre Technik und Kunst habe ich immer bewundert und schon von ihren Aufnahmen viel gelernt, bevor ich überhaupt mit ihr gearbeitet habe. Es war sie, die mich aus dem internationalen Wettbewerb „Montserrat Caballé“ für eine ihrer Meisterklassen mit großem Publikum ausgewählt hat. Dort hat sie mir einen Satz mit auf den Weg gegeben, der mein Schicksal veränderte: „Sie singen das falsche Repertoire, Sie müssen Ihre Stimme finden um dann das für Sie richtige Repertoire singen zu können.“ Die ganze Geschichte ist lang, aber von da an hat für mich damals ein harter Weg begonnen, für den ich jedoch langsam immer mehr belohnt wurde. Ich höre mir heute noch immer von Zeit zu Zeit die Aufnahmen meiner Gesangsstunden mit ihr an. Die wichtigsten Dinge, die ich von ihr mitgenommen habe, sind Respekt, Passion und Liebe für diesen Beruf. Ich bin ihr sehr dankbar. Als ich an der Wiener Staatsoper als Tosca debütiert habe, hat mich der Gedanke, dass sie im Publikum war, sehr nervös gemacht. Nach der Vorstellung habe ich schon in meiner Garderobe gehört, wie ihre Stimme den Korridor füllte – und wusste gleich, was sie über die Vorstellung dachte. Je härter ein Lehrer ist, desto eher schafft er es, das Beste aus einem Künstler herauszuholen, vor allem wenn es sich um einen Menschen handelt, der nie locker lässt, wenn er einen Traum hat. Komplimente reichen manchmal nicht, das Beste aus einem Sänger herauszuholen.

noch einmal als Tosca mit Massimo Giordani/Cavaradossi/Siri

noch einmal als Tosca mit Massimo Giordani/Cavaradossi/Siri

Dieses Jahr singen Sie die Tosca nicht nur an der Berliner Staatsoper, sondern auch an der Deutschen Oper Berlin, der Oper in Stuttgart und in Istanbul. Wie legen Sie die Partie an? Wer ist Tosca für Sie? Tosca ist eine meiner absoluten Lieblingsrollen. Das Schöne an ihr ist vor allem, dass man viel Weiblichkeit, Fragilität, Sensibilität ausdrücken kann und dass die Partie sehr gut geschrieben sowie reich an Farben und Nuancen ist. Sie ist sehr eifersüchtig, naiv genug, um den Worten eines Baron Scarpia Glauben zu schenken, und im zweiten Akt wird sie zu einer wahren Tigerin, zu einer Frau, die schwere Entscheidungen fällt. Zu einem Wesen, das fähig ist zu töten und dabei fast in eine Art Ekstase verfällt, obwohl ein Mord natürlich gegen ihre moralischen Werte als Christin steht. Es macht viel Spaß eine Rolle zu interpretieren, die so viele Facetten hat.

Neben Puccini und weiteren Verismo-Partien finden sich auch viele der großen Verdi-Heroinen in Ihrem Repertoire. Was verlangt Verdi im Gegensatz zu Puccini von der Stimme? Verismo-Partien erlauben es dem Sänger, sich musikalisch in ganz spezieller Art und Weise, die in anderem Repertoire nicht möglich wäre, auszudrücken. Der Text und der Ausdruck sind wichtiger als die musikalische Linie, da der Schwerpunkt eher im Spiel und der Interpretation liegt. Man muss natürlich trotzdem auf die musikalische Linie achten und auf die Art und Weise, wie man eine Phrase aufbaut und Dynamik einsetzt. Ich finde die Aussage falsch, bestimmte Stimmen können keinen Verdi singen, weil es „Verismo-Stimmen“ sind oder umgekehrt. Der „Verdi-Sänger“ muss sich meiner Meinung nach einfach mit dem auseinander setzen, was der große Meister geschrieben hat. Das Wort ist immer wichtig , aber die Gesangslinie, das Legato, wie man Töne ansetzt und die Tonproduktion an sich, die Spitzentöne und Kadenzen sind besonders wichtig und müssen mit besonders großer stilistischer Sorgfalt behandelt werden, wenn man von „Verdigesang“ sprechen will. Ich denke nicht, dass die Stimme an sich entscheidend ist wenn es darum geht, Verdi- oder Verismo-Partien gerecht zu werden, sondern vielmehr die Art und Weise, wie der Sänger die Stimme einsetzt.

als Maddalena mit José Cura/Andrea Chénier/Siri

als Maddalena mit José Cura/Andrea Chénier/Siri

Bisher haben Sie von den frühen Verdi-Partien nur die Lucrecia in I due Foscari interpretiert. Gibt es weitere Pläne in dieser Richtung? Masnadieri, Jérusalem, Giovanna d’Arco? Oder gar Attila, Macbeth, NabuccoMomentan bleibt es, was frühen Verdi angeht, bei I due Foscari. Mir wurden einige der oben erwähnten Partien angeboten, aber momentan will ich mein Repertoire nicht in diese Richtung erweitern. Neue Verdi-Partien werden die Desdemona in Otello, Elisabetta in Don Carlo und Elena in I Vespri Siciliani sein. Was frühen Verdi angeht würden mich eher Werke wie Giovanna d’Arco, Il Corsaro oder I Masnadieri reizen, nicht Nabucco oder Macbeth.

Maria José Siri/Siri

Maria José Siri/Siri

Und Belcanto? Zum Beispiel Norma? Das ist eine gute Frage, mit der Norma habe ich mich bisher noch nicht wirklich beschäftigt und habe Belcanto im Allgemeinen bisher auch noch nicht auf der Bühne gesungen. Als ich studiert habe, habe ich Arien aus Lucia, Sonnambula und so weiter gesungen, aber nie ganze Belcanto-Partien auf der Bühne. Ich würde das jedoch gerne probieren und falls ein Opernhaus bei Belcanto einmal an mich denken sollte, würde ich das sicher gerne machen. Ich denke eigentlich, dass eine Norma früher oder später kommen wird.

 

Haben Sie je ans deutsche Fach gedacht? Salome oder Wagner-Partien wie Senta oder Sieglinde? Ja, daran habe ich schon gedacht, aber ich würde gerne erst mein Repertoire mit weiteren italienischen Partien erweitern.

als Violetta/"La Traviata"/Siri

als Violetta/“La Traviata“/Siri

Welche Auftritte und neue Partien sind in Zukunft geplant? In welche Richtung wollen Sie Ihr Repertoire entwickeln? Gibt es spezielle Partien, die Sie unbedingt singen wollen? Ich würde wirklich gerne französisches Fach singen, mein Traum wäre eine Thais, eine Marguerite in Faust oder dramatischere Massenet-Partien wie die Chimène in Le Cid. Ich habe bereits eine wunderbare französische Partie gesungen, und zwar die Rachel in La Juive, die ich gerne öfter machen würde. Mozart liebe ich ebenfalls sehr und würde gerne öfter Mozart-Partien singen, das ist wie eine Erholungskur für die Stimme. Aber auch hier liegt die Entscheidung letztendlich nicht bei mir, sondern bei den Opernhäusern. In Zukunft steht bei mir vor allem Verdi und Puccini im Kalender, und bei diesen Komponisten fühle ich mich stimmlich auch besonders wohl.

 

www.mariajosesiri.com

Ingrid Bergman zum 100.

Keine leichte Lektüre. Mehr als drei Kilo schwer. Nichts für die Badewanne. Es braucht einen Extra-Tisch, um das Buch aufzuschlagen. Eine würdige Publikation für Ingrid Bergman, eine der großen Diven des vergangenen Jahrhunderts, die im kommenden Jahr ihren 100. Geburtstag feiern würde. Kaum eine der Leinwandgöttinnen dürfte häufiger fotografiert worden sein – ausgenommen natürlich ihre Landsmännin Greta Garbo. Obwohl die ebenfalls in Stockholm geborene Garbo nur zehn älter war, könnte man meinen, es lägen Jahrzehnte zwischen ihr und Ingrid Bergmann.

Liv Ullmann, die in dem Mutter-Tochter Drama Herbstsonate, dem letzten Kinofilm der Bergmann (gefolgt nur von der Fernsehproduktion über Golda Meir), ihre Tochter gespielt hatte, meinte, „auch wenn sie meist von Menschen umgeben war, spürte ich bei ihr eine Aura innerer Einsamkeit. Ingmar (Bergman) empfand sie ebenso ..“. In einigen der annähernd vierhundert Fotos in diesem Buch ist diese Einsamkeit, eher vielleicht Unnahbarkeit und Distanz („Ich habe mich nie verloren in der Rolle, die ich gespielt habe, egal, welche“.), deutlich zu spüren, was auch mit dem Star-Sein zusammenhängt („Ich weiß, dass ich ein wandelndes Abbild bin. Wenn ich zum Beispiel mit anderen Leuten im Lift stehe, dann reden sie über mich, als wäre ich gar nicht da… Offenbar denken sie, ich wäre auch in dem Moment nur ein Leinwandportrait“), doch viele der wunderbaren, aus dem persönlichen Nachlass der Schauspielerin stammenden Fotos, unter Hilfe der Kinder, vor allem Isabella Rossellini und Roberto Rossellini jun., ausgesucht, zeigen auch eine andere Seite der Schauspielerin. Das Ergebnis ist ein kostbarer, geradezu luxuriös konzipierter und geschmackvoller Band mit einem Vorwort der Ullmann, dem berühmten Interview, das der Filmhistoriker John Kobel 1972 auf der Bühne des National Film Theater in London mit ihr führte, und knappen Einführungen zu den sieben Kapiteln: Schweden 1915-39, Hollywood 1939-45, Kriegsende in Europa/ Neue Horizonte 1945-49, Der Skandal: Die Verbindung mit Rossellini 1949-55, Loslösung und Trennung 1956-57, Neue Karriere – Neues Glück 1958-65 und Theater und späte Filme, Krankheit, Abschied und Tod 1965-82.

In dem Interview mit Kobel erleben wir eine direkte, spontane und ehrliche Bergmann,  die sich selbst mit kritischer Distanz betrachtet,  „..andrerseits bin ich auch überrascht, dass Casablanca ständig wieder zu sehen ist, ebenso wie viele andere alte Filme, ob im Fernsehen, in den Cinematheken oder im Filmmuseum. Damals dachte man nach einen Dreh, so, das war’s, und gab den Filmen sowieso keine Zukunft. Zu meiner Zeit in Hollywood waren alte Filme tot und vergessen“.  Allerdings hatte sich schon die jugendliche Bergman, die mit zwölf Jahren Waise geworden war, selbstinszeniert und in diversen Posen fotografiert, die den Porträts des späteren Stars nicht unähnlich sind, deren erstes kunstvolles Starfoto von der 21jährigen aus Intermezzo stammt. Aus vielen Fotos spricht Bergmans Klarheit und unprätentiöse Art und Wärme, sei es hinter dem Filmset, mit ihren Regisseuren und Filmpartnern, der Familie oder mit Freunden. Auf späteren Bildern scheint sie besonders gelöst, beispielsweise als sie in London Theater spielte, und bekannte, diese Wochen gehörten zu den glücklichsten ihres Lebens. Ein großartiges Buch, ein Schatz.

R. F.

Isabella Rossellini & Lothar Schirmer (Hrsg.), Ingrid Bergmann. Ein Leben in Bildern. 528 Seiten, 385 Abbildungen, Schimer/ Mosel Verlag,