Diskographisch gesehen sind das Beste am Wagner- und Verdi-Jahr vielleicht die vielen, wunderbaren Veröffentlichung der Werke Benjamin Brittens, der ebenfalls ein Jubilar des Jahres 2013 war. Neben der Decca, die diverse Boxen mit Werkgruppen Benjamin Brittens herausbrachte, die zeitgenössisch entstanden und auch den Pianisten und Dirigenten Britten nicht vergaßen, sind auch bei der EMI entsprechende Sammelboxen erschienen, hier allerdings vornehmlich mit Aufnahmen, die nach dem Tod des Komponisten entstanden.
Die Sammlung Choral Works & Opera for Children (auf 7 CDs) enthält dabei eine ganze Reihe von Raritäten. Brittens Interesse für Poesie und Sprache fand neben seinen Opern in seinem reichen Werk für den Chor besonderen Ausdruck. Die Adaptionen und Transformationen der Texte zeugen von seinen beachtlichen künstlerischen und intellektuellen Fähigkeiten. Doch außer dem War Requiem ist hierzulande davon kaum etwas bekannt. Selbiges ist in der packenden, fein ausgehörten 1983er Aufnahme unter Simon Rattle mit seinem City of Birmingham Symphony Orchestra & Chorus enthalten. Eine noch immer gültige Interpretation, in der Elisabeth Söderström, Robert Tear und Thomas Allen mit großer Suggestionskraft und Emotionalität fesseln. Kontrastierend dazu folgt Brittens zweites großes chorsymphonisches Werk in André Previns effektvolle Lesart von 1978, die Spring Symphony (mit Sheila Armstrong, Janet Baker und abermals Robert Tear). Ein Vielzahl unterschiedlicher Chorwerke, die bekanntesten darunter darunter sind A Ceremony of Carols, Rejoice in the Lamb oder Sacred and Profane, zeigen, wie sehr Britten auch in der englischen Chortradition verankert war. Mit The Little Sweep und Noye’s Fludde ist die Gattung der Kinderoper in zwei mustergültigen Produktionen unter Philip Ledger bzw. Richard Hickox vertreten. Die interessanteste Entdeckung jedoch ist The Company of Heaven, ein kantatenähnliches Opus, das Britten 1937 als eine Art Radiomusik für die BBC geschrieben hat. Philppe Brunelle hat dieses völlig vergessene Werk 1989 in einer Konzertversion mit dem English Chamber Orchestra aufgenommen (EMI 0151562).
Britten & Pears. A unique musical cooperation ist Titel und Programm zugleich für eine 10-CD-Box von United Classics, die sich dem Zusammenwirken der beiden Künstlerpersönlichkeiten widmet. Der Tenor Peter Pears war Brittens Muse und eine große Anzahl seiner Werke schrieb dieser für seinen Lebenspartner. Ein hervorragender, ausführlicher Essay im Beiheft beleuchtet die verschiedenen Aspekte dieses gegenseitigen künstlerischen und privaten Befruchtens als Interpret, Komponist und Lebensgefährte – in einer Zeit, als Homosexualität in Großbritannien strafbar war. Nahezu vierzig Jahre lang, bis zu Brittens Tod, währte diese besondere Künstlerpartnerschaft. Sieben Liedzyklen, zwölf Opernrollen, fünf Canticles und sieben Orchesterwerke mit Tenor schrieb Britten in diesen Jahren für Peter Pears. Pears’ musikalische Intelligenz und die sinnlichen Farben seines charakteristischen Tenors inspirierten Britten. Pears auf der anderen Seite fand in Britten jemand, der für seine speziellen Bedürfnisse komponierte und zudem eine kongenialer Begleiter am Klavier und auf dem Dirigierpodium war. Es ist unzweifelhaft eine der großen Künstlerpartnerschaften des 20. Jahrhunderts. Diese Zusammenstellung gibt einen wunderbaren Überblick über die verschiedenen künstlerischen Aspekte dieser einmaligen Partnerschaft.
Zudem vereint diese verdienstvolle Kompilation einige längst vergriffene Aufnahmen, darunter die intensive 1946er Aufnahme von The Rape of Lucretia unter Reginald Goodall (mit Kathleen Ferrier) und die nicht minder fesselnde 1954er Produktion von The Turn of the Screw unter der Leitung des Komponisten und der wunderbaren Jennifer Vyvyan als Gouvernante. Geradezu betörend sind die frühen Liedaufnahmen Peter Pears’ aus den 1940ern mit einem feinsinnigen Britten selbst am Klavier. Frühe Aufnahmen der Simple Symphony von 1939 und der Variations on a Theme of Frank Bridge von 1938 unter Boyd Neel haben sich als ‚themenfremde’ Raritäten auf die 9. CD geschlichen. Aber auch Malcolm Sargent und Edmund von Beinum sind als frühe Britten-Interpreten vertreten. Schon die Eröffnungs-CD mit der Saint Nicolas-Kantate in einer Aldenburgher, vom Komponisten geleiteten Einspielung von 1955 atmet eine ganz besondere Aura des Authentischen. Tatsächlich schafft es diese wunderbare Box, einen Einblick in jene besondere Schaffensphase bis etwa Mitte der 1950er Jahre zu geben, aus der die Aufnahmen stammen. Eine höchst interessante Hörerfahrung, die so manche Vordergründigkeit moderner Britten-Interpretationen relativiert (United Classics T2CD 2013017).
Britten’s Endgame heißt die zweistündige BBC-Filmdokumentation von John Bridcut, die sich den letzten Jahren Benjamin Brittens widmet, in denen er sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte. Freunde und Mitarbeiter sowie bekannte Britten-Interpreten kommen dabei zu Wort und zeichnen das Bild eines an seinen eigenen Kräften zehrenden, herzkranken, disziplinierten Komponisten im Schaffensrausch. Brittens letzter Oper, dem auf Thomas Manns Erzählung basierenden Death in Venice, sowie Phaedra und dem Dritten Streichquartett werden dabei besonderes Augenmerk geschenkt, autobiographische Spuren darin aufgespürt und die Frage nach der besonderen Aura ‚letzter Werke’ diskutiert. Künstlerische Schöpfung im Angesicht des Todes, könnte man als einen der Hauptstränge dieser faszinierenden Dokumentation herausstellen und würde dabei doch zu kurz greifen, denn John Bridcut gelingt in seinem immer wieder auch sehr persönlichem Filmporträt mehr, wenn er allgemeingültig Fragen von Jugend und Alter mit Schöpfungsprozessen verbindet oder künstlerische Krisen und Lebenskrisen in Beziehung setzt. Auch deshalb ist dies ein sehenswerter Film, nicht nur für Britten-Fans. (PS: Der Film ist in englischer Originalfassung erschienen und enthält weder eine deutsche Tonspur noch Untertitel/Decca 074 3861).
Moritz Schön