Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Geht ans Gemüt

 

Und noch eine Stimme, die ans Gemüt geht – Lorraine Hunt Lieberson, die vor nicht langer Zeit an Krebs verstarb, zählte nicht nur zu Amerikas besten und nachdrücklichsten Mezzo- Sopranistinnen (Foto PB), die mit ihrer intensiven Berlioz-Didon oder ihren Händel-Heroinen hohe Maßstäbe gesetzt hat. Bei Philharmonia Baroque ist ein weiteres bedeutendes Dokument von ihr erschienen: Les nuits d´été von Berlioz und Händel– Arien unter Nicolas McGegan mit dem Philharmonia Baroque Orchestra. Außer von Janet Baker habe ich den Berlioz-Zyklus so intensiv noch nie gehört, und die vielfarbige, pastos-kompakte Stimme der Hunt erklingt unvergesslich über die Zeit herüber (PBP-01; philharmonia.org).

Und auch ihre Stammfirma harmonia mundi hat sie noch einmal mit einem Doppelabum geehrt (HMU907471/2): A Tribute mit viel Händel, Purcell und Bach aus ihren bisherigen Aufnahmen unter McGegan, ebenfalls ganz wunderbar!

G. H. 

High Camp im 1. Bezirk

 

Kaum zu glauben, aber „Peter‘s Operncafé Hartauer“ im 1. Wiener Gemeindebezirk kann– allen Veränderungen und städtebaulichen Entwicklungsmaßnahmen der österreichischen Metropole zum Trotz – auf mehr als 30 Jahre zurückblicken. Die große Martha Mödl, mit der das Café am 25. September 1981 nach der Staatsopernpremiere von Friedrich Cerhas Oper Baal eröffnet wurde (Foto oben/Jansky), ist nicht mehr, ebenso wie viele der großen Stars der Oper der Nachkriegszeit, die hier mit Autogrammen und Photographien an den Wänden verewigt sind: Ljuba Welitsch, Rita Streich, Leonie Rysanek und viele andere mehr. (Um keinen falschen Eindruck zu erwecken, es gibt auch Photographien von Alfredo Kraus und Franco Corelli, aber die von Martha Mödl sind einfach am größten.) Im Operncafé sind sie durch ihre Aufnahmen lebendig geblieben, abends spielt der Betreiber (österreichisch: Cafétier) Peter Jansky die Schätze aus seiner Schallplatten- Tonband- und CD-Sammlung für seine Gäste. Es sind wahre Trouvaillen darunter, selten zu hörende Live-Mitschnitte und Aufnahmen, von denen man gar nicht wusste, dass es sie gibt – beispielsweise von der unvergessenen Hilde Güdendargebotene Kinderlieder. Letztere ist übrigens ein Genuss für alle Freunde des High Camp.

Legende und Hausheilige Luba Welitsch mit Peter Jansky/Foto Jansky

Legende und Hausheilige Luba Welitsch mit Peter Jansky/Foto Jansky

Es ist das Vorrecht älter werdender Menschen, Veränderungen wahrzunehmen. In „Peter‘s Operncafé“ gibt es immer wieder Gelegenheit festzustellen, wie reich die letzten Jahrzehnte des Operngesangs waren. Wer kann heute noch auf gleichzeitig frivole und geschmackvolle Weise eine Operettenarie perlen lassen, wie Rita Streich es konnte? Bei wem hört man rasendes, vom eigenen Erleben geprägtes Singen wie bei Leonie Rysanek? Wo erfährt man eine Wahrhaftigkeit des Singens wie bei Martha Mödl? Tempi passati. Auch in Wien haben sich die Zeiten verändert: Elina Garanca und Anna Netrebko sahen in der diesjährigen Staatsoperninszenierung von Anna Bolena zwar aus wie Supermodels (sogar ein gestrenger Kritiker wie Jürgen Kesting wurde darob altersmilde), aber die beiden wirkten weniger wie Damen vom Hofe denn wie freundliche Hostessen, die sich bei ihren Gästen erkundigen, ob Wein oder Bier gewünscht wird. Die einzig wahren Töne waren von Anna Netrebko zu hören, als sie „Guidici ad Anna“ sang – und da dachte sie wahrscheinlich gerade an ihre nächste Vertragsunterzeichnung.

In einem Gedicht von August Kopisch heißt es: „Ach dass es doch wie damals wär, doch kommt die schöne Zeit nicht wieder her.“ Es ist wahr, diese Zeiten werden sich nicht wiederholen und gerade darum ist es wundervoll, dass es „Peters Operncafé Hartauer“ gibt, um sich diesen Erinnerungen voller Empathie hingeben zu können: Dem Empfindsamen öffnet sich eine ganze Erlebniswelt. Da die Damen und Herren Kammersänger beileibe keine unnahbaren Götter waren, bekommt der Gast zwischen zwei Achteln Zweigelt auch die ein oder andere Anekdote des Hausherrn aus erster Hand präsentiert. Doch das Besondere und das besonders Schöne an Peter Jansky ist, er blickt zwar zurück und kümmert sich um das Andenken der von ihm Verehrten – die Sammlung für den Grabstein fürLjuba Welitsch, der „Salome des Jahrhunderts“, etwa ist seiner Initiative zu verdanken –, doch er hat sich auch lange Jahre seines Lebens dem Nachwuchs gewidmet, nicht zuletzt durch zahlreiche Sängerwettbewerbe.

Das ist der eigentliche Wesenskern des Traditionalisten: Er bewahrt, um daraus Neues entstehen zu lassen. In diesem Sinne wünschen wir alles Gute zum Jubiläum und allen Gästen noch viele wunderbare Jahre mit Aufnahmen aus der Welt der Oper von gestern und heute im einzig wahren (Opern-)Kaffeehaus von Wien (ab 19 Uhr in der Riemergasse 9, 1010 Wien, Tel.: 0043 1 512 89 81, www.petersoperncafé.at)

Christoph Dompke

 

(Christoph Dompke  lebt als Musikwissenschaftler und Journalist in Berlin, ist Autor verschiedener Publikationen und hat ein breites Comedy Publikum mit seiner Kunstfigur „Frau Emmi“.)

Schwungvolles Jugendwerk

 

Nach einigen Seufzern über die Besetzungspolitik der Opera Rara in jüngerer Zeit freut sich der Rossini-Fan über den neuen Aureliano in Palmira (wenngleich auch dieser wieder mal eine der üblichen Doubletten bereits bestehender weiterer Aufnahmen des Repertoires darstellt). Kenneth Tarver in der Titelrolle singt mit rauchig-interessantem Timbre und der nötigen geläufigen Gurgel, Catriona Smith jubelt sich durch die Zenobia, Silvia Tro Santa Fé brustet sich durch die Partie des Arsace, und die übrigen sind unter Maurizio Beninis  erfrischend italienischer Leitung (Danke, Opera Rara!) ebenso kompetent wie stimmungsvoll. Das dicke Booklet erfüllt die üblichen hohen Standards der Firma, die wieder einmal ihr bezauberndes Bonbonkästchen vorlegt und ihrem guten Ausstattungsruf Ehre macht (ORC 46).
Geerd Heinsen

 

Rossini: Aureliano in Palmira. (3 CD) Mit: Kenneth Tarver (Aureliano), Catriona Smith (Zenobia), Silvia Tro Santafé (Arsace), Ezgi Kutlu (Publia), Andrew Foster-Williams (High Priest of Isis), Vuyani Mlinde (Licinio), Julian Alexander Smith (Oraspe). London Philharmonic Orchestra, Dirigent Maurizio Benini. (Opera Rara 0792938004624)

Aus der Revolutionszeit

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Freude bei Freunden der französischen Romantik – der innovative Palazetto Bru Zane hat eine eigene Firma gegründet (bislang erschienen seine Aufnahmen wie zuletzt Catels Sémiramis bei Glossa wegen Hervé Niquet) und legt nun die ersten beiden wunderbaren Früchte der Bemühungen vor – wer hätte (außer ein paar Spezialisten) schon von Rodolphe Kreutzer  gehört?
Sein Mort d´Abel von 1810/1825 unter Guy Van Waas ist mit einer kompetenten Crew in Liège 2010 aufgenommen worden und liegt nun als dickes Buch mit 2 CDs vor. Leider kein deutscher Text, was ich den Beteiligten übelnehme, stellt doch Deutschland auf dem Markt neben Frankreich den wichtigsten Raum vor. Dennoch – ein wirkliches Ereignis. Das gilt auch für die erste offizielle französische Aufnahme des Amadis de Gaulle von Johann Christian Bach (1779), aufgenommen unter Didier Talpain in Prag – auch hier wirklich gute francophone Sänger und ein luxuröses Buch dazu mit zahlreichen Aufsätzen zum Thema – was leben wir in guten Zeiten.

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Und bei Glossa ist eine weitere Perle des erregenden französischen Repertoires der Revolutionszeit erschienen: Catels Oper Sémiramis unter der Gallionsfigur Henri Niquét, der jüngst in Nürnberg beim Gluck-Festival Vogels Toison d´Or aufführte (das ebenfalls bei Glossa erschien). Die spannungsvolle Musik der Übergangszeit zur Klassik ist von immensem Drive, von atemlosen Schüben der Emotionen, und die bekannte Geschichte der Königin Semiramis in Liebe zu ihrem eigenen Sohn (wie man sie ja auch von Rossini kennt) erfährt bei Catel eine packende Umsetzung. Gesungen wird mit Maria-Riccarda Wesseling, Gabrielle Philiponet, Mathias Vidal, Andrew Foster-Williams und Nicolas Maire weitgehend ebenso, zumal Niquét am Pult seines Choeur et Orchestre du Concert Spirituel in der Aufnahme aus Montpellier 2011 für flotte Tempi sorgt – außerordentlich habenswert (GCD 921025)/ Abb. Kreutzer von Riedel/ Wikipedia). G. H.

Karel Mirys Oper „Charles Quint“

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Hat je irgendwer von Karel/Charles Miry gehört? Das Online-Label 401dutchoperas hat das Konzert aus Gent vom April 2012 (Lyrica Gent unter Geert Soenen mit sehr kompetenten Solisten) mitgeschnitten und im Online-Download zum niedrigen Preis angeboten (s. unten). Es hat damit einen wirklich absolut unbekannten Komponisten zur Diskussion gestellt, der an Auber erinnert, die Grand Opéra Gounods anklingen lässt und wie ein Seismograph die (französischen) Opern der Zeit anzeigt. Der flämische Anteil Belgiens reklamiert ihn natürlich für sich, aber dennoch ist der in Gent am 14.8.1823 geborene und am 3.10.1889 eben hier gestorbene französisch (i.e. in Paris) ausgebildet worden, wenngleich der überwiegende Teil seiner Kompositionen vor allem im heiteren Sujet seiner eigenen Sprache verpflichtet ist. Die Auflistung bei Wikipedia ist in sofern kompliziert, als sie – ganz opportunistisch – die Titel nur in flämisch wiedergibt,

Karl V. mit seiner flämischen geliebten Johanna van der Ghest und ihrer gemeinsamen Tochter Johanna/Gemälde von Canéel/Museum Gent

Karl V. mit seiner flämischen geliebten Johanna van der Ghest und ihrer gemeinsamen Tochter Johanna/Gemälde von Canéel/Museum Gent

Charles V ist dennoch defintiv eine französischsprachige Oper ganz in der französischen Tradition. Der Sprachen- und Kulturstreit Belgiens wirft auch hier seinen Schatten auf die Dokumentation. Charles V war König von Frankreich (1500-1558), und die Handlung der von Miry vertonten Oper dreht sich um den Aufstand von 1537, als die Bevölkerung von Gent (das heutige Belgien gehörte in großen Teilen zuFrankreich) gegen die Fremdherrschaft durch die Franzosen aufstand und ihm den Tribut für seinen Krieg verweigerte, da ohnehin schon Hungersnöte im Lande herrschten. Charles unterdrückte den Aufstand und ließ die Aufständigen hinrichten. Der Librettist und Onkel Mirys, van Peene, führt eine fiktive Figur, den Tapisseriehändler van Gehst, ein, und der Konflikt zentriert um Charles’ Liebe zu Johanna van Gehst, dessen Tochter, die zudem – historisch belegt als Johanna van Gheynst – 1521 eine uneheliche Tochter mit Charles hatte.

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Es ist bezeichnend für einen nationalbewussten Flamen jener Zeit, ein Sujet zu wählen, das mit der wechselvollen Geschichte Belgiens zu tun hat, mit der Unterdrückung durch die Franzosen, später durch die Spanier – eben ein Land, das auch heute wegen der sprachlichen Zweigeteiltheit nicht zur Ruhe kommt. Insofern war die Aufführung in Gent 2011 auch ein politisches Signal. Aber einem Komponisten jener Zeit, zumal aus dem brabantisch/ flämischen Raum, blieb nur Paris als Ausbildungsstätte.

Nach ersten Unterweisungen in Gent selbst, dann in Brüssel am Königlichen Konservatorium ging der junge Miry mit einem Stipendium der Stadt nach Paris an das Conservatoire und kam um 1840 zurück in seine Heimatstadt. Er revanchierte sich für deren Großzügigkeit mit seiner „Gent Symphonie“ und bekam einen Posten als zweiter Dirigent an der Oper. Sein erstes Bühnenwerk ebendort entstand auf Anraten seines Onkels und späteren Librettisten Hippolyte van Peene (Eeen man te trouwen, 1845) in regionalem Dialekt, durchaus bedeutend in Hinsicht auf die nationale Unruhe im Flandern. Bis zum Charles V folgten weitere Werke in Flämisch, durchaus diese Stimmung unterstützend, so dass später Mirys ungeheuer populäres Lied Der flämische Löwe 1871 die Wahl zur Nationalhymne gewann. In der Folge dieser Popularität schrieb Miry 1856 seine Oper La Belgique ou la Règne de vingt ans wieder auf das Libretto von van Peene zum 25.Jubiläum der Regentschaft König Leopolds. 1864 folgte nun Charles V und war ein absoluter Erfolg. Miry war als nationaler Komponist etabliert. 1871 wurde das Genter Konservatorium zum Königlichen erhoben und Miry zum Direktor bestellt, ebenfalls in diesem Jahr übernimmt er auch die Position des Nationalen Inspektor der Musikinstitute und macht sich unschätzbare Verdienste um die Förderung der musikalischen Erziehung in Belgien.

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Im Ganzen muss ihm eine große Bedeutung für das Musikleben Belgiens in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts zugesprochen werden, seine Vertonungen von flämischen Texten machte ihn zum Leuchtturm flämischer Musikkultur, und seine Nationalhymne lässt ihn bis heute unvergessen sein.
In musikalischer Hinsicht sieht das vielleicht ein wenig differenzierter aus. Natürlich borgte Miry heftig von den französischen und italienischen Vorläufern und Zeitgenossen. Und ich selber finde Charles V in dieser Hinsicht keine wirklich genuine Oper, sondern eben ein Konglomerat und Seismograph der herrschenden Strömungen, zudem auch im Duktus nicht sonderlich individuell. Dennoch – er war der erste belgische Komponist, der flämische Libretti in Musik setze, der folkloristische Elemente in seine Opern integrierte, der versuchte, eine nationale (in diesem Sinne eben flämische) Musiksprache zu finden. Darin war er ein wirklicher Pionier und Vorläufer Peter Benoits, der deutlicher für die Flamen sprach. In Mirys Fall scheint es, als ob dieser weniger nationalistische als vielmehr literarische Inspiration aus den flämischen Texten bezogen hat. Er war kein Anti-Franzose, wandte sich niemals gegen die französische Sprache und Kultur und schrieb ein beträchtliches Quantum seiner Werke in eben dieser Sprache, namentlich die opéras comiques.

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Im Konzert: Vincent Bertrand, Amaryllis Gregoire und Dirigent Geert Soenen/401dutchoperas.nl

Im Konzert: Vincent Bertrand, Amaryllis Gregoire und Dirigent Geert Soenen/401dutchoperas.nl

Miry war ein Multitalent, wie René Seeghers/Jan Neckers in ihrem Aufsatz in der Beilage zum Charles V betonen, ein Komponist einer Fülle von verschiedenen Genres, von der Operette über die Oper bis zu Liedern, Kantaten, Kirchenmusik, Orchester- und Kammermusikstücken, Kinderliedern – was ihm wegen seines Engagements für die Jugend- Musikerziehung besonders am Herzen lag. Und so ist es kein Wunder, dass sich diese Junge Firma 401dutchoperas, unter der Ägide der beiden genannten Musikwissenschaftlern und Autoren der Förderung der belgischen Opern- und Gesangsszene verpflichtet fühlt, eben diese Oper von Karel Miry (eigentlich als Charles Léopold Miry getauft) herausgebracht hat. Es lohnt sich unbedingt, die Website aufzurufen (401dutchoperas.nl), denn neben der erwähnten Oper (die gegen wenig Geld zum downloaden dort steht und auch eine DVD mit Ausschnitten aus dem Genter Konzert bietet) gibt es weitere und vor allem einen ganz fabelhaften Katalog historischer belgischer Sänger, auch diese zu erwerben. Es fehlt hier der Platz, darauf einzugehen, aber für mich war die Begegnung mit diesem Blick auf flämische Musik und Kultur eine enorme Wissenserweiterung – man weiß einfach außerhalb Belgiens zu wenig über diesen kulturellen Aspekt mitten in Europa, wobei ein Blick aus unserem föderativ gut funktionierenden eigenen Land auch Verwunderung ob der Verhärtung im Nachbarland aufkommen lässt, aber wir haben als Deutsche auch nicht dessen Geschichte. Geerd Heinsen

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(Charles V, Grand Opéra in 3 Akten von Charles Léopold Miry auf das Libretto von Hippolyte van Peene, UA Grand Théâtre von Gent 1857, Konzertmitschnitt Gent 2012 mit Amaryllis Gregoire, Denzil Delaere, Vincent
Bertrand, Laurent Kuba und Florence Huchet, Opera-Belcantokoor Liane Soudan, Mannenkoor „De Oudenaardse Zangvereningen“, Symfonisch Jeugorkest Oost-Vlaanderen, Leitung Geert Soenen, download bei 401dutchoperas.com)

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Gott! Welch Dunkel hier!

 

„Gott! Welch Dunkel hier“. Die ersten Worte der Florestan-Arie aus Beethovens Fidelio sind einer großen Dokumentation über den  Neubeginn der Dresdener Semperoper nach dem Ende des Zweiten Krieges vorangestellt – erschienen bei Profil / Hänssler (PH 10007). Treffender kann ein Motto nicht sein. In einer einzigen Nacht war die die als Elbflorenz besungene Stadt, wo Rienzi, Rosenkavalier und Elektra uraufgeführt wurden, in Schutt und Asche gesunken. Unter den Trümmern lagen mindestens 25 000 Tote. Das derart gemeuchelte Dresden hat sich seinem Schicksal nicht klagend ergeben. Es stieg noch Rauch aus den Trümmern als wieder Musik erklang.

Die aus drei CDs und einer DVD bestehende Dokumentation, an der die DEFA-Stiftung, das Deutsche Rundfunkarchiv (DRA) und der MDR beteiligt sind, zeichnet die Stunde null des Dresdener Opernleben genau nach. Mit 240 Seiten hat das elegant gestaltete Textheft Buchformat. Es umfasst Zeitzeugenberichte, Analysen, biografische Details, seltene Fotos, Faksimiles, Bühnenbilder – alles in gestochener Qualität. Auf der DVD ist sogar das Innere der Semperoper vor der Zerstörung im Film zu sehen, es kommen Joseph Keilberth, Christel Goltz und Lisa Otto zu Wort.

Aldenhoff als Florestan

Bernd Aldenhoff als Florestan

So authentisch sind auch die musikalischen Aufnahmen. Es handelt sich ohne Ausnahme um Produktionen bzw. Mitschnitte des Mitteldeutschen Rundfunks aus Dresden und Leipzig, die heute im DRA aufbewahrt werden. Bis auf dem Schlussgesang der Salome mit der Golz aus der berühmten Dresdener Gesamteinspielung dürfte das Gros bislang noch nicht an die Öffentlichkeit gelangt sein. Verdi, der an der Semperoper sehr gepflegt wurde, nimmt breiten Raum ein. Neben Salome ist Christel Goltz die Elisabeth im Don Carlos, Aida, die Leonore in der Macht des Schicksals und Amelia im Maskenball. Gottlob Frick tritt als Procida (Sizilianische Vesper) und als Sarastro auf. Mit seinem hellen Heldentenor ist Bernd Aldenhoff ebenfalls gleich mehrfach präsent – als Othello, Richard/Maskenball und als Radames. Er passt vorzüglich zur Goltz. Kurt Böhme fehlt eben so wenig wie Arno Schellenberg oder Hans Hopf. Eine der großen Hoffnungen der Opernbühne, der Bassbariton Werner Faulhaber, gibt Mozarts Figaro und den Heiratsvermittler Kezal. Keine dreißig Jahre alt, sollte er – kaum, dass die Aufnahmen im Kasten waren – wenig später bei einer Bergwanderung tödlich verunglücken. Tragik umweht auch die Aufnahmen mit der liebenswürdigen, früh verstorbenen Elfriede Trötschel, die als Susanna, Pamina, Mimi und Butterfly ihrem Ruhm gebührend oft zu hören ist. Nicht unerwähnt soll Dora Zschille bleiben, die im Nachkriegsdresden über viele Jahre hinweg das hochdramatische Fach vertrat. Nach ihr ist dort sogar eine Straße benannt. Sie singt die als Gebet bekannt gewordene Arie der Tosca „Nur der Schönheit weiht‘ ich mein Leben“.

Wer immer sich für Oper interessiert, dem sei diese Dokumentation aus dem Hause Günter Hänssler wärmstens empfohlen. Nicht nur wegen der seltenen historischen Aufnahmen in gutem Klang. Nicht nur wegen der schönen Fotos. Die Box, die ohne die Sachkunde und Leidenschaft ihres Herausgebers Steffen Lieberwirth vom MDR und seiner Helfer nicht denkbar ist, weist auf ganz neue Möglichkeiten für den Musikmarkt. Ein Rundfunkarchiv wird geöffnet, seine Schätze gelangen auf ganz legalem Wege dorthin, wo sie hingehören – an die Ohren einer interessierten Öffentlichkeit. Das ist auch Werbung für alle beteiligten Seiten, denn neben den schon eingangs genannten Partnern haben die Semperoper selbst, der NDR Kultur, der Deutschlandfunk, die Sächsische Landesbibliothek sowie die Staats- und Universitätsbibliothek Dresden das Ihre beigesteuert.

Fidelio Dresden

Noch ein Foto aus dem Textheft: Christel Goltz, Gottlob Frick und Elfride Trötschel (von links) in „Fidelio

Die Fortsetzung folgte prompt –  Vol. 2 der Hänssler-Semperoper-Edition (PH10033). Sie ist der Festaufführung von Beethovens „Fidelio“ anlässlich der Eröffnung des Großen Hauses der Staatstheater Dresden am 22. September 1948 gewidmet. Das einstige Schauspielhaus sollte bis zur Einweihung der wiederaufgebauten Semperoper 1985 Spielstätte für Opernaufführungen in der zerstörten Stadt sein. Der Mitschnitt der Aufführung hat sich nicht in Gänze erhalten. Er teilt damit das Schicksal einer späteren Rundfunkproduktion des Werkes in der DDR mit Hanne-Lore Kuhse  in der Titelrolle, von der wenigsten alle Szenen der Leonore noch vorhanden sind. Das ist bei dem frühen Mitschnitt leider nicht so. Die große Arie der Leonore – die Partie wurde von Christel Goltz gesungen – fehlt ebenso wie die Arie der Marzelline (Elfride Trötschel), deren Duett mit Jaquino (Erich Zimmermann), die Arie des Rocco (Gottlob Frick)  und der Gefangenenchor. Ohne Dialoge passt die Musik auf eine CD. Es muss eine packende Aufführung unter Leitung von Keilberth gewesen sein. Alle Mitwirkenden – zu nennen sind noch Aldenhoff als Florestan, Josef Herrmann als Pizarro und Heinrich Planzl als Fernando – sind sich der Bedeutung des großen Augenblicks bewusst. Mit solcher Hingabe dürfte diese Oper selten aufgeführt worden sein. Umso beklagenswerter ist es, dass nicht alles überliefert ist.

Die Entscheidung der Herausgeber, darunter wieder das Deutsche Rundfunkarchiv, der MDR, der NDR und die DEFA für den Torso ist dennoch richtig. Er genügt, um das kulturelle Ereignis in seiner historischen Bedeutung angemessen darzustellen, zumal es – wie vom Label bereits mehrfach praktiziert – eine ergänzende DVD gibt mit Berichten über die Aufführung, Erinnerungen von Zeitgenossen wie der Sängerin Lisa Otto, die seinerzeit in Dresden wirkte. Auch Project director Steffen Lieberwirth kommt zu Wort. Er erzählt die spannende Geschichte der Ouvertüre, die zunächst dem Archivmaterial nicht zugeordnet werden konnte, schließlich aber doch zweifelsfrei identifiziert wurde. Die Handschrift von Lieberwirth ist auch dieser Ausgabe anzumerken.

Rüdiger Winter

 

 

 

 

 

Donizettis „Duca d´Alba“/ II

 

Eine spannende Vorgeschichte hat die neue Aufnahme des Donizettianischen Duca d´Alba, der jüngst an der Vlaamse Opera erstmals im originalen Französisch (ergänzt/neukomponiert von Battistelli) aufgeführt wurde. Eigentlich war der für das Radio- Festival Montpellier 2007 geplant, aber die Edition wurde nicht fertig, und da schwenkte man kurzentschlossen auf die bekanntere italienische Version von Salvi um, wie sie bereits Maria Vitale bei der RAI 1951 gesungen hatte. Enrique Mazzola (Foto/RFM) leitet seine Kräfte im Duca d´Alba mit avec, kraftvoll und zupackend, wenngleich mit Inva Mula eher eine kleine Stimme für die Amelia bereitsteht. Auch Arturo Chácon-Cruz ist nicht wirklich ein Belcanto-Tenor, schiebt aber doch einen guten Job. Francesco Ellero d´Artegna macht aus der Procida-Partie des Sandoval (fast das gleiche Libretto wie Verdis Vêpres Siciliennes) düsteres Dräuen, und Franck Ferrari ist ein edler, sonorer Graf von Alba und verzweifelter Vater. Es ist schön, endlich eine neue Stereo-Aufnahme dieser Oper zu haben, wenngleich „nur“ in der weniger Donizetti-authentischen Version (Accord 480 0845), während man auf die originale französische weiter warten, und gute Kenntnisse in eben dieser Sprache für die beigelegte und sehr lässliche beigelegte DVD zu Werk und Aufführung haben muss.

G. H. 

Heimliches aus der DOB

 

Die Deutsche Oper öffnet weiter ihre Schränke, Hurra! Nach Don CarlosDon Giovanni und Fidelio kommt nun die Heimliche Ehe Cimarosas in der 1967 gesungenen Popelka-Version. Die Aufführung hat sich gut gehalten – das heutige Auge freut sich an Filippo Sanjusts genialer Szenerie, und Gustav Rudolf Sellners Regie ist noch immer schräg-lustig und erfrischend. Und was für eine Besetzung! Josef Greindl macht aus seinen unitaliensichen Tönen gar keinen Hehl und erschüttert als eitler Papa Geronimo das Zwerchfell, Barry MacDaniel (neben Erika Köth) ist sein wunderbar gesungenes und dazu hochattraktives Selbst, Donald Grobe sein Tenor-Partner wie in hunderten anderer Aufführungen. Lisa Otto zischt resch über die Bühne, und Patricia Johnson als männergeile Tante Fidalma erfüllt alle meine Erinnerungen an sie, was für eine Komödiantin (und bis heute für mich unübertroffene Marcellina!). Lorin Maazel dirigiert wie der Teufel diese in die Beine und die Tränen gehende Aufnahme, die nur in der gewissen schwarz-weißen Gräue ihr Alter nicht verleugnet. Aber welcher Spaß (Arthaus 101 625)!

G. H.

Alles ist Original

Der Dirigent Karl Richter scheint auf dem DVD-Musikmarkt eine tüchtige Lobby zu haben. Und das ist gut so – weil verdient. Nachdem bei Deutsche Grammophon die von ihm geleiteten großen Bach-Oratorien, die Brandenburgischen Konzerte und eine lebensbeschreibende Dokumentation zu haben sind, widmet sich das Label Conventus Musicus akribisch der wichtigsten Schaffensperiode des Dirigenten: Karl Richter in München 1951-1981. Einmal stehen sein Bach-Chor und sein Bach-Orchester im Mittelpunkt (CM 2131), der zweite Titel der kleinen Reihe widmet sich auf zwei DVDs in aller Ausführlichkeit den Solisten, Konzerten und Tourneen (CM 2130). In beiden Fällen ist Johannes Martin der Autor, dem das private Richter-Archiv offen stand. Entsprechend üppig ist die Ernte, die eingefahren wird. Überwältigend die Fülle der Live-Mitschnitte, die in breiten Passagen zitiert werden. Dazwischen erscheinen auf dem Bildschirm ganz seltene Fotos und private Filme, die den nach außen ehr verschlossen wirkenden Dirigenten ungemein locker und gelöst vorstellen. Es kommen Musiker und Sänger (darunter Antonia Fahberg, Hertta Töpper oder Ernst Haefliger) zu Wort, mit denen Richter oft und gern gearbeitet hat – und die allesamt etwas zu sagen haben.

Bei dieser Dokumentation kommen die Macher ganz ohne das heute üblich gewordene Beiwerk und ohne jeden Schnickschnack aus. Nichts wird nachgestellt. Alles ist Original. Hin und wieder fühlte ich mich an eine Diashow erinnert, die jedermann am heimischen PC selbst herstellen kann. Das scheint mir in der Absicht des Herausgebers zu liegen, der sich von filmischer Meterware deutlich absetzen will. Professionalität entsteht durch die Exklusivität des Materials und seiner Ordnung und nicht so sehr durch filmische Raffinesse, bei der der Inhalte schnell zur Nebensache wird. Aber die Zuschauer sollten schon wissen, wer die Fahrberg oder Haefliger sind, um diese DVDs genießen und würdigen zu können.

Rüdiger Winter

Flagstad-Hommage

 

Wie altes Gold leuchtet die Stimme der Kirsten Flagstad auf den späten Aufnahmen der Deccadie nun noch einmal und durch die Norwegischen Hymnen (in einer Radioaufnahme von 1960) ergänzt in einer bedeutenden Box (The Kirsten Flagstad Edition – The Decca Recordings) wiederaufgelegt worden sind. Nach der Indiskretion von Elisabeth Schwarzkopf (die ihr die hohen Cs im Furtwängler-Tristan sang und dann darüber plauderte) und einigen Querelen mit der EMI wechselte die tief verletzte Flagstad zur Decca, für die sie Soundzauberer John Culshaw gewann und für seinen Solti-Ring erwärmen konnte. Bedingung der Flagstad für diesen Wechsel war die Veröffentlichung der in Oslo in der Universität 1956 aufgenommenen Götterdämmerung, was Culshaw zähneknirschend in Kauf nahm, plante er doch einen eigenen Ring. Diese legendäre und lange verschwundene Aufnahme der (fast kompletten) Götterdämmerung unter Olvin Fjelstad mit der Flagstad (das herrliche Foto zeigt sie bei der Aufnahme/Flagstad Museum Hama mit Dank) als Brünnhilde, ihrer Schwester Karen Marie Flagstad, der ganz jungen Ingrid Bjoner und Set Svanholm ist zeitgleich nun bei Naxos (8.112066-69) genial überspielt herausgekommen, die Flagstad im Vollbesitz ihre gestalterischen Kräfte.

Aber es ist die Decca-Box (0028947839309), die auf 11 CDs mit ihren Schätzen die pastose,

Aufnahme zur Götterdämmerung in Oslo

Aufnahme zur Götterdämmerung in Oslo

majestätische und herrlich fließende Stimme wie dunkles Gold aufleuchten lässt – die unübertroffenen, tränenrührenden Grieg- und Sibeliuslieder, Mahlers Lieder, die Wesendoncklieder unter Knappertsbusch, die Wagner-Opern-Ausschnitte, die Vier ernsten Gesänge und Flagstads Würde in den Liedern von Schumann, Wolf oder Strauss, die ganz wunderbaren Geistlichen Arien und Lieder (einschließlich Bortniansky!). Bach und Händel, dazu hinzugekauft Norwegische Hymnen – welche Größe, welch uneitles Pathos. Ich bin mit diesen Aufnahmen aufgewachsen – diese und EMIs Dido und vielleicht auch Deccas Alceste zeigen die Flagstad als das, was sie vielleicht am ehesten war – eine Künstlerin des großen Herzens eher als eine Opernsängerin, wenngleich ich ihre Isolde nicht missen möchte. Was für eine Frau, was für eine Stimme!

Geerd Heinsen

Die ersten Töne vom Grünen Hügel

 

Auf zwölf CDs wird die Besetzung der Werke Richard Wagners auf dem Grünen Hügel bis zum Ende des nachhaltigen Wirkens seiner Witwe Cosima so vollständig wie nur möglich rekonstruiert. Im Zentrum stehen die legendären Aufnahmen der Gramophone and Typewriter Company (G&T), die 1904 in einem Bayreuther Hotel mit dem Ziel entstanden sind, Festspielsänger authentisch zu verewigen. Liegen von einem der Sänger oder einer der Sängerin keine Aufnahmen von in Bayreuth dargestellten Rollen im genannten Zeitraum vor, wird auf spätere Einspielungen beziehungsweise andere Titel, die nicht selten auch weit nach 1906 aufgenommen wurden, zurückgegriffen. Im Idealfalle aber – und das ist zum Glück ziemlich häufig der Fall – hören wir das, was Bayreuthbesucher schon um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vernommen haben.

Johanna Gadski

Johanna Gadski

Das sehr umfangreiche und akribisch angelegte Beiheft – jetzt wesentlich professioneller gedruckt als bei der ersten Auflage – stellt dieses komplizierte Netzwerk einer wissenschaftlichen Arbeit gleich übersichtlich und gut nachvollziehbar dar. Um nur ein Beispiel zu nennen: Leopold Demuth hat den Hans Sachs in Bayreuth gesungen und ist mit dieser Rolle auch dokumentiert, wenngleich der Auftritt 1899 stattfand, die Platte aber erst im Mai 1909 – also drei Jahre nachdem Cosima die Festspielleitung an ihren Sohn Siegfried abgegeben hatte. Ein Blick  genügt, und wir wissen bestens Bescheid und müssen uns fortan nicht mehr durch einen Berg von Bayreuthliteratur, die sich nicht selten als unzuverlässig erweist, arbeiten. Für sich genommen, ist dies schon eine außerordentlich bedeutsame Leistung, die wir dem Herausgeber der Edition Michael Seil zu verdanken haben. Wer ist dieser Mann? Ein Lehrer für Erdkunde aus der Gegend um Heilbronn mit solider musikalischer Grundausbildung, der nebenbei auch noch singt – also „einer vom Fach“, wie er selbst sagt. Das ist ehr untertrieben, denn wir dürfen Seil getrost den Mann vom Fach nennen, wenn es um Wagner aus der Pionierzeit der Schallplatte geht. Die Edition beschäftigte ihn 14 Jahre lang. Das heißt: Er war erst 18, als er damit begann, alte Schellackplatten zusammenzutragen und in ein ordnendes Prinzip zu stellen. Inzwischen füllen diese Platten – wie er es launig ausdrückt – ein „halbes Haus“. Weltweite Kontakte wurden geknüpft, um Lücken zu schließen. Sammler öffneten bereitwillig ihre Archive. Ohne deren Hilfe wäre nicht möglich gewesen, was wir heute in Form dieser Sammlung in Händen halten. Seil weiß diese Unterstützung sehr zu schätzen. Das eigentliche Wunder aber – um im Wort des Anfangs zu bleiben – ist die akustische Qualität der mehr als 300 einzelnen Dokumente von 93 Sängern und vier Dirigenten. Dafür ist Christian Zwarg zuständig, der wie Seil musikalisch ausgebildet ist.

Erik Schmedes

Erik Schmedes

Die Arbeit beginnt damit, dass eine möglichst gut erhaltene Schelllackplatte des jeweiligen Stücks vorliegen oder erst aufgetrieben werden muss, die dann mit der Partitur abgeglichen wird. Ist dieses nicht eben geringe Problem gelöst, braucht es die richtige Abtastnadel – auch eine Wissenschaft für sich. Denn Nadel ist nicht gleich Nadel. Schier unübersehbar ist die Anzahl der Produkte. Die Platte muss schließlich genau zentriert, die richtige Umdrehungszahl – hier gibt es erhebliche Abweichungen – gefunden werden. Das braucht seine Zeit. Berücksichtigt werden wollen die akustischen Bedingungen in den einzelnen Aufnahmestudios. An Hand einer Spektralanalyse werden störende Nebengeräusche herausgefiltert und behutsam entfernt. Mit einer von Zwarg entwickelten Software lassen sich schließlich die bei der Einspielung entstandenen Verzerrungen zurückrechnen. Eine größtmögliche Annäherung an das Original scheint nunmehr gegeben. Besser geht es wohl nicht. Die Altvorderen rücken näher an uns heran. Wir hören sie neu und müssen Eindrücke, die wir aus anderen Sammlungen gewonnen haben, vergessen. Auch wenn das Knistern verschwunden ist, die historische Distanz wird nicht aufgehoben – soll sie bitte schön auch nicht. Sie wird plausibel und zwar in dem Sinne, dass wir uns wesentlich besser vorstellen können, wie damals gesungen wurde. Wichtiger ist allerdings die Frage, warum damals so und nicht anderes gesungen wurde. Auch dafür finden sich in der Edition genügend Beispiele. Richard Wagner zumal hat mit seinen Werken, die sich schon der Genrebezeichnung nach (Handlung, Bühnenfestspiel, Bühnenweihfestspiel etc.) vom Opernschaffen seiner Zeit deutlich abhoben, eine Revolution losgetreten. Was heute oft vergessen wird: Diese Werke sollten und mussten auch anderes dargeboten werden, und sie mussten vor allem deutlich vorgetragen werden, damit sich dem ungeübten Ohr die ganze Tiefe des symbollastigen Inhalts erschloss.

Wort und Ton fanden zu gesteigerter Gleichberechtigung, die es so niemals zuvor gegeben hatte. Deutlichkeit ging über alles. Wir kennen die Zitate.

Ein ganz anderer Gesangsstil musste her. Diese Herausforderung war von Sängern, die nur der Virtuosität verpflichtet und dem Theaterschlendrian des 19. Jahrhunderts verfallen waren, nicht zu leisten. Nur so erklärt sich der Plan für eine Stilbildungsschule, der aber auch deshalb scheitern musste, weil an die Stelle des kühnen Ansatzpunktes alsbald der ignorante Alleinvertretungsanspruch der orthodoxen Bayreuther Ideologen trat. Kurz um: Die Edition vermittelt, wie sich Sängerinnen und Sänger unter den Augen und Ohren der allmächtigen Wagner-Witwe und ihres Adlatus’ Julius Kniese in neuen Ausdrucksform versuchten. Das macht großen Eindruck, wenngleich etliche Versuche übertrieben scheinen und sich zu Recht den schon damals verbreiteten spöttischen Vorwurf der Konsonantenspuckerei verdienen. Wie dem auch sei: Die Sänger der Cosima-Ära haben Grenzen durchstoßen und den Weg zu neuen Ufern des Musiktheaters gewiesen. Die Edition von Zwarg und Seil, die nunmehr beim Label

Ernestine Schumann-Heink

Ernestine Schumann-Heink

Panclassics (PC 10288) neu herausgekommen ist, bleibt uns dafür keinen Beweis schuldig.Und das sind die Sänger: Georg Anthes, Josephine von Artner, Hermann Bachmann, Anna Bahr-Mildenburg, Alfred von Bary, Paul Bender, Rudolf Berger, Theodor Bertram, Willi Birrenkoven, Sophie Bischoff-David, Robert Blass, Emil Borgmann, Marianne Brandt, Ellen Brandt-Forster, Carl Braun, Hans Breuer, Otto Briesemeister, Alois Burgstaller, Peter Cornelius, Lorenz Corvinus, Max Davison, Leopold Demuth, Emmy Destinn, Marie Dietrich, Andreas Dippel, Ernest van Dyck, Emilie Feuge-Gleiss, Katharina Fleischer-Edel, Gertrude Foerstel, Moritz Frauscher, Olive Fremstad, Fritz Friedrichs, Johanna Gadski, Emil Gerhäuser, Carl Gillmeister, Pelagie Greef-Andriessen, Wilhelm Grüning, Ellen Gulbranson, Alois Hadwiger, Frieda Hempel, Agnes Herrmann, Emilie Herzog, Allan C. Hinckley, Luise Höfer, Adolf von Hübbenet, Giuseppe Kaschmann, Hans Keller, Beatrix Kernic, Hermine Kittel, Paul Knüpfer, Marie Knüpfer-Egli, Ernst Kraus, Felix von Kraus, Adrienne von Kraus-Osborne, Frieda Langendorff, Martha Leffler-Burckhard, Lilli Lehmann, Carl Lejdström, Max Lohfing, Dezsö Matray, Richard Mayr, Willy Merkel, Ottilie Metzger, Lillian Nordica, Alois Pennarini, Franz-Josef Petter, Olga Pewny, Thila Plaichinger, Leon Rains, Luise Reuss-Belce, Anton van Rooy, Cäcilie Rüsche-Endorf, Alma Saccur, Ida Salden, Karl Scheidemantel, Robert vom Scheidt, Erik Schmedes, Hermann Schramm, Hans Schütz, Ernestine Schumann-Heink, Katharina Senger-Bettaque, Anton Sistermans, Walter Soomer, Mihaly Takats, Milka Ternina, Josef Tyssen, Fanchette Verhunk, Ernst Wachter, Edyth Walker, Clarence Whitehill, Hermann Winkelmann, Erik Wirl, Konrad von Zawilowski.
Rüdiger Winter

Keiner wie er

 

Für dieses Buch musste der Berliner Musikschriftsteller Einhard Luther nicht in die Archive steigen, Zeitzeugen befragen und alle möglichen anderen Quellen anzapfen. Er schöpft aus seiner ganz persönlichen Erinnerung, seinen  Aufzeichnungen, seinem fotographischen Gedächtnis – kurz, aus dem unversiegbaren Funds seiner langjährigen Freundschaft mit dem Heldentenor Max Lorenz. Der steht im Mittelpunkt des Buches „Keiner wie er“. Der Verdacht, allzu große Nähe zur historischen Person, deren Leben und Wirken eine Biographie zum Gegenstand hat, birgt die Gefahr von Verblendung mit sich, kommt bei Luther gar nicht erst auf. Er wollte ein sehr persönliches Buch über Lorenz schreiben, das nicht nur den Künstler sondern auch den Menschen gebührend heraus stellt. Das ist vorzüglich gelungen. Zunächst lässt der Autor immer die gesicherten Fakten sprechen, die er dann mit viel Fleisch versieht und auch anekdotisch ausschmücken versteht. Zustande gekommen ist ein Buch, das aus dem Vollen schöpft, vor prallem Leben und Sinnlichkeit nur so strotzt.

Luther arbeitet sehr deutlich heraus, dass Lorenz seinen künstlerischen Weg mit einer Entschlossenheit und Unnachgiebigkeit ging wie sie nur den wirklich großen Talenten gegeben ist, weil die Entschlossenheit Teil des Talents ist.

Lorenz hat in dunkler Zeit Aufrichtigkeit und Zivilcourage gezeigt, fest zu seiner jüdischen Frau gehalten und sich wegen seiner Homosexualität nicht erpressen lassen.

Dass er im Dritten Reich dennoch die unangefochtene Nummer Eins in seinem Fach war, ist – und daran besteht nicht der geringste Zweifel – einzig seiner Leistung als Sänger geschuldet. Wagner-Aufführungen wären ohne ihn völlig unmöglich gewesen, so sehr verkörperte er stimmlich wie darstellerisch die tragischen Helden des Bayreuther Meisters. Keiner wie er!

In dem Buch wird das sehr ausführlich und genau geschildert, mit teilweise sehr seltenen Fotos auch üppig illustriert. Mir ist Max Lorenz, dessen Schallplatten einst den Grundstock für die eigenen Sammlung legten, durch die Lektüre noch näher gekommen, und ich habe alle seine Aufnahmen, die allerdings nur einen Abglanz seiner tatsächlichen Wirkung darstellen dürften, wieder gehört. Luther hat mir für manches Detail, manche Rolle, die auf Tonträgern erhalten ist, neue Einsichten beschert. Das geschieht bei ihm nicht akademisch und mit dem besserwisserisch erhobenen Zeigefinger.

Dieser Autor hat eine Lust am Erzählen, kommt wie jeder gute Erzähler vom Hundertsten ins Tausendste.

Einem durchaus ersten Unterfangen wie es die Biographie über einen Heldentenor darstellt, werden auch sehr vergnügliche Seiten abgewonnen. Das machte für mich das Buch so gut lesbar – und am Ende war ich traurig, als ich es durch hatte. Es hätte noch viel länger und umfangreicher sein können. Dennoch hatte ich nicht das Gefühl, dass nicht alles gesagt ist. Einhard Luther entlässt seine Leser in die Neugierde, sich mit neu gefundenen Einsichten dem Sänger wieder stärker zuzuwenden, die Platten und CDs hervorzuholen und das für sich selbst nachzuspüren, was man eben gelesen hat. Andere, die Lorenz weniger gut kennen, werden hoffentlich ermutigt, sich mit einem der letzten Heldentenöre, wenn nicht dem letzten, zu befassen. Der Autor setzt spezielles Insiderwissen nicht zwangsläufig voraus.

Die CD von Preiser

Die passende CD von Preiser

Keiner wie er!  Wie die Überschriften der einzelnen Kapitel, ist auch der Titel des Buches dem Werk Richard Wagners entlehnt. Die jeweiligen Zitate sind durch Faksimiles aus den Klavierauszügen belegt. „Keiner wie er so hold zu werben weiß!“ Mit diesen Worten reagiert der Chor auf der Festwiese der „Meistersinger“ beglückt auf Stolzings Preislied. Genau darauf bezieht sich der Buchtitel. „Keiner wie er“ kommt im Werk Wagners aber noch an einer anderen Stelle vor, nämlich im Schlussgesang der Brünnhilde, als sie Siegfrieds Treulosigkeit beklagt: „Die treueste Liebe trog keiner wie er!“ Zufall? Gewiss. Doch bei Einhard Luther, der die Operndichtungen Wagners bekanntlich nur so aus dem Ärmel schüttelt, kann man sich da nie ganz sicher sein. Das Buch erschien bei Pro Business GmbH, 191 Seiten, ISBN 978-3-86805-409-5. Passend dazu hat das Label Preiser eine CD mit gleichem Titel herausgebracht, auf der Lorenz in seltenen Live-Aufnahmen zu hören ist.

Rüdiger Winter

Rüdiger Winter

 

Rüdiger Winter wollte seit frühester Jugend nichts anderes als Journalist werden. Er ist es geworden und geblieben, hat ein entsprechendes Studium durchlaufen, wünschte sich wie alle Journalisten ganz hoch hinaus und blieb doch immer in den Niederungen des schönsten Berufstandes der Welt unterwegs. Er wäre gern Musikkritiker geworden, der Hörfunk und die Zeitungen – darunter etliche namhafte Blätter – wollten ihn aber immer dort haben, wo sich Menschen ganz unmittelbar angesprochen fühlen – nämlich im Lokaljournalismus.  Der gebürtige Landmensch hat wohl ein besonders Händchen dafür.  So ist die Musik der freien Zeit vorbehalten geblieben.  Und das ist auch gut so. Die Mitarbeit an Operalounge.de, der bereits eine freie Tätigkeit bei einem anderen Opernmagazin voraus ging, ist die späte Erfüllung des alten Wunsches. Richard Wagner, der musikalische Hausgott von frühester Jugend an, hat diese Position bis jetzt behalten. Trotz aller Liebe zu Schubert und Mozart, zu Verdi, Bruckner, Mahler und Sibelius. Die Reihe ist nach hinten offen und endet noch längst nicht mit  Schostakowitsch, Lortzing, Wolf, Strauss, Pfitzner oder Loewe.

Kirsten Flagstad ganz nah

 

Nie war ich Kirsten Flagstad so nahe wie in ihrem Geburtshaus in Hamar. Eineinhalb Eisenbahn-Stunden nördlich von Oslo gelegen, eine schlichte Stadt. Der stattliche Bahnhof, hier und da ein altes Haus, ein Grand Hotel, eine Terrasse unter einer Pergola lassen einstigen Wohlstand erahnen. Inzwischen hat sich eine gewisse Tristesse über Straßen und Plätze gelegt. Das Letzte, woran der Flaneur an diesem abgeschiedenen und uncharmanten Ort im Norden Europas denken würde, ist die Flagstad. Diese hohe Frau, durch und durch Dame wie es sie heute kaum mehr gibt, die nie ohne Perlenkette aus dem Haus ging, den kostbaren Pelz über die Schultern geworden.

Wer sie noch persönlich erlebt hat, spricht zu allererst von der raumgreifenden Wirkung, das ihr Erscheinen hatte. Betrat sie einen Raum – von der Bühne gar nicht erst zu reden – stocke den Anwesenden der Atem. Dabei soll sie sehr herzlich ein einfach gewesen sein.

Flagstad 1

Vor dem Eingang des bescheidenen Geburtshauses steht eine Stele mit der Büste der Sängerin

Herzlich und einfach, das sind die Attribute, die sich hauptsächlich mit ihrem Geburtshaus verbinden, weniger Pelz und Perlenkette. Das einstöckige Holzhaus, etwas abschüssig mitten in der Stadt gelegen, ist keine Villa wie jenes komfortable Anwesen in Kristiansund an der Atlantikküste, das sie auf der Höhe ihres Ruhms bis zum Tod 1962 bewohnte und das den angemessenen großbürgerlichen Rahmen für das glanzvolle Leben dieses Weltstars abgab. In Hamer muss sich der
Gast Kirsten als Kind einer Musikerfamilie denken – der Vater Dirigent, die Mutter Pianistin. Ölgemälde aus späteren Jahren zeigen die Mutter streng, den Vater versonnen und selbstbewusst. Obwohl dieses enge Haus der authentischsten aller Orte ist, das kleine Mädchen, das auf der
engen Stiege zum oberen Geschoss herumhüpft, konnte ich mir nicht vorstellen.

Dafür sind die Devotionalien, die allesamt aus jenen Jahren stammen, als die Flagstad an der Met, an der Scala, in London, Zürich, Paris oder Wien ihre größten Erfolge feierte, zu überwältigend. Sie haben nichts mit den einfachen und schlichten Jugendjahren in diesem Provinznest zu
tun. Sie sind hier untergebracht, weil es sonst keinen anderen persönlichen Ort der Erinnerung gibt. Die Villa in Kristiansund ist verkauft, die Asche ins Meer gestreut. Es gibt kein Grab von Kirsten Flagstad.

Schmuck der Londoner Didon

Diesen Schmuck trug die Flagstad als Purcellsche Dido 1951 im Londoner Mermaid Teatre

Das berühmte Kostüm der Brünnhilde mit Federhelm, Schild und Speer scheint einen der kleinen Räume fast zu sprengen. Zu sehen ist auch, was sie als Isolde, Elisabeth und Kundry trug. Hier wie da ist die allzu große Nähe der Wirkung der Modelle nicht zuträglich. Dies gilt nicht für den Schmuck, den die Flagstad als Purcellsche Dido 1951 im Londoner Mermaid Teatre trug, und der es wenig später auch auf das Plattencover der Studioproduktion von Dido and Aeneas brachte. Diadem, Ohrgehänge und Kette scheinen aus purem Gold gearbeitet. In einer anderen Vitrine glänzt der Pokal, den sie bei der Verabschiedung in der Metropolitan Opera als Alceste mit beiden Armen als strahlende Siegerin hoch hält. Ein prunkvolles Bett, über das ein feiner Morgenmantel und ein Negligé aus feiner Spitze geworden sind, bildet einen grellen Kontrast zur Einfachheit des Standorts.

Diskrete Besucher gehen schnell daran vorbei. Ich jedenfalls möchte nicht wissen, wie Kirsten Flagstad auf dieser Liegestatt geruht hat. Guten Geschmack verraten alle möglichen persönlichen Gebrauchsgegenstände wie Necessaires, Schminkkoffer, das grüne Reiseglas für den Sherry.

Gemälde aus den 30er Jahren

Ein Ölgemälde der Sängerin aus den Dreißiger Jahren

Niemand kann die Fotos zählen, die die Wände fast aller Zimmer übersäen. Sie dokumentieren eine lange Karriere, an deren Anfang nicht Wagner stand sondern das ganz normale Repertoire eines jungen begabten Soprans – einschließlich Auftritte in Operetten wie Vetter aus Dingsda oder Fledermaus. Zeit braucht es, sich in die vielen dicken Bände mit den gesammelten Kritiken, Besprechungen und anderen Veröffentlichungen zu vertiefen. Eine Diskographie, die in den USA
als Dissertation angenommen worden war, leistet das akustische Erbe der
Sängerin, das bekanntlich sehr umfangreich ist, in allen seinen Verzweigungen auf. Verfolgt wird die Veröffentlichungsgeschichte jede Arien, jedes Liedes, jeder Szene. Wann, wo, wie ist welche Aufnahme erschienen? Der Autor erbringt den Beweis, dass dies tatsächlich wissenschaftliche Forschungsarbeit ist und keine aberwitzige Sammlerwut. Die freundliche und kompetente Führung erklärt geduldig. Auf Wunsch werden Platten und CDs aufgelegt. „Mild und leise wie er lächelt….“ Einmal das Geburtshaus von Kirsten Flagstad besuchen! Der lang gehegte Wunsch hat sich erfüllt.

Ich bin zufrieden und tief bewegt. Bin ich auch der Sängerin näher gekommen? Nein. Ich bin ihr ja längst nahe, wenn ich mich in ihre Aufnahmen versenke. Das ist die Begegnung mit der Ewigkeit. Kostüme und Bettgestelle werden eines Tages nicht mehr da sein.“

Wer will, kann das Kirsten-Flagstad-Museum in Hamar auch im Internet besuchen, virtuell durch die Räume gehen, in Fotoalben blättern, Bücher und CDs bestellen. – Das große Foto oben zeigt Kirsten Flagstad bei einem Treffen mit dem Komponisten Jean Sibelius, dessen Orchesterlieder sie bei der EMI einspielte. Rüdiger Winter