Gott! Welch Dunkel hier!

 

„Gott! Welch Dunkel hier“. Die ersten Worte der Florestan-Arie aus Beethovens Fidelio sind einer großen Dokumentation über den  Neubeginn der Dresdener Semperoper nach dem Ende des Zweiten Krieges vorangestellt – erschienen bei Profil / Hänssler (PH 10007). Treffender kann ein Motto nicht sein. In einer einzigen Nacht war die die als Elbflorenz besungene Stadt, wo Rienzi, Rosenkavalier und Elektra uraufgeführt wurden, in Schutt und Asche gesunken. Unter den Trümmern lagen mindestens 25 000 Tote. Das derart gemeuchelte Dresden hat sich seinem Schicksal nicht klagend ergeben. Es stieg noch Rauch aus den Trümmern als wieder Musik erklang.

Die aus drei CDs und einer DVD bestehende Dokumentation, an der die DEFA-Stiftung, das Deutsche Rundfunkarchiv (DRA) und der MDR beteiligt sind, zeichnet die Stunde null des Dresdener Opernleben genau nach. Mit 240 Seiten hat das elegant gestaltete Textheft Buchformat. Es umfasst Zeitzeugenberichte, Analysen, biografische Details, seltene Fotos, Faksimiles, Bühnenbilder – alles in gestochener Qualität. Auf der DVD ist sogar das Innere der Semperoper vor der Zerstörung im Film zu sehen, es kommen Joseph Keilberth, Christel Goltz und Lisa Otto zu Wort.

Aldenhoff als Florestan

Bernd Aldenhoff als Florestan

So authentisch sind auch die musikalischen Aufnahmen. Es handelt sich ohne Ausnahme um Produktionen bzw. Mitschnitte des Mitteldeutschen Rundfunks aus Dresden und Leipzig, die heute im DRA aufbewahrt werden. Bis auf dem Schlussgesang der Salome mit der Golz aus der berühmten Dresdener Gesamteinspielung dürfte das Gros bislang noch nicht an die Öffentlichkeit gelangt sein. Verdi, der an der Semperoper sehr gepflegt wurde, nimmt breiten Raum ein. Neben Salome ist Christel Goltz die Elisabeth im Don Carlos, Aida, die Leonore in der Macht des Schicksals und Amelia im Maskenball. Gottlob Frick tritt als Procida (Sizilianische Vesper) und als Sarastro auf. Mit seinem hellen Heldentenor ist Bernd Aldenhoff ebenfalls gleich mehrfach präsent – als Othello, Richard/Maskenball und als Radames. Er passt vorzüglich zur Goltz. Kurt Böhme fehlt eben so wenig wie Arno Schellenberg oder Hans Hopf. Eine der großen Hoffnungen der Opernbühne, der Bassbariton Werner Faulhaber, gibt Mozarts Figaro und den Heiratsvermittler Kezal. Keine dreißig Jahre alt, sollte er – kaum, dass die Aufnahmen im Kasten waren – wenig später bei einer Bergwanderung tödlich verunglücken. Tragik umweht auch die Aufnahmen mit der liebenswürdigen, früh verstorbenen Elfriede Trötschel, die als Susanna, Pamina, Mimi und Butterfly ihrem Ruhm gebührend oft zu hören ist. Nicht unerwähnt soll Dora Zschille bleiben, die im Nachkriegsdresden über viele Jahre hinweg das hochdramatische Fach vertrat. Nach ihr ist dort sogar eine Straße benannt. Sie singt die als Gebet bekannt gewordene Arie der Tosca „Nur der Schönheit weiht‘ ich mein Leben“.

Wer immer sich für Oper interessiert, dem sei diese Dokumentation aus dem Hause Günter Hänssler wärmstens empfohlen. Nicht nur wegen der seltenen historischen Aufnahmen in gutem Klang. Nicht nur wegen der schönen Fotos. Die Box, die ohne die Sachkunde und Leidenschaft ihres Herausgebers Steffen Lieberwirth vom MDR und seiner Helfer nicht denkbar ist, weist auf ganz neue Möglichkeiten für den Musikmarkt. Ein Rundfunkarchiv wird geöffnet, seine Schätze gelangen auf ganz legalem Wege dorthin, wo sie hingehören – an die Ohren einer interessierten Öffentlichkeit. Das ist auch Werbung für alle beteiligten Seiten, denn neben den schon eingangs genannten Partnern haben die Semperoper selbst, der NDR Kultur, der Deutschlandfunk, die Sächsische Landesbibliothek sowie die Staats- und Universitätsbibliothek Dresden das Ihre beigesteuert.

Fidelio Dresden

Noch ein Foto aus dem Textheft: Christel Goltz, Gottlob Frick und Elfride Trötschel (von links) in „Fidelio

Die Fortsetzung folgte prompt –  Vol. 2 der Hänssler-Semperoper-Edition (PH10033). Sie ist der Festaufführung von Beethovens „Fidelio“ anlässlich der Eröffnung des Großen Hauses der Staatstheater Dresden am 22. September 1948 gewidmet. Das einstige Schauspielhaus sollte bis zur Einweihung der wiederaufgebauten Semperoper 1985 Spielstätte für Opernaufführungen in der zerstörten Stadt sein. Der Mitschnitt der Aufführung hat sich nicht in Gänze erhalten. Er teilt damit das Schicksal einer späteren Rundfunkproduktion des Werkes in der DDR mit Hanne-Lore Kuhse  in der Titelrolle, von der wenigsten alle Szenen der Leonore noch vorhanden sind. Das ist bei dem frühen Mitschnitt leider nicht so. Die große Arie der Leonore – die Partie wurde von Christel Goltz gesungen – fehlt ebenso wie die Arie der Marzelline (Elfride Trötschel), deren Duett mit Jaquino (Erich Zimmermann), die Arie des Rocco (Gottlob Frick)  und der Gefangenenchor. Ohne Dialoge passt die Musik auf eine CD. Es muss eine packende Aufführung unter Leitung von Keilberth gewesen sein. Alle Mitwirkenden – zu nennen sind noch Aldenhoff als Florestan, Josef Herrmann als Pizarro und Heinrich Planzl als Fernando – sind sich der Bedeutung des großen Augenblicks bewusst. Mit solcher Hingabe dürfte diese Oper selten aufgeführt worden sein. Umso beklagenswerter ist es, dass nicht alles überliefert ist.

Die Entscheidung der Herausgeber, darunter wieder das Deutsche Rundfunkarchiv, der MDR, der NDR und die DEFA für den Torso ist dennoch richtig. Er genügt, um das kulturelle Ereignis in seiner historischen Bedeutung angemessen darzustellen, zumal es – wie vom Label bereits mehrfach praktiziert – eine ergänzende DVD gibt mit Berichten über die Aufführung, Erinnerungen von Zeitgenossen wie der Sängerin Lisa Otto, die seinerzeit in Dresden wirkte. Auch Project director Steffen Lieberwirth kommt zu Wort. Er erzählt die spannende Geschichte der Ouvertüre, die zunächst dem Archivmaterial nicht zugeordnet werden konnte, schließlich aber doch zweifelsfrei identifiziert wurde. Die Handschrift von Lieberwirth ist auch dieser Ausgabe anzumerken.

Rüdiger Winter