Karel Mirys Oper „Charles Quint“

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Hat je irgendwer von Karel/Charles Miry gehört? Das Online-Label 401dutchoperas hat das Konzert aus Gent vom April 2012 (Lyrica Gent unter Geert Soenen mit sehr kompetenten Solisten) mitgeschnitten und im Online-Download zum niedrigen Preis angeboten (s. unten). Es hat damit einen wirklich absolut unbekannten Komponisten zur Diskussion gestellt, der an Auber erinnert, die Grand Opéra Gounods anklingen lässt und wie ein Seismograph die (französischen) Opern der Zeit anzeigt. Der flämische Anteil Belgiens reklamiert ihn natürlich für sich, aber dennoch ist der in Gent am 14.8.1823 geborene und am 3.10.1889 eben hier gestorbene französisch (i.e. in Paris) ausgebildet worden, wenngleich der überwiegende Teil seiner Kompositionen vor allem im heiteren Sujet seiner eigenen Sprache verpflichtet ist. Die Auflistung bei Wikipedia ist in sofern kompliziert, als sie – ganz opportunistisch – die Titel nur in flämisch wiedergibt,

Karl V. mit seiner flämischen geliebten Johanna van der Ghest und ihrer gemeinsamen Tochter Johanna/Gemälde von Canéel/Museum Gent

Karl V. mit seiner flämischen geliebten Johanna van der Ghest und ihrer gemeinsamen Tochter Johanna/Gemälde von Canéel/Museum Gent

Charles V ist dennoch defintiv eine französischsprachige Oper ganz in der französischen Tradition. Der Sprachen- und Kulturstreit Belgiens wirft auch hier seinen Schatten auf die Dokumentation. Charles V war König von Frankreich (1500-1558), und die Handlung der von Miry vertonten Oper dreht sich um den Aufstand von 1537, als die Bevölkerung von Gent (das heutige Belgien gehörte in großen Teilen zuFrankreich) gegen die Fremdherrschaft durch die Franzosen aufstand und ihm den Tribut für seinen Krieg verweigerte, da ohnehin schon Hungersnöte im Lande herrschten. Charles unterdrückte den Aufstand und ließ die Aufständigen hinrichten. Der Librettist und Onkel Mirys, van Peene, führt eine fiktive Figur, den Tapisseriehändler van Gehst, ein, und der Konflikt zentriert um Charles’ Liebe zu Johanna van Gehst, dessen Tochter, die zudem – historisch belegt als Johanna van Gheynst – 1521 eine uneheliche Tochter mit Charles hatte.

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Es ist bezeichnend für einen nationalbewussten Flamen jener Zeit, ein Sujet zu wählen, das mit der wechselvollen Geschichte Belgiens zu tun hat, mit der Unterdrückung durch die Franzosen, später durch die Spanier – eben ein Land, das auch heute wegen der sprachlichen Zweigeteiltheit nicht zur Ruhe kommt. Insofern war die Aufführung in Gent 2011 auch ein politisches Signal. Aber einem Komponisten jener Zeit, zumal aus dem brabantisch/ flämischen Raum, blieb nur Paris als Ausbildungsstätte.

Nach ersten Unterweisungen in Gent selbst, dann in Brüssel am Königlichen Konservatorium ging der junge Miry mit einem Stipendium der Stadt nach Paris an das Conservatoire und kam um 1840 zurück in seine Heimatstadt. Er revanchierte sich für deren Großzügigkeit mit seiner „Gent Symphonie“ und bekam einen Posten als zweiter Dirigent an der Oper. Sein erstes Bühnenwerk ebendort entstand auf Anraten seines Onkels und späteren Librettisten Hippolyte van Peene (Eeen man te trouwen, 1845) in regionalem Dialekt, durchaus bedeutend in Hinsicht auf die nationale Unruhe im Flandern. Bis zum Charles V folgten weitere Werke in Flämisch, durchaus diese Stimmung unterstützend, so dass später Mirys ungeheuer populäres Lied Der flämische Löwe 1871 die Wahl zur Nationalhymne gewann. In der Folge dieser Popularität schrieb Miry 1856 seine Oper La Belgique ou la Règne de vingt ans wieder auf das Libretto von van Peene zum 25.Jubiläum der Regentschaft König Leopolds. 1864 folgte nun Charles V und war ein absoluter Erfolg. Miry war als nationaler Komponist etabliert. 1871 wurde das Genter Konservatorium zum Königlichen erhoben und Miry zum Direktor bestellt, ebenfalls in diesem Jahr übernimmt er auch die Position des Nationalen Inspektor der Musikinstitute und macht sich unschätzbare Verdienste um die Förderung der musikalischen Erziehung in Belgien.

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Im Ganzen muss ihm eine große Bedeutung für das Musikleben Belgiens in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts zugesprochen werden, seine Vertonungen von flämischen Texten machte ihn zum Leuchtturm flämischer Musikkultur, und seine Nationalhymne lässt ihn bis heute unvergessen sein.
In musikalischer Hinsicht sieht das vielleicht ein wenig differenzierter aus. Natürlich borgte Miry heftig von den französischen und italienischen Vorläufern und Zeitgenossen. Und ich selber finde Charles V in dieser Hinsicht keine wirklich genuine Oper, sondern eben ein Konglomerat und Seismograph der herrschenden Strömungen, zudem auch im Duktus nicht sonderlich individuell. Dennoch – er war der erste belgische Komponist, der flämische Libretti in Musik setze, der folkloristische Elemente in seine Opern integrierte, der versuchte, eine nationale (in diesem Sinne eben flämische) Musiksprache zu finden. Darin war er ein wirklicher Pionier und Vorläufer Peter Benoits, der deutlicher für die Flamen sprach. In Mirys Fall scheint es, als ob dieser weniger nationalistische als vielmehr literarische Inspiration aus den flämischen Texten bezogen hat. Er war kein Anti-Franzose, wandte sich niemals gegen die französische Sprache und Kultur und schrieb ein beträchtliches Quantum seiner Werke in eben dieser Sprache, namentlich die opéras comiques.

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Im Konzert: Vincent Bertrand, Amaryllis Gregoire und Dirigent Geert Soenen/401dutchoperas.nl

Im Konzert: Vincent Bertrand, Amaryllis Gregoire und Dirigent Geert Soenen/401dutchoperas.nl

Miry war ein Multitalent, wie René Seeghers/Jan Neckers in ihrem Aufsatz in der Beilage zum Charles V betonen, ein Komponist einer Fülle von verschiedenen Genres, von der Operette über die Oper bis zu Liedern, Kantaten, Kirchenmusik, Orchester- und Kammermusikstücken, Kinderliedern – was ihm wegen seines Engagements für die Jugend- Musikerziehung besonders am Herzen lag. Und so ist es kein Wunder, dass sich diese Junge Firma 401dutchoperas, unter der Ägide der beiden genannten Musikwissenschaftlern und Autoren der Förderung der belgischen Opern- und Gesangsszene verpflichtet fühlt, eben diese Oper von Karel Miry (eigentlich als Charles Léopold Miry getauft) herausgebracht hat. Es lohnt sich unbedingt, die Website aufzurufen (401dutchoperas.nl), denn neben der erwähnten Oper (die gegen wenig Geld zum downloaden dort steht und auch eine DVD mit Ausschnitten aus dem Genter Konzert bietet) gibt es weitere und vor allem einen ganz fabelhaften Katalog historischer belgischer Sänger, auch diese zu erwerben. Es fehlt hier der Platz, darauf einzugehen, aber für mich war die Begegnung mit diesem Blick auf flämische Musik und Kultur eine enorme Wissenserweiterung – man weiß einfach außerhalb Belgiens zu wenig über diesen kulturellen Aspekt mitten in Europa, wobei ein Blick aus unserem föderativ gut funktionierenden eigenen Land auch Verwunderung ob der Verhärtung im Nachbarland aufkommen lässt, aber wir haben als Deutsche auch nicht dessen Geschichte. Geerd Heinsen

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(Charles V, Grand Opéra in 3 Akten von Charles Léopold Miry auf das Libretto von Hippolyte van Peene, UA Grand Théâtre von Gent 1857, Konzertmitschnitt Gent 2012 mit Amaryllis Gregoire, Denzil Delaere, Vincent
Bertrand, Laurent Kuba und Florence Huchet, Opera-Belcantokoor Liane Soudan, Mannenkoor „De Oudenaardse Zangvereningen“, Symfonisch Jeugorkest Oost-Vlaanderen, Leitung Geert Soenen, download bei 401dutchoperas.com)

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.