Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Zum zweiten

 

1999 brachte Cecilia Bartoli bei ihrer Stammfirma Decca ein Vivaldi-Album mit mehreren Weltersteinspielungen heraus, das eine ganze Serie von Recitals einleitete, die speziell einem Komponisten (Gluck, Scarlatti u.a.) gewidmet waren und viele Entdeckungen offerierten. Nun, nach fast 20 Jahren, widmet sich die Sängerin erneut dem Werk des venezianischen Komponisten und stellt auf ihrer neuen CD (Decca 483 475) zehn Arien aus seinen Opern vor, die sich auf Vivaldi I nicht finden.

Der Schwerpunkt dieser Auswahl liegt eher auf lyrisch-getragenen Arien, welche den gereiften Ausdruck der Interpretin zeigen. Zu Beginn allerdings gibt es mit einer Arie der Zanaida aus dem Argippo von 1730 noch ein Beispiel für Bartolis erregten Gesang, der sich geradezu in wildem Fauchen, Keifen und Zischen äußert. Das Ensemble Matheus unter Jean-Christophe Spinosi liefert dafür die klangliche Folie mit aufgewühlten Akkorden voller Temperament und Energie. Es ist aber auch ein idealer Partner für die schwebenden, entrückten Gefühlsäußerungen durch das delikate Spiel mit feinen Soli der Instrumente, wie man es in der folgenden Arie des Ruggiero, „Sol da te“ aus dem Orlando furioso von 1714 vernehmen kann, die von der Soloflöte lieblich umspielt wird. Bartoli besticht hier mit schmeichelndem Gesang und superb ziselierten Ornamenten. Aus derselben Oper erklingt noch die Arie des Astolfo „Ah fuggi rapido“, die wiederum einen ungestümen Zornesbruch schildert und mit  entsprechend furioser Attacke geboten wird. Virtuos und rasant laufen die Koloraturgirlanden ab – ein Markenzeichen der Sängerin und von unverminderter Meisterschaft. Il Giustino von 1724 ist die einzige Oper, die sich schon auf Vivaldi I fand, allerdings nicht die hier ausgewählte Arie des Anastasio, „Vedrò con mio diletto“, die ganz verinnerlicht und in exquisiter Phrasierung ertönt, begleitet von leise pochenden Akkorden des Orchesters, das zu den international führenden Ensembles der Alte-Musik-Szene zählt und mit der Künstlerin schon mehrfach öffentlich aufgetreten ist. Spinosi selbst begleitet sie in der folgenden Arie der Titelheldin aus La Silvia („Quell’ augellin che canta“) mit der Solovioline und sie bezaubert mit so anmutigem wie bravourösem Gesang, der den eines Vögelchens imitiert. Betörend ist die folgende Arie des Caio aus Ottone in villa von 1713, welche in ergreifenden Tönen die unverbrüchliche Treue preist. Rosanes Arie „Solo quella guancia“ aus La verità in cimento (1720) ist mit ihrem koketten, plappernden Duktus ein schöner Kontrast und Bartoli tupft die Töne mit höchster Kunstfertigkeit.

Perseos „Sivente il sole“ aus Andromeda liberata (1726) ist wieder ein bewegendes Stück, bei dem die Sängerin die Stimme ganz zurücknimmt, schweben lässt wie ein  Hauch und mit zärtlichen abbellimenti ausschmückt. Danach sorgt der kämpferische Ruf des Lucio „Combatta un gentil cor“ aus Tito Manlio (1719) unter auftrumpfendem Trompetengeschmetter und energischem Koloraturfuror wieder für ein heroisches Element, bevor die Anthologie mit Cesares wiegendem „Se mai senti“ aus dem späten Catone in Utica (1737) berührend und höchst kunstvoll endet. Cecilia Bartoli hat sich mit dieser Ausgabe, deren Veröffentlichung im Rahmen von 30 Years Bartoli Decca erfolgt, zu ihrem Jubiläum ein wunderbares Geschenk gemacht. Bernd Hoppe

Exklusiv und elitär war gestern

 

Ja, ich habe gelacht, sehr sogar. Und das gleich auf der ersten Seite des Buchs Wagner-Vereine und Wagnerianer heute von Elfi Vornberg (Königshausen & Neumann, 297 Seiten). Denn da steht: „Der Richard-Wagner-Verband International e.V. steckt in der Krise. Der einstige Exportschlager mit dem Gütesiegel ‚Made in Bayreuth‘ verbucht Rekordverluste bei den Mitgliederzahlen: Engagierten sich im Jahr 2003 noch 37.000 Mitglieder weltweit in einem Wagner-Verein, waren es Ende 2015 nur noch 21.830.“ Das entspricht einem Rückgang von 41 Prozent innerhalb von zwölf Jahren. Das wirft Fragen auf: „Hat das Werk Richard Wagners an Bedeutung verloren? Strahlen Entwicklungen am Grünen Hügel – wie Wolfgang Wagners Tod, die Ernennung der neuen Festspielleiterin Katharina Wagner, Regie-Skandale mit Frank Castorf und Jonathan Meese oder die neu geregelte Kartenvergabe durch Eingreifen des Bundesrechnungshofes – auf den Verein ab? Oder steckt das Vereinswesen als solches mit Überalterungstendenzen und Imageproblemen im digitalen Zeitalter in einer Krise?“

Die erste Frage beantwortet die Autorin gleich negativ, denn die Flut von Wagner-Aufführungen und Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt zeugt davon, dass der „Mythos Wagner“ nach wie vor gut funktioniert und nichts von seiner Attraktivität und Aktualität verloren hat. Weswegen Elfi Vornberg auf 297 Seiten den anderen Fragen nachgeht. Sie hat insgesamt 522 Vereinsmitglieder für diese Studie befragt aus drei verschiedenen Wagner-Vereinen in drei Ländern: in Deutschland, den USA und in Japan. Was sie dabei herausgefunden hat, ist frappierend. Und ich muss gestehen, dass mein inneres Gelächter fast durchs ganze Buch weiterging.  (Und das sage ich als jemand, der Wagners Musik durchaus und wiederholt verfallen kann.)

„Wagner-Vereine und Wagnerianer heute“ im Verlag Königshausen & Neumann

So stellt sich heraus, dass die Japaner – die im Ländervergleich über ihren Wagner-Verband am häufigsten an Bayreuth-Karten gekommen sind – sich „auf das Ereignis“ intensiver als alle anderen vorbereiten: „Sie widmen sich vermehrt tiefgehenden Analysen der Kunst Wagners und investieren mit dem Studium von Partituren und wissenschaftlichen Aufsätzen viel Zeit in ihr Hobby. Sie dringen sogar durch die detaillierte Beschäftigung mit deutschen Philosophen tiefer in die Materie ein und erarbeiten sich akribisch das Thema Wagner.“ Laut Vornberg unterscheidet das die japanischen Wagnerianer von den deutschen. Denn für die ist die praktizierte Fan-Liebe vor allem eine „soziale Demonstration“, die einen „Prestigegewinn und soziale Abgrenzungsmechanismen“ bietet. Für Mitglieder der deutschen Wagner-Vereine ist der Bayreuth-Besuch zu 30 Prozent ein gesellschaftliches Ereignis, bei den Japanern sind es nur 15 Prozent: „Das ‚Erlebnis Bayreuth‘ wird als Akt der Selbstinszenierung wahrgenommen, der gleichzeitig als Statusgewinn und damit als Schließungskriterium nach außen hin dient.“ Das gilt auch für die USA, wo ebenfalls ein Prestige- und Statusgewinn angestrebt wird „durch das als exklusiv und elitär geltende Hobby“.

Im Vergleich sind die Amerikaner „Wagner-Pilger im großen Stil“ und reisen als regelmäßige „Wagner-Kosmopoliten“ am häufigsten. Ziel ihrer Reisen ist meist Europa, was erstaunlich ist, weil viele Befragte angaben, die hiesigen Tendenzen des modernen Regietheaters als „Eurotrash“ rundum abzulehnen. Amerikanische Wagnerianer wollen, laut Umfrage, am liebsten „historische Inszenierungen mit historischen Kostümen und Bühnenbild“. (Ach ja.)

In Deutschland wiederum stellt sich heraus, dass die Wagnerianer aus den Wagner-Vereinen nicht als solche bezeichnet werden möchten. In den USA lehnten die meisten den Begriff „Wagnerianer“ aus „Gründen der Bescheidenheit“ ab („man fühlt sich nicht würdig, belesen oder kenntnisreich genug, diesen ‚Titel‘ zu tragen“), während in Deutschland der Begriff zu viel „Nähe zum Fanatismus“ ausstrahlt. Die deutschen Befragten sagten auch, dass die „negativen Klischees über den Wagnerianer“ sie abschrecken sich selbst so zu bezeichnen, ebenso die „nationalsozialistisch behaftete Vergangenheit der Familie Wagner“.

Im Schlusskapitel berichtet Vornberg, dass das „überwiegend konservativ-traditionell ausgerichtete Klientel“ des Internationalen Richard Wagner Verbands durch die allgemeine Öffnung der Festspiele einen „herben Einschnitt im Erleben der Bayreuther Festspiele“ durchgemacht hat: „Denn ihr begehrtes Objekt verliert damit an Wert und das knappe Kulturgut an Exklusivität.“

Jahrelang lebte der Mythos Bayreuth vom Kampf um die Karten. Inzwischen hat sich da eine andere „Normalität“ eingestellt, so dass für viele Vereinsmitglieder das „Fluidum Bayreuth“ nicht mehr stimmt. Und für den Personenkult, den viele Mitglieder betreiben, ist es auch vorbei mit dem „Erbcharisma“ der „Königsfamilie am Grünen Hügel“.

All die Statements und Auswertungen zu lesen ist faszinierend. Ich habe gleich fünf Bücher als Weihnachtsgeschenke für meine diversen Wagnerianer-Freunde bestellt. Ob sie über die Statistiken und Schlussfolgerungen von Elfi Vornberg auch so lachen werden wie ich, weiß ich nicht. Aber ein bisschen Staub aufwirbeln tut im Fall Wagner immer gut – und bei Wagnerianern, die sich nicht so nennen wollen, es aber bis in die Haarwurzeln sind, tut es doppelt gut (Foto oben: Richard Wagner ist noch immer allgegenwärtig – als Büste im Park – Foto: Winter). Kevin Clarke

Von Elfen, Nixen und anderen

 

Den mittleren Teil der CD-Trilogie Dimensionen, gesungen von Marlis Petersen, am Klavier begleitet von Camillo Radicke, gibt es nun unter dem Titel Anderswelt, wo mit nach Welt, der uns umgebenden Wirklichkeit, das Reich der Elfen, Nixen, Wichtelmänner und anderer Geister gemeint ist. Aus steht nun noch die Innenwelt, damit der Zyklus vollendet wird.

Naturverbundenheit, ja Beseelung der Natur und die Gattung Lied gehören eng zusammen und beides zur Romantik, der Reaktion auf Rationalität, Fortschrittsglauben und Technisierung. So stammen die meisten Texte aus dieser literarischen Epoche, sie  interessierten durchaus aber auch Komponisten späterer Zeiten. Den Elfen und Nixen, also den Luft- und Wassergeistern, gelten die meisten Beiträge, dazu kommen die sagenhaften Gestalten aus Skandinavien. Der Bekanntheitsgrad eines Stücks war augenscheinlich nicht ausschlaggebend für die Wahl durch die beiden Künstler, eher wurden zwar früheren Generationen vertraute, heute aber eher vergessene oder belächelte Komponisten mit aufgenommen wie Christian Sinding (sein Frühlingsrauschen spielten höhere Töchter rauf und runter am Klavier) oder Carl Loewe, dessen Balladen, man denke nur an Die Uhr, äußerst populär waren. Beide sind mit je zwei Liedern vertreten, Brahms und Hugo Wolf nur mit je einem.

Sängerin und Komponist sind wohl ohne Wenn und Aber tief in die Welt der Geister eingetaucht, wovon die vielen Fotos im Booklet zeugen. Die sieht man sie als Nöck und Nixe bis zum Kinn im Wasser treiben, werden Blätterwerk und Baumstamm liebend gekost, auf moosbedeckten Felsen herumgekraxelt.

Es beginnt mit Hans Pfitzners Lockung, für das die Sopranstimme einen wie verwundert erscheinenden Klang annimmt, Waldeinsamkeit wird besonders bedeutsam gesungen, schwül und verlockend schlüpfrig klingt die zweite Strophe, und nicht nur dieser Text stammt von Eichendorf, dem liebenswertesten Vertreter der deutschen Romantik. Petersen legt viel Dramatik in den Schluss von Hans Sommers Lore im Nachen, wählt einen kindlichen Ton für Mit einer Wasserlilie, der in Einsame Nixe von Hermann Reutter deren „süße(n) kristallene(n) Stimme“ wiederzugeben scheint. Interessant wird die CD auch dadurch, dass viele unbekannte Lieder hier für viele Hörer sicherlich zum ersten Mal erklingen. Dazu gehört heute auch Loewes Der Nöck, dessen balladenhafter Aufbau die Stimme zu mehr Dramatik herausfordert. Keck und humorvoll wird Sindings Ich fürcht‘ nit Gespenster gesungen, in dem das Klavier eher als die Stimme trunken von der Schönheit des Nachtweibs zu sein scheint. In Harald Genzmers Stimmen im  Strom scheint der Sopran am Schluss unendlich zu gleiten, in Regers Mainacht das Aufblühen der Natur nachzuvollziehen. Damit wären wir bereits bei den Elfen, für die auch Bruno Walther ein Lied komponiert hat, das mit silbrigem „Mondesglanz“ verführt. Derselbe Text von Eichendorff wurde auch von Julius Weismann vertont, und sein Lied ist tändelnder, was die Stimme geschickt umsetzt.

Es folgen die Nordlichter, in denen Marlis Petersen in Sindings Majnat Wehmut und Grauen in einen Aufschrei münden lässt. Mit schöner Getragenheit wird in Kilpinens Berggeist der Schluss gestaltet, das bekannteste Lied der CD dürfte Wolfs Elfe auf einen Text von Mörike sein, in dem der Sopran den Kontrast zwischen Wächter und Elfe hübsch herausarbeitet. Mit feiner Leichtigkeit, wir sind zu den Elfen zurückgekehrt, wird von Friedrich Gulda der Eichendorff-Text, den auch Walther vertonte, in Musik gesetzt und von Marlis Petersen gesungen. Unheimlich und betont abgehackt schildert der Sopran die Tod bringende Begegnung mit den Elfen in Schrekers Spuk. Jede der vielen Elfen in Herman Zumpes Liederseelen erhält von der Sängerin ein unverwechselbares vokales Gesicht, Zemlinskys Und hat der Tag all seine Qual wird nicht so pathetisch gesungen, wie der Text es nahelegt, das Klavier betont dazu den Schreitrhythmus. Eine hochinteressante Auswahl, die das Gespanntsein auf den dritten Teil des Zyklus noch wachsen lässt (SM 294). Ingrid Wanja    

Zu sanft und höflich

 

Französische Romantik ist gerade wieder sehr angesagt in der Opernwelt- und auffallend viele Sänger widmen in letzter Zeit ihre Solo-Alben dieser Epoche. Jetzt ist eine Arien-CD eines jungen französischen Tenors beim Label Alpha erschienen: Julien Behr.

Es gibt heute viel stilsicherere Sänger in diesem schwierigen Repertoire als noch vor 30 Jahren, und das ist nicht nur Verdienst der Sänger selbst, sondern auch das der Hochschulen, Konservatorien und Lehrer, die den jungen Künstlern ein präziseres sensibles Stilgefühl für die französische Epoche des 19. Jahrhunderts vermittelt haben. Julien Behr profitiert von dieser neuen Auffassung. Man spürt, dass er sich bemüht, die Stücke genauso zu artikulieren, wie es einst das entsprechende Haus der Premiere vorschrieb; Brust und Kopfstimme werden wohlkalkuliert und werkgetreu eingesetzt, nichts bleibt dem billigen Effekt überlassen, alles atmet Vernunft.

Zu sanft und zu höflich: Behr hat keine Stimme, dessen Strahlkraft den Hörer in die Knie zwingt; die Höhen sind keine Großereignisse, wenn auch technisch sauber. Er ist ein exzellenter lyrischer Mozart-Tenor, der sich das leichtere (leicht im stilistischen, nicht im energetischen Sinne) französische Tenorfach erschlossen hat. Ein intelligenter Sänger, der sich jedoch den Partien zuweilen auf Zehenspitzen nähert und elegant, aber vorsichtig durch das Repertoire Gounods, Bizets, Messagers und Delibes‘ tänzelt, fast wie ein schüchterner Besucher in einer Ausstellung alter Glasbläserkunst, der sich fürchtet, bei zu impulsiven Bewegungen die Exponate zu zerstören.

Doch so fragil ist die französische Oper des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nun auch wieder nicht. Auf der CD mag alles durchhörbar, sauber und samtig klingen – mir ist es unterm Strich zu sanft und höflich. Vergeblich wartet man auf den großen Moment , wo der Solist ausbricht, aufbegehrt, echte Leidenschaft zeigt. Stilgefühl ist dann am Ende doch nicht alles.

Exquisit ausgewählt wie auch interpretiert: Es begleitet das renommierte Orchester der Oper in Lyon, eins der besten Opernorchester der Welt; am Pult steht der relativ junger Dirigent Pierre Bleuse, der hier aber überraschenderweise weniger durch jugendliches Feuer glänzt als durch laszive Sinnlichkeit. Schön, dass hier die Lyoner hier in drei reinen Orchesterstücken zeigen dürfen, was sie können, alle drei Piecen sind sowohl exquisit ausgewählt wie auch interpretiert, darunter auch die berühmte Habanera von Emmanuel Chabrier (Confidence, mit Julien Behr (Gesang), Orchestre de l’Opera National de Lyon, Pierre Bleuse (Leitung), Alpha 8732528). Matthias Käther

Syrakus zum Dritten

 

Der am 3. Dezember 1820 auf dem Höhepunkt seines Schaffens als vorletzte seiner neapoliantischen Opern am Teatro San Carlo uraufgeführte Maometto Secondo gehört zu Rossinis ambitioniertesten Werken. Später glättete er für Aufführungen in Venedig bzw. Paris einige der avanciertesten Passagen. So enthält die Fassung, die zwei Jahre später in Venedig zur Aufführung kam, eine umfangreiche, zehnminütige Ouvertüre und ein lieto finale. Interessanterweise gelangte im gleichen Jahr, als Rossinis vor dem Hintergrund des Kriegs zwischen Türken und Venezianern spielende Liebesgeschichte uraufgeführt wurde, am San Carlo mit Spontinis Fernando Cortez eine ähnlich unmögliche Liebe zwischen dem europäischen Eroberer und der aztekischen Prinzessin Amazily auf die Bühne. Isabella Colbran sang die Amazily und später auch Anna, die Tochter des Statthalters in der venezianischen Kolonie in Griechenland, die sich in den ihr unbekannten türkischen Sultan Mohammed verliebt.

Naxos gestattet sich und seinen Hörern den Luxus, alle drei Maometto-Opern Rossinis in Aufführungen von Rossini in Wildbad zu erleben: Aus dem Jahr 2002 stammt die revidierte Fassung des Maometto II. für Venedig 1822 (mit Denis Sedov, Anna-Rita Gemmabella und Luisa Islam-Ali-Zade. 8.660149-51), 2010 spielte man in Bad Wildbad die ins Korinth des Jahres 1820 verlegte französische Umarbeitung Le siège de Corinthe (mit Lorenzo Regazzo, Majella Cullagh und Michael Spyres, 8.660329-30) und nun erschien Maometto II. in der Urfassung von 1820 (8.660444-46). Es handelt sich um einen Mitschnitt der drei Aufführungen aus dem Juli des Vorjahres. Gespielt wird, wie in der Aufführung von der Garsington Opera (AV 2312), die kritische Edition von Hans Schellevis. Ein Dokument. Mit allem Bühnen-Gelaufe und -Gerenne, inklusive Applaus und einiger Unzulänglichkeiten, klanglichen und instrumentalen Unausgewogenheiten, doch das fällt bei der Leidenschaft, mit der sich unter Antonino Foglianis energischer und herrlich befeuernder Leitung alle – die Virtuosi Brunenses und der Camerata Bach-Chor aus Ponznan – in den Freiheitskampf stürzen, nicht weiter ins Gewicht. Ohne Einleitung oder Sinfonia stürzt sich auch Rossini in das Geschehen aus der Mitte des 15. Jahrhunderts und entfacht dichte und ausladende Szenen und eine gewaltige musikalische Architektur, die von Innen zu glühen scheinen. Elisa Balbo, die im Wildbader Kurhaus zwar kompetent, doch nicht erfüllt klang, wirkt als Anna auf den CDs dunkler, gewichtiger, sehr achtsam in den kleinen Noten und mit hart energischer Strahlkraft. Mert Süngüs Tenor ist anfangs nicht sehr klangvoll, denn er ist weniger Anwalt gestalteter Rezitative, die flach ausfallen, als arioser Enflammiertheit, wo er, wie im ausgedehnten Terzettone seine Muskeln spielen lassen kann und seinem strahlenden Tenor auch empfindsame Zwischentöne verleiht. Victoria Yarovaya gibt mit hell schlanken Mezzoklang einen patenten General Calbo, fundiert in der Tiefe, strahlend in der Höhe. Der am Konservatorium in Pesaro ausgebildete Mirco Palazzi singt die Titelrolle mit profundem Bassbariton, mit der federnden Geläufigkeit, wie sie die rassigen Läufe seiner Auftrittsarie verlangen, und im Duett mit Anna im Mittelakt auch mit sanfter Verführungskunst, die Anna Faszination verständlich macht. Auffallend in den beiden kleinen Partien des Selimo und Condulmiero Patrick Kabongo Mubenga (Naxos 3 CD 8.660149-51) Rolf Fath

Ordentlich

 

Angeblich soll Domenico Cimarosa über 100 Opern geschrieben haben. Fest steht: Nur eine hat im Repertoire wirklich überlebt – „Die heimliche Ehe“. Seine zweitbeliebteste Oper war zu Lebzeiten des Komponisten der Einakter L’impresario in angustie. Brilliant classics (95746) hat die kleine Oper jetzt aus der Versenkung geholt.

Es gibt zwei wichtige Gründe, warum diese Oper Musikgeschichte geschrieben hat. Zum einen ist sie eine der besten und bissigsten Parodien auf den Opernbetrieb selbst, eine boshafte Farce auf die chaotischen Zustände an italienischen Bühnen. Zum anderen hat das Werk vor allem in Deutschland einst Ruhm eingefahren, weil Goethe höchstselbst die Oper geliebt hat. Er hat sie auf seiner Italienreise gesehen und dann eine eigene deutsche Fassung für Weimar angefertigt, zusammen mit seinem Schwager Vulpius. Danach war sie in der Goethe/Vulpius-Fassung bis weit ins 19. Jahrhundert hinein sehr erfolgreich.

Hier nun liegt das italienische Original von 1787 vor. Die Handlung ist ziemlich konfus für eine so kurze Buffa: Gezeigt werden zwei Primadonnen im Streit. Ein Librettist und ein Komponist sind beide in sie verliebt (eine milde Vorahnung auf Capriccio von Strauss). Allerdings macht der Operndirektor auch einer Avancen. Zwischendurch wird eine Oper geprobt,

Frühere Einspielungen: Die Oper ist keine Novität für den Liebhaber komischer klassischer Werke. Unschlagbar ist die um Cimarosas Opernproben-Kantate erweiterte deutsche Fassung mit Reiner Süß und Peter Schreier (Warum ist die eigentlich nie auf CD erschienen?). Lustig, wenn auch wenig stilsicher ist der Opern-Mitschnitt aus den Sechzigern mit Sesto Bruscantini. Die letzte Aufnahme kam 2001 unter Fabio Maestri bei Bongiovanni heraus. Sie wurde bei einem kleinen niederländischen Belcanto-Festival aufgenommen. Eine sehr anständige Einspielung, die durchaus auf Augenhöhe ist mit der jetzigen, mit zwei gewichtigen Nachteilen: Bongiovanni ist eine Mini-Firma von geringer Reichweite und entsprechend teuer. Brilliant classics ist erfreulich preiswert und international sehr präsent.

Schön, aber perfekt klingt anders: An dieser ersten Studioaufnahme gibt es wenig zu monieren, aber echter Grund zum Jubeln ist auch nicht gegeben. Zu hören sind durch die Bank unbekanntere Stimmen, die den Cimarosa-Ton perfekt treffen. Carlo Torriani als Operndirektor steht Angelo Romero in der früheren Aufnahme in nichts nach. Die beiden Sopranistinnen Paola Cigna und Lavinia Bini haben die Leichtigkeit in den Höhen und die Spielfreude, die das Werk braucht. Und auch über die restlichen Interpreten lässt sich nicht meckern. Einzig das Orchester unter Aldo Salvagno könnte etwas moussierender sein.

Das große Ärgernis ist das Mailänder Studio, in dem das Werk aufgenommen wurde: Viel zu hallig, hervorragend geeignet für Kirchenmusik. Aber ein flotter komischer Einakter lebt von trockenerer Atmosphäre und kleinen Räumen. So klingt alles eher oratorisch und zäh. Man führt ja aus gutem Grund Pergolesis „Serva Padrona“ nicht in der Arena von Verona auf (mit Carlo Torriano, Marco Filippo Romano, Paola Cigna, Lavinia Bini; Orchestra Bruno Maderna di Fordi; Aldo Salvagno). Matthias Käther

Una Adalgisa rossiniana

 

Am liebsten würde man gleich selbst in die schmucke Jurte einziehen, die Bühnenbildner Robert Jones für Norma auf die Bühne der MET (2017) gestellt hat, denn sie ist mit allem versehen, was man sich in Küche, Schlafgemach und Wohnbereich zu gallischen Zeiten nur vorstellen kann, allein die vielseitigen Küchengeräte, aber auch ein Webstuhl zeugen von dem relativen Wohlleben, dessen sich die Priesterin erfreuen konnte. Kein Wunder, dass es der römische Feldherr Pollione doch recht lange bei ihr aushielt. Streng genommen ist Norma ja eine recht unsympathische Figur, die ihr Volk an der Nase herumführt und es in den Krieg hetzt oder zum Frieden ermahnt, je nachdem wie gerade ihre Beziehung zu ihrem Liebhaber sich gestaltet. Auch in Erwägung zu ziehen, die unschuldige Adalgisa wider besseres Wissen des Verbrechens anzuklagen, das sie selbst begangen hat, nur um die Qualen des Ungetreuen zu erhöhen, ist kein sympathischer Zug. So tut Regisseur David McVicar gut daran, sie während des Vorspiels zum 2. Akt zärtlich mit den Kindern umgehen zu lassen. Zum Glück kratzt sie am Schluss noch die Kurve und bekennt ihre Schuld.

Ist der erste Teil des zweiten Akts geradezu naturalistisch angelegt, so ist die Bühne für die Szenen im Freien eher leicht stilisiert und damit belacantotauglicher, das Auge wird nicht allzu sehr mit der Erkundung von Details beschäftigt, sondern der Besucher der Oper kann sich ganz der Musik widmen. Die ist bei dem belcantoerfahrenen Carlo Rizzi 2017 gut aufgehoben, der mit viel Drive für die Chorszenen aber auch für Sphärenklänge (Harfe!) in der Sinfonia sorgt.

Die Frage, ob Mezzo oder Sopran für die Adalgisa, braucht sich nicht zu stellen, denn Joyce Di Donato singt Partien beider Stimmlagen, und so bereitet ihr auch diese keinerlei Problem. Befremdlich sind nur die kurzen Haare in der auf historische Glaubwürdigkeit setzenden Produktion, vokal ist sie wunderbar bereits in den Rezitativen, die Stimme ist reich an Farben und geschmeidig wie zu der Zeit, als sie mit Rossini unterwegs war. Zudem man hat man nie das Gefühl, dass hier L’art pour l’art getrieben wird, sondern der Gesang ist im Rahmen des im Belcanto Erlaubten expressiv. Anna Netrebko wäre vielleicht die adäquatere Partnerin gewesen, nun singt Sondra Radvanovsky die Priesterin mit sehr feinen Piani, in der Höhe manchmal schrill, aber insgesamt mit sehr anständiger „Casta Diva“ und als Partnerin in den beiden großen Duetten selbst in den Presto-Teilen durchaus angemessen. Ein von Anfang an auch gegenüber Adalgisa sehr grimmiger Pollione ist Joseph Calleja mit bruchlosem, schön timbriertem Tenor, der durch kluge Karriereplanung des Sängers ohne Einbußen an Schmelz und Geschmeidigkeit ins Spintofach gewachsen ist. Einen etwas dumpf klingenden Oroveso gibt Matthew Rose, der die letzte Szene ergreifend spielt. Einen überraschend angenehmen Tenor für die kleine Partie des Flavio hat Adam Diegel, eine aktiv ins Geschehen eingreifende Clotilde mit hübscher Stimme ist Michelle Bradley. Die beiden Kinder sind auch im realen Leben Brüder. Am Schluss gibt es einen Scheiterhaufen, der beinahe schon den kürzlichen Waldbrand in Kalifornien vorwegnimmt (Erato DVD 019028562875). Ingrid Wanja   

„Léonore“ von Pierre Gaveaux

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Pierre Gaveauxs (1761 – 1825) Oper Léonore ou l’Amour conjugal von 1798 galt und gilt als der Trittstein für Beethovens Leonore/Fidelio, und kaum je einer hat sie gehört. Nur in Bonn spielte man sie 1989  in einer Studentenaufführung (das Kölner Opernstudio und die Camerata musicale Bonn 1989 im Rahmen der Veranstaltungen zum „200. Sturm auf die Bastille“, hierzu gab es eine Ausstellung des Beethoven-Hauses zu „Beethoven und Politik“ im Rathaus, und in diesem Rahmen auch Szenen der  Oper). Auf youtube zeigen sich ein paar Clips der Aufführung in New York 2017 (s. unten), eine Pollacca aus Le Trompeur trompé (1800), Regina Resnik singt „Dieu d’Israel“ aus der Oper L’enfant prodigue von Gaveaux (1811, sehr ähnlich der großen Arie aus Mehuls Joseph), auf einer alten CD „La Revolution en Chansons“ gibt es ein schwungvolles Sextet de la Cité „Le réveil du peuple contre les terrorites“ (1795) mit der Musik von Gaveaux, mehr nicht. Dabei hat der Mann meterweise Bühnenwerke komponiert, beinahe ausschließlich heiteren Genres.

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Der Librettist der „Leonore“: Jean-Nicolas Bouilly/ Wiki

Aber eigentlich ist der Ruf von Léonore ou l’Amour conjugal mythischer als ihre Musik, die durchaus in die Kategorie der üblichen Opéra Comique der Revutionszeit (1798 in Paris zur  Zeit von Robespierres Schreckensregime premiert) fällt und etwa den Deux Journées oder dem Joseph von Mehul nahekommt. Ich hatte mir – ehrlich gesagt – viel mehr erwartet und war doch enttäuscht. Schon Mehul oder Auber haben ihre Schwächen, aber Gaveaux (selber Tenor und der erste Jason in Cherubinis Médée) bleibt glatt-galant und nicht wirklich memorabel. Einzig das wirklich dichte Vorspiel und die Szene des Florestan zu Beginn des zweiten Aktes bleiben mir in Erinnerung, denn es gibt nun endlich ein lang ersehntes Dokument der Oper. Naxos hat als DVD eine im Februar 2017 mitgefilmte Aufführung von der rüstigen und auf dieses Repertoire spezialisierten Opéra Lafayette in New York herausgebracht (ohne deutsche Untertitel!), die der künstlerische Direktor des Organisation, Ryan Brown, mit Schwung dirigiert und die durchaus ordentliche Stimmen aufbieten kann. Kimy McLaren will mir in der Hosen tragenden Titelrolle etwas blass erscheinen, aber Tenor Jean-Michel Richer macht mit hervorragender Diktion wett, was der Stimme vielleicht an Heroischem fehlt. Dazu kommen munter Pascale Baudin als Marceline, Keven Geddes als Jacquino, dazu der dräuende Dominque Coté hervorragend als Pizarro sowie Tamislave Lavoie als Vater Roc (sic!). Alexandre Sylvestre schließlich gibt den ausgleichenden Minister. Man sieht schon an den Namen, dass das benachbarte Kanada die Solisten gestellt hat, und das mit vor allem sprachlichem Gewinn.

Gaveaux: „Léonore“ in der Aufnahme der Lafayette Opéra bei Naxos Bluray

Optisch ist Léonore ou l’Amour conjugal ebenso solide Ware, eher recht niedlich-bürgerlich-hübsch in den Sets von stilistisch-historischen Set/ Kostümen von Laurence Mongeau in der ebenso munteren, spielfreudigen Inszenierung von Oriel Tomas. Die meiste Wirkung geht an die hervorragende und szeneschaffende Beleuchtung von Julia Basse, der die Videoverfilmung von Jason Starr geschickt folgt. Alles in allem also eine werkdienliche Wiedergabe, kein Euro-Trash-Regietheaterschrecken, wofür man der Lafayette Opéra dankbar ist.

Dennoch, eine CD hätte es vielleicht auch getan, denn es geht im Wesentlichen um das Kennenlernen einer musikalischen Bearbeitung des Librettos (von Jean-Nicholas de Bouilly/ 1763 – 1842), das in einer anderen Fassung eben eine solche Furore gemacht hat. Die Handlung ist die gleiche wie bei Beethovens Sonnleithner (ab 1805), aber hier bei Gaveaux wirkt sie eben galanter, unterhaltsamer, weniger wichtig, belangloser, austauschbarer. Und angesichts anderer Rettungsopern wie Cherubinis Lodoiska (1791) und Les deux journées (1800, Libretto ebenfalls Bouilly) oder auch Paers wie Mayrs Leonora/L´amor conjugale (1804 bzw. 1805) wenig später ist dies doch leichtere Kost.

Die Ausstattung der Naxos-DVD ist ordentlich, gut getrackt und mit schönen Aufführungsfotos, dazu ein Artikel in der Beilage (nur Englisch) von Julia Doe von der Columbia University New York, den wir nachstehend in der Übersetzung von Daniel Hauser wiedergeben, um die Erstbegegnung mit Léonore en travestie zu würdigen (Naxos DVD 2.110591). G. H.

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Gaveaux: „Léonore“ an der Opéra Lafayette/ Szene/ Foto wie auch oben Louis Forget

Léonore, ou L’Amour conjugal, mit einem Libretto von Jean-Nicolas Bouilly und Musik von Pierre Gaveaux, ist eines der bekanntesten Stücke des Opern-Theaters, von dem praktisch niemand aus dem heutigen Publikum jemals Notiz genommen hat. Diese opéra comique, die im Jahre 1798 ihre Premiere am Pariser Théâtre Feydeau feierte, ist sinnbildlich für eine hartnäckig vernachlässigte Kategorie des dramatischen Repertoires – die Dialogoper der Epoche der Französischen Revolution. Sie ist freilich auch der Ursprung für ein Objekt weitverbreiteten Ansehens und anhaltenden wissenschaftlichen Interesses: Fidelio, die einzige überlebende (und vielfach überarbeitete) Oper von Ludwig van Beethoven. Léonore von Bouilly und Gaveaux ist daher ein Werk mit einer einzigartigen gegabelten Identität. Auf der einen Seite sind ihre Handlung und ihr musikalisches Idiom eng verbunden mit der Zeit und dem Ort ihrer Entstehung; sie verrät eine klare Verpflichtung an die Konventionen der opéra comique der klassischen Ära und der spezifischen politischen Umstände der späten 1790er Jahre. Auf der anderen Seite sind die abstrakten und umfassend verallgemeinerbaren Themen – von der Stärke ehelicher Hingabe und der Notwendigkeit von Rebellion gegen ungerechte Verfolgung – außerordentlich anpassungsfähig, was sich anhand der anhaltenden Einflusses auf die Vorstellung des Volkes im Frankreich und im gesamten Europa des 19. Jahrhunderts zeigt.

Gaveaux:  Grabstätte auf dem Pariser Friedhof Pierre Lachaise

Léonore wurde von ihrem Librettisten als eine „fait historique“, eine historische Tatsache beschrieben. Die Bezeichnung bezieht sich auf eine Unterkategorie der französischen Oper, die sich in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts entwickelte und Handlungen aufwies, die von den Schlagzeilen angeregt wurden oder anderweitig auf zeitgenössischen Heldentaten beruhten. In seinen (zuweilen unechten) Memoiren propagierte Bouilly – ein Jurist, der zum Dramatiker wurde – das Werk durch die Hervorhebung seiner Wahrhaftigkeit. Er behauptete, dass dieses Drama durch eine wahre Begebenheit inspiriert sei, die sich während der revolutionären Terrorherrschaft ereignet habe. Als er als Zivildiener in Zentralfrankreich angestellt war, sei er Zeuge geworden einer „großartigen Tat von Tapferkeit und Ergebenheit durch eine der Damen von Touraine, bei deren noblen Anstrengungen ich die Freude hatte mitzuwirken“. Die Details dieses durchaus glaubwürdigen Vorfalls zu verifizieren ist unmöglich. Und es sollte beachtet werden, dass der eigene Ruf des Autors in Verbindung mit dem seines Doppelgängers aus dem Theater von Nutzen war – wenn er die Bemühungen einer echten Léonore unterstützte, implizierte Bouilly, dass er selbst als Vorbild für das eigentliche Symbol von Gerechtigkeit und Autorität im Libretto diente, den wohlwollenden Minister Don Fernand. Wenn Léonore eine Spur historischer Wahrheit enthält, veranschaulicht dies außerdem (und eher zweckdienlich) viele der beliebten Handlungstypen des zeitgenössischen französischen Theaters. Das Thema der dramatischen Rettung aus der Gefangenschaft war in den Jahren nach dem Sturm auf die Bastille – wenig überraschend – allgegenwärtig, ebenso wie die dramatische Verurteilung der willkürlichen Tyrannei. (Gefängnisszenen kommen häufig vor in den Werken jener Zeit, von Monsignys Le Déserteur bis zu Dalayracs Raoul, sire de Créqui. Der böse Dourlinski in Cherubinis Lodoïska ist ein offenkundiger Vorgänger des mächtigen Bösewichts in Léonore, Dom Pizare.)

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Gaveaux: „Léonore“ an der Opéra Lafayette/ Szene/ Foto  Louis Forget

Gaveauxs Partitur für Léonore wendet sich sowohl rückwärts als auch vorwärts und vermischt klangvolle Idiome des Ancien Régime mit komplizierteren Nummern, welche die sich rasch entwickelnde Ästhetik der 1790er Jahre widerspiegeln. Die Stilsprache von Roc, Marceline und Jacquino bleibt weitgehend innerhalb der Konventionen des vorrevolutionären Zeitalters. Diese komischen Figuren äußern sich in einem rustikalen Dialekt und in einer Reihe populär geprägter strophischer Formen. Ein typisches Beispiel ist Marcelines eröffnendes Liebeslied „Fidélio, mon doux ami“, bestehend aus Reimen in Moll-Tonart, mit einem Refrain in Dur. Gaveaux hat aber auch die Entwicklungen des revolutionären Jahrzehnts gründlich aufgegriffen, was sich insbesondere in seinem weitreichenden Umgang mit Chormusik und in der Einbeziehung von Stilen zeigt, die aus dem Bereich der lyrischen Tragödie stammen. (Gaveaux war sowohl Komponist als auch Stardarsteller am Théâtre Feydeau. Dies hatte seine Ursache in den Hauptrollen mehrerer Prüfsteinwerke der damaligen Zeit, darunter Cherubinis Lodoïska und Medée wie auch Steibelts Roméo et Juliette; dies vermittelte ihm die neuesten Trends in der modernen Opernkomposition aus erster Hand.) Was ihn anbelangt, ist gerade das Ensemble, das den ersten Akt der Oper beschließt („Que ce beau ciel“), bemerkenswert; es wird von männlichen Gefangenen gesungen, die nach und nach die Bühne füllen, und ist ein klares Modell für den berühmten „Gefangenenchor“ („O welche Lust“) im parallelen Moment in Beethovens Fidelio. Innovativ sind auch das ernste Obligato-Rezitativ und die Romanze, die Florestan zu Beginn des zweiten Aktes aufführt. Der deklamatorische Gesangsstil, die dunkle c-Moll-Tonalität und die wachrufenden Orchestereffekte erzeugen eine düstere Vorahnung, die an die tragédie lyrique erinnert. (Gaveaux fordert vom Horn, „Glocke zu Glocke“ zu spielen – eine Technik, die Gluck verwendete, um die Klanglandschaft der Unterwelt in seiner Pariser Alceste darzustellen.) Tatsächlich waren die Gefängnisszenen von Léonore so düster, dass sie drohten, die Identität des komischen Genres zu gefährden; ein Kommentator stellte fest, dass es sich um einen „seltsamen verbalen Missbrauch“ handle, wenn man die Arbeit von Bouilly und Gaveaux als opéra comique einstufe.

Léonore wurde nach ihrer Pariser Premiere von der Kritik begeistert aufgenommen. Dem Journal de Paris fiel es schwer, sich an eine weitere Oper zu erinnern, die „einen solch vollständigen und allumfassenden Erfolg“ erzielt habe, während der Censeur dramatique die „erstaunlichen“ musikalischen Effekte und die „nuancierte“ und „verdeckte“ dramatische Konstruktion der Titelfigur hervorhob. Die Popularität des Werkes führte bald zu einer Reihe von Adaptionen für den Export ins Ausland. Ferdinando Paer und Johann Simon Mayr brachten 1804 bzw. 1805 Übersetzungen ins Italienische heraus; Beethoven legte eine deutsche Fassung des Librettos von Bouilly seinem eigenen Werk im selben Jahr in Wien zugrunde. (Er sollte seine Oper noch einmal 1806 und 1814 überarbeiten und mit verändertem Text unterlegen.) Was an Léonore vielleicht am bemerkenswertesten ist, das ist die Art und Weise, in der ihre Themen sukzessive und breit umgestaltet wurden, getrennt von den sehr spezifischen historischen und geographischen Umständen der ursprünglichen Konzeption. Die Oper von Bouilly und Gaveaux entstand nach der radikalsten Phase der Französischen Revolution, dem Terror der Jahre 1793/94. Ihre Metaphern der Befreiung sollten daher nicht auf das gestürzte Regime der Bourbonen-Monarchie abzielen, sondern richteten sich an Robespierre und die Jakobiner. (Das Théâtre Feydeau hatte den Ruf, royalistischen Gefühlen nahezustehen, und Gaveaux war der Autor einer bekannten Hymne, die sich gegen den Terror richtete: Le reveil du peuple.) Um 1814 hatte die endgültige Fassung des Fidelio von Beethoven eine völlig neue politische Resonanz gefunden: Die Handlung wurde größtenteils als Vorbild für den Sturz Napoleons betrachtet und das überschwängliche Finale als Zeichen für die Wiederherstellung der europäischen Stabilität auf dem Wiener Kongress. Für beide (und auch spätere) Interpretationen von Léonores Grundthemen ist das zentral, was der Historiker Paul Robinson als „rechtwinklige Geschichtsauffassung“ bezeichnet hat, einen Übergang von der alten Ordnung zu einer neuen, die nur durch Kampf erreicht werden kann. Darin steckt viel vom dauerhaften – und inspirierenden – Reiz. Julia Doe, Assistenzprofessorin für Musik, Historische Musikwissenschaft, Columbia University/ Übersetzung Daniel Hauser

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Gaveaux: „Léonore“ an der Opéra Lafayette/ Szene/ Foto  Louis Forget

Zur Oper fügt  der Wiener Musikwissenschaftler Gerrit Weidelich, der im Sommer 2016 in Berlin einen Vortrag über Bouillies Libretto anlässlich der Neuproduktion des Fidelio an der Berliner Staatsoper hielt, hinzu: Die Sopranistin Julie-Angélique Scio hatte in der Uraufführung der Médée von Luigi Cherubini einen außerordentlichen Erfolg mit der Titelfigur (Medée) erzielt und brannte darauf, in weiteren Rollen zu brillieren. Gegenstand der Medée war ja die Schilderung einer Ehe-Katastrophe – Jason hatte sie ja nicht aus Liebe geheiratet –, da war es keine Frage, dass sich als nächstes Opern-Projekt ein komplementäres Sujet besonders gut eignete. Auf die Scio soll also  der Vorschlag zurückgehen, dass man für sie eine Hosenrolle schaffen möge. Es bot sich an, die an der Produktion der Medée beteiligten Kollegen anzusprechen, etwa ihren Tenor-Partner Pierre Gaveaux, der den Jason dargestellt hatte. Gaveaux war ein erfahrener Opernkomponist und ließ sich gern auf das von Jean-Nicolas Bouilly vorgeschlagene Sujet über den „Triumph der ehelichen Liebe“ ein.

Gaveaux: „Lénore“/ Titelblatt des Librettos/ Wiki

Mit der von Bouilly vorgeschlagenen Geschichte hatte es eine besondere Bewandtnis:  Bouilly war in Tours auf komplizierte Weise in eine politisch heikle Affäre verwickelt, die er erst 1836/37 in seiner dreibändigen Autobiographie Mes Récapitulations offenlegte, so dass keiner der insgesamt vier Komponisten, die sein Libretto vertonen sollten, davon etwas erfuhr.

Vor 1789 noch Royalist, wurde Bouilly in der Revolution zum Anhänger der Republikaner und übernahm 1793 sogar die Aufgabe, in einem Prozess als Ankläger gegen seinen konterrevolutionären Jugendfreund Semblancay (das Vorbild für die Rolle des Florestan) aufzutreten. Die Sache der Republikaner betrieb Bouilly so wenig aktiv, dass der Prozess gegen seinen Jugendfreund derart verzögert wurde, dass es dessen Kerkermeister gelingen  konnte, die Frau des Semblancay, als Bäuerin verkleidet, in das Gefängnis einzuschmuggeln, um dem Häftling die Flucht zu ermöglichen, was jedoch nicht gelang.

Inzwischen war ein erklärter Feind des Semblancay (das Pendant des Pizarro) aktiv geworden und versuchte, diesen im Gefängnis zu erstechen, wobei dies in Gegenwart einer Reihe anderer Insassen geschehen sollte. Darunter befand sich auch die Ehefrau des Opfers, die sich schützend vor ihn warf und den mordlustigen Radikalisten Carrier mit einer Pistole bedrohte. Bouilly gelang es in der Folgezeit, den Prozess gegen seinen Freund bis zum Sturz Robespierres weiter zu verzögern, worauf der Gefangene seine Freiheit wiedererlangte. Sein Widersacher wiederum war am Sturz Robespierres beteiligt, dies kam Bouilly und seinem Schützling  Semblancay gelegen.

Sobald sich die politischen Verhältnisse wieder änderten und die Monarchie neuerlich zur Staatsform erkoren wurde, gab Bouilly seine politischen Aktivitäten auf und wirkte nunmehr als Theaterdichter und Librettist. Bouilly erzählte  seine Erlebnisse offenbar derart fesselnd und in der Art eines Theatersujets, dass die Sängerdarstellerin Scio so begeistert war, dass Bouilly und Gaveaux ihr binnen Jahresfrist die Rolle der Leonore auf den Leib schrieben. Anfang 1798 kam die gemeinsam geschaffene Oper (wie die Médée) im selben Theater Feydeau heraus und sie war so erfolgreich, dass sie zigmal wiederholt wurde.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Wie heisst eigentlich das Kind?

 

Wenigstens einen Namen verdient hätte in der Amsterdamer Inszenierung von Bergs Wozzeck aus dem Jahre 2017 Wozzecks Junge, der hier, obwohl der Titelheld und seine Marie erst seit drei Jahren „zusammen“ sind, bereits mindestens zehn Jahre alt  und von Anfang bis Schluss die Hauptperson ist in seinem vergeblichen Bemühen, das Schicksal der kleinen Familie durch das gefährliche Fahrwasser der Versuchungen und Anfechtungen zu lenken. Bei Büchner und Berg geht es um die sozialen Abhängigkeiten, die Wozzeck zum Erdulden von allerlei Unwürdigem wie Bohnenessen zwingen, um eine verlogene Moral, wenn ihm der Hauptmann das uneheliche Kind vorwirft, um eine zumindest auf den Helden unheimlich wirkende Natur in der zweiten und in der Schlussszene. In der Inszenierung von Kryzsztof Warlikowski bleibt davon nichts, wird im Bühnenbild von Malgorzata Scszesniak aus dem See ein Aquarium ohne Fische, aus dem vom Hauptmann abhängigen Soldaten ein Friseur (wie der historische Woyzeck), werden aus Handwerkern und Soldaten Mitglieder einer Gesellschaft in Feierlaune, die sich gern von einem Kinderballett in rosa Tüll unterhalten lässt oder auch von einer Transe und einer Art Clown, zu denen allen die wenn auch verballhornten Volkslieder überhaupt nicht passen wollen. Von sozialem Elend kann auch kaum die Rede sein, wenn Wozzeck zur Ermordung Maries im schicken schwarzen Anzug erscheint und der Ungetreuen ein weißes Brautkleid aus Spitze mitbringt. Dazu sieht er aus wie Andy Warhol mit Brille, der sich in eine geschmacklose, auch mit zwei Mickymäusen bestückte Revue verirrt hat. Das ist alles brillant gemacht, hat aber mit der Vorlage nur den Wortlaut, nicht  die Atmosphäre, die zu diesem gar nicht mehr passen will, nichts zu tun, am allerwenigsten mit der immensen Aufwertung der Rolle des Kindes, das wohl sogar doppelt, als der kleine Wozzeck, der von den anderen Kindern drangsaliert wird, und  Jahre später als dessen  Kind die Aufmerksamkeit und Anteilnahme des Publikums auf sich zieht.

Vorzüglich ist die Sängerbesetzung mit einem robusten Christopher Maltman mit sonorem Bariton an der Spitze, der zudem in der Darstellung des unseligen Antihelden doch einiges von dessen Hilflosigkeit und Dumpfheit vermitteln kann. Eine hocherotische Marie, leider in rotem Leder und schwarzem Lack, ist Eva-Maria Westbroek mit leuchtendem Sopran. Beider Kind ist der phantastische Jacob Jutte, dem in zartem Alter allerhand zugemutet wird wie auch den Kindern, die sich im Turniertanz üben. Frank van Aken darf nicht mit Uniform und Schnauzbart protzen, ist allerdings auch im blauen Anzug und dazu noch tenoral vokal ansehnlich. Eigentlich eine zu warme, sanfte und schöne Stimme hat Willard White für den Quälgeist von Doktor, während Marcel Beekman als Hauptmann mit scharfem Charaktertenor ordentlich chargiert. Eine äußerst mondäne Nachtclubsängerin ist hier die geifernde Nachbarin Margret, die von Ursula Hesse von den Steinen sehr schön gesungen wird. Jason Bridges ist ein in jeder Hinsicht ansehnlicher Andres.

Marc Albrecht setzt der Schicki-Micki-Bühne die ganze expressive Härte der Musik und eine ungeheure rhythmische Präzision entgegen, bringt die Zwischenspiele zu der ihnen gebührenden Bedeutung und versöhnt mit der an sich perfekten, aber unpassenden Bühne (Naxos NBD0081V). Ingrid Wanja    

Streitbares Christentum

 

Nur gut, dass Islamisten kein Faible für die Oper haben, denn dann könnte sich die Aufführung von Verdis I Lombardi alla prima crociata als heikel erweisen, geht doch das Libretto gar nicht zimperlich mit Allah und seinen Gläubigen um. Die Neuenfels-Inszenierung von Idomeneo in der Deutschen Oper Berlin, die aus Furcht vor unerfreulichen Reaktionen abgesetzt wurde, war da vergleichsweise harmlos, wenn auch aus einer Bluttat und nicht nur aus markigen Worten bestehend.

Mut haben muss man auch zu einer sich so um historische Treue in Bühnenbild und vor allem in den prachtvollen Kostümen bekennenden Produktion,  wie es diese in Turin ist, die geradezu einen Kontrast zum einem nüchternen Kinosaal ähnelnden Zuschauerraum des Piemonteser Opernhauses darstellt. Das Panorama Jerusalems, durch Arkaden hindurch zu erblicken, (Bühne Jean-Guy Lecat) und die in Orient und Okzident gleich kostbaren Kostüme (Fernand Ruiz) sind eine Augenweide und Beweis dafür, dass die Kunst des Bühnenbilds in Italien noch lebendig ist. Da kann man getrost auf Videoprojektionen verzichten.

Traditionell ist auch die Regie von Stefano Mazzonis Di Pralafera, und Extravaganzen wären seiner Hauptdarstellerin auch kaum zuzumuten, denn Angela Meade besitzt zwar eine wundervoll reiche, schön timbrierte Sopranstimme, die sie auch zum Liebling des Turiner Publikums macht, widerspricht aber der landläufigen Meinung, korpulente Opernsängerinnen seien dem Publikum heute nicht mehr zuzumuten. Zudem wurde ihr ein sehr vorteilhaftes Kostüm zuteil, und so ist der Genuss einer Stimme, die die Ensembles überstrahlt, deren farbenreiches Piano ebenso entzückt wie die Fähigkeit zu agogikreichem Singen, ein uneingeschränkter. Ein guter Partner ist dieser Giselda der Oronte von Francesco Meli, der seine Karriere sehr klug aufbaut, allmählich von Rossini und dem Belcanto zu Verdi übergewechselt ist und nun mit tragfähiger mezza voce, strahlenden Spitzentönen und einem angemessen dunkel gewordenem Timbre nicht nur seine Arie, das populärste Stück der Oper, sehr schön singt, sondern sich auch neben seiner Partnerin in den Duetten gut behauptet.

Ebenfalls von Rossini, aber auch von Mozart kommt Alex Esposito und singt nun den sich zum Eremiten wandelnden Erzbösewicht Pagano. Vielleicht hat er als Leporello und mit Ähnlichem einen so großen Eindruck gemacht, dass man ihm den basso profondo noch nicht abnimmt? Irgendwie wirkt er in der Partie noch zu leichtgewichtig, die Stimme nicht dunkel genug, und den gesamten Abend über wundert man sich darüber, dass außer ihm, der plötzlich mit langem weißem Bart erscheint, niemand auf der Bühne gealtert ist. Auch sein Bruder Arvino bleibt jugendlich bis zum Ende, gesungen von Giuseppe Gipali, den man sonst im ersten Fach als Liebhaber gewohnt ist, der in der Höhe recht gepresst klingt, ansonsten aber schon beinahe eine Luxusbesetzung ist. Lavinia Bini bleibt unauffällig als Viclinda, eher profilieren mit hübschem Mezzosopran kann sich Alexandra Zabala als Sofia. Antonio Di Matteo ist ein sehr ansehnlicher Pirro, Giuseppe Capoferri dumpf als Acciano.

Herrliche Chöre erfahren durch die Kreuzritter und die mitreisenden Damen eine angemessene Darbietung, das Orchester unter Michele Mariotti spielt mit viel Brio, die Visione vor dem letzten Akt wird sehr eindrucksvoll vom Streicher-Solisten zu Gehör gebracht. Ein schöner Opernabend ist garantiert (Dynamic 57826). Ingrid Wanja

Stimmakrobatik

 

Einen gutgelaunten Herrn mit dem Rasiermesser im Anschlag sieht man neben einem weit weniger amüsierten Individuum mit eingeseifter unterer Gesichtsregion auf dem Cover von Nicola Alaimos Bongiovanni-CD mit dem Titel Largo al factotum und begreift sofort: Hier geht es um einen Sänger, der zwar nicht gleichzeitig, aber doch in einem überschaubaren Zeitraum unterschiedliche Rollen aus ein und derselben Oper singen kann. Das ist schon ein heikles Unterfangen, wenn der Rollentausch innerhalb weniger Tage geschieht, erscheint fast unmöglich während eines Konzerts innerhalb weniger Minuten , ist aber im Februar 2018 während eines Auftritts im Teatro della Fortuna in Fano geschehen, ja vereint nicht nur zwei, sondern drei Rollen aus Rossinis Figaro und ebenso drei aus des Komponisten Cenerentola in einer Stimme. Damit und mit Arien aus L’Italiana in Algeri und Il Viaggio a Reims wird der Stimme des Bassbaritons, der aus Liebe zu seinem bis vor einiger Zeit bevorzugten Komponisten Bürger von Pesaro wurde,  der Wechsel vom Kavaliersbariton, zum Bassbuffo und zudem noch zum  basso nobile zugemutet. Das alles, nachdem er seit einiger Zeit bereits mit Erfolg im Verdi-Fach tätig ist, Ezio, Falstaff, Luna und sowohl Paolo als Simone Boccanegra gesungen hat. Dass man bei einem derartigen Auf und Ab der Stimme, bei einem derartigen Hin und Her zwischen den Fächern an einem einzigen Abend keine herausragende Leistung, die bereits und allein in der Vielfalt besteht, erwarten kann, ist verständlich. Aber es gibt auch keine Totalausfälle.

Die Auftrittsarie des Figaro wird nicht mehr oder weniger als anständig vorgetragen, die Stimme erscheint für die Partie etwas zu dunkel und schwer, es mangelt etwas an Eleganz und Geschmeidigkeit. Besser gelingt die Arie des Bartolo, solange sie sich nicht in den berüchtigten Prestissimoteilen bewegt. Für den Basilio ist das Timbre ungewohnt hell, was dem colpo di canone das Dicke-Bertha-Format nimmt. Noch immer gut mit den Fiorituren des Dandini kommt die Stimme zurecht, die nicht mehr ganz die Rossini-Leichtigkeit hat, zwei der drei Arien des Don Magnifico werden mit Lust am Chargieren gesungen, der Alidoro überzeugt durch weitgespannte Bögen, die erwünschte balsamische Wirkung dieser schwierigen Arie stellt sich beim Zuhörer immerhin teilweise ein. Am meisten in seinem Element scheint sich der Bariton bei der Verkörperung des Taddeo aus der Italiana in Algeri zu befinden, hier wirkt er frei und will nicht vortäuschen, was er eigentlich nicht ist. Gelungen ist auch der erste Teil der Arie des Don Profondo aus Il viaggio a Reims, wenn die einzelnen Nationalitäten und ihre Sprachen, denen die Reisenden angehören, imitiert werden. Insgesamt staunt man über das doch partielle Gelingen des Vorhabens, ganz unterschiedliche Anforderungen an die Stimme und die Technik unter einen Hut zu bringen, doch die wahren Spezialisten ihres jeweiligen Fachs können so doch nicht erreicht werden. Das Orchestra Sinfonica G. Rossini unter Mirca Rosciani macht seinem Namen Ehre und begleitet hilfreich.

Das Booklet ist, wie bei Bongiovanni aus Bologna die Regel, ganz vorzüglich und sehr informativ, man fragt sich einmal mehr, warum sich das Label immer noch mit 70 Jahren Bestehens brüstet, obwohl mittlerweile bereits 113 Jahre seit der Gründung verstrichen sind (Bongiovanni GB2571 1-2). Ingrid Wanja

 

Drei und Sechs  und ein Fake

 

Wurde der Dirigent Hans Knappertsbusch (1888-1965) lange Jahre primär als großer Wagner-Interpret angesehen und galt insbesondere als der Experte für das Bühnenweihfestspiel Parsifal, so trat sein umfangreiches Wirken auch als Konzertdirigent demgegenüber beinahe schon ungebührlich in den Schatten. Vor allem im deutschen Repertoire war der Kna zu Hause, gewissermaßen bei den drei großen Komponisten mit dem „B“ im Nachnamen: Beethoven, Brahms und Bruckner. Die letzteren beiden berücksichtigt Profil Edition Günter Hänssler nun mit einer 10 CDs umfassenden Kollektion (PH18048). Darin versammelt sind die „kompletten“ Sinfonien von Johannes Brahms (worauf noch zurückzukommen sein wird) sowie die Sinfonien Nr. 3, 4, 5, 7, 8 und 9 von Anton Bruckner, also diejenigen, welche Knappertsbusch vom Meister von St. Florian dirigierte. Die Sechste sparte er aus, was allerdings seinerzeit nicht ungewöhnlich war, galt sie doch als die schwächste der späteren Werke. Dass die frühen Sinfonien fehlen, sollte keinen verwundern; sie waren zu Knappertsbuschs Lebzeiten alles andere als im Standardrepertoire etabliert und tun sich bekanntlich noch heute schwer, sich im Konzertleben zu behaupten.

 

Knappertsbusch-Sammlern sei bereits an dieser Stelle versichert, dass sie diese Box im Grunde genommen nicht benötigen, da alle darin enthaltenen Aufnahmen seit vielen Jahren in anderweitigen Erscheinungen zu haben sind. Gleichwohl ist es auf den ersten Blick sicherlich reizvoll, sie allesamt in einer handlichen und einheitlichen Kollektion vorliegen zu haben. Wer sich unter den Verehrern dieses Dirigenten aber erhofft hatte, Profil sei ein regelrechter Coup gelungen, der wird leider ernüchtert: Wenn der Titel der Box nämlich suggeriert, hier sei auch eine authentische Aufnahme der ersten Sinfonie von Brahms inkludiert worden, dann fiel das Label auf einen Hoax herein. Es hat sich nach heutigem Kenntnisstand nämlich bedauerlicherweise kein Tondokument dieses Werkes unter Knappertsbusch erhalten. Ja er scheint die heroische Erste, von Hans von Bülow als „Beethovens Zehnte“ gepriesen, gar nicht besonders geschätzt zu haben, da nur eine einzige Nachkriegsaufführung, 1947 in Wien, belegt ist. Zwar gastierte er, wie das Booklet weismachen will, 1956 tatsächlich in Dresden und dirigierte die dortige Sächsische Staatskapelle, doch stand dieses Werk mitnichten auf dem Programm. Nun muss man indes fairerweise hinzufügen, dass bereits auf dem Label Andromeda vor Jahren eben diese angebliche Knappertsbusch-Aufnahme vorgelegt wurde (ANDRCD 5066). Findige Bewunderer des Dirigenten konnten sogar herausfinden, dass es sich in Wahrheit um einen Mitschnitt Otto Klemperers mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester aus dem Jahre 1955 handelt. Wenn man genau hinhört, fällt diese geradlinige, gleichsam nüchtern-sachliche Lesart auch ohne dieses Wissen aus dem Rahmen. Man vergleiche nur einmal die Finalsätze dieser Ersten und der unzweifelhaft von Knappertsbusch dirigierten Zweiten mit den Münchner Philharmonikern von 1956. Wo letztere nicht an Pathos spart und durch eine fast schon wahnwitzige Agogik mit abenteuerlich anmutenden Tempowechseln aufwartet, die ein typisches Merkmal dieses Dirigenten sind, wirkt die Erste auffällig zurückhaltend und ohne jegliche Extravaganzen. Man muss beinahe sagen: Glücklicherweise ist diese eher durchschnittliche Darbietung nicht vom großen Kna. Die ungleich gelungenere Zweite wurde übrigens in der vor kurzem erschienen Jubiläumsbox 125 Jahre Münchner Philharmoniker ebenfalls bedacht und erfuhr somit (neben einer fulminanten Eroica von 1953) ihre späte offizielle Veröffentlichung.

 

Ein ganz besonders inniges Verhältnis verband Knappertsbusch mit Brahms‘ Dritter, seinem Parsifal unter den Sinfonien. Wohl keine andere Sinfonie hat er mehr geliebt und öfter dirigiert als diese. Daher rührt auch der Umstand, dass ungewöhnlich viele Mitschnitte überliefert sind, selbst noch aus seinen letzten Jahren. Profil entschied sich für eine etwas frühere Aufnahme von 1955 mit den Wiener Philharmonikern, welche die ganz späten extremen Tempovorstellungen noch nicht so ausgeprägt aufweist, freilich gleichwohl fast 39 Minuten dauert. Gleichsam in jedem Takt wird die absolute Begeisterung des Dirigenten für diese Sinfonie ersichtlich. Schade, dass keine einzige seiner Interpretationen davon für die Nachwelt in Stereo festgehalten wurde – sie würde sich wohl auch heute noch einer größeren Bekanntheit erfreuen. Es ist jedenfalls auffällig, dass ausgerechnet Knappertsbusch, der Augenzeugenberichten zufolge ein preußischer General hätte sein können, für diese vielleicht intimste Komposition der Spätromantik schwärmte. Auf den ersten Blick würde man ihn ja eher bei den dramatischeren Sinfonien Nr. 1 und 4 verorten. Die Vierte dirigierte er zumindest etwas häufiger als die Erste; es haben sich zwei Tonaufnahmen erhalten, von denen Profil auf diejenige von 1953 aus Köln zurückgriff (es gibt noch eine von 1952 mit dem Bremer Philharmonischen Staatsorchester, die orchestral etwas abfällt). Die Tempi sind nicht einmal unbedingt besonders langsam, wobei wir keine Interpretation aus seinen letzten Lebensjahren haben. Monumental und im besten Sinne deutsch die Coda des Kopfsatzes, sehr verinnerlicht der langsame Satz, wild herausfahrend das Scherzo und an Dramatik überbordend das Finale.

Bei den Bruckner-Aufnahmen dominieren die Berliner (Nr. 4, 8 und 9) und die Wiener Philharmoniker (Nr. 5 und 7). Lediglich bei der Dritten von 1954 wurde auf das Bayerische Staatsorchester, in einem gewissen Sinne eigentlich das Knappertsbusch-Orchester (er war ja langjähriger Bayerischer Generalmusikdirektor in München), zurückgegriffen. Bei diesem Komponisten bediente sich Knappertsbusch bis zuletzt der heute als „korrumpiert“ bezeichneten Fassungen von Loewe und Schalk; lediglich die in der Fassungsfrage wenig betroffene Siebente ist hiervor quasi ausgenommen. Diese Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern von den Salzburger Festspielen 1949 wurde zurecht schon vor langem offiziell herausgebracht (Orfeo C 655 061 B). Sie wird ihrem legendären Ruf gerecht. Einmal mehr gilt: Wäre nur der Klang ein wenig besser.

 

Tontechnisch am überzeugendsten ist in der gesamten Box fraglos die Einspielung der Fünften von Bruckner, handelt es sich hierbei doch um eine für Decca produzierte Studioaufnahme, ebenfalls mit den Wiener Philharmonikern, aus dem Jahre 1956. Allerdings ist der hier vorliegende Transfer hörbar nicht annähernd so ideal wie der von Decca selbst, zumal im glasklaren japanischen Remastering (Decca UCCD-9634). Die Einspielung gilt unter Kennern als berühmt-berüchtigt, fallen die Eingriffe der zugrunde gelegten Schalk-Edition doch ganz drastisch aus. Knappertsbusch setzte diese Fassung damals bei den Aufnahmesitzungen durch, obwohl schon Mitte der 50er Jahre eigentlich bekannt war, dass sie schwerlich Bruckners Grundintention entsprach. Die Striche sind makaber, die Instrumentierung megalomanisch anmutend mit verstärkten Blechbläsern und dem für Bruckner eigentlich untypischen und hier zumal im Finalsatz exzessiven Einsatz des Beckens. Trotz all dieser Einschränkungen müsste man lügen, behauptete man, die Coda ganz am Ende verfehlte ihre apotheotische Wirkung. In ihrer Theatralik beim Durchschreiten des Himmelstores mit den englischen Fanfaren erinnert es schon fast an einen Hollywood-Monumentalfilm der goldenen Ära. Auch wenn das Ergebnis mehr nach Wagner klingt: Allein diese Bruckner-Travestie ist die Box wert.

 

Die restlichen Sinfonien liegen allesamt aus Berlin vor. Bei der Romantischen handelt es sich um die einzige Kriegsaufnahme in der Box (September 1944). Klanglich fällt sie erstaunlicherweise nicht wirklich ab. Auch wenn nicht ganz die enorme Intensität von Celibidache erzielt wird (die aber auch ohne ihresgleichen geblieben ist), handelt es sich um eine noch heute konkurrenzfähige Interpretation, Fassung hin oder her. Zu den interessantesten Aufnahmen der Kollektion gehören aber besonders die Achte und die Neunte aus den Jahren 1951 bzw. 1950. Die Überlegenheit des Berliner Philharmonischen Orchesters demonstriert sich gerade in der Live-Situation dieser Konzertmitschnitte, ist es doch trotz der Proben-Aversion des Dirigenten im Stande, ihm weitestgehend tadellos zu folgen. Sinfonie Nr. 8 ist ein bisschen weniger titanenhaft als die ganz späte Studioeinspielung mit den Münchner Philharmonikern von 1963 (Westminster 471 211-2), wirkt dadurch insgesamt flexibler und passt sogar auf eine einzige CD. Vor allem im Finalsatz ist Knappertsbusch hier geschlagene dreieinhalb Minuten flotter unterwegs als in München. Wahrlich apokalyptisch dürfen die Blechbläser in der letzten Minute aufheulen, selbst wenn es die eingeschränkte Tontechnik eher erahnen lässt. Die Neunte schließlich beschließt das Ganze sehr adäquat und darf in derselben Liga ansiedelt werden wie Furtwänglers berühmte Kriegsaufnahme von 1944. Insbesondere das Scherzo kommt bei Knappertsbusch geradezu gruselig-gespenstisch herüber, wobei dies mutmaßlich auch ein wenig an der hier gespielten „verkehrten“ Fassung liegen mag.

Fazit: Trotz einer Fake-Aufnahme und nicht immer idealem Transfers eine summa summarum doch besitzenswerte Ansammlung bedeutender Interpretationen dieses legendären Dirigenten, die gerade für Einsteiger in Sachen Knappertsbusch von Interesse sein dürfte (Erscheinungsdatum 2018). Daniel Hauser

BEL RIPOSO

 

Die Vivaldi-Edition des französischen Labels Naïve ist vermutlich aktuell das ambitionierteste diskographische Vorhaben, über 400 Autographen sollen eingespielt werden, mit der Oper Il Giustino soll nun mit CD-Erscheinung Nr. 58 die 85. Werkeinspielung und die 18. Oper auf dem Markt sein. Uraufgeführt wurde die Oper in der Karnevalssaison 1724 in Rom, also in durchgängig männlicher Besetzung, die Aufnahme verzichtet allerdings auf Countertenöre. Das Libretto stammt ursprünglich von Nicolò Beregan und wurde 1683 von Legrenzi erstmals vertont; Händels gleichnamige Oper von 1737 beruht ebenfalls auf einer Überarbeitung von Beregans Textbuch. Es ist nicht die erste Einspielung dieser Vivaldi-Oper, und das aus gutem Grund: Giustino ist quasi eine Anthologie wirksamer Arien in effektvollen Szenen und komplett erhalten (und zwar als einzige der zwischen 1721 und 1726 komponierten Opern). Virgin brachte 2002 eine stark gekürzte Aufnahme mit Alan Curtis und Il complesso barocco auf zwei CDs heraus, Bongiovanni im selben Jahr eine umfängliche Version mit Esteban Velardi und dem Alessandro Stradella Consort auf vier CDs. Die historisch inspirierte Handlung der Oper dreht sich um den späteren byzantinischen Kaiser Justin I. (nicht zu verwechseln mit seinem Adoptivsohn Justinian I.), der es im 6. Jahrhundert als Bauersohn über eine militärische Laufbahn bis an die Spitze des Staates schaffte. Vivaldis Giustino zeigt eine erfundene Episode aus seiner Karriere. Das frisch verheiratete Kaiserpaar von Byzanz Anastasio und Arianna sind in Gefahr, die Stadt wird vom Tyrannen Vitaliano belagert, der Arianna als Witwe des verstorbenen Kaisers Zeno selber zur Frau will und sie gefangen nehmen kann. Arianna bleibt Anastasio treu und verweigert sich dem Usurpator, Vitaliano läßt sie an einem Felsen ketten, an dem ein Seeungeheuer sein Unwesen treibt, das sie töten soll. Durch einen Schiffbruch landen Anastasio und Giustino, der Anastasios Schwester Leocasta liebt, zufällig an genau diesem Felsen, töten das Monster, befreien die Kaiserin und können letztendlich Vitaliano besiegen – ein lieto fine für die beiden Paare. Bei Vivaldis Opern hört man heute den Instrumentalkomponisten heraus. Tendenziell sind die Arien flächig koloriert und tonmalerisch oder energiegeladen vibrierend. Vivaldi kopierte seine Musik gerne und verwertete sie in anderen Stücken. In Giustino sollen über 20 Nummern aus früheren Werken entlehnt sein, Vivaldi hat hier quasi eine eigene anthologische Zusammenstellung beliebter Nummern erstellt. Die Musik blieb, der Text wurde oft neu unterlegt – den szenischen Moment scheinen Vivaldis Arien deshalb auch mal zu verfehlen. In Giustino scheint Vivaldis Bemühen um dramatische Struktur allerdings spürbar, der 1. Akt endet mit der Konfrontation zwischen Arianna und Vitaliano, der 2. Akt mit der effektvollen Arie „Ho nel petto un cor si forte“. Unter den 38 Arien dieser Oper sind einige bemerkens- und hörenswerte Stücke und auch das heutige Barockpublikum hat mit mancher willkürlich wirkenden Wendung kaum noch Probleme – Giustino wirkt beim Anhören dieser Neuaufnahme wie ein Werk, dass man gerne live hören wollte.

Acht Sänger singen neun Figuren, auf Countertenöre wird verzichtet. In der Titelrolle hört man Delphine Galou (sie ist als stimmlich sicherer Contralto auch bei der aktuellen Aufnahme von Händels Serse bei DG beteiligt). Giustino verleiht sie in „Bel riposo de’mortali“ eine samtig angeraute Weichheit, „Ho nel petto“ benötigt als instrumentelle Besonderheit eine Ur-Zither – ein Psalterium – , mit dem Galou ausdrucksstark kontrastiert, „Su l’altar di questo nume“ ist heroisch gelungen – eine starke Besetzung. Als Anastasio fehlt der deutschen Mezzosopranistin Silke Gäng ein wenig die stimmliche Verführungskraft. Sieben Arien hat sie zu singen, darunter die bekannten und auch in Konzerten gerne aufgeführten „Vedrò con mio diletto“ sowie „Sento in seno“ – Gäng interpretiert diese von gezupften Streichinstrumenten begleitete Arie fast zu schlicht, ein wenig mehr plastische Ausschmückung hätte der Expressivität gut getan. Die Arianna von Emöke Barath hat vor allem Liebesbekundungen zu singen, ihre fünf Arien interpretiert sie höhen- und koloratursicher, „Mio dolce amato sposo“ beendet stark den 1. Akt, das Vogelgesang imitierende „Augelletti garruletti“ ist ein wirkungsvoll interpretiertes Arioso. Tenor Emiliano Gonzalez Toro singt gerne Bachs Evangelisten, die sechs Arien des tyrannischen Vitaliano gelingen mit flexibler Stimme, die bei höher gelegenen Koloraturen auch mal meckernd klingen kann, „Vanne sì, superba, va“ fehlen ein wenig der Hochmut und die Wut, „All’armi, o guerrieri“ mit Trompetensolo hat hingegen Emphase. Die Schweizer Sopranistin Ana Maria Labin hat als Leocasta fünf Arien, die sie mit warmer und strahlender Stimme und schönen Koloraturen gefühlvoll interpretiert, darunter auch das schöne Naturbild „Senti l’aura“, das Lamento „Senza ‚amato ben“ und das gut gelaunte „Sventurata navicella“. Die Arien des General Amantio singt Ariana Vendittelli mit schönem Sopran, in den beiden kleinen Nebenrollen als Andronico (Bruder des Vitaliano) und Polidarte (ein Militär im Dienste Vitalianos) ist Tenor Alessandro Giangrande zu hören. Rahel Maas hat als Fortuna genau eine (und wahrscheinlich den Fähigkeiten des damaligen Sängers entsprechend eine wenig bemerkenswerte) Arie, wenn sie Giustino im Traum erscheint, zuvor wird ihr Erscheinen allerdings orchestral eingeleitet vom Beginn des Frühlings aus den Vier Jahreszeiten.

Der italienische Cembalist und Dirigent Ottavio Dantone erweist sich als Interpret eines energiegeladenen und doch ausgeglichenen Vivaldi, der starke, aber keine überzogenen Akzente setzt. Das Barockensemble Accademia Bizantina umfasst neben dem bereits erwähnten Psalterium weiterhin Streicher, Fagott, Schlagzeug und Barockgitarre sowie doppelt besetzte Oboen, Trompeten, Hörnern und Cembalos. Die Instrumentierung ist abwechslungsreich, musiziert wird atmosphärisch dicht (auch sonst, denn den Sturm zu Beginn des 2. Akts lässt man bspw. 15 Sekunden als unterlegte Tonkonserve wirken), Cembalo und Gitarre sind präsent und schön heraushörbar. Die empfehlenswerte, wenn auch nicht restlos überzeugende Studioaufnahme erfolgte im April 2018 in Ravenna und beruht auf einer Edition des renommierten Reinhard Strohm. Das Beiheft ist mehrsprachig, das Libretto allerdings nicht in Deutsch (was den deutschsprachigen Sammler erbittert, sind doch die drei deutschsprachigen Länder der größte Absatzmarkt in Europa!/ G. H.) (3 CD, Naïve, 876368) Marcus Budwitius

Allan Evans

 

Der schwarze Bass-Bariton Allan Evans starb im Alter von 77 Jahren in Mannheim. Als langjähriges Mitglied der Opernhäuser in Mannheim, Düsseldorf und Basel war er seinen Anhängern ein beliebter Interpret, auch an der DOB Berlin hörte man ihn gern, namentlich als Don Giovanni . In Mannheim bleibt er als Arkel in Debussys Pelléas et Mélisande in Erinnerung. Neben seinen italienischen Partien war er ein gesuchter Wagnersänger. Nachstehend ein Auszug aus dem – wie stets unersetzlichen – Kutsch/Riemens. G. H.

 

Evans, Allan, Bariton (geb 1941 Macon/ Georgia  – gest. 7. November 2018 in Mannheim) entstammte einer farbigen Arbeiterfamilie, die acht Kinder hatte. Als Knabe sang er in einem Kirchenchor und wurde durch eine Lehrerin zuerst auf seine schöne Stimme aufmerksam gemacht. Er konnte dann das Studium am Musikinstitut der Universität St. Paul (Minnesota) aufnehmen und sang damals bereits kleinere Partien in Oratorien. 1962-66 setzte er seine Ausbildung an der Juilliard Music School New York fort (wo er 1965 in der amerikanischen Erstaufführung von H.W. Henzes »Elegie für junge Liebende« in der Partie des Dr. Reichmann mitwirkte), kam aber 1966 zur weiteren Ausbildung nach Deutschland. Er studierte an der Musikhochschule München, dann am Mozarteum in Salzburg und namentlich bei Hilde Zadek in Wien. Er begann seine eigentliche Bühnenkarriere 1968-72 am Stadttheater von Trier und wurde dann vor allem als Crown in »Porgy and Bess« von Gershwin bekannt, eine Rolle, die er u.a. in Bremen, Essen, Zürich und Graz vortrug. Er war als Gast 1968-70 der Wiener Kammeroper, 1973-76 dem Stadttheater Bremen und 1976-79 dem Opernhaus Zürich verbunden. In Graz sang er den Escamillo in »Carmen« und den Pizarro im »Fidelio«. In Köln, wo er seinen Wohnsitz nahm, trat er als Golo in »Pelléas et Mélisande« auf. In den Jahren 1977-87 gehörte er dem Ensemble des Stadttheaters von Basel an; seit 1987 wirkte er am Nationaltheater Mannheim. Aus seinem Bühnenrepertoire sind noch der Titelheld im »Don Giovanni« (Mannheim, Augsburg 1991), der Claggart in »Billy Budd« wie der Balstrode in »Peter Grimes« von Benjamin Britten, der Amonasro in »Aida« (Staatstheater Wiesbaden 1996), der Fliegende Holländer, der Wotan im Nibelungenring, der Amfortas im »Parsifal«, der Titelheld in »Jonny spielt auf« von E. Křenek (Theater an der Wien 1980), der Macbeth wie der Simon Boccanegra in den gleichnamigen Verdi-Opern, der Scarpia in »Tosca« (Mannheim 1994), der Boris in »Lady Macbeth von Mzensk« von Schostakowitsch, der Eugen Onegin, der Barak in der »Frau ohne Schatten« und der Orest in »Elektra« von R. Strauss zu erwähnen. 1996 wirkte er am Stadttheater von Bern in der Uraufführung der Oper »Der Sturm« von Daniel Schnyder als Caliban mit.

[Nachtrag] Evans, Allan; 1998 trat er am Nationaltheater Mannheim als Dr. Schön (und als Jack the Ripper) in »Lulu« von A. Berg auf, 1999 am Staatstheater Kiel als Wanderer im »Siegfried«. [Lexikon: Evans, Allan. Großes Sängerlexikon, S. 7092 (vgl. Sängerlex. Bd. 2, S. 1063; Sängerlex. Bd. 6, S. 302) (c) Verlag K.G. Saur]; Foto oben: Allan Evans/ Macon.com

Wann fährt die nächste U-Bahn?

 

„Hatte jemals jemand im Publikum eine U-Bahn gesehen?“, fragte Olive Moorfield zurecht nach der Deutschen Erstaufführung von Leonard Bernsteins Wonderful Town. Der furiose Erfolg von Kiss me Kate, mit dem Marcel Prawy das Wiener Publikum auf das neue Genre des Musicals einschworen hatte, war wenige Monate später im November 1956 mit Bernsteins Werk nicht zu wiederholen. „Diese Show“, so nochmals die Moorfield, „gehörte einfach nach York – das machte auch die Übersetzung viel schwieriger -, und wer die Stadt nicht kennt, der konnte auch mit Bernsteins Musical nichts anfangen!“ Das Wort Musical setzte Heinrich Kralik in der Presse damals übrigens noch in Anführungszeichen: „Musical“. Kralik, der einst für Mahler und Bruckner gekämpft hatte, war immer noch, wie den Pressestimmen dieser Werkmonographie zu entnehmen, noch der Aufgeschlossenste der Wiener Kritiker. Solches erfährt man, und vieles mehr, aus der Werkmonographie „…wie die Stadt schön wird“, welche die Staatsoperette Dresden ihrer Aufführung von Bernsteins Wonderful Town im Vorjahr beisteuerte (Herausgegeben von Heiko Cullmann und Michael Heinemann, Thelem Verlag, Dresden 2017, 160 Seiten, ISBN 9783945363638).

„Wonderful Town“: Der Broadway-Klassiker von Leonard Bernstein neu interpretiert von Matthias Davids in deutscher Sprache für die Staatsoperette Dresden mit Sarah Schütz, Olivia Delauré, Bryan Rothfuss, Marcus Günzel, Gerd Wiemer, Jannik Harneit, Thomas Bayer, Anne Schaab, Christopher Hemmans, Dietrich Seydlitz (Hitspan Records) – Direktverkauf bei der Staatsoperette Dresden

Volksopern-Dramaturg Christoph Wagner-Trenkwitz, der darin das Zustandekommen der deutschen Erstaufführung resümiert, verweist auch richtigerweise darauf, dass jedes amerikanische Musical eine „Prise New York“ enthalte. Das hatte Bernstein bereits 1944 mit On the Town bewiesen, dem 24stündigen Landurlaub dreier Matrosen, in dessen Verfilmung Frank Sinatra mit „New York, New York“ – allerdings nicht mit jenem „New York, New York“-Song mit der Musik von John Kander aus Martin Scorseses Film – der Stadt ein Denkmal setzte. Anders als das realistische On the Town von 1944 ist der Nachfolger Wonderful Town von 1953 ein nostalgisches Märchen.

Die Bedeutung New Yorks, von der Bernstein sagte, „Diese Stadt fesselt mich noch immer. Kein Wunder, dass ich dauernd Musik über sie schreibe“, für amerikanische Komponisten, Songwriter und Theatermacher von der Tin Pan Alley über die Gershwins und den Immigranten Weill bis zu Bernstein untersucht Gisela Maria Schubert in „Variationen über New York“: „Während On the Town in der unmittelbaren Gegenwart seiner Entstehungszeit spielt, versetzten die Autoren Wonderful Town, vorgegeben durch die literarische Vorlage … in die dreißiger Jahre zurück“. Die Entstehung des Stückes, dessen Grundlage die in The New Yorker veröffentlichten und für den Broadway 1940 dramatisierten My Sister Eileen Kurzgeschichten der Ruth McKenney bilden, worin sie schildert, wie sie Mitte der 30er Jahre mit ihrer Schwester Eileen von Ohio ins New Yorker Greenwich Village kam, ist so spannend zu lesen, wie die diversen verschlüsselten Anspielungen – die Schwestern landen in der Christopher Street – die im angespannten politischen Klima von den Besuchern durchaus verstanden wurden. So interessant die Lebensgeschichte der wirklichen Schwestern Ruth und Eileen ist auch die Tatsache, dass die Hollywood-Veteranin Rosalind Russell, die bereits im Film mitgewirkt hatte, und deren Karriere ihren Gipfel überschritten hatte nun auch für das Broadway-Musical zur Verfügung stand. Ihre Schwester spielte eine junge Sopranistin, die gerade die Juilliard School absolviert hatte. Man liest sich fest bei den Texten über das amerikanische Musiktheater an und für sich und das Musical insbesondere sowie den Einblicken in die Werkstatt Bernsteins und seiner Textdichter. Sehr lesenswert.

Das ist alles andere als ein 160seitiges Programmheft, wie ich erwartet hatte. Toll, dass sich das Gelesene in dem Mitschnitt eines Konzerts des London Symphony Orchestra unter Simon Rattle vom Dezember 2017 (LSO 0813) nachprüfen und erleben lässt. Rattle stürzt sich mit dem Feuereifer eines Michael Tilson Thomas in die Musik, die vom Orchester mehr als nur broadwaytaugliches Begleiten verlang. Das klingt so witzig und animierend, dass man es gerne ein zweites Mal hört. Schade, dass es keine Texte gibt und die Besetzung der 19 Nummern nicht angegeben ist. Klar die Erinnerung an „Ohio“ ist ein Duett der beiden Schwestern Ruth und Eileen (Alysha Umphress und Danielle de Niese) in allerbester Musical-Manier, etwas altmodisch doch nicht unraffiniert. So wie auch „One hundred easy ways to lose a Man“, das Bernstein für Russell maßschneiderte, die angeblich keine Melodie halten konnte. Alysha Umphress würde das fraglos gelingen; sie singt dazu mit einer ausdruckvollen, durchaus drastisch-lässigen Stimme, so auch in ihrer zweiten Solonummer „Swing!“, während de Niese das liebliche koloraturenzarte Gegenstück dazu bildet. Aus dem Ensemble sind Duncan Rock als Fußballspieler Wreck mit „Pass the Football“ zu nennen, dazu die Diner-Gäste Bob Baker (Nathan Gunn), Frank (Ashley Riches) und Chick (Stephen John Davis), welche die Schwestern in der Hoffnung auf einen Job zum Essen in ihre kleine Wohnung geladen haben. Nummer 10 nennt Bernstein „Conversation Piece“. Das könnte über nahezu allen Nummern stehen, denn stets handelt es sich um gesungene oder getanzte Konversation – etwa in der „Conga“ der brasilianischen Kadetten – dem naiven Duett „It’s Love“, in dem Eileen dem von beiden Schwestern geliebten Bob hilft, seine Gefühle für Ruth zu gestehen, oder in den letzten Nummern des zweiten Aktes, wo sich Blues, Ragtime und Foxtrott zu virtuosen Szenen mischen und sich Ruth eine glänzende Zukunft eröffnet. Bernstein ist mitten drin im brodelnden Greenwich Village. Kaum zu glauben, dass der junge Bernstein bei einem frühen Besuch von der Stadt angewidert war, von der „Verdorbenheit der Greenwich-Village-Bewohner“ und den „frenetischen Versuchen, die Atmosphäre der Nachkriegs-Bohème zu bewahren“.   Rolf Fath