Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Michel Hampes Comédie humaine 

 


Die einen lieben Austen-Verfilmungen oder Downtown Abbey, die anderen möglicherweise die Ausgabe von fünf Rossini-Opern, die Michael Hampe zwischen 1988 und 1992 als Zusammenarbeit der Kölner Oper und Schwetzinger Festspiele inszenierte. Aufgenommen im Schwetzinger Schlosstheater, bieten sie genau die Qualitäten der britischen Serien oder Literaturverfilmungen: akribische historische Genauigkeit, Stilgefühl und feinfühlige Charakterzeichnungen. Die fünf frühen Rossinis, also vier Farsen – in der Reihenfolge ihrer Uraufführung: Il cambiale di matrimonio von 1810, La scala di seta und L‘ occasione fa il ladro beide 1812, Il Signor Bruschino von 1813 – und der der nicht dazu passende Barbiere (leider nicht die fünfte Farsa L’inganno felice von 1812) bilden so etwas wie einen Zyklus, sozusagen Rossinis (und Michael Hampes) Comédie humaine. Das mag etwas hoch gegriffen sein. Auf jeden Fall liebäugeln sie nicht mehr mit den zappelnden Harlekinaden der Commedia dell‘ arte, sondern wenden sich dem französischen Lustspiel und der bürgerlichen Gesellschaftskomödie des 19. Jahrhunderts zu.

Ehrlich gesagt, hatte ich mir von dieser Box Rossini Early Operas (EuroArts 5 DVD 2057388, vorher bei verschiedenen Firmen wie Arthaus etc.) nicht allzu viel erwartet. Hatte ich Michael Hampe nicht richtig eingeschätzt oder früher einfach das Falsche gesehen? Doch mit welchem Ernst und Seriosität er die frühen Werke Rossinis behandelte, war vor dreißig Jahren, als sie hierzulande nicht all zu oft anzutreffen waren, etwas Besonders. Das ist heute noch etwas Besonders. Erlebt man doch gerade die Kurzopern als klamottige Fingerübungen, scheinbar witzig, töricht aktualisiert. Es sind aber, wie Hampe und Gelmetti – beim Barbiere stand noch Ferro am Pult – beweisen, ausgezeichnete Charakterkomödien, an denen man sich schier nicht satt sehen kann. Es gilt genau das, was Sebastian Rother im Beiheft zu La Cambiale di matrimonio befindet,Im Grunde handelt es sich bei diese Stoff um eine typische bürgerliche Charakterkomödie mit dezent sozialkritischem Anstrich, wie sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Mode kamen – wenn auch einzig der galanten, geistreichen Unterhaltung verpflichtet und fern jeder moralisierenden und aufklärerischen Ambitionen wie sie in de Folge der Französischen Revolution allerorten anzutreffen waren“.

Die Aussage mag ein Gemeinplatz sein, doch selten erlebt man diese Komödien so genau und ernsthaft in Szene gesetzt, eben großes Theater wie Gaudenzio in Il Signor Bruschino festhält, „Nel teatro del gran mondo“/ „Im großen Welttheater“. Es ist eine pure Freude. Hampe standen erste Kräfte zu Verfügung, die diese Einsichten vom Kaufmanns-Kontor und britischen Herrenzimmer über das Damenboudoir und Aussichtsidyllen bis zum Salon des Ancien Régime samt Tapetentüren und Terrassen zu einer Stilkunde des gesellschaftlichen Miteinanders der besseren Stände machen: Carlo Diappi, den durch die Strehler-Schule gegangenen Ezio Frigerio und Carlo Tommasi sowie Mauro Pagano. Da stimmt alles vom Muster der Tapeten, der Draperien, den Lüstern, den Kanapees, den Kostümen, Rüschen, dem Frühstücksgeschirr, Wohlfühl-Einraum-Bühnenbilder für die 90-minütigen Einakter, farblich gut abgestimmt, kommod eingerichtet, mit Ausblich auf die Santa Maria della Salute oder den Triumphbogen, auf die Berge, das Meer (L ‚occasione braucht den Szenenwechsel) oder die italienische Landschaft, in Schuss gehalten von wuselnden mehr oder weniger aufdringlichen Dienstboten. Schöner Wohnen zu Rossinis Zeiten. Immer geht es um Geld und Liebe bzw. Liebe und Geld, reiche Geldsäcke hüten ihren Besitz und wollen ihn durch die Verheiratung der Töchter und Mündel mehren. Den Jungen geht es um Liebe statt Geld – und letzteres kommt dann dazu. Wie Hampe und seine Bühnenbildner und Kostümbildner das Thema variieren hat große Klasse, dieser Zyklus, der wegen des fehlenden L’inganno felice leider nicht ganz rund ist, ist ein theatralisches Ereignis. Regiehandwerk versteckt sich hinter Menschenbeobachtung. Hampe reiht nie Arien an Arien, sondern bezieht die beobachtenden, wartenden oder nur Stichworte liefernden Figuren stets mit ein.  Aus einer Arie oder einem Duett wird eine komplexe Szene, ein Gesellschaftsbild en minature. Ein Kosmos.

Da ist er wieder: der fabelfafte „Barbiere di Siviglia“ mit der jungen Bartoli aus Schwetzingen 1988, natürlich inszeniert von Michael Hampe in Ezio Frigerios hinreissender Ausstatung, nun bei Euroarts (im Vertrieb von Warner, 200118), eine der schönsten Video-Opern überhaupt – nichts wie haben wollen. G. H.

Gianluigi Gelmetti, ein Mittdreißiger und noch vor seiner Zeit beim SWR Radio Sinfonieorchester Stuttgart, war damals noch nicht die Koryphäe, als die er kürzlich bei Rossini in Wildbad wieder nach Baden-Württemberg zurückkehrte, aber eine gute Wahl. Er liebt diese Musik und die Sänger. Wie uns in diesen Werken immer wieder die gleichen Verhaltensmuster und Charaktere begegnen, treffen wir auf immer wieder die gleichen Sänger, die vor rund 30 Jahren unser Rossini-Bild prägten und bestimmten: voran viermal der jungenhaft schlanke und smarte, seine Fräcke mit Eleganz tragende, als Almaviva allerdings etwas penetrante David Kuebler, der nicht ganz so smarte, später  zum Heldentenor gewandelte Robert Gambill (Conte Alberto in L’occasione fa il ladro). Alle Wandlungen des Dieners und Begleiters und Freundes bis zum Gaudenzio durchläuft Alessandro Corbelli als glänzender Singdarsteller und singender Akrobat, der im Barbiere vermisst wird. Weniger Buffo als Liebhaber ist Natale de Carolis, dessen Karriere irgendwann eingeschlafen ist, ein präsenter vielseitiger Gestalter Alberto Rinaldi als Bruschino padre sowie Slook in La cambiale und Blansac in der Seidenen Leiter.  Man weiß gar nicht, in welcher Reihenfolge man alle nennen soll. Klar ist, es sind alles Sänger, die etwas vermitteln, den Gefühlsreichtum und die Abgründe aufzeigen, damit Mozart näherstehen als den italienischen Intermezzo-Drollerien. Stuart Kale ist ein runder Eusebio in L’occasione, Amelia Felle – ungleich divenhafter als Sofia in dem im gleichen Jahr aufgezeichneten Bruschino – und Carlos Feller, haben nicht die tollsten Stimmen, sind aber hinreißend zum Zuschauen in La cambiale di matrimonio (Feller dann auch als Bartolo). Luciana Serra hatte auch damals schon die nicht unbedingt charmanteste Stimme, aber mit unbestrittener Technik und Zierfreude singt sie die Giulia in La scala di seta und hat mehr Klasse als die sanftstimmig langweilige Susan Patterson als Berenice in Occasione, die sich leicht von ihrer Zofe Monica Bacelli als Ernestina ausstechen lässt. Wir treffen noch auf Janice Hall als Fanny in La cambiale, Edith Kertész-Gabry als Berta. Im dem von Daniele Ferro vibrierend dirigierten, 1988 offenbar als Versuchsballon gezündeten Barbiere,  ist die 22jährige Cecilia Bartoli als Rosina noch fern von der ratternden Koloraturmaschine späterer Jahre. Gino Quilico ist der draufgängerisch fesche good guy Figaro, der heftig akklamierte Robert Lloyd hinreichend zwielichtig als Basilio (Foto oben Ausschnitt aus dem „Baribiere“/ Euroarts).  Rolf Fath

Digitale Wunder

 

„What becomes a legend most“ (frei übersetzt: Was steht einer Legende gut) las man in den Siebzigern der USA einen Werbungspruch für herrliche schwarze Nerzmäntel. Eine Parade von Pop-Stars und besonders Sängern der Met präsentierte sie. Und womit wird heute eine Legende geehrt? Die Frage stellt sich für Maria Callas, die ihren 95. Geburtstag am 2. Dezember 2018 gehabt hätte. Pünktlich dazu tourte „Maria Callas“ als sie selbst (jaja) mit einer 4D-Hologramm-Show durch die Säle Amerikas und Europas, in Paris gleich zweimal (davon nachstehend mehr). Und zeigt geradezu beispielhaft, zu welchen Ergebnissen und Verirrungen die digitale Technik bei der Aufbereitung von Dokumenten und der Erschaffung von Images, von virtueller Realität, führen  kann. Zu digitalen Wundern, wenn man so will.

 

„Maria by Callas“/ Prokino

Denn es erschien im November 2018 eine bemerkenswerte DVD, „Maria by Callas“ von Tom Volf bei Prokino (201 362, als Bonus ein Interview mit dem Regisseur), auf der das ereignisreiche Leben der Diva mit vielen, vielen höchst seltenen und mir zumindest oft unbekannten Dokumenten aus ihrem Bühnen- und Privatleben sozusagen retro während eines TV-Interviews nacherzählt wird. Eva Matthes liest die eingestreuten späten Briefe der Callas während und nach der Onassis-Episode. Die große Fanny Ardant ist damit im französischen Original zu hören. Staunenswert digital aufgearbeitete Filmclips zeigen die Callas als Butterfly (!!!) in Bewegung und in Farbe 1950 in Mexico City, in Farbe auch im legendären Konzert in Paris 1958 sowie in einem mir unbekannten Clip ebenfalls in Farbe bei der Londoner Tosca (1964, 2. Akt – die Verfilmung der ganzen Oper war ja geplant und es kam nur zum 2. Akt, bislang in Schwarz-Weiß bei Warner DVD), einige Sekunden in Farbe auch die späte Londoner Norma 1964. Dazwischen viele, unendlich viele Clips aus ihrem Privatleben und manchen Backstage-Momenten. Im Mittelpunkt steht dabei ein bislang weitgehend unveröffentlichtes TV-Interview, das Fernsehlegende David Frost 1970 mit Callas führte.

„Maria by Callas“/London 1964/ Screenshot DVD/ Prokino

Es ist dieses Interview aus der Zeit ihres erzwungenen künstlerischen Asyls, das den Rahmen vorgibt. Den zum Teil indiskreten und CNN-typischen Fragen begegnet die Callas mit einer Mischung aus unglaublicher, fast masochistischer Offenheit, aber auch mädchenhafter Koketterie. Natürlich hat sie zu oft zu viel von sich erzählt, wiederholt mantrahaft ihre musikalischen und künstlerischen Credos auch hier. Aber sie gewinnt doch eine erneute überzeugende Glaubwürdigkeit. Als ob wir dies alles zum ersten Mal miterleben. Untermalt von dieser Bilderflut rollt sich das tragische Leben der Sängerin und zu spät erblühten Frau noch einmal vor unseren Augen auf. Ich hatte zu Beginn gedacht: bloß nicht noch ein Film über die Callas, alles ist doch gesagt. Nein, ich hatte mich geirrt. Dies ist ein anderer Film, einer, der betroffen macht, der das viel zu oft ausgepresste Leben, die Lebensumstände, die Einsamkeiten emotional plausibel macht und nahe bringt. Dem Lebensrhythmus der Callas folgt der Film mit seinem eigenen Tempo. Nach hektischem Beginn (schnelle Schnitte) verharrt er bei den entscheidenden Momenten, um dann zum Schluss die Eintönigkeit, die Gräue ihres Pariser Daseins abzubilden. Die letzten Bilder (nur Bilder!) von der irregeleiteten Tournee mit Di Stefano zeigen die Angst in ihren Augen, das Wissen um das Nicht-mehr-Genügen. Das Versagen vor ihren eigenen (zu?) hohen Maßstäben.

„Maria by Callas“/1970/ Screenshot DVD/ Prokino

Manche Informationen überraschen. So die Details der Freundschaft mit Onassis zum Beispiel, der ihr trotz der Ehe mit Jackie Kennedy als hilfesuchender Freund erhalten blieb. Manches wird ausgespart oder wird nur diskret gestreift, wo ich mir mehr erwartet hätte: die traumatische Jugend in Athen während der deutschen Besatzung, die nicht minder traumatischen  Beziehungen zu Mutter und Schwester (der Erbin). Callas die Tigerin in Dallas, als sie einen Gerichtsbeschluss zugestellt bekommt und die berühmten Furien-Fotos um die Welt gehen. Manches wird ausgewalzt: die dto. traumatische Trennung von Meneghini, die vielen Posen, der Flirt mit den Reportern. Aber an den entscheidenden Stellen kommt die Callas als die ganz Große und Kompromisslose herüber – etwa im Interview in Dallas, als sie gerade von Bing gefeuert wurde und sie sehr temperamentvoll ihre künstlerische Integrität verteidigt. „Meine Stimme ist kein Fahrstuhl!“ sagt sie woanders und geißelt zu Recht die Mottenproduktionen der Met und den ewigen Partnerwechsel jedes Bühnen-Abends. Sie ist eben eine Künstlerin, eine eigenständige und wunderbare dazu, und dieser Film tut in großer Liebe alles, um das zu verdeutlichen.

„Maria by Callas“/Mexico 1950/ Screenshot DVD/ Prokino

Da klingt es fast kleinkariert, wenn man nun doch einiges anmerkt, das man hätte besser machen können, namentlich bei der mangelhaften Dokumentation (und der Abspann korrigiert den Eindruck nicht).  Es ist ja schön, dass wir eingeblendet lesen, dass z. B. Brigitte Bardot beim Pariser Prominenz-Konzert in der Salle Garnier die Treppe hochschritt. Aber man kann keinen Film über das musikalische Metier machen, ohne die abgebildeten und eben für die Callas so wichtigen Größen zu nennen: Serafin, Visconti, Zeffirelli, Di Stefano, Gobbi, Cioni, Prêtre und viele, viele mehr bleiben namenlos (wobei der TV-Konzert-Clip von 1958 mit ihrer Amina-Arie unter eben Prêtre zu dem Schönsten gehört, was je gesungen wurde).  Ebenso ungenannt bleiben Churchill (!!!) oder die Kelly, die Windsors (beide) oder die langjährige Sekretärin und Nachlassverwalterin Vasso Devetzki, die ihr wie der auch nicht benannte Portier der Callas in den letzten Jahren zur Seite standen. Sie hätten Erwähnung verdient. Mich störte zudem enorm dieses TV-typische Unterlegen von Opernarien zu Bildern, die dazu nicht passen wollen. Und manches mehr. Dennoch – Maria by Callas – eine Art Lebens-Retro-Revue in Bildern und Briefen ist eine wunderbare Hommage an diese Stimme und Frau, die für uns Nachgeborene unseren Zugang zu Opernrollen, zur Oper und zum Theater zu entscheidend mitbeeinflusst hat. Ohne sie hätte sich Oper anders entwickelt, auch wenn sie nicht die einzige Große war, wie ihr Mentor Tullio Serafin bemerkte. Der zog – eben aus seiner eigenen Erfahrung – Rosa Ponselle vor…

 

Die CD zur Tour: „Callas in Concert“/ Warner Classics 0190295653569

Und wie vermarktet man eine Legende höchst gewinnbringend? Indem man glauben macht, die Legende sei die Wirklichkeit. So wie dann viele, viele Fans in die Kinos von Hauptstadt und Provinz strömen, um sich bei Sekt und Tütensnacks die diskutablen Produktionen aus der Met und Covent Garden anzuschauen und ihnen die Illusion vermittelt wird, sie wohnten einer Live-Show bei. Nun hat die amerikanische Hightech-Firma Base Hologram nach Michael Jackson und anderen Pop-Größen Maria Callas zu neuem virtuellen Leben erweckt. Hamburg ist am 7. Dezember dran, als einzige deutsche Location. Endstation einer langen Tournee, die im September 2018 im kalifornischen Sacramento begann und in 22 Stationen die Grenzenlosigkeit der digitalen Technik demonstriert(e). So sehen heute Wunder aus.

Wie ein Freund aus New York schrieb: Im ausverkauften Lincoln Center wirkte Maria Callas ein wenig blass. Verständlicherweise: Sie ist ja seit 1977 tot. Diese Callas heute Abend aber war ein dreidimensionales Hologram, das jüngste in einer Reihe von musikalisch-visuellen Auferstehungen, zu denen Michael Jackson und andere Popstars gehörten. Die Callas – gruselig, wohlauf, in einer weißen Abendrobe und mit einer ellenlangen roten Stola schimmernd – wurde für diesen Anlass neu erschaffen, bis hin zu den kleinsten Bewegungen ihrer Hände und der subtilsten Mimik ihres Gesichtes. Ihre Stimme (von ihren eigenen Aufnahmen aus dem Warner-Depot) wurde von einem Live-Orchester (!) unterstützt. Von Zeit zu Zeit drehte sie sich zur Seite, warf einen Blick über ihre Schulter, gab sich auch kokett und spielte mit der Stola in ihren Armen. Es war unglaublich, aber auch absurd; im gleichen Maße seltsam fesselnd wie auch kitschig und lächerlich. (…) Dieses holographische Gespenst war auf abartige Weise reizend, auch wenn es schwerlich aus diesem Grunde geschaffen worden war. J. K.

 

Maria Callas Hologram Tours/ Foto Evan Agostini  Base Hologram

Und aus Paris hört man: Maria Callas, The Hologram Tour – Paris (Salle Pleyel): Was für ein Auftritt! Die ehrwürdige Salle Pleyel ist am 28. November 2018 ausverkauft. Das Licht dimmt. Ein Orchester nimmt Platz, beginnt die Rossini-Ouvertüre. Und dann kommt sie: Maria Callas, was für eine Erscheinung. Sie tritt übrigens nicht einfach auf, sie gleitet wie Lucia beim Bankett herein, das Geräusch ihrer Absätze auf dem Boden der Konzertplatform überlaut und uns nach einem ersten geisterhaften Eindruck in eine weitere virtuelle Wirklichkeit zurückholend. Maria im 1958er Look, mit dem berühmten Chignon im Nacken und dem bodenlangen, trägerlosen weißen Abendleid, wie es sich durch die Fernsehübertragung des Konzerts im Palais Garnier für immer in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt hat.

Der Hightech Firma Base Hologram ist die Leistung gelungen, aus den relativ wenigen erhaltenen visuellen Informationen eine virtuelle Göttin zu schaffen, einen fast perfekten Klon. Dolly singt und schwebt. Wenn man dieses technische Wunder wirklich wahrnehmen will, sollte man in den ersten Reihen sitzen, um den Ausdruck des irgendwie vertrauten, aber doch so fremden Gesichts und die Bewegungen des Mundes, die genau jedem Wort, jeder Phrase entsprechen, zu bestaunen. Olympia? Ein Automat? Auf beiden Seiten der entmaterialisierten Sängerin sitzt das Live-Orchester, ungefähr 60 Musiker. Die musikalische Synchronisation ist ein Kunstwerk ohne jeden Fehler. Das metronomische Dirigat von Eimear Noone sichert eine perfekte Koordination. Mehr nicht, aber dies doch.

Der Sound dagegen lässt zu wünschen übrig. Der Zuschauer muss eine unangenehme  Verstärkung der Instrumente akzeptieren. Das ist wohl der Preis, um das Ungleichgewicht mit der von verschiedenen Aufnahmen auf Band aufgenommenen Stimme (die aus dem ganzen Klangspektrum  herausgelöst wurde) zu reduzieren, und ist somit den qualitativen Unzulänglichkeiten der damaligen EMI-Mikrophone ausgesetzt. Die digitale Technik konnte nicht verhindern, dass die tiefsten Noten in Macbeth und Gioconda (mono von 1954) schwammig herüber klingen. Im Gegensatz dazu waren in „Casta Diva“ noch kleine Chorfetzen zu hören. Ärgerlich. Ein Bruchteil einer Sekunde genügt eben, um ein sehr relatives Tonvergnügen zu zerstören (zum Nachhören vereint eine speziell herausgegebenes Album von Warner die Originalversionen der hier gesungenen Arien in einer etwas anderen Rehenfolge: Callas in Concert).

Maria Callas Hologram Tour/ Foto Evan Agostini Base Hologram

Visuell erlebt man staunend ständig neue, unerwartete Gesten und Effekte. Die Mimik von Carmen, der Brief der Lady oder das Giftfläschchen der Gioconda werden wie schlechtes Theater mit übergroßen Gesten – die der kunstverpflichteten Callas absolut fremd auf dem Podium waren – illustriert. Die Karten der Carmen (temperamentvoll hochgeworfen) verbleiben für Sekunden in der Luft, um dann langsam fallend den Übergang zu Macbeth einzuleiten. Die zugeworfene Rose eines imaginären Fans, die Maria Callas auf amüsant-geschickte Weise fängt: Zahllos sind die Gelegenheiten, sich über diese virtuellen Vorführungen zu gruseln.
Denn die Interaktion mit der Realität ist weniger überzeugend. Die Applaus entspricht nicht den Verbeugungen der Sängerin. Und man erlebt eine erstaunliche  Verhaltenheit des Publikums gegenüber einem Image, das sicherlich perfekt hergestellt ist, das aber eben nicht lebt, das nicht kommuniziert. Das eben „nur paradiert wie auf einem Laufsteg, merkwürdig leblos wirkt, wie aus Plastik scheint. Wer amerikanische Scifi-Blockbuster kennt, kennt auch dies: ein leblos-lebendiges Hologram eben. Der Triumph der Computertechnik. Und die moderne Technik arbeitet dieser Technik zu. Das Smartphone in der Hand filmt das Publikum hemmungslos und quälend, photographiert und teilt dies sofort auf den sozialen Medien. Man hat den Vorteil, dass die Diva sich das nicht verbittet.

„Maria by Callas“/Paris 1958/ Screenshot DVD/ Prokinol

Lohnt sich diese Erfahrung, die ohne Pause eineinhalb Stunden dauert? Ja und nein – mehr nicht. Wenn der Überraschungseffekt vorbei ist, wird es langweiligman bestaunt nur den technischen Aufwand, wie wenn man eine simulierte Marslandung bestaunt. Aus nachvollziehbaren Gründen, entspricht diese Technik besser Rock- und Pop-Ereignissen. Michael Jackson und andere gab es bereits, Auch die Zugaben sind bekannt. Das Hologram von Maria Callas löst sich in Luft auf. Man jubelt dem Virtuellen, der technischen Kopie zu. Jean LeMaire (Übersetzung Ingrid Englitsch/ Foto oben: Callas Paris 1958/ „Maria by Callas“/ Prokino)

 

Das macht den Musikfreund sprachlos. Die Firma Base Holgram und auch Warner (EMI-Erbin der Callas-Aufnahmen, aus deren Beständen die Musikbeiträge der Tour stammen) schreiben auf ihrer Seite:  „Anhand von Spitzentechnologie und außergewöhnlicher theatralischer Bühnenkunst bringt das erste Live-Konzert dieser Art die berühmte Opernsängerin 40 Jahre nach ihrem Tod, mithilfe einer atemberaubenden, hochmodernen digitalen Laserprojektion, zurück auf die Bühne. Die Zuschauer erwartet ein umfassendes Live-Konzert Erlebnis mit digital remasterten Originalaufnahmen. Mit großem Orchester werden die Arien präsentiert, die Maria Callas in ihrer einzigartigen Genialität interpretiert und unvergesslich gemacht hat. Neueste Technologie ermöglicht die Wiederauferstehung der immer noch bewunderten und geliebten Operndiva.“ 

 

Callas Hologram Tour/ Foto Evan Agostini Base Hologram

Im Interview beim Deutschland Radio plaudert Marty Tudor (Executive Producer und CEO von BASE Hologram Productions) aus dem technischen Nähkästchen: „Wir finden ein Körper-Double für die Künstlerin und üben mit diesem Double. Im Fall von Callas hat das Körper-Double 12 Wochen lang intensiv geprobt, und dann haben wir die Performance des Doubles aufgenommen. Danach wurden digital Veränderungen vorgenommen, um das richtige Aussehen der Person zu kreieren. Ganz ähnlich wurde Peter Cushing für den neuesten Star Wars-Film erschaffen. Oder Carrie Fisher in demselben Film. Wir machen es im Wesentlichen genauso. In diesem Fall war eine Opernsängerin das Double. Denn wenn eine Opernsängerin singt, dann bewegt sich nicht nur ihr Mund, sondern es bewegt sich buchstäblich jeder Muskel in ihrem Körper, um diesen bezaubernden Klang zu erzeugen. Mit einer Schauspielerin ginge das deswegen nicht. (…) Es kommt auf das Aussehen der Person an, auf die Fähigkeit der Person, eine echte Performance zu geben, auch die Fähigkeit, die richtigen physischen Eigenschaften der Künstlerin zu haben. Und was wir im Fall von Maria Callas auch gemacht haben: Wir haben einen Regisseur gesucht, der Maria Callas sehr gut kannte. Und in diesem Fall war das Steven Wadsworth. Steven ist der Leiter der Opernabteilung der New Yorker Juilliard School sowie Personalchef der Metropolitan Opera und er war der Regisseur einer sehr erfolgreichen Broadway-Show über Maria Callas, genannt Masterclass. So haben wir jemanden gefunden, der jedes Detail über Maria Callas und die Art, wie sie auftrat, kennt. Und das müssen Sie tun, um authentisch zu sein, und es ist entscheidend für uns, authentisch zu sein. Wir arbeiten sehr eng mit dem Nachlass der Callas zusammen, um sicherzustellen, dass auch sie uns den richtigen Input geben, damit wir Dinge authentisch umsetzen, anstatt uns nur einzubilden, dass wir es machen. Wir wollen, dass sie so ist, wie sie war.(sic!)

 

Ein Foto unserer tapferen und stets arbeitswilligen Übersetzerin aus dem Französischen Ingrid Englitsch aus Wien – Danke!

Das Image „Maria Callas“ als digitale 4-D-Nachschöpfung. Die Stimme – bei späteren Aufnahmen ohnehin eigens mit einem eigenen Mikro aufgenommen – herausgelöst und zu einem Live-Orchester auf der Bühne einem digital aufbereitetem Double unterlegt. Bereits bei Caruso hatte die RCA dies ohne überzeugenden Erfolg probiert. Ob die Callas das gewollt hätte? Sie, die sich über künstlerischen Fragen zerquälte? Die den italienischen Präsidenten lieber versetzte als eine schlechte Vorstellung abzuliefern? Die sich weigerte, nicht passende Rollen durcheinander zu singen und lieber ihr Met-Debüt dafür platzen ließ? Die – „Vissi d´arte“ – alles für ihre Kunst gegeben hat? Hätte sie ihrem dahingleitenden digitalen Double, dessen Körper nicht einmal der eigene war, zugenickt? Ich glaube nicht. Ich fand schon Berichte von Michael Jacksons Wiederauferstehung gruselig. Und die der Callas noch mehr. Ein ganzer Saal, nein: Säle in aller Welt, bejubeln ein Hologram zu Live-Musik und Gesang aus dem Archiv. Arme Maria C.  „What becomes a legend most?“ Dies nicht. G. H.

Dobrzynskis Oper „Monbar“

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Eine Piraten-Oper von 1863 aus Polen? Unser östliches Nachbarland ist nicht gerade für seine Seefahrer-Vergangenheit bekannt, wenngleich natürlich die Ostesee Zugang zu den Weltmeeren bietet. Aber eigentlich sind wir an vaterländische Themen in der Literatur und Musik im Polen jener Jahre gewöhnt, das ja fast immer unter Fremdherrschaft litt und mehr als dreigeteilt seine Geschicke erdulden musste. Vielleicht ist es dieses Grundgefühl, das eine Oper hervorbringt, in der der Titelvertreter ein Anti-Held ist, ein von Emotionen zerrissener Pirat, der am Schluss der Oper die Tochter seiner Widersachers im Meer ertränken will und dabei selber erstochen in den Fluten versinkt. Vielleicht ist es auch nur blankes Entertainment, das uns mit dieser Oper auf das Libretto von Ludwik Paprocki nach der Novelle von Carl Franz van der Velde begegnet.

Musikalisch ist hier beste Romantik zu hören. Große Chöre, programmatische Meeresidylle und Sturmesbrausen, effektvolle Solopassagen und ein wunderbares Liebesduett, dazu die Titelfigur stark umrissen in tenoraler Pracht (bemerkenswert, einen Tenor für diese negative Figur zu wählen).

Ignacy Feliks Dobrzyński, Komponist des „Monbar“/ Wiki.pl

Ignacy Feliks Dobrzyński zeigt sich hier von seiner besten Seite in dieser seiner einzigen vollendeten Oper, die Lukasz Borowicz, der operalounge.de-Lesern kein Unbekannter ist, als Eröffnung der Konzertsaison beim Polnischen Radio Warschau 2010 vorstellte – eine Ausgrabung, die zum Glück den Weg auf eine gut ausgestattete CD gefunden hat (keine westliche Übersetzung des Librettos!) und die polnische Oper von einer anderen, exotischen, sehnsuchtsvollen Seite in Zeiten von politischer Unterdrückung zeigt (wie ja auch Monisuzkos Paria eine andere, weitere Welt öffnete – Irena Poniatowska spricht von einer „unterdrückten, inneren Romantik“). Eine lohnende Ausgrabung für Freunde der romantischen Oper in der Tat. Deshalb bringen wir nachstehend einen Artikel (ohne Autor) aus dem Booklet zur Aufnahme, die vielleicht etwas schwierig zu erhalten ist (Polskie Radio SA). Daniel Hauser besorgte wieder die Übersetzung. G. H.

 

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Die Geschichte einer vergessenen Oper: Monbar czyli Flibustierowie (Monbar oder die Flibustier) – die erste und einzige vollendete Oper von Ignacy Feliks Dobrzyński (1807-1867) – trug ursprünglich den Titel Korsarz (Der Korsar). Sie wurde zwischen 1836 und 1838 zu einem Libretto von Ludwik Paprocki, einem Freund des Komponisten, geschrieben, basierend auf einer Kurzgeschichte von Carl Franz van der Velde. Eine konzertante Aufführung der Ouvertüre und des Duetts der beiden Hauptfiguren fand bereits 1837 statt, das Finale im darauffolgenden Jahr. Es vergingen indes viele Jahre, bis Dobrzyńskis Werk auf die Opernbühne kam. Fragmente wurden konzertant in Posen (1845), Berlin (1845/46) und Dresden (1847) aufgeführt. Zu den Highlights eines dieser Konzerte in Berlin am 6. August 1845 zählte ein in Korsarenkostüme gekleideter Männerchor; der Bolero wurde als Ballett-Zwischenspiel präsentiert. Trotz wohlwollender Kritiken fand sich niemand, der eine Gesamtproduktion der Oper verantworten wollte. Erst 1860 begannen die Vorbereitungen für die szenische Uraufführung.

1863 veröffentlichte Geberthner & Wolff einen Klavierauszug der Opernpartitur, der vom Komponisten und seinem Sohn Bronislaw Dobrzyński arrangiert worden war. Das Libretto wurde von Seweryna Pruszakowa speziell für die Bühnenaufführung adaptiert. Die Premiere fand schließlich am 10. Jänner 1863 an der Warschauer Oper statt, 25 Jahre nachdem Dobrzyński die Partitur geschrieben hatte. Zur Besetzung gehörten die führenden Solisten dieser Zeit – Bronislawa Dowlakowska, Maria Gruszczyriska, Jozefa Chodowiecka-Hess, Jan Koehler, Wilhelm Troschel, Leon Borkowski und Franciszek Cieslweski (sie sangen auch bei den ersten Aufführungen der Opern von Stanislaw Moniuszko). Gerade zwölf Tage nach der Uraufführung brach der Januaraufstand gegen die Zarenherrschaft in Kongresspolen aus und die Aufführungen mussten eingestellt werden.

Die Oper wurde seither nicht mehr gespielt. Die Ouvertüre war das einzige erhaltene Fragment des Werkes. Die Orchesterparts wurden höchstwahrscheinlich während des Brandes der Warschauer Oper 1939 mit der gesamten Musikbibliothek oder im Warschauer Aufstand von 1944 zerstört. Glücklicherweise hat sich das Autograph der Oper in der Sammlung der Warschauer Musikgesellschaft WTM erhalten. Ein Klavierauszug der Partitur in hervorragendem Zustand befindet sich ebenfalls in dieser Kollektion.

Lukasz Borowicz dirigiert beim polnischen Rundfunk/ Foto „Monbar“ Box

Die Idee, Monbar wieder zum Leben zu erwecken, ist einer Initiative von Lukasz Borowicz, dem damaligen künstlerischen Leiter des Polnischen Rundfunk-Sinfonieorchesters (heute bei der Philharmonie Posen), zu verdanken. Möglich gemacht wurde das Projekt aufgrund der Unterstützung des polnischen Rundfunksenders Radio Polen 2 und des Nationalen Audiovisuellen Institutes. Tomasz Moscicki, Theaterkritiker und Photograph, hat beinahe eintausend Photographien des Autograph-Manuskriptes angefertigt, welches als Quellenmaterial für Boguslaw Tabaka diente, der die 650-seitige Partitur editierte und das Orchestermaterial zusammenstellte. Dank des Engagements eines großen Teams und des Entgegenkommens von Anna Malewicz-Madey, der Vorsitzenden der Warschauer Musikgesellschaft, ist Ignacy Feliks Dobrzyńskis Monbar oder die Filibustier wieder in das Opernrepertoire zurückgekehrt und füllt damit eine Lücke in der Geschichte der polnischen Musik. Eine im Westen sehr schwierig zu besorgende CD folgte diesen Bemühungen.

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Zum Komponisten: Ignacy Feliks Dobrzyński, geboren am 25. Februar 1807 in Romanow, Wolhynien, war Komponist, Dirigent, Pianist und Pädagoge; er starb am 9. Oktober 1867 in Warschau. Seine musikalische Ausbildung erhielt er bei seinem Vater Ignacy, einem Geiger, Komponisten und Dirigenten. 1825 begann er in Warschau sein Studium bei Jozef Elsner, zunächst im Privatunterricht und anschließend als Schüler der Musikhochschule von 1826 bis 1828.

Dobrzyński schrieb seine ersten Kompositionen zunächst in Winnitsa. Den Großteil seines Lebens verbrachte er jedoch in Warschau, wo er komponierte, lehrte, Musikgruppen organisierte und nach Unterstützung für von ihm selbst geleitete Sinfoniekonzerte suchte. Seine Fähigkeiten als Klavierlehrer waren seinerzeit weithin anerkannt und seine Szkola na fortepian (Schule für Klavier) wurde 1845 von Sennewald in Warschau veröffentlicht. Seine Sinfonie Nr. 2 c-Moll op. 15 brachte ihm 1835 den zweiten Platz beim Komponistenwettbewerb in Wien ein; ausgewählte Sätze dieser Sinfonie wurden später in Warschau und Leipzig unter der Leitung von Felix Mendelssohn Bartholdy aufgeführt. 1862 publizierte Sennewald eine Fassung für zwei Klaviere mit der Bezeichnung Sinfonie im charakteristischen Geiste der polnischen Musik.

„Monbar“: der Schriftsteller Carl Franz van der Velde lieferte die Vorlage/ Wiki

Trotz des jugendlichen Alters des Komponisten sind seine Sinfonien ausgereifte und handwerklich einwandfreie Kompositionen, welche die Entwicklung seines künstlerischen Talents darlegen. Sein volles künstlerisches Potential erreichte Dobrzyński in den 1830er Jahren, als er sich Werken verschiedener musikalischer Gattungen widmete: Sinfonien, Ouvertüren, Opern sowie Klavierstücke. Obschon seine Kompositionen im spätklassischen Stile verwurzelt sind, zeigen sie bereits die stilistische Charakteristik der Romantik.

Dobrzyński komponierte zwischen 1836 und 138 seine erste Oper Monbar czyli Flibustierowie (vgl. oben). Von 1841 bis 1843 unterrichtete er Musik am Alexandrinischen Institut für Mädchen. Ab März 1845 reiste er durch Europa, um seine Kompositionen zu präsentieren. Er besuchte Berlin, Leipzig, Dresden, München, Bonn, Frankfurt am Main und Wien. In Berlin blieb er einige Zeit und verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Musiklehrer. Während dieser Zeit wurde ihm die Rückkehr nach Polen verboten, weil er einige patriotische Lieder geschrieben hatte, darunter Do matki Polki (Einer polnischen Mutter), basierend auf einem Gedicht von Adam Mickiewicz. Er sollte nicht vor September 1847 nach Warschau zurückkehren.

Im Jahre 1852 wurde Dobrzyński zum Opernintendanten des Teatr Wielki ernannt, eine Position, die er für weniger als ein Jahr innehaben sollte. In den darauffolgenden Jahren dirigierte er das Opernorchester bei Sinfoniekonzerten, unter anderem in der Handelskammer. Im Oktober 1857 organisierte er schließlich das nach ihm benannte Polnische Ignacy-Feliks-Dobrzyński-Orchester, das aus herausragenden Musikern des Teatr Wielki bestand. Der neue Klangkörper gab wöchentliche Konzerte in der Neuen Akademie in der Marszalkoweska-Straße.

Zwischen 1858 und 1860 saß Dobrzyński im Gründungskommitee des Institutes für Musik und wurde Mitglied der Lemberger Musikgesellschaft. Nachdem sich sein Gesundheitszustand verschlechtert hatte, zog er sich 1860 allmählich aus der Warschauer Musikszene zurück und widmete sich ausschließlich dem Komponieren.

„Monbar“: Wie schön ist doch das Piratenleben: Erroll Flynn war der Inbegriff des Sexy-Piraten der Nachkriegszeit/ Wiki

Ignacy Feliks Dobrzyński war ein Zeitgenosse von Chopin, der sein Leben in Polen verbrachte, wo er mit den Einschränkungen des Musiklebens in Warschau zu kämpfen hatte. Sein Stil ist weniger abenteuerlich als jener Chopins; der Einfluss von John Field wird in seinem jugendlichen Klavierkonzert deutlich, während seine feurige Ouvertüre zu Monbar an Weber erinnert. Seine zweite Sinfonie, die 1834 geschrieben und 1862 revidiert wurde, orientiert sich in jedem Satz an einem polnischen Tanz; diese Aufnahme enthält als Extra einen langsamen Satz, der in der Endfassung verworfen wurde. Die Musik mag vielleicht nicht in jederlei Hinsicht erstklassig sein, doch die Aufführungen sind es, erfassen sie doch sowohl die Leidenschaft als auch den Charme dieses wenig bekannten Komponisten. Übersetzung Daniel Hauser

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Irina Poniatowska schreibt dazu in ihrem Artikel über Chopin und Dobrzýnski: Die Ouvertüre zu Monbar oder die Filibuster, die von Zeit zu Zeit aufgeführt wird, zeugt davon, das Dobrzyński das Kompositionshandwerk sehr gut beherrschte. Sie zeichnet sich durch eine kompakte, plastische Konstruktion und eine interessante Instrumentierung aus. (…) In den Jahren 1845 – 1847 unternahm Dobrzyński eine Tournee nach Deutschland und Österreich, während der der Künstler eigene Werke aufführte. In den Musikkritiken hieß es, er sei ein ausgewiesener Musiker. Seine Instrumentalwerke waren durchaus bekannt, da sie in Leipzig und in Berlin herausgegeben wurden. Man erkannte in der Symphonie caractéristique“  ein nationales Werk mit polnischen Rhythmen wie der Mazurka im 1. Satz und des Krakowiaks im Finale. Das Werk wurde sehr hoch eingeschätzt. Die Instrumentierung Dobrzyńskis wurde gelobt, desgleichen die zwei Streichquintette und Fragmente aus der Oper Monbar. Die Tournee brachte Dobrzyński keine größeren materiellen Vorteile, er hatte sein Leben lang mit finanziellen Problemen zu kämpfen. Später, nach der Zeit, in der er Direktor des Großen Theaters war (Teatr Wielki 1852 – 1855), begann er die Musik zu der dramatisierten Fassung von Konrad Wallenrod zu schreiben, ohne sie aber zu beenden, sowie zum Drama Die Burggrafen von Victor Hugo, von der nur die Ouvertüre und einige Fragmente existieren.

Ignacy Feliks Dobrzyńskis „Monbar“ in der Aufnahme des polnischen Rundfunks Warschau unter Lukas

In Polen war die Lage sehr schwierig. In die Zeit, in der Dobrzyński lebte, fallen beide Aufstände, der Novemberaufstand im Jahre 1830 und der Januaraufstand im Jahre 1863, die vor allem im Königtum Polen ausgetragen wurden. Es war eine Zeit des politischen und kulturellen Niedergangs. Nach der Niederlage des Novemberaufstands wurden die Warschauer Universität, die Hauptschule für Musik und die Wissenschaftsgesellschaft  geschlossen. 15 % der Einnahmen wurden für den Bau der Zitadelle verwendet, eines Gefängnisses, das zum Symbol der politischen Unterdrückung wurde. Zu jener Zeit setzte die Große Emigration ein, in deren Folge das Land seine bedeutendsten Künstler und politischen Anführer einbüßte. Dobrzyński blieb in Polen, hatte aber keine Mäzene, obwohl er begabt war. Er suchte den Geschmack des Bürgertums zu befriedigen und schrieb Kammermusik, Klavierwerke und Lieder, hatte aber weiterhin den Ehrgeiz, sich durch großformatige Werke auszuzeichnen, für die es in Polen jedoch keine Entwicklungsmöglichkeiten gab. Das Bürgertum gab sich mit sentimental-virtuoser Salonmusik zufrieden, die Musikkritik wiederum verlangte nach nationaler, ideeller Kunst. Um diese betreiben zu können, um sich voller Hingabe dieser Mission, dem Dienst an der Nation zu widmen, stand dem Künstler nur eine Möglichkeit offen, den Lebensunterhalt zu bestreiten: die Erteilung von Unterricht.

Chopin schuf den Nationalstil als neuen Wert, drang in die Tiefe, in das Wesen des Nationalen selbst vor und transformierte es in Klänge, weit entfernt von Polen. Die meisten Komponisten hingegen, die in Polen lebten, unterstrichen, auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ihre engen Bande zur nationalen Tradition, indem sie die volkstümlichen Rhythmen und Melodien ganz einfach stilisierten. Das war damals quasi ein bürgerlicher und künstlerischer Imperativ. Aus diesem Grunde wurde die innerpolnische Romantik „unterdrückte Romantik“ genannt. Dobrzyński offenbarte und entfaltete schon früh sein Talent, doch später stagnierte sein Kompositionsstil. Es gab in Warschau kein festes Orchester, in der Oper wurde fast ausschließlich ausländisches Repertoire aufgeführt. Dobrzyński fehlte es somit an Anreizen, sich schwieriger Aufgaben anzunehmen, d. h. große Formen zu schreiben. Er blieb der Salonmusik, Gelegenheits-Musikstücken sowie der Kammermusik verhaftet, die man leichter aufführen konnte als Orchesterwerke.

 

„Monbar“: Sklavenmarkt in tripolis/ Gustav Boulanger 1882/ Wiki

Irena Poniatowska schreibt zudem zur Situation des polnischen Theaters (bzw. des Teatre Wielki in Warschau) jener Jahre: Im 19. Jahrhundert hatte die Kultur in Polen die Aufgabe, die geistigen Traditionen zu festigen und dem Volk Kraft einzuflößen. Eine wichtige Rolle dabei spielte das Theater als Institution. Nach dem Novemberaufstand von 1831 (gegen die russischen Besatzer)  blieb das Theater das einzige Zentrum der polnischen Kultur. Das Große Theater in Warschau übernahm gewisse Traditionen des früheren Nationaltheaters, das noch in der Regierungszeit des letzten polnischen Königs geschaffen wurde. Aber jetzt wurde es nicht mehr „national“, sondern „groß“ genannt. Errichtet zwar auf Kosten der städtischen Selbstverwaltung, war es Eigentum des polnischen Volkes, aber die zaristischen Behörden überwachten die Gesinnung  der hier betriebenen Kunst. (…) Nach dem Januaraufstand (gegen die russischen Besatzer) von 1863 erfolgte eine noch düsterere Zeit für die polnische Kultur. Der Okkupant rottete alles aus, was polnisch war, es kam zu einer intensiven Russifizierung. Die Regierung sprach sogar für eine Zeit das Verbot von Theaterbesuchen aus. Die Flaute in der künstlerischen Arbeit hielt bis 1865 an. Aber nirgendwo hatte das Theater eine solche Bedeutung wie in Polen, und wohl nirgendwo gab es im Theater ein zahlenmäßig so starkes Publikum. (…)

Im Theater wurden sowohl das polnische Ensemble als auch Gastauftritte italienischer Ensembles gefeiert. Letztere blieben in der Regel zwischen vier und sechs Monaten in der Stadt. Das polnische Ensemble war ein „notwendiges Übel“, da ein Chor und ein Orchester existieren mussten, die den Kern der polnischen und italienischen Inszenierungen bildeten. (…) So wirkte sich die Tätigkeit der italienischen Ensembles beispielsweise hemmend auf die Entwicklung der heimischen Aufführungspraxis aus. (…) Im 19. Jahrhundert forderte man in Polen nicht nur polnische Opern, sondern begrüßte auch enthusiastisch Premieren fremder Werke in polnischer Sprache. (…) 1861 kam es in den Warschauer Straßen im Laufe einer Manifestation zu den ersten Opfern. Als der Zar Warschau besuchte, sollte im Theater eine feierliche Vorstellung gegeben werden, aber diese kam nicht zustande, da eine unbekannte Hand in den Saal eine ätzende Flüssigkeit goss. Künstler, die unter dem Verdacht einer antirussischen Tätigkeit standen, wurden entlassen. (…) In Polen wäre vermutlich zu einem früheren Zeitpunkt die russische Oper boykottiert worden. Erst die politische Passivität am Ende des 19. Jahrhunderts und die positivistischen Losungen der Zeit milderten die russlandfeindliche Einstellung. Unter diesen ungünstigen Bedingungen kam es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Großen Theater zu einem echten Aufbruch der nationalen Oper. (…)

Das Publikum des Theaters setzte sich aus 60% Polen, 37% Juden sowie Russen zusammen. Die Russen besuchten das Ballett und gelegentlich ausländische Opern. Die Polen bevorzugten polnische Werke, und die Juden, die die Galerien füllten, kamen nicht, wenn es etwas gab, was die Russen interessierte, die Russen wiederum erschienen nicht zu Opern, die von Juden bevorzugt wurden, und die Polen missachteten mitunter den Geschmack sowohl der Russen als auch manchmal der Juden. Die Logen und die Stühle blieben oft leer, dafür waren die Galerie und der oberste Rang überfüllt. Die Organisation der Spielzeiten im Großen Theater verweist auf eine totale Dominanz des fremden Repertoires. Die Abhängigkeit der künstlerischen Leitung von der Politik der Regierung destabilisierte jegliche Pläne. Die Direktion der Regierungstheater schloss Verträge mit jedem durchreisenden Künstler, in aller Eile wurden Vorstellungen vorbereitet, die Frequenz war schlecht, das Defizit vergrößerte sich. Es herrschten Zufälligkeit und eine Missachtung des polnischen Ensembles.

„Monbar“: die Musikwissenschaftlerin Irena Poniatowsky, Autorin des Beitrags/ OBA

Seit Ende der vierziger Jahre dominierten im Repertoire die Werke von Verdi, vorerst italienisch aufgeführt, später einige von ihnen in polnischer Sprache Dann wurden auch Werke der lyrischen französischen Oper aufgeführt sowie der Veristen, Wagners Opern kamen erst ziemlich spät (…). Es ist charakteristisch, dass die erste russische Oper erst 1897 in Warschau aufgeführt wurde, es war Jolanthe von Tschaikowsky. (aus: Irena Poniatowska, Das Große Theater in Warschau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und das nationale Opernrepertoire; mit Dank an die Autorin. Irena Poniatowska ist eine renommierte Musikwissenschaftlerin in Polen, die ihren Aufsatz „Dobrzyński und Chopin. Stilistische Ähnlichkeiten und Unterschiede“ im Jahrbuch des Wissenschaftlichen Zentrum der Polnischen Akademie in Wien in Band 3/ 2010-2012/ Wien 2012 veröffentlichte, woraus wir den vorstehenden Auszug mit sehr freundlicher Genehmigung der Autorin übernehmen.)

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Robert Dumé

 

Der 1941 in Nizza geborene französische Tenor Robert Dumé ist am Wochende des 9. Dezember 2018 gestorben.  1970 aus dem Pariser Konservatorium kommend wurde er bald darauf an die Pariser Oper engagiert, wo er in dem meisten Aufführungen der Ära Liebermann in kleinen Rollen mitwirkte, insbesondere als Nathanael in“Les Contes d’Hoffmann“ (in der Chéreau-Inszenierung von 1974-1980), als Majordomus bei Faninal im „Rosenkavalier“(in der Inszenierung von Ezio Frigerio von 1976 bis 1981). In den 80-iger Jahren steigt er auf: Laca bei der Wiederaufnahme von Jenufa, Schuiski in Boris Godounov, Macduff in Macbeth, Aegisth in Elektra. Bei der Eröffnung der Bastille-Oper war er Don Curzio in der Wiederaufnahme der  Strehler-Inszenierung von Le nozze di Figaro von1991 bis 1994. Außerhalb der Hauptstadt und im Ausland  verkörperte er anspruchsvollere Rollen (Florestan im Fidelio, die Titelrolle in Lohengrin). 1992 wurde er zum Gesangsprofessor am Pariser Conservatoire ernannt, unter anderem war der Bassbariton Paul Gay sein Schüler. (Quelle: Forumopera/ Foto dr)

Zum zweiten

 

1999 brachte Cecilia Bartoli bei ihrer Stammfirma Decca ein Vivaldi-Album mit mehreren Weltersteinspielungen heraus, das eine ganze Serie von Recitals einleitete, die speziell einem Komponisten (Gluck, Scarlatti u.a.) gewidmet waren und viele Entdeckungen offerierten. Nun, nach fast 20 Jahren, widmet sich die Sängerin erneut dem Werk des venezianischen Komponisten und stellt auf ihrer neuen CD (Decca 483 475) zehn Arien aus seinen Opern vor, die sich auf Vivaldi I nicht finden.

Der Schwerpunkt dieser Auswahl liegt eher auf lyrisch-getragenen Arien, welche den gereiften Ausdruck der Interpretin zeigen. Zu Beginn allerdings gibt es mit einer Arie der Zanaida aus dem Argippo von 1730 noch ein Beispiel für Bartolis erregten Gesang, der sich geradezu in wildem Fauchen, Keifen und Zischen äußert. Das Ensemble Matheus unter Jean-Christophe Spinosi liefert dafür die klangliche Folie mit aufgewühlten Akkorden voller Temperament und Energie. Es ist aber auch ein idealer Partner für die schwebenden, entrückten Gefühlsäußerungen durch das delikate Spiel mit feinen Soli der Instrumente, wie man es in der folgenden Arie des Ruggiero, „Sol da te“ aus dem Orlando furioso von 1714 vernehmen kann, die von der Soloflöte lieblich umspielt wird. Bartoli besticht hier mit schmeichelndem Gesang und superb ziselierten Ornamenten. Aus derselben Oper erklingt noch die Arie des Astolfo „Ah fuggi rapido“, die wiederum einen ungestümen Zornesbruch schildert und mit  entsprechend furioser Attacke geboten wird. Virtuos und rasant laufen die Koloraturgirlanden ab – ein Markenzeichen der Sängerin und von unverminderter Meisterschaft. Il Giustino von 1724 ist die einzige Oper, die sich schon auf Vivaldi I fand, allerdings nicht die hier ausgewählte Arie des Anastasio, „Vedrò con mio diletto“, die ganz verinnerlicht und in exquisiter Phrasierung ertönt, begleitet von leise pochenden Akkorden des Orchesters, das zu den international führenden Ensembles der Alte-Musik-Szene zählt und mit der Künstlerin schon mehrfach öffentlich aufgetreten ist. Spinosi selbst begleitet sie in der folgenden Arie der Titelheldin aus La Silvia („Quell’ augellin che canta“) mit der Solovioline und sie bezaubert mit so anmutigem wie bravourösem Gesang, der den eines Vögelchens imitiert. Betörend ist die folgende Arie des Caio aus Ottone in villa von 1713, welche in ergreifenden Tönen die unverbrüchliche Treue preist. Rosanes Arie „Solo quella guancia“ aus La verità in cimento (1720) ist mit ihrem koketten, plappernden Duktus ein schöner Kontrast und Bartoli tupft die Töne mit höchster Kunstfertigkeit.

Perseos „Sivente il sole“ aus Andromeda liberata (1726) ist wieder ein bewegendes Stück, bei dem die Sängerin die Stimme ganz zurücknimmt, schweben lässt wie ein  Hauch und mit zärtlichen abbellimenti ausschmückt. Danach sorgt der kämpferische Ruf des Lucio „Combatta un gentil cor“ aus Tito Manlio (1719) unter auftrumpfendem Trompetengeschmetter und energischem Koloraturfuror wieder für ein heroisches Element, bevor die Anthologie mit Cesares wiegendem „Se mai senti“ aus dem späten Catone in Utica (1737) berührend und höchst kunstvoll endet. Cecilia Bartoli hat sich mit dieser Ausgabe, deren Veröffentlichung im Rahmen von 30 Years Bartoli Decca erfolgt, zu ihrem Jubiläum ein wunderbares Geschenk gemacht. Bernd Hoppe

Exklusiv und elitär war gestern

 

Ja, ich habe gelacht, sehr sogar. Und das gleich auf der ersten Seite des Buchs Wagner-Vereine und Wagnerianer heute von Elfi Vornberg (Königshausen & Neumann, 297 Seiten). Denn da steht: „Der Richard-Wagner-Verband International e.V. steckt in der Krise. Der einstige Exportschlager mit dem Gütesiegel ‚Made in Bayreuth‘ verbucht Rekordverluste bei den Mitgliederzahlen: Engagierten sich im Jahr 2003 noch 37.000 Mitglieder weltweit in einem Wagner-Verein, waren es Ende 2015 nur noch 21.830.“ Das entspricht einem Rückgang von 41 Prozent innerhalb von zwölf Jahren. Das wirft Fragen auf: „Hat das Werk Richard Wagners an Bedeutung verloren? Strahlen Entwicklungen am Grünen Hügel – wie Wolfgang Wagners Tod, die Ernennung der neuen Festspielleiterin Katharina Wagner, Regie-Skandale mit Frank Castorf und Jonathan Meese oder die neu geregelte Kartenvergabe durch Eingreifen des Bundesrechnungshofes – auf den Verein ab? Oder steckt das Vereinswesen als solches mit Überalterungstendenzen und Imageproblemen im digitalen Zeitalter in einer Krise?“

Die erste Frage beantwortet die Autorin gleich negativ, denn die Flut von Wagner-Aufführungen und Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt zeugt davon, dass der „Mythos Wagner“ nach wie vor gut funktioniert und nichts von seiner Attraktivität und Aktualität verloren hat. Weswegen Elfi Vornberg auf 297 Seiten den anderen Fragen nachgeht. Sie hat insgesamt 522 Vereinsmitglieder für diese Studie befragt aus drei verschiedenen Wagner-Vereinen in drei Ländern: in Deutschland, den USA und in Japan. Was sie dabei herausgefunden hat, ist frappierend. Und ich muss gestehen, dass mein inneres Gelächter fast durchs ganze Buch weiterging.  (Und das sage ich als jemand, der Wagners Musik durchaus und wiederholt verfallen kann.)

„Wagner-Vereine und Wagnerianer heute“ im Verlag Königshausen & Neumann

So stellt sich heraus, dass die Japaner – die im Ländervergleich über ihren Wagner-Verband am häufigsten an Bayreuth-Karten gekommen sind – sich „auf das Ereignis“ intensiver als alle anderen vorbereiten: „Sie widmen sich vermehrt tiefgehenden Analysen der Kunst Wagners und investieren mit dem Studium von Partituren und wissenschaftlichen Aufsätzen viel Zeit in ihr Hobby. Sie dringen sogar durch die detaillierte Beschäftigung mit deutschen Philosophen tiefer in die Materie ein und erarbeiten sich akribisch das Thema Wagner.“ Laut Vornberg unterscheidet das die japanischen Wagnerianer von den deutschen. Denn für die ist die praktizierte Fan-Liebe vor allem eine „soziale Demonstration“, die einen „Prestigegewinn und soziale Abgrenzungsmechanismen“ bietet. Für Mitglieder der deutschen Wagner-Vereine ist der Bayreuth-Besuch zu 30 Prozent ein gesellschaftliches Ereignis, bei den Japanern sind es nur 15 Prozent: „Das ‚Erlebnis Bayreuth‘ wird als Akt der Selbstinszenierung wahrgenommen, der gleichzeitig als Statusgewinn und damit als Schließungskriterium nach außen hin dient.“ Das gilt auch für die USA, wo ebenfalls ein Prestige- und Statusgewinn angestrebt wird „durch das als exklusiv und elitär geltende Hobby“.

Im Vergleich sind die Amerikaner „Wagner-Pilger im großen Stil“ und reisen als regelmäßige „Wagner-Kosmopoliten“ am häufigsten. Ziel ihrer Reisen ist meist Europa, was erstaunlich ist, weil viele Befragte angaben, die hiesigen Tendenzen des modernen Regietheaters als „Eurotrash“ rundum abzulehnen. Amerikanische Wagnerianer wollen, laut Umfrage, am liebsten „historische Inszenierungen mit historischen Kostümen und Bühnenbild“. (Ach ja.)

In Deutschland wiederum stellt sich heraus, dass die Wagnerianer aus den Wagner-Vereinen nicht als solche bezeichnet werden möchten. In den USA lehnten die meisten den Begriff „Wagnerianer“ aus „Gründen der Bescheidenheit“ ab („man fühlt sich nicht würdig, belesen oder kenntnisreich genug, diesen ‚Titel‘ zu tragen“), während in Deutschland der Begriff zu viel „Nähe zum Fanatismus“ ausstrahlt. Die deutschen Befragten sagten auch, dass die „negativen Klischees über den Wagnerianer“ sie abschrecken sich selbst so zu bezeichnen, ebenso die „nationalsozialistisch behaftete Vergangenheit der Familie Wagner“.

Im Schlusskapitel berichtet Vornberg, dass das „überwiegend konservativ-traditionell ausgerichtete Klientel“ des Internationalen Richard Wagner Verbands durch die allgemeine Öffnung der Festspiele einen „herben Einschnitt im Erleben der Bayreuther Festspiele“ durchgemacht hat: „Denn ihr begehrtes Objekt verliert damit an Wert und das knappe Kulturgut an Exklusivität.“

Jahrelang lebte der Mythos Bayreuth vom Kampf um die Karten. Inzwischen hat sich da eine andere „Normalität“ eingestellt, so dass für viele Vereinsmitglieder das „Fluidum Bayreuth“ nicht mehr stimmt. Und für den Personenkult, den viele Mitglieder betreiben, ist es auch vorbei mit dem „Erbcharisma“ der „Königsfamilie am Grünen Hügel“.

All die Statements und Auswertungen zu lesen ist faszinierend. Ich habe gleich fünf Bücher als Weihnachtsgeschenke für meine diversen Wagnerianer-Freunde bestellt. Ob sie über die Statistiken und Schlussfolgerungen von Elfi Vornberg auch so lachen werden wie ich, weiß ich nicht. Aber ein bisschen Staub aufwirbeln tut im Fall Wagner immer gut – und bei Wagnerianern, die sich nicht so nennen wollen, es aber bis in die Haarwurzeln sind, tut es doppelt gut (Foto oben: Richard Wagner ist noch immer allgegenwärtig – als Büste im Park – Foto: Winter). Kevin Clarke

Von Elfen, Nixen und anderen

 

Den mittleren Teil der CD-Trilogie Dimensionen, gesungen von Marlis Petersen, am Klavier begleitet von Camillo Radicke, gibt es nun unter dem Titel Anderswelt, wo mit nach Welt, der uns umgebenden Wirklichkeit, das Reich der Elfen, Nixen, Wichtelmänner und anderer Geister gemeint ist. Aus steht nun noch die Innenwelt, damit der Zyklus vollendet wird.

Naturverbundenheit, ja Beseelung der Natur und die Gattung Lied gehören eng zusammen und beides zur Romantik, der Reaktion auf Rationalität, Fortschrittsglauben und Technisierung. So stammen die meisten Texte aus dieser literarischen Epoche, sie  interessierten durchaus aber auch Komponisten späterer Zeiten. Den Elfen und Nixen, also den Luft- und Wassergeistern, gelten die meisten Beiträge, dazu kommen die sagenhaften Gestalten aus Skandinavien. Der Bekanntheitsgrad eines Stücks war augenscheinlich nicht ausschlaggebend für die Wahl durch die beiden Künstler, eher wurden zwar früheren Generationen vertraute, heute aber eher vergessene oder belächelte Komponisten mit aufgenommen wie Christian Sinding (sein Frühlingsrauschen spielten höhere Töchter rauf und runter am Klavier) oder Carl Loewe, dessen Balladen, man denke nur an Die Uhr, äußerst populär waren. Beide sind mit je zwei Liedern vertreten, Brahms und Hugo Wolf nur mit je einem.

Sängerin und Komponist sind wohl ohne Wenn und Aber tief in die Welt der Geister eingetaucht, wovon die vielen Fotos im Booklet zeugen. Die sieht man sie als Nöck und Nixe bis zum Kinn im Wasser treiben, werden Blätterwerk und Baumstamm liebend gekost, auf moosbedeckten Felsen herumgekraxelt.

Es beginnt mit Hans Pfitzners Lockung, für das die Sopranstimme einen wie verwundert erscheinenden Klang annimmt, Waldeinsamkeit wird besonders bedeutsam gesungen, schwül und verlockend schlüpfrig klingt die zweite Strophe, und nicht nur dieser Text stammt von Eichendorf, dem liebenswertesten Vertreter der deutschen Romantik. Petersen legt viel Dramatik in den Schluss von Hans Sommers Lore im Nachen, wählt einen kindlichen Ton für Mit einer Wasserlilie, der in Einsame Nixe von Hermann Reutter deren „süße(n) kristallene(n) Stimme“ wiederzugeben scheint. Interessant wird die CD auch dadurch, dass viele unbekannte Lieder hier für viele Hörer sicherlich zum ersten Mal erklingen. Dazu gehört heute auch Loewes Der Nöck, dessen balladenhafter Aufbau die Stimme zu mehr Dramatik herausfordert. Keck und humorvoll wird Sindings Ich fürcht‘ nit Gespenster gesungen, in dem das Klavier eher als die Stimme trunken von der Schönheit des Nachtweibs zu sein scheint. In Harald Genzmers Stimmen im  Strom scheint der Sopran am Schluss unendlich zu gleiten, in Regers Mainacht das Aufblühen der Natur nachzuvollziehen. Damit wären wir bereits bei den Elfen, für die auch Bruno Walther ein Lied komponiert hat, das mit silbrigem „Mondesglanz“ verführt. Derselbe Text von Eichendorff wurde auch von Julius Weismann vertont, und sein Lied ist tändelnder, was die Stimme geschickt umsetzt.

Es folgen die Nordlichter, in denen Marlis Petersen in Sindings Majnat Wehmut und Grauen in einen Aufschrei münden lässt. Mit schöner Getragenheit wird in Kilpinens Berggeist der Schluss gestaltet, das bekannteste Lied der CD dürfte Wolfs Elfe auf einen Text von Mörike sein, in dem der Sopran den Kontrast zwischen Wächter und Elfe hübsch herausarbeitet. Mit feiner Leichtigkeit, wir sind zu den Elfen zurückgekehrt, wird von Friedrich Gulda der Eichendorff-Text, den auch Walther vertonte, in Musik gesetzt und von Marlis Petersen gesungen. Unheimlich und betont abgehackt schildert der Sopran die Tod bringende Begegnung mit den Elfen in Schrekers Spuk. Jede der vielen Elfen in Herman Zumpes Liederseelen erhält von der Sängerin ein unverwechselbares vokales Gesicht, Zemlinskys Und hat der Tag all seine Qual wird nicht so pathetisch gesungen, wie der Text es nahelegt, das Klavier betont dazu den Schreitrhythmus. Eine hochinteressante Auswahl, die das Gespanntsein auf den dritten Teil des Zyklus noch wachsen lässt (SM 294). Ingrid Wanja    

Zu sanft und höflich

 

Französische Romantik ist gerade wieder sehr angesagt in der Opernwelt- und auffallend viele Sänger widmen in letzter Zeit ihre Solo-Alben dieser Epoche. Jetzt ist eine Arien-CD eines jungen französischen Tenors beim Label Alpha erschienen: Julien Behr.

Es gibt heute viel stilsicherere Sänger in diesem schwierigen Repertoire als noch vor 30 Jahren, und das ist nicht nur Verdienst der Sänger selbst, sondern auch das der Hochschulen, Konservatorien und Lehrer, die den jungen Künstlern ein präziseres sensibles Stilgefühl für die französische Epoche des 19. Jahrhunderts vermittelt haben. Julien Behr profitiert von dieser neuen Auffassung. Man spürt, dass er sich bemüht, die Stücke genauso zu artikulieren, wie es einst das entsprechende Haus der Premiere vorschrieb; Brust und Kopfstimme werden wohlkalkuliert und werkgetreu eingesetzt, nichts bleibt dem billigen Effekt überlassen, alles atmet Vernunft.

Zu sanft und zu höflich: Behr hat keine Stimme, dessen Strahlkraft den Hörer in die Knie zwingt; die Höhen sind keine Großereignisse, wenn auch technisch sauber. Er ist ein exzellenter lyrischer Mozart-Tenor, der sich das leichtere (leicht im stilistischen, nicht im energetischen Sinne) französische Tenorfach erschlossen hat. Ein intelligenter Sänger, der sich jedoch den Partien zuweilen auf Zehenspitzen nähert und elegant, aber vorsichtig durch das Repertoire Gounods, Bizets, Messagers und Delibes‘ tänzelt, fast wie ein schüchterner Besucher in einer Ausstellung alter Glasbläserkunst, der sich fürchtet, bei zu impulsiven Bewegungen die Exponate zu zerstören.

Doch so fragil ist die französische Oper des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nun auch wieder nicht. Auf der CD mag alles durchhörbar, sauber und samtig klingen – mir ist es unterm Strich zu sanft und höflich. Vergeblich wartet man auf den großen Moment , wo der Solist ausbricht, aufbegehrt, echte Leidenschaft zeigt. Stilgefühl ist dann am Ende doch nicht alles.

Exquisit ausgewählt wie auch interpretiert: Es begleitet das renommierte Orchester der Oper in Lyon, eins der besten Opernorchester der Welt; am Pult steht der relativ junger Dirigent Pierre Bleuse, der hier aber überraschenderweise weniger durch jugendliches Feuer glänzt als durch laszive Sinnlichkeit. Schön, dass hier die Lyoner hier in drei reinen Orchesterstücken zeigen dürfen, was sie können, alle drei Piecen sind sowohl exquisit ausgewählt wie auch interpretiert, darunter auch die berühmte Habanera von Emmanuel Chabrier (Confidence, mit Julien Behr (Gesang), Orchestre de l’Opera National de Lyon, Pierre Bleuse (Leitung), Alpha 8732528). Matthias Käther

Syrakus zum Dritten

 

Der am 3. Dezember 1820 auf dem Höhepunkt seines Schaffens als vorletzte seiner neapoliantischen Opern am Teatro San Carlo uraufgeführte Maometto Secondo gehört zu Rossinis ambitioniertesten Werken. Später glättete er für Aufführungen in Venedig bzw. Paris einige der avanciertesten Passagen. So enthält die Fassung, die zwei Jahre später in Venedig zur Aufführung kam, eine umfangreiche, zehnminütige Ouvertüre und ein lieto finale. Interessanterweise gelangte im gleichen Jahr, als Rossinis vor dem Hintergrund des Kriegs zwischen Türken und Venezianern spielende Liebesgeschichte uraufgeführt wurde, am San Carlo mit Spontinis Fernando Cortez eine ähnlich unmögliche Liebe zwischen dem europäischen Eroberer und der aztekischen Prinzessin Amazily auf die Bühne. Isabella Colbran sang die Amazily und später auch Anna, die Tochter des Statthalters in der venezianischen Kolonie in Griechenland, die sich in den ihr unbekannten türkischen Sultan Mohammed verliebt.

Naxos gestattet sich und seinen Hörern den Luxus, alle drei Maometto-Opern Rossinis in Aufführungen von Rossini in Wildbad zu erleben: Aus dem Jahr 2002 stammt die revidierte Fassung des Maometto II. für Venedig 1822 (mit Denis Sedov, Anna-Rita Gemmabella und Luisa Islam-Ali-Zade. 8.660149-51), 2010 spielte man in Bad Wildbad die ins Korinth des Jahres 1820 verlegte französische Umarbeitung Le siège de Corinthe (mit Lorenzo Regazzo, Majella Cullagh und Michael Spyres, 8.660329-30) und nun erschien Maometto II. in der Urfassung von 1820 (8.660444-46). Es handelt sich um einen Mitschnitt der drei Aufführungen aus dem Juli des Vorjahres. Gespielt wird, wie in der Aufführung von der Garsington Opera (AV 2312), die kritische Edition von Hans Schellevis. Ein Dokument. Mit allem Bühnen-Gelaufe und -Gerenne, inklusive Applaus und einiger Unzulänglichkeiten, klanglichen und instrumentalen Unausgewogenheiten, doch das fällt bei der Leidenschaft, mit der sich unter Antonino Foglianis energischer und herrlich befeuernder Leitung alle – die Virtuosi Brunenses und der Camerata Bach-Chor aus Ponznan – in den Freiheitskampf stürzen, nicht weiter ins Gewicht. Ohne Einleitung oder Sinfonia stürzt sich auch Rossini in das Geschehen aus der Mitte des 15. Jahrhunderts und entfacht dichte und ausladende Szenen und eine gewaltige musikalische Architektur, die von Innen zu glühen scheinen. Elisa Balbo, die im Wildbader Kurhaus zwar kompetent, doch nicht erfüllt klang, wirkt als Anna auf den CDs dunkler, gewichtiger, sehr achtsam in den kleinen Noten und mit hart energischer Strahlkraft. Mert Süngüs Tenor ist anfangs nicht sehr klangvoll, denn er ist weniger Anwalt gestalteter Rezitative, die flach ausfallen, als arioser Enflammiertheit, wo er, wie im ausgedehnten Terzettone seine Muskeln spielen lassen kann und seinem strahlenden Tenor auch empfindsame Zwischentöne verleiht. Victoria Yarovaya gibt mit hell schlanken Mezzoklang einen patenten General Calbo, fundiert in der Tiefe, strahlend in der Höhe. Der am Konservatorium in Pesaro ausgebildete Mirco Palazzi singt die Titelrolle mit profundem Bassbariton, mit der federnden Geläufigkeit, wie sie die rassigen Läufe seiner Auftrittsarie verlangen, und im Duett mit Anna im Mittelakt auch mit sanfter Verführungskunst, die Anna Faszination verständlich macht. Auffallend in den beiden kleinen Partien des Selimo und Condulmiero Patrick Kabongo Mubenga (Naxos 3 CD 8.660149-51) Rolf Fath

Ordentlich

 

Angeblich soll Domenico Cimarosa über 100 Opern geschrieben haben. Fest steht: Nur eine hat im Repertoire wirklich überlebt – „Die heimliche Ehe“. Seine zweitbeliebteste Oper war zu Lebzeiten des Komponisten der Einakter L’impresario in angustie. Brilliant classics (95746) hat die kleine Oper jetzt aus der Versenkung geholt.

Es gibt zwei wichtige Gründe, warum diese Oper Musikgeschichte geschrieben hat. Zum einen ist sie eine der besten und bissigsten Parodien auf den Opernbetrieb selbst, eine boshafte Farce auf die chaotischen Zustände an italienischen Bühnen. Zum anderen hat das Werk vor allem in Deutschland einst Ruhm eingefahren, weil Goethe höchstselbst die Oper geliebt hat. Er hat sie auf seiner Italienreise gesehen und dann eine eigene deutsche Fassung für Weimar angefertigt, zusammen mit seinem Schwager Vulpius. Danach war sie in der Goethe/Vulpius-Fassung bis weit ins 19. Jahrhundert hinein sehr erfolgreich.

Hier nun liegt das italienische Original von 1787 vor. Die Handlung ist ziemlich konfus für eine so kurze Buffa: Gezeigt werden zwei Primadonnen im Streit. Ein Librettist und ein Komponist sind beide in sie verliebt (eine milde Vorahnung auf Capriccio von Strauss). Allerdings macht der Operndirektor auch einer Avancen. Zwischendurch wird eine Oper geprobt,

Frühere Einspielungen: Die Oper ist keine Novität für den Liebhaber komischer klassischer Werke. Unschlagbar ist die um Cimarosas Opernproben-Kantate erweiterte deutsche Fassung mit Reiner Süß und Peter Schreier (Warum ist die eigentlich nie auf CD erschienen?). Lustig, wenn auch wenig stilsicher ist der Opern-Mitschnitt aus den Sechzigern mit Sesto Bruscantini. Die letzte Aufnahme kam 2001 unter Fabio Maestri bei Bongiovanni heraus. Sie wurde bei einem kleinen niederländischen Belcanto-Festival aufgenommen. Eine sehr anständige Einspielung, die durchaus auf Augenhöhe ist mit der jetzigen, mit zwei gewichtigen Nachteilen: Bongiovanni ist eine Mini-Firma von geringer Reichweite und entsprechend teuer. Brilliant classics ist erfreulich preiswert und international sehr präsent.

Schön, aber perfekt klingt anders: An dieser ersten Studioaufnahme gibt es wenig zu monieren, aber echter Grund zum Jubeln ist auch nicht gegeben. Zu hören sind durch die Bank unbekanntere Stimmen, die den Cimarosa-Ton perfekt treffen. Carlo Torriani als Operndirektor steht Angelo Romero in der früheren Aufnahme in nichts nach. Die beiden Sopranistinnen Paola Cigna und Lavinia Bini haben die Leichtigkeit in den Höhen und die Spielfreude, die das Werk braucht. Und auch über die restlichen Interpreten lässt sich nicht meckern. Einzig das Orchester unter Aldo Salvagno könnte etwas moussierender sein.

Das große Ärgernis ist das Mailänder Studio, in dem das Werk aufgenommen wurde: Viel zu hallig, hervorragend geeignet für Kirchenmusik. Aber ein flotter komischer Einakter lebt von trockenerer Atmosphäre und kleinen Räumen. So klingt alles eher oratorisch und zäh. Man führt ja aus gutem Grund Pergolesis „Serva Padrona“ nicht in der Arena von Verona auf (mit Carlo Torriano, Marco Filippo Romano, Paola Cigna, Lavinia Bini; Orchestra Bruno Maderna di Fordi; Aldo Salvagno). Matthias Käther

Una Adalgisa rossiniana

 

Am liebsten würde man gleich selbst in die schmucke Jurte einziehen, die Bühnenbildner Robert Jones für Norma auf die Bühne der MET (2017) gestellt hat, denn sie ist mit allem versehen, was man sich in Küche, Schlafgemach und Wohnbereich zu gallischen Zeiten nur vorstellen kann, allein die vielseitigen Küchengeräte, aber auch ein Webstuhl zeugen von dem relativen Wohlleben, dessen sich die Priesterin erfreuen konnte. Kein Wunder, dass es der römische Feldherr Pollione doch recht lange bei ihr aushielt. Streng genommen ist Norma ja eine recht unsympathische Figur, die ihr Volk an der Nase herumführt und es in den Krieg hetzt oder zum Frieden ermahnt, je nachdem wie gerade ihre Beziehung zu ihrem Liebhaber sich gestaltet. Auch in Erwägung zu ziehen, die unschuldige Adalgisa wider besseres Wissen des Verbrechens anzuklagen, das sie selbst begangen hat, nur um die Qualen des Ungetreuen zu erhöhen, ist kein sympathischer Zug. So tut Regisseur David McVicar gut daran, sie während des Vorspiels zum 2. Akt zärtlich mit den Kindern umgehen zu lassen. Zum Glück kratzt sie am Schluss noch die Kurve und bekennt ihre Schuld.

Ist der erste Teil des zweiten Akts geradezu naturalistisch angelegt, so ist die Bühne für die Szenen im Freien eher leicht stilisiert und damit belacantotauglicher, das Auge wird nicht allzu sehr mit der Erkundung von Details beschäftigt, sondern der Besucher der Oper kann sich ganz der Musik widmen. Die ist bei dem belcantoerfahrenen Carlo Rizzi 2017 gut aufgehoben, der mit viel Drive für die Chorszenen aber auch für Sphärenklänge (Harfe!) in der Sinfonia sorgt.

Die Frage, ob Mezzo oder Sopran für die Adalgisa, braucht sich nicht zu stellen, denn Joyce Di Donato singt Partien beider Stimmlagen, und so bereitet ihr auch diese keinerlei Problem. Befremdlich sind nur die kurzen Haare in der auf historische Glaubwürdigkeit setzenden Produktion, vokal ist sie wunderbar bereits in den Rezitativen, die Stimme ist reich an Farben und geschmeidig wie zu der Zeit, als sie mit Rossini unterwegs war. Zudem man hat man nie das Gefühl, dass hier L’art pour l’art getrieben wird, sondern der Gesang ist im Rahmen des im Belcanto Erlaubten expressiv. Anna Netrebko wäre vielleicht die adäquatere Partnerin gewesen, nun singt Sondra Radvanovsky die Priesterin mit sehr feinen Piani, in der Höhe manchmal schrill, aber insgesamt mit sehr anständiger „Casta Diva“ und als Partnerin in den beiden großen Duetten selbst in den Presto-Teilen durchaus angemessen. Ein von Anfang an auch gegenüber Adalgisa sehr grimmiger Pollione ist Joseph Calleja mit bruchlosem, schön timbriertem Tenor, der durch kluge Karriereplanung des Sängers ohne Einbußen an Schmelz und Geschmeidigkeit ins Spintofach gewachsen ist. Einen etwas dumpf klingenden Oroveso gibt Matthew Rose, der die letzte Szene ergreifend spielt. Einen überraschend angenehmen Tenor für die kleine Partie des Flavio hat Adam Diegel, eine aktiv ins Geschehen eingreifende Clotilde mit hübscher Stimme ist Michelle Bradley. Die beiden Kinder sind auch im realen Leben Brüder. Am Schluss gibt es einen Scheiterhaufen, der beinahe schon den kürzlichen Waldbrand in Kalifornien vorwegnimmt (Erato DVD 019028562875). Ingrid Wanja   

„Léonore“ von Pierre Gaveaux

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Pierre Gaveauxs (1761 – 1825) Oper Léonore ou l’Amour conjugal von 1798 galt und gilt als der Trittstein für Beethovens Leonore/Fidelio, und kaum je einer hat sie gehört. Nur in Bonn spielte man sie 1989  in einer Studentenaufführung (das Kölner Opernstudio und die Camerata musicale Bonn 1989 im Rahmen der Veranstaltungen zum „200. Sturm auf die Bastille“, hierzu gab es eine Ausstellung des Beethoven-Hauses zu „Beethoven und Politik“ im Rathaus, und in diesem Rahmen auch Szenen der  Oper). Auf youtube zeigen sich ein paar Clips der Aufführung in New York 2017 (s. unten), eine Pollacca aus Le Trompeur trompé (1800), Regina Resnik singt „Dieu d’Israel“ aus der Oper L’enfant prodigue von Gaveaux (1811, sehr ähnlich der großen Arie aus Mehuls Joseph), auf einer alten CD „La Revolution en Chansons“ gibt es ein schwungvolles Sextet de la Cité „Le réveil du peuple contre les terrorites“ (1795) mit der Musik von Gaveaux, mehr nicht. Dabei hat der Mann meterweise Bühnenwerke komponiert, beinahe ausschließlich heiteren Genres.

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Der Librettist der „Leonore“: Jean-Nicolas Bouilly/ Wiki

Aber eigentlich ist der Ruf von Léonore ou l’Amour conjugal mythischer als ihre Musik, die durchaus in die Kategorie der üblichen Opéra Comique der Revutionszeit (1798 in Paris zur  Zeit von Robespierres Schreckensregime premiert) fällt und etwa den Deux Journées oder dem Joseph von Mehul nahekommt. Ich hatte mir – ehrlich gesagt – viel mehr erwartet und war doch enttäuscht. Schon Mehul oder Auber haben ihre Schwächen, aber Gaveaux (selber Tenor und der erste Jason in Cherubinis Médée) bleibt glatt-galant und nicht wirklich memorabel. Einzig das wirklich dichte Vorspiel und die Szene des Florestan zu Beginn des zweiten Aktes bleiben mir in Erinnerung, denn es gibt nun endlich ein lang ersehntes Dokument der Oper. Naxos hat als DVD eine im Februar 2017 mitgefilmte Aufführung von der rüstigen und auf dieses Repertoire spezialisierten Opéra Lafayette in New York herausgebracht (ohne deutsche Untertitel!), die der künstlerische Direktor des Organisation, Ryan Brown, mit Schwung dirigiert und die durchaus ordentliche Stimmen aufbieten kann. Kimy McLaren will mir in der Hosen tragenden Titelrolle etwas blass erscheinen, aber Tenor Jean-Michel Richer macht mit hervorragender Diktion wett, was der Stimme vielleicht an Heroischem fehlt. Dazu kommen munter Pascale Baudin als Marceline, Keven Geddes als Jacquino, dazu der dräuende Dominque Coté hervorragend als Pizarro sowie Tamislave Lavoie als Vater Roc (sic!). Alexandre Sylvestre schließlich gibt den ausgleichenden Minister. Man sieht schon an den Namen, dass das benachbarte Kanada die Solisten gestellt hat, und das mit vor allem sprachlichem Gewinn.

Gaveaux: „Léonore“ in der Aufnahme der Lafayette Opéra bei Naxos Bluray

Optisch ist Léonore ou l’Amour conjugal ebenso solide Ware, eher recht niedlich-bürgerlich-hübsch in den Sets von stilistisch-historischen Set/ Kostümen von Laurence Mongeau in der ebenso munteren, spielfreudigen Inszenierung von Oriel Tomas. Die meiste Wirkung geht an die hervorragende und szeneschaffende Beleuchtung von Julia Basse, der die Videoverfilmung von Jason Starr geschickt folgt. Alles in allem also eine werkdienliche Wiedergabe, kein Euro-Trash-Regietheaterschrecken, wofür man der Lafayette Opéra dankbar ist.

Dennoch, eine CD hätte es vielleicht auch getan, denn es geht im Wesentlichen um das Kennenlernen einer musikalischen Bearbeitung des Librettos (von Jean-Nicholas de Bouilly/ 1763 – 1842), das in einer anderen Fassung eben eine solche Furore gemacht hat. Die Handlung ist die gleiche wie bei Beethovens Sonnleithner (ab 1805), aber hier bei Gaveaux wirkt sie eben galanter, unterhaltsamer, weniger wichtig, belangloser, austauschbarer. Und angesichts anderer Rettungsopern wie Cherubinis Lodoiska (1791) und Les deux journées (1800, Libretto ebenfalls Bouilly) oder auch Paers wie Mayrs Leonora/L´amor conjugale (1804 bzw. 1805) wenig später ist dies doch leichtere Kost.

Die Ausstattung der Naxos-DVD ist ordentlich, gut getrackt und mit schönen Aufführungsfotos, dazu ein Artikel in der Beilage (nur Englisch) von Julia Doe von der Columbia University New York, den wir nachstehend in der Übersetzung von Daniel Hauser wiedergeben, um die Erstbegegnung mit Léonore en travestie zu würdigen (Naxos DVD 2.110591). G. H.

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Gaveaux: „Léonore“ an der Opéra Lafayette/ Szene/ Foto wie auch oben Louis Forget

Léonore, ou L’Amour conjugal, mit einem Libretto von Jean-Nicolas Bouilly und Musik von Pierre Gaveaux, ist eines der bekanntesten Stücke des Opern-Theaters, von dem praktisch niemand aus dem heutigen Publikum jemals Notiz genommen hat. Diese opéra comique, die im Jahre 1798 ihre Premiere am Pariser Théâtre Feydeau feierte, ist sinnbildlich für eine hartnäckig vernachlässigte Kategorie des dramatischen Repertoires – die Dialogoper der Epoche der Französischen Revolution. Sie ist freilich auch der Ursprung für ein Objekt weitverbreiteten Ansehens und anhaltenden wissenschaftlichen Interesses: Fidelio, die einzige überlebende (und vielfach überarbeitete) Oper von Ludwig van Beethoven. Léonore von Bouilly und Gaveaux ist daher ein Werk mit einer einzigartigen gegabelten Identität. Auf der einen Seite sind ihre Handlung und ihr musikalisches Idiom eng verbunden mit der Zeit und dem Ort ihrer Entstehung; sie verrät eine klare Verpflichtung an die Konventionen der opéra comique der klassischen Ära und der spezifischen politischen Umstände der späten 1790er Jahre. Auf der anderen Seite sind die abstrakten und umfassend verallgemeinerbaren Themen – von der Stärke ehelicher Hingabe und der Notwendigkeit von Rebellion gegen ungerechte Verfolgung – außerordentlich anpassungsfähig, was sich anhand der anhaltenden Einflusses auf die Vorstellung des Volkes im Frankreich und im gesamten Europa des 19. Jahrhunderts zeigt.

Gaveaux:  Grabstätte auf dem Pariser Friedhof Pierre Lachaise

Léonore wurde von ihrem Librettisten als eine „fait historique“, eine historische Tatsache beschrieben. Die Bezeichnung bezieht sich auf eine Unterkategorie der französischen Oper, die sich in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts entwickelte und Handlungen aufwies, die von den Schlagzeilen angeregt wurden oder anderweitig auf zeitgenössischen Heldentaten beruhten. In seinen (zuweilen unechten) Memoiren propagierte Bouilly – ein Jurist, der zum Dramatiker wurde – das Werk durch die Hervorhebung seiner Wahrhaftigkeit. Er behauptete, dass dieses Drama durch eine wahre Begebenheit inspiriert sei, die sich während der revolutionären Terrorherrschaft ereignet habe. Als er als Zivildiener in Zentralfrankreich angestellt war, sei er Zeuge geworden einer „großartigen Tat von Tapferkeit und Ergebenheit durch eine der Damen von Touraine, bei deren noblen Anstrengungen ich die Freude hatte mitzuwirken“. Die Details dieses durchaus glaubwürdigen Vorfalls zu verifizieren ist unmöglich. Und es sollte beachtet werden, dass der eigene Ruf des Autors in Verbindung mit dem seines Doppelgängers aus dem Theater von Nutzen war – wenn er die Bemühungen einer echten Léonore unterstützte, implizierte Bouilly, dass er selbst als Vorbild für das eigentliche Symbol von Gerechtigkeit und Autorität im Libretto diente, den wohlwollenden Minister Don Fernand. Wenn Léonore eine Spur historischer Wahrheit enthält, veranschaulicht dies außerdem (und eher zweckdienlich) viele der beliebten Handlungstypen des zeitgenössischen französischen Theaters. Das Thema der dramatischen Rettung aus der Gefangenschaft war in den Jahren nach dem Sturm auf die Bastille – wenig überraschend – allgegenwärtig, ebenso wie die dramatische Verurteilung der willkürlichen Tyrannei. (Gefängnisszenen kommen häufig vor in den Werken jener Zeit, von Monsignys Le Déserteur bis zu Dalayracs Raoul, sire de Créqui. Der böse Dourlinski in Cherubinis Lodoïska ist ein offenkundiger Vorgänger des mächtigen Bösewichts in Léonore, Dom Pizare.)

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Gaveaux: „Léonore“ an der Opéra Lafayette/ Szene/ Foto  Louis Forget

Gaveauxs Partitur für Léonore wendet sich sowohl rückwärts als auch vorwärts und vermischt klangvolle Idiome des Ancien Régime mit komplizierteren Nummern, welche die sich rasch entwickelnde Ästhetik der 1790er Jahre widerspiegeln. Die Stilsprache von Roc, Marceline und Jacquino bleibt weitgehend innerhalb der Konventionen des vorrevolutionären Zeitalters. Diese komischen Figuren äußern sich in einem rustikalen Dialekt und in einer Reihe populär geprägter strophischer Formen. Ein typisches Beispiel ist Marcelines eröffnendes Liebeslied „Fidélio, mon doux ami“, bestehend aus Reimen in Moll-Tonart, mit einem Refrain in Dur. Gaveaux hat aber auch die Entwicklungen des revolutionären Jahrzehnts gründlich aufgegriffen, was sich insbesondere in seinem weitreichenden Umgang mit Chormusik und in der Einbeziehung von Stilen zeigt, die aus dem Bereich der lyrischen Tragödie stammen. (Gaveaux war sowohl Komponist als auch Stardarsteller am Théâtre Feydeau. Dies hatte seine Ursache in den Hauptrollen mehrerer Prüfsteinwerke der damaligen Zeit, darunter Cherubinis Lodoïska und Medée wie auch Steibelts Roméo et Juliette; dies vermittelte ihm die neuesten Trends in der modernen Opernkomposition aus erster Hand.) Was ihn anbelangt, ist gerade das Ensemble, das den ersten Akt der Oper beschließt („Que ce beau ciel“), bemerkenswert; es wird von männlichen Gefangenen gesungen, die nach und nach die Bühne füllen, und ist ein klares Modell für den berühmten „Gefangenenchor“ („O welche Lust“) im parallelen Moment in Beethovens Fidelio. Innovativ sind auch das ernste Obligato-Rezitativ und die Romanze, die Florestan zu Beginn des zweiten Aktes aufführt. Der deklamatorische Gesangsstil, die dunkle c-Moll-Tonalität und die wachrufenden Orchestereffekte erzeugen eine düstere Vorahnung, die an die tragédie lyrique erinnert. (Gaveaux fordert vom Horn, „Glocke zu Glocke“ zu spielen – eine Technik, die Gluck verwendete, um die Klanglandschaft der Unterwelt in seiner Pariser Alceste darzustellen.) Tatsächlich waren die Gefängnisszenen von Léonore so düster, dass sie drohten, die Identität des komischen Genres zu gefährden; ein Kommentator stellte fest, dass es sich um einen „seltsamen verbalen Missbrauch“ handle, wenn man die Arbeit von Bouilly und Gaveaux als opéra comique einstufe.

Léonore wurde nach ihrer Pariser Premiere von der Kritik begeistert aufgenommen. Dem Journal de Paris fiel es schwer, sich an eine weitere Oper zu erinnern, die „einen solch vollständigen und allumfassenden Erfolg“ erzielt habe, während der Censeur dramatique die „erstaunlichen“ musikalischen Effekte und die „nuancierte“ und „verdeckte“ dramatische Konstruktion der Titelfigur hervorhob. Die Popularität des Werkes führte bald zu einer Reihe von Adaptionen für den Export ins Ausland. Ferdinando Paer und Johann Simon Mayr brachten 1804 bzw. 1805 Übersetzungen ins Italienische heraus; Beethoven legte eine deutsche Fassung des Librettos von Bouilly seinem eigenen Werk im selben Jahr in Wien zugrunde. (Er sollte seine Oper noch einmal 1806 und 1814 überarbeiten und mit verändertem Text unterlegen.) Was an Léonore vielleicht am bemerkenswertesten ist, das ist die Art und Weise, in der ihre Themen sukzessive und breit umgestaltet wurden, getrennt von den sehr spezifischen historischen und geographischen Umständen der ursprünglichen Konzeption. Die Oper von Bouilly und Gaveaux entstand nach der radikalsten Phase der Französischen Revolution, dem Terror der Jahre 1793/94. Ihre Metaphern der Befreiung sollten daher nicht auf das gestürzte Regime der Bourbonen-Monarchie abzielen, sondern richteten sich an Robespierre und die Jakobiner. (Das Théâtre Feydeau hatte den Ruf, royalistischen Gefühlen nahezustehen, und Gaveaux war der Autor einer bekannten Hymne, die sich gegen den Terror richtete: Le reveil du peuple.) Um 1814 hatte die endgültige Fassung des Fidelio von Beethoven eine völlig neue politische Resonanz gefunden: Die Handlung wurde größtenteils als Vorbild für den Sturz Napoleons betrachtet und das überschwängliche Finale als Zeichen für die Wiederherstellung der europäischen Stabilität auf dem Wiener Kongress. Für beide (und auch spätere) Interpretationen von Léonores Grundthemen ist das zentral, was der Historiker Paul Robinson als „rechtwinklige Geschichtsauffassung“ bezeichnet hat, einen Übergang von der alten Ordnung zu einer neuen, die nur durch Kampf erreicht werden kann. Darin steckt viel vom dauerhaften – und inspirierenden – Reiz. Julia Doe, Assistenzprofessorin für Musik, Historische Musikwissenschaft, Columbia University/ Übersetzung Daniel Hauser

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Gaveaux: „Léonore“ an der Opéra Lafayette/ Szene/ Foto  Louis Forget

Zur Oper fügt  der Wiener Musikwissenschaftler Gerrit Weidelich, der im Sommer 2016 in Berlin einen Vortrag über Bouillies Libretto anlässlich der Neuproduktion des Fidelio an der Berliner Staatsoper hielt, hinzu: Die Sopranistin Julie-Angélique Scio hatte in der Uraufführung der Médée von Luigi Cherubini einen außerordentlichen Erfolg mit der Titelfigur (Medée) erzielt und brannte darauf, in weiteren Rollen zu brillieren. Gegenstand der Medée war ja die Schilderung einer Ehe-Katastrophe – Jason hatte sie ja nicht aus Liebe geheiratet –, da war es keine Frage, dass sich als nächstes Opern-Projekt ein komplementäres Sujet besonders gut eignete. Auf die Scio soll also  der Vorschlag zurückgehen, dass man für sie eine Hosenrolle schaffen möge. Es bot sich an, die an der Produktion der Medée beteiligten Kollegen anzusprechen, etwa ihren Tenor-Partner Pierre Gaveaux, der den Jason dargestellt hatte. Gaveaux war ein erfahrener Opernkomponist und ließ sich gern auf das von Jean-Nicolas Bouilly vorgeschlagene Sujet über den „Triumph der ehelichen Liebe“ ein.

Gaveaux: „Lénore“/ Titelblatt des Librettos/ Wiki

Mit der von Bouilly vorgeschlagenen Geschichte hatte es eine besondere Bewandtnis:  Bouilly war in Tours auf komplizierte Weise in eine politisch heikle Affäre verwickelt, die er erst 1836/37 in seiner dreibändigen Autobiographie Mes Récapitulations offenlegte, so dass keiner der insgesamt vier Komponisten, die sein Libretto vertonen sollten, davon etwas erfuhr.

Vor 1789 noch Royalist, wurde Bouilly in der Revolution zum Anhänger der Republikaner und übernahm 1793 sogar die Aufgabe, in einem Prozess als Ankläger gegen seinen konterrevolutionären Jugendfreund Semblancay (das Vorbild für die Rolle des Florestan) aufzutreten. Die Sache der Republikaner betrieb Bouilly so wenig aktiv, dass der Prozess gegen seinen Jugendfreund derart verzögert wurde, dass es dessen Kerkermeister gelingen  konnte, die Frau des Semblancay, als Bäuerin verkleidet, in das Gefängnis einzuschmuggeln, um dem Häftling die Flucht zu ermöglichen, was jedoch nicht gelang.

Inzwischen war ein erklärter Feind des Semblancay (das Pendant des Pizarro) aktiv geworden und versuchte, diesen im Gefängnis zu erstechen, wobei dies in Gegenwart einer Reihe anderer Insassen geschehen sollte. Darunter befand sich auch die Ehefrau des Opfers, die sich schützend vor ihn warf und den mordlustigen Radikalisten Carrier mit einer Pistole bedrohte. Bouilly gelang es in der Folgezeit, den Prozess gegen seinen Freund bis zum Sturz Robespierres weiter zu verzögern, worauf der Gefangene seine Freiheit wiedererlangte. Sein Widersacher wiederum war am Sturz Robespierres beteiligt, dies kam Bouilly und seinem Schützling  Semblancay gelegen.

Sobald sich die politischen Verhältnisse wieder änderten und die Monarchie neuerlich zur Staatsform erkoren wurde, gab Bouilly seine politischen Aktivitäten auf und wirkte nunmehr als Theaterdichter und Librettist. Bouilly erzählte  seine Erlebnisse offenbar derart fesselnd und in der Art eines Theatersujets, dass die Sängerdarstellerin Scio so begeistert war, dass Bouilly und Gaveaux ihr binnen Jahresfrist die Rolle der Leonore auf den Leib schrieben. Anfang 1798 kam die gemeinsam geschaffene Oper (wie die Médée) im selben Theater Feydeau heraus und sie war so erfolgreich, dass sie zigmal wiederholt wurde.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Wie heisst eigentlich das Kind?

 

Wenigstens einen Namen verdient hätte in der Amsterdamer Inszenierung von Bergs Wozzeck aus dem Jahre 2017 Wozzecks Junge, der hier, obwohl der Titelheld und seine Marie erst seit drei Jahren „zusammen“ sind, bereits mindestens zehn Jahre alt  und von Anfang bis Schluss die Hauptperson ist in seinem vergeblichen Bemühen, das Schicksal der kleinen Familie durch das gefährliche Fahrwasser der Versuchungen und Anfechtungen zu lenken. Bei Büchner und Berg geht es um die sozialen Abhängigkeiten, die Wozzeck zum Erdulden von allerlei Unwürdigem wie Bohnenessen zwingen, um eine verlogene Moral, wenn ihm der Hauptmann das uneheliche Kind vorwirft, um eine zumindest auf den Helden unheimlich wirkende Natur in der zweiten und in der Schlussszene. In der Inszenierung von Kryzsztof Warlikowski bleibt davon nichts, wird im Bühnenbild von Malgorzata Scszesniak aus dem See ein Aquarium ohne Fische, aus dem vom Hauptmann abhängigen Soldaten ein Friseur (wie der historische Woyzeck), werden aus Handwerkern und Soldaten Mitglieder einer Gesellschaft in Feierlaune, die sich gern von einem Kinderballett in rosa Tüll unterhalten lässt oder auch von einer Transe und einer Art Clown, zu denen allen die wenn auch verballhornten Volkslieder überhaupt nicht passen wollen. Von sozialem Elend kann auch kaum die Rede sein, wenn Wozzeck zur Ermordung Maries im schicken schwarzen Anzug erscheint und der Ungetreuen ein weißes Brautkleid aus Spitze mitbringt. Dazu sieht er aus wie Andy Warhol mit Brille, der sich in eine geschmacklose, auch mit zwei Mickymäusen bestückte Revue verirrt hat. Das ist alles brillant gemacht, hat aber mit der Vorlage nur den Wortlaut, nicht  die Atmosphäre, die zu diesem gar nicht mehr passen will, nichts zu tun, am allerwenigsten mit der immensen Aufwertung der Rolle des Kindes, das wohl sogar doppelt, als der kleine Wozzeck, der von den anderen Kindern drangsaliert wird, und  Jahre später als dessen  Kind die Aufmerksamkeit und Anteilnahme des Publikums auf sich zieht.

Vorzüglich ist die Sängerbesetzung mit einem robusten Christopher Maltman mit sonorem Bariton an der Spitze, der zudem in der Darstellung des unseligen Antihelden doch einiges von dessen Hilflosigkeit und Dumpfheit vermitteln kann. Eine hocherotische Marie, leider in rotem Leder und schwarzem Lack, ist Eva-Maria Westbroek mit leuchtendem Sopran. Beider Kind ist der phantastische Jacob Jutte, dem in zartem Alter allerhand zugemutet wird wie auch den Kindern, die sich im Turniertanz üben. Frank van Aken darf nicht mit Uniform und Schnauzbart protzen, ist allerdings auch im blauen Anzug und dazu noch tenoral vokal ansehnlich. Eigentlich eine zu warme, sanfte und schöne Stimme hat Willard White für den Quälgeist von Doktor, während Marcel Beekman als Hauptmann mit scharfem Charaktertenor ordentlich chargiert. Eine äußerst mondäne Nachtclubsängerin ist hier die geifernde Nachbarin Margret, die von Ursula Hesse von den Steinen sehr schön gesungen wird. Jason Bridges ist ein in jeder Hinsicht ansehnlicher Andres.

Marc Albrecht setzt der Schicki-Micki-Bühne die ganze expressive Härte der Musik und eine ungeheure rhythmische Präzision entgegen, bringt die Zwischenspiele zu der ihnen gebührenden Bedeutung und versöhnt mit der an sich perfekten, aber unpassenden Bühne (Naxos NBD0081V). Ingrid Wanja    

Streitbares Christentum

 

Nur gut, dass Islamisten kein Faible für die Oper haben, denn dann könnte sich die Aufführung von Verdis I Lombardi alla prima crociata als heikel erweisen, geht doch das Libretto gar nicht zimperlich mit Allah und seinen Gläubigen um. Die Neuenfels-Inszenierung von Idomeneo in der Deutschen Oper Berlin, die aus Furcht vor unerfreulichen Reaktionen abgesetzt wurde, war da vergleichsweise harmlos, wenn auch aus einer Bluttat und nicht nur aus markigen Worten bestehend.

Mut haben muss man auch zu einer sich so um historische Treue in Bühnenbild und vor allem in den prachtvollen Kostümen bekennenden Produktion,  wie es diese in Turin ist, die geradezu einen Kontrast zum einem nüchternen Kinosaal ähnelnden Zuschauerraum des Piemonteser Opernhauses darstellt. Das Panorama Jerusalems, durch Arkaden hindurch zu erblicken, (Bühne Jean-Guy Lecat) und die in Orient und Okzident gleich kostbaren Kostüme (Fernand Ruiz) sind eine Augenweide und Beweis dafür, dass die Kunst des Bühnenbilds in Italien noch lebendig ist. Da kann man getrost auf Videoprojektionen verzichten.

Traditionell ist auch die Regie von Stefano Mazzonis Di Pralafera, und Extravaganzen wären seiner Hauptdarstellerin auch kaum zuzumuten, denn Angela Meade besitzt zwar eine wundervoll reiche, schön timbrierte Sopranstimme, die sie auch zum Liebling des Turiner Publikums macht, widerspricht aber der landläufigen Meinung, korpulente Opernsängerinnen seien dem Publikum heute nicht mehr zuzumuten. Zudem wurde ihr ein sehr vorteilhaftes Kostüm zuteil, und so ist der Genuss einer Stimme, die die Ensembles überstrahlt, deren farbenreiches Piano ebenso entzückt wie die Fähigkeit zu agogikreichem Singen, ein uneingeschränkter. Ein guter Partner ist dieser Giselda der Oronte von Francesco Meli, der seine Karriere sehr klug aufbaut, allmählich von Rossini und dem Belcanto zu Verdi übergewechselt ist und nun mit tragfähiger mezza voce, strahlenden Spitzentönen und einem angemessen dunkel gewordenem Timbre nicht nur seine Arie, das populärste Stück der Oper, sehr schön singt, sondern sich auch neben seiner Partnerin in den Duetten gut behauptet.

Ebenfalls von Rossini, aber auch von Mozart kommt Alex Esposito und singt nun den sich zum Eremiten wandelnden Erzbösewicht Pagano. Vielleicht hat er als Leporello und mit Ähnlichem einen so großen Eindruck gemacht, dass man ihm den basso profondo noch nicht abnimmt? Irgendwie wirkt er in der Partie noch zu leichtgewichtig, die Stimme nicht dunkel genug, und den gesamten Abend über wundert man sich darüber, dass außer ihm, der plötzlich mit langem weißem Bart erscheint, niemand auf der Bühne gealtert ist. Auch sein Bruder Arvino bleibt jugendlich bis zum Ende, gesungen von Giuseppe Gipali, den man sonst im ersten Fach als Liebhaber gewohnt ist, der in der Höhe recht gepresst klingt, ansonsten aber schon beinahe eine Luxusbesetzung ist. Lavinia Bini bleibt unauffällig als Viclinda, eher profilieren mit hübschem Mezzosopran kann sich Alexandra Zabala als Sofia. Antonio Di Matteo ist ein sehr ansehnlicher Pirro, Giuseppe Capoferri dumpf als Acciano.

Herrliche Chöre erfahren durch die Kreuzritter und die mitreisenden Damen eine angemessene Darbietung, das Orchester unter Michele Mariotti spielt mit viel Brio, die Visione vor dem letzten Akt wird sehr eindrucksvoll vom Streicher-Solisten zu Gehör gebracht. Ein schöner Opernabend ist garantiert (Dynamic 57826). Ingrid Wanja

Stimmakrobatik

 

Einen gutgelaunten Herrn mit dem Rasiermesser im Anschlag sieht man neben einem weit weniger amüsierten Individuum mit eingeseifter unterer Gesichtsregion auf dem Cover von Nicola Alaimos Bongiovanni-CD mit dem Titel Largo al factotum und begreift sofort: Hier geht es um einen Sänger, der zwar nicht gleichzeitig, aber doch in einem überschaubaren Zeitraum unterschiedliche Rollen aus ein und derselben Oper singen kann. Das ist schon ein heikles Unterfangen, wenn der Rollentausch innerhalb weniger Tage geschieht, erscheint fast unmöglich während eines Konzerts innerhalb weniger Minuten , ist aber im Februar 2018 während eines Auftritts im Teatro della Fortuna in Fano geschehen, ja vereint nicht nur zwei, sondern drei Rollen aus Rossinis Figaro und ebenso drei aus des Komponisten Cenerentola in einer Stimme. Damit und mit Arien aus L’Italiana in Algeri und Il Viaggio a Reims wird der Stimme des Bassbaritons, der aus Liebe zu seinem bis vor einiger Zeit bevorzugten Komponisten Bürger von Pesaro wurde,  der Wechsel vom Kavaliersbariton, zum Bassbuffo und zudem noch zum  basso nobile zugemutet. Das alles, nachdem er seit einiger Zeit bereits mit Erfolg im Verdi-Fach tätig ist, Ezio, Falstaff, Luna und sowohl Paolo als Simone Boccanegra gesungen hat. Dass man bei einem derartigen Auf und Ab der Stimme, bei einem derartigen Hin und Her zwischen den Fächern an einem einzigen Abend keine herausragende Leistung, die bereits und allein in der Vielfalt besteht, erwarten kann, ist verständlich. Aber es gibt auch keine Totalausfälle.

Die Auftrittsarie des Figaro wird nicht mehr oder weniger als anständig vorgetragen, die Stimme erscheint für die Partie etwas zu dunkel und schwer, es mangelt etwas an Eleganz und Geschmeidigkeit. Besser gelingt die Arie des Bartolo, solange sie sich nicht in den berüchtigten Prestissimoteilen bewegt. Für den Basilio ist das Timbre ungewohnt hell, was dem colpo di canone das Dicke-Bertha-Format nimmt. Noch immer gut mit den Fiorituren des Dandini kommt die Stimme zurecht, die nicht mehr ganz die Rossini-Leichtigkeit hat, zwei der drei Arien des Don Magnifico werden mit Lust am Chargieren gesungen, der Alidoro überzeugt durch weitgespannte Bögen, die erwünschte balsamische Wirkung dieser schwierigen Arie stellt sich beim Zuhörer immerhin teilweise ein. Am meisten in seinem Element scheint sich der Bariton bei der Verkörperung des Taddeo aus der Italiana in Algeri zu befinden, hier wirkt er frei und will nicht vortäuschen, was er eigentlich nicht ist. Gelungen ist auch der erste Teil der Arie des Don Profondo aus Il viaggio a Reims, wenn die einzelnen Nationalitäten und ihre Sprachen, denen die Reisenden angehören, imitiert werden. Insgesamt staunt man über das doch partielle Gelingen des Vorhabens, ganz unterschiedliche Anforderungen an die Stimme und die Technik unter einen Hut zu bringen, doch die wahren Spezialisten ihres jeweiligen Fachs können so doch nicht erreicht werden. Das Orchestra Sinfonica G. Rossini unter Mirca Rosciani macht seinem Namen Ehre und begleitet hilfreich.

Das Booklet ist, wie bei Bongiovanni aus Bologna die Regel, ganz vorzüglich und sehr informativ, man fragt sich einmal mehr, warum sich das Label immer noch mit 70 Jahren Bestehens brüstet, obwohl mittlerweile bereits 113 Jahre seit der Gründung verstrichen sind (Bongiovanni GB2571 1-2). Ingrid Wanja