Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Hurra: Ein Heldentenor!

 

Mit einer shining voice daher kommt die Debüt-CD des australischen Tenors Stuart Skelton, die den Titel Shining Knight trägt wie die bekannten Comics mit dem strahlenden, unüberwindlichen Ritter. Zur leuchtenden Stimme, die sich gegenwärtig zwischen Siegmund und Otello bewegt, kommt, wie es das Booklet verrät, noch ein sehr bewusst seine Kunst ausübender Sänger, der der Musik Wagners von Herzen zugetan scheint, denn sie beschenkt ihn mit „comfort, joy, sadness and joy again“.

Bereits beim ersten Track, dem Gebet des Rienzi, lässt sich eine Tenorstimme bewundern, die Schmelz, Flexibilität, viel corpo und einen eindrucksvollen Höhenstrahl in sich vereint, der sie für die lyrischeren Wagnerhelden prädestiniert erscheinen lässt. So folgen denn auch Lohengrin, Siegmund und Parsifal, auf der Bühne hat der Sänger bereits den Tristan verkörpert, noch nicht die Siegfriede und Tannhäuser. Ein manchmal ganz leichter Akzent stört kaum, das Gebet wird mit reicher Agogik gesungen, mezza voce und piano verlieren nicht an Farbe. Ein machtvolles „Gott“ wirkt ungeheuer eindringlich.

Für die Gralserzählung und somit wohl generell für den Lohengrin hat der Tenor noch genügend lyrische Qualitäten, auch wenn er sich von dieser Partie allmählich wegzubewegen scheint, wenn sie weniger silbrig als stählern klingt. Immerhin kommt die „Taube“ so sanft daher, wie der „Gral“ zu strahlen scheint.

Dem Siegmund des ersten Akts der Walküre gelingen ein schönes parlando, ein zärtlicher Klang und ein guter Registerausgleich. Wenn es stürmisch wird, übertrifft die Stimme das Orchester an leidenschaftlichem Einsatz. Man merkt diesem wie allen anderen Tracks an, dass der Sänger diese Musik liebt.

Als Parsifal des zweiten Akts gelingt Skelton das beeindruckendste „Amfortas“, den man sich denken kann, scheint der Künstler ganz in der Partie aufzugehen, wie es auch die schöne Feierlichkeit im dritten Akt bezeugt.

Es folgen die Wesendoncklieder mit Orchesterbegleitung, die offensichtlich ohne jeden Vorbehalt gegenüber den Texten interpretiert, ja eher in deren schwülstiger Sentimentalität noch verstärkt werden. Gut gefallen kann, wie der Tenor die Stimme schlank hält, gut mit dem Tempo von Stehe still zurechtkommt und „sein“ und „ganz“ wie Monolithen, den Schluss wie einen Choral erscheinen lässt. Sehr feinfühlig wird das tristannahe dritte Lied gesungen, sehr zart und extrem langsam, während „Schmerzen“ heldisch strahlend erklingt.

Den Schluss der CD bilden drei Lieder von Charles Griffes, denen der Künstler die gleiche Ernsthaftigkeit und Raffinesse angedeihen lässt wie seinem Gott Wagner. Barbers Sure on this shining night bildet den Abschluss einer CD, die den Hörer in der freudigen Gewissheit bestätigt, dass er einen wahren Heldentenor gehört hat.

Asher Fisch und das West Australian Symphony Orchestra begleiten solide, wenn auch nicht die dem Sänger eigene Leidenschaft für die Musik hören lassend. (ABC 481 7219Ingrid Wanja

Ein Ochs ist kein Frosch

 

Immer etwas problematisch insbesondere in nördlichen Breiten ist die Gestaltung des dritten Akts von Johann StraußFledermaus, der vom slibowitzseligen Frosch dominiert wird. Die Aufnahme mit der NDR Radiophilharmonie unter Lawrence Foster wollte wohl besonders authentisch werden mit einem echten Wiener, nämlich dem Wagnerbass Kurt Rydl in der Partie des Justizvollzugsbeamten, auch ein bewährter Ochs und hier bereits auf dem Fest des Prinzen Orlofsky zusätzlich die Rolle des besonders bei Silvesteraufführungen beliebten special guest einnehmend. Auch er strebt wie die Kammerzofe Adele eine Bühnenkarriere und die Protektion des Prinzen an und bewirbt sich darum mit dem Flohlied des Mephisto von Mussorgsky. Bei der bassgewaltigen Darbietung wundert man sich allerdings, dass er nicht längst auf einer Bühne steht.

Die neue Textfassung der Dialoge des Tenors Nikolai Schukoff, der auch Eisenstein ist, gönnt ihm keine tagespolitischen Anspielungen, nur noch ein paar Noten Osmin und Ochs, sondern spielt lieber insgesamt mit amerikanischen und russischen Wortfetzen, der internationalen Besetzung angemessen, und doppeldeutigen sexuellen Anspielungen wie „bei mir können sie aufsteigen“. Am stärksten erinnert noch die Ida von Alice Waginger an Wiener Aufführungen, während Solisten wie auch Chor (WDR Rundfunkchor) und Orchester eine gewisse Globalisierung des Klangs nicht verleugnen können.

Laura Aikin, die Alleskönnerin, ist eine beherzte Rosalinde mit stählern klingendem Csárdás, den Rhythmus leicht ironisierend, mit sicheren Koloraturen und einigen Problemen beim Registerwechsel im letzten Akt. Eine frische, spritzige Adele singt Annika Gerhards, quietschend vor Übermut, mit üppiger Höhe in Mein Herr Marquis und feinen Differenzierungen für die drei Rollen in Spiel ich…Sehr direkt mit tenoraler Prachtentfaltung recht opernhaft gibt Nikolai Schukoff den Eisenstein, etwas verhuscht im Finale des zweiten Akts wirkend. Christian Elsner darf als Alfred sein Fach mit Florestan und Stolzing antippen, verbreitet aber auch in der Straußmusik tenoralen Wohlklang. Eine ideale Besetzung für den Orlofsky ist Elisabeth Kulman, durchaus wie ein übermütiger, beschwipster Jüngling klingend. Rollendeckend besetzt sind der Frank mit Joachim Schmeckenbecher und Dr. Falke mit Mathias Hausmann. Die Aufnahme entstand im Januar 2018 im Großen Sendesaal des Landesfunkhauses Hannover (2 CD Pentatone  PTC 5186635). Ingrid Wanja

Michael Davidson

 

Der Sänger Michael Davidson starb am 19. Januar 2019. Viele seiner Anhänger werden ihn vermissen, der lange am Nationaltheater Manheim gesungen hat. Ein Blick in das unentbehrliche Kompendium von Kutsch/Riemens zeigt eine ebenso lange wie glanzvolle Karriere.

Davidson, Michael, Bariton, geb. 2.5.1935 Long Beach (Kalifornien) – gest. 19. 1. 2019; er erhielt seine Ausbildung durch Vladimir Dubinsky in Los Angeles. Er kam nach Westdeutschland und debütierte hier 1962 als Opernsänger am Stadttheater von Koblenz in der Partie des Renato in Verdis »Ballo in maschera«. Seine eigentliche künstlerische Heimat fand er am Nationaltheater Mannheim, dessen Mitglied er seit 1966 für mehr als zwanzig Jahre war. Er sang auch gastweise an den Staatsopern von Wien, München, Stuttgart und Hamburg, an den Opernhäusern von Köln, Karlsruhe, Hannover, Wuppertal, Frankfurt a.M. und Essen, an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf-Duisburg, in Nürnberg und Dortmund. Er gastierte weiter am Teatro Liceo Barcelona, in Vancouver und Portland (USA). In seinem umfassenden Bühnenrepertoire standen die heldischen Partien im Vordergrund: der Amonasro in »Aida«, der Don Carlo in »La forza del destino«, der Ford in Verdis »Falstaff«, der Rigoletto, der Jago im »Othello«, der Graf Luna im »Troubadour«, der Germont-père in »La Traviata«, die Titelfiguren in den Verdi-Opern »Macbeth«, »Nabucco« und »Simon Boccanegra«, der Gérard in »Andrea Chénier« von Giordano, der Sebastiano in »Tiefland« von d’Albert, der Lescaut in »Manon Lescaut« von Puccini, der Scarpia in »Tosca«, der Faninal im »Rosenkavalier« von R. Strauss, der Graf in dessen »Capriccio«, die vier Dämonen in »Hoffmanns Erzählungen« und der Tonio im »Bajazzo«.

Privat-Aufnahmen (Mitschnitte von Opernaufführungen). [Nachtrag] Davidson, Michael; noch 1997 trat er am Mannheimer Nationaltheater als Jago in Verdis »Othello« auf, s. auch youtube. [Lexikon: Davidson, Michael. Großes Sängerlexikon, S. 5276 (vgl. Sängerlex. Bd. 1, S. 790; Sängerlex. Bd. 6, S. 285) (c) Verlag K.G. Saur]

Vergebens hoffte man auf einen offiziellen Nachruf von Michael Davidsons Stammhaus, dem Nationaltheater Mannheim, wo man auf den Artikel im Mannheimer Morgen verwiesen wurde – den man als nicht abbonent allerdings ebenfalls leider nicht lesen kann …. Dem Mimen pflicht die Nachwelt“…. G. H.

Über den Niedergang einer Kunstform

 

“Without question, the most important book ever written in English about opera in performance . . .a cri de coeur, documenting the devastation of a single precinct of Western high culture in modern and postmodern times. . . It is hardly an exaggeration to suggest that the fate of 21st-century opera partly hinges on the fate of the bristling insights delineated and pondered in this singular megabook”. Schreibt Joseph Horowitz im The Wall Street Journal.

 

Von Zeit zu Zeit gibt es einen Anstoß, ein neues Buch über etwas, das die Wahrnehmung des Gewohnten verändert oder Zweifel am Gewohntebn verstärkt bzw. erklärt – das 827 Seiten starke Kompendium von Conrad L. Osborn Opera as Opera bei Proposito Press ist so eines, das die Augen für den heutigen Opern-Betrieb, seine akuten Defizite, seine Verwurzelung in zeitlich und politisch langen problematischen Entwicklungen sowie seine Unfähigkeit zur Erneuerung herausarbeitet, beleuchtet, erklärt. Die Oper, sagt der Autor, befindet sich in künstlerischen Untiefen, die weit über die generationsweisen Unterbrechungen hinausgehen und durch Opernliebhabern und Machern selber verschuldet sind.

Das Buch gliedert sich in sieben Teile. Vierzehn Essays über die Kunstform Oper, ein Kapitel über die Produktionen und Ausstattungen, eines über den intellektuellen Background, ein sehr langes über die Auffürungen, ein nächstes über Kritiken und einige Updates, schließlich der Epilog/ die Ausschau und ein letztes Die Backstories (eine Chronologie der audiovisuellen Medien, ein bibliographischer Aufsatz sowie Themen und Variationen). Dazu ein sehr hilfreiches Glossar  und Namensverzeichnis, alles auf satten 827 Seiten ohne Illustrationen, was sicher die Herstellungskosten in schwindelnde Höhen getrieben hätte.

Conrad L. Osborne/ Photo Hammann/ Osborne

Ein Wort zum Autor: Conrad C. Osborn ist in amerikanischen Kritiker- und Opernkreisen kein Unbekannter. Während seiner Karriere als Kritiker von mehr als 60 Jahren hat er Hunderte von Artikeln und Kritiken für das Magazin High Fidelity Musical America, Opera News, The Times und The Financial Times, The Musical Newsletter, Opus, Keynote und viele andere Publikationen geschrieben. Er ist zudem der Autor des Romans O Paradiso und schreibt regelmäßige Beiträge für The Metropolitan Opera Guide to Recorded Opera und Opera on Video. Auch als Schauspieler und Sänger ist er hervorgetreten und hat für lange Jahre Gesang und Interpretation unterrichtet. Osborne saß zudem im Vorstand und in beratenden Positionen mehrerer Kunst-Stiftungen und NGOs. Er lebt und unterrichtet in New York City. Sein zweiwöchiger Blog Osborne on Opera erreicht eine große und ergebene Leserschaft. (Quelle: Klappentext)

Da das Buch in Englisch geschrieben ist und gewisse Kenntnisse der Sprache und auch der Materie voraussetzt, ist es uns eine besondere Freude, von den Kollegen der amerikanischen platform operawire.com (meine morgendliche web-Diät) ein Interview mit Professor Osborn übernehmen zu können, das der Herausgeber und renommierte Musikjournalist David Salazar mit ihm im Dezember 2018 gehalten hat, dies auch in Englisch natürlich. Wir danken für die Großzügigkeit unter Kollegen. G. H.

 

Why ‘Opera As Opera’ Author Conrad L. Osborne Asserts That Artform Is In Creative Decline by David Salazar  “They just don’t sing as well as they used to.” You’ve heard it at some point during your opera-going. Some might dismiss such a statement as Golden Age Fallacy, nostalgic thinking that only emphasizes the positive aspects of the past and holding them up as better than the positives of the modern era.

But Conrad L. Osborne thinks that is very true, not only with singing, but the performance of opera as a whole. Osborne has known opera his whole life. Growing up in Denver in the 1940s, his father, a bass, used to perform at the Denver Civic Operas and would take the five-year-old Osborne to dress rehearsals. But his big fascination with opera often came from the record collection his father kept. “You would fantasize through these records and you imagine what the world must be when you listen to it,” he told OperaWire in a recent interview. He then moved to New York at age nine and took in his first opera experiences at the New York City Opera and Met Opera in 1947; his first City Opera performance was “Carmen,” while at the Met he saw “Il Barbiere di Siviglia.”

He started his career as an actor, then performed a bit as a singer, and started writing criticism in 1959 for Opera News and later for High Fidelity. He would remain a critic for a lengthy period of time, going back and performing intermittently. He also took up teaching, which remains his “day job.” Throughout his life as an opera lover he has felt that the trend toward the artform’s decline is truly real and he believes it so strongly that he spent the better part of the last 18 years writing an 800-plus page book explaining that not only was opera presented in a far superior manner in the past, but that the current trajectory will not lead to the long-term sustainability of the artform.

“Opera as Opera” is an encyclopedic look at every single aspect of the artform and how it has devolved over the last century. He breaks down trends in directing, singing, acting, and even the creation of operas in the 20th century, all of which he feels have contributed to the artform’s decline. He does establish that opera’s challenges in the 21st century are also demographic and economical, but for him the central issue that is causing the increasing marginalization is an artistic one.

C.L.O. (L.) with bass-baritone Michael Burt (R.) and a friend, southern Austria, l988/ Photo Osborne

Repertory Stagnation: It all starts with the repertoire. Osborne posits that the main staples of the operatic canon start with the major works of Mozart and stretch through until the operas of Richard Strauss; he calls this the Extended 19th Century or “E-19 for short.” Osborne does note that many operas from before and after this period have become part of the repertoire, but in his view, these works are the ones that are part of the “renewable re-affirmability that sustain our operatic institutions.” Moreover, he notes that operas of this period showcase similarity of content in terms of the music, plot and themes they tell, even if there are marked differences of style throughout the period.

In his view, there is a general “flight from E-19” with new operatic creators placing more emphasis on theory and philosophy with regard to how the artform is created, de-emphasizing the narrative roots that were at the core of major staples.

In musical terms, he points to the “atonalists and serialists, creating a whole new language that forbid diatonic melody and sought to express things in different way.” The idea was taken up by the musical intellectuals, pedagogues, and institutions, leading to the idea that “simple, expressive melodies” were outdated for expressive purposes. “And if you did [use melodies], then it had to be so harmonically disguised that the listener couldn’t pick up on it anyway,” he added. “That’s a central problem as far as opera is concerned,” Osborne further opined. “The singing-actor is the center of the operatic experience and characters are expressed through their individual vocal achievements. If you don’t have melody to sing or take advantage of how the voice has been developed over 400 years or so of operatic history, you don’t have much of anything at the center of the form’s expressive possibilities.”

He noted that the result is opera getting built up of other things. “Modernism is built up of materials and structure. The content is not the subject. The subject is the materials.” He referenced the idea that in modern art, the subject of the painting is not what is being depicted, but the paint and canvas itself. In music, the harmonic structures, rhythm, and instrumental timbre are given preponderance over melody in modernism. “That isn’t to say that it isn’t interesting. Some modernist music is very compelling. But it’s not an individual, subjective, emotional expression based on the vocal line, which is, by definition, melodic.”

On a narrative level, Osborne believes “another issue is that everyone is floundering about trying to figure out what there is to sing about. What kind of story makes an opera and how can we tell the story in operatic terms? It isn’t that people aren’t intelligent, or skilled, or creative. But how do you apply them and find solutions to those problems and tell stories in operatic manner.”

Osborne mit Ehefrau und Schauspielerin Molly bei Ralph Lauren’s, Chicago, 2001/ Photo Osborne

He devotes an entire chapter to exploring the stories and themes explored continuously throughout E-19 operas and why they were so potent for operatic expression; he feels that these principles have been largely abandoned by modern-day librettists. The result is a proliferation of many new works, but few (or none in his estimation) that actually get repeatedly produced and retain strong places in the repertoire. “For a little over 100 years now, we haven’t been adding to the canonical repertory with any degree of success at all,” Osborne noted, emphasizing an overall quality gap that has made these works lack the transcendence of something like the operas of Wagner, Verdi, or Mozart, among others.

That isn’t to say that Osborne hasn’t found anything of quality. He referenced that some composers, such as Thomas Adès, have occasionally excited him. “[Sometimes you run into] compelling passages and scenes, but in terms of adding up to a whole piece that I want to see or hear again or get the score, I don’t ever come away feeling that. Occasionally, I wonder if a different cast or different conductor and director, I wouldn’t mind seeing what might be brought out of it. But that’s as far as I get.”

One particular opera that did pique his interest and makes a prominent appearance in the book is George Benjamin’s “Written on Skin.” Osborne noted that one of the work’s finest features is its narrative, which returns to the medieval roots that most E-19 operas were so successfully based on. “I found the piece quite fascinating and I think it is very compelling and very well-produced and performed,” he noted though he did warn that it is a “a connoisseur’s piece” and worried about whether it would ever hold a place alongside “La Traviata” or “Turandot” in the standard repertory with audiences clamoring at which great opera singer would step up to interpret it at a major theater. “It’s a piece to be appreciated on a more specialized and somewhat more intellectualized level. And that’s fine. It’s a good opera and I think it will have revivals and be done. But it isn’t the kind of opera that will be repeatable or renewable works that will be part of your core repertory.”

Directors As Authors: Because there is repertory stagnation, large opera companies must keep returning to the well of E-19 operas to keep the organizations alive and vital. But in his view, there has been a mistake in how these works have been presented, with the implementation of cultural revisionism and authorial production methods distorting not only the works, but the understanding of what an interpreter is.

The person at the center of this movement? The director. Osborne notes that for him the director’s first and primary job “is to work with the performers to help them find their own creative ways through roles and to bring that out of them on the stage. To find what it is that they individually can bring to a role. And then to coordinate and stage that. And to conform it a very broad outline of the ‘aboutness’ of the work. “Within those boundaries there is an infinite variety of things that you find. Any individual performer or good actor going about looking at these parts will find very different things from another good actor and still be true to the basics of what’s there in the text. And the same with the musical expression of it. Any good singer with a good stylistic feel for a Verdi aria, who looks carefully at what is there in the text and consults his own imagination about what’s going on inside the character, can come up with different interpretations and responses from another artist of that caliber. And any good director will accept that, as long as it doesn’t get out of line with the overall arc that is being done with how the story is being told.”

The “aboutness” is crucial for Osborne as in his estimation, it comes directly from the text and its intentions; not derived from the director’s own imagination of what he or she wishes was in the text. But that is precisely what the director is doing when he or she becomes another author, instead of interpreter, as is the case in the modern opera system. “In my view, it is not the director’s prerogative to believe that he can tell a different story, rewrite the text to mean something that he or she prefers would have been said. If the director doesn’t like what is said or doesn’t think it is relevant, then he should direct something else,” Osborne pointed out. “[In many productions today], the director really is the co-author of the piece. And for me that is an enormous distortion of how interpretation should be done.”

Der Autor, David Salazar, Chefredakteur von operawire.com/ Linkin

This creates issues with how performers can develop and express their characters onstage. Osborne referenced an interview that famed tenor Jonas Kaufmann had with Marie d’Origny in NYBooks.com to set the table. “[Kaufmann] talks about going around from production to production trying to find how to express what it is that you believe about the character, but everything going on around you has nothing to do with that,” Osborne explained. “He even says it would be amusing if it wasn’t sad. He just tries to remember what the last ‘traditional’ impression he had of the role was and tries to go ahead and do that, even though everything around him is something else. And when he tries to bring it up with the director and asks why they have to do something that isn’t indicated and that he as a performer doesn’t believe is going on with the character, he’ll be told not to be so literal about it.” (…)

 

Soweit unsere Übernahme … die restlichen Teile des Interviews lesen Sie weiter auf der originalen platform operawire.com. Dort spricht Osborne über die verlorenen Stimm-Traditionen und die Hoffnung, die ihm doch noch bleibt:  “An effort has to be made from an interpretative point of view to restore the essential integrity of what interpretation is,” he stated. “Any of the canonical operas can still be a thrilling, exciting, transformative experience, if they are performed well enough.” (Conrad L. Osborne: “Opera as Opera – The State of the Art”, Proposito Press, 827 Seiten, Personenverzeichnis,  2018, ISBN 978-0-9994366-0-8/ oder direkt bestellen beim Autor: conrad@conradlosborne.com

CHARMANT, GALANT UND HOMOGEN

 

André Campra steht zeitlich zwischen Lully und Rameau und will nicht so richtig aus deren Schatten treten. Er begann als Kirchmusiker, seine erste Oper L’Europe galante (1697) gilt als erstes maßgebliches und beliebtes Werk der Gattung Opéra-ballet, das über Jahrzehnte in Paris gespielt wurde. Bereits 1973 nahm Gustav Leonhardt Auszüge diese Oper mit La Petite Bande für Schallplatte auf. In der Folge versuchte man wiederholt, Campra zurück ins Rampenlicht zu holen: bspw. Jean-Claude Malgoire spielte 1986 Campras Tragédie lyrique Tancrède (1701) ein, William Christie und Les Arts Florissants 1991 Idoménée (in der Version von 1732). 2011 erschien Campras zweite Opéra-ballet Le carnaval de Venise (1699) in einer schönen Aufnahme Hervé Niquets und seines Concert spirituel, 2015 erneut Tancrède mit dem Ensemble Les Temps Présents dirigiert von Olivier Schneebeli.

Die Neueinspielung des L’Europe galante entstand im November 2017 in Versailles und ist die erste Gesamtaufnahme bei der eigenen Firma Chateau de Versailles Spectacles. Das Genre der Opéra-ballet hatte schon zuvor Prototypen, bspw. 1695 Le Ballet des Saisons von Pascal Colasse. Besonders ist bei Campra, daß seine Oper weder mythologische oder antike noch allegorische Helden als Hauptfiguren hat, sondern in Abfolge Liebesgeschichten erzählt. Die Liebe in vier Ländern wird besungen, man sieht und hört eine Länderreise als Revue in vier Akten mit vier eigenständigen kurzen Handlungen und einem Vorspiel, das das Thema vorgibt. Die Charakterisierung der Länder bildet Kontraste, der französische Akt ist pastoral, eine nächtliche Serenade für Spanien, ein italienischer Maskenball und farbiges Kolorit im osmanischen Serail. Die barocken Stimmungen schwanken, mal charmant, mal launisch, edelmütig und schwärmerisch, eifersüchtig und temperamentvoll. Die einzelnen Nummern sind stets kurz, die Handlungen sind durch Divertissements unterbrochen, die orchestralen Zwischenstücke, Chöre und Tänze setzen auf Abwechslung, Schwung und instrumentale Raffinesse – das Anhören ist kurzweilig, aber genrebedingt ohne Spannungsbogen. Rameaus bekanntes Opéra-ballet Les indes galantes nimmt nicht nur im Titel Anleihen bei Campra.

Musiziert und gesungen wird in dieser Einspielung charmant, galant und homogen. Fünf Sänger singen 18 Rollen, Sopranistin Caroline Mutel als etwas zu wenig verführerische Venus und die warm timbrierte Mezzosopranistin Isabelle Druet als Discorde bestimmen den Prolog, die kanadische Sopranistin Heather Newhouse als spröde Schönheit Céphise, Isabelle Druet als Doris und der vielfältig einsetzbare Bassist Nicolas Courjal mit durchgängig schöner und ausdrucksvoller Stimme als Silvandre stellen das Dreiecksverhältnis des französischen Akts dar. Tenor Anders J. Dahlin – ein bemerkenswerter haut-contre – als Dom Pedro und Nicolas Courjal als Dom Carlos rivalisieren in Spanien unter den Balkonen. In Italien prägen dunkle Leidenschaft und Eifersucht die Liebe Octavios (Nicolas Courjal) zu Olimpia (Isabelle Druet). Und im Serail verliebt sich die Sklavin Zaïde (Isabelle Druet) in Sultan Zuliman (Nicolas Courjal), der Roxane (Caroline Mutel) nicht mehr begehrt. Sébastien d’Hérin dirigiert das mit 28 Musikern besetzte Ensemble Les Nouveaux Caractères, der Eindruck ist frisch und lebendig. Die Ouvertüre schreitet zeremoniell tänzelnd und pompös, als ob dem Sonnenkönig gehuldigt wird, danach hört man eine Interpretation mit viel Sinn für Details, bei der die jeweils aufspielenden Einzelinstrumente oft im Vordergrund sind. Die 18 Chorsänger haben einiges zu tun und meistern ihre Aufgabe souverän. In der Summe eine gelungene und lückenschließende Einspielung mit vielen Stärken, bei der man bestenfalls anmerken kann, dass manchmal ein pastoser Pinselstrich fehlt, der etwas mehr Kontur verleiht (2 CD,  Château de Versailles Spectacles, CVS002). Marcus Budwitius

Gruppengedenken

 

Vielleicht hätte Giuseppe Verdi doch ein neues Libera me für seine Messa da Requiem komponiert, hätte er gewusst, dass mehr als hundert Jahre nach seinem Brief an seinen Verleger Ricordi mit dem Vorschlag, die damals berühmtesten Komponisten Italiens sollten ein Requiem für den verstorbenen Rossini schreiben, dieses zwar komponierte, aber nie gespielte Werk doch noch im Jahre 1988 vom Leiter der Stuttgarter Bachakademie, Helmuth Rilling, uraufgeführt werden sollte. Auf jeden Fall – Mercadante hatte sich Verdi als einen von zwölf Mitstreitern gewünscht, doch dieser sagte wegen Hinfälligkeit ab. Zeitgenössische Opern- und Kirchenmusiker (die man in Teilen – wie Cagnoni oder Nini – heute von ihren Opern in Martina Francas Festival der jüngeren Jahren kennt) sagten zu, doch die von Verdi vorgesehene Aufführung in der Kirche San Petronio von Bologna, nach der die Komposition in einem Archiv verschwinden sollte, kam auch wegen des Widerstands der Verleger nicht zustande, nur das vorgesehene Archivieren fand tatsächlich statt. Für die Nachwelt entdeckt wurde sie von David Rosen; Pierluigi Petrobelli, der Leiter des Istituto Nazionale di Studi Verdiani machte sie Helmuth Rilling zugänglich. Nach dem Konzert in Stuttgart fanden noch Aufführungen im Dom von Parma und in Pesaro statt, auch in Frankreich und England spielte man das Werk.

Interessant ist die Messa per Rossini, die Riccardo Chailly im November 2017 in der Scala aufführte, nicht nur, weil sie einen Einblick in das Schaffen der damals bekanntesten Kirchenmusiker Italiens gibt, sondern auch weil man anhand der Veränderungen, die Verdi am Libera me für sein Requiem vornahm einen Einblick in seine Entwicklung als Komponist bekommt. Erstaunt ist man darüber, dass Namen wie BoitoPonchielli oder Faccio fehlen, doch das vorzügliche Booklet zur Aufnahme der DECCA weiß das Rätsel zu lösen. Sie wurden als nicht für reif genug für das Werk empfunden. Immerhin sind die einzelnen Beiträge durchaus von beachtlicher Qualität, insbesondere die Vorspiele und die Chöre, die von den Sängern der Scala so gewaltig wie kultiviert zu Gehör gebracht werden. Das Besondere dieser Messe ist der Einsatz von fünf Solisten, auch ein Bariton ist neben den anderen Stimmfächern vertreten.

Requiem und Kyrie stammen von Antonio Buzzolla, der in Berlin und Venedig wirkte und der ein dramatisches Orchestervorspiel beisteuert, ein eindrucksvolles Arrangement und eine reiche Agogik. Das Dies Irae ist Antonio Bazzini zu verdanken, der die Stimmen durch das Entsetzen peitscht und schließlich in Hoffnungslosigkeit ersterben lässt. Puccini und Catalani waren in Mailand seine Schüler. Auch das Turbam mirum hat eine interessante Orchestereinleitung, der Bariton Simone Piazzola klingt angemessen hohl und dumpf. Carlo Pedrotti, zur Zeit der Komposition Intendant des Teatro Regio, hatte auch in Amsterdam italienische Opern aufgeführt. Quid sum miser komponierte Antonio Cagnoni, wie Verdi an einer Oper über King Lear arbeitend, es klingt wenig geistlich, die beiden Frauenstimmen gehören Maria José Siri, deren aufblühender Sopran höchst angenehm zu hören ist, und dem Mezzosopran Veronica Simeoni. Das Recordare ist Carlo Pedrotti zu verdanken, Begründer der concerti popolari, hier durch einen Chor wie zu einem Opernfinale gehörend auffallend. Das Ingemisco ist  Alessandro Nini, Leiter der Basilica Santa Maria Maggiore in Bergamo und der angeschlossenen Musikschule, zu verdanken, einem Kirchenmusiker, dessen Musik der Tenor Giorgio Berrugi opernhafte, schmachtende Tragik mit schönem Material verleiht. Ein wildes Toben entfesselt der Bass Riccardo Zanellato mit dem sanften Damenchor im Hintergrund in Raimondo Boucherons Confutatis. Der Komponist war mehr noch als durch seine Musik durch seine theoretischen Werke zur Ästhetik berühmt. Der erste Teil wird beschlossen durch das Lacrymosa mit einem nicht enden wollenden Amen, ansonsten aber wohl einer der schwächeren Beiträge trotz des schönen Schwelltons am Schluss. Carlo Coccia hatte seine Meriten eher bei der opera buffa (wenngleich seine jüngst aufgeführte und in operalounge.de besprochene Oper Catarina di Giusa doch tragisches Format aufwies G. H.)

Vergeblich wartet man im Offertorium auf die Feinheiten eines Verdischen Hostias, hier geht es dank Gaetano Gaspari durchweg hochdramatisch zu. Er war Kapellmeister von San Petronio in Bologna, wo die Messe aufgeführt werden sollte. Vielleicht gehörte er auch deswegen zu den drei zunächst als alleinige Komponisten vorgesehenen Künstlern. Rauschhaft klingt das Sanctus mit Sopran und Chor von Piero Platania, innig das Agnus Dei, das der Mezzosopran angemessen singt. Lauro Rossi, nach dem das Theater in Macerata benannt ist, ist der Schöpfer. Die drei Herren zünden die Lux Aeterna an, Teodulo Mabellini, in Oper wie Kirchenmusik zu Hause (und vor kurzem mit einem langen Artikel in operalounge.de gewürdigt), lässt es teilweise a cappella erklingen. Wunderbar zart zeigt der Sopran im Libera me, dass er auch des Singens des Verdischen Requiems würdig wäre.

Riccardo Chaillly und das Orchester (und Chor) der Scala wirken natürlich weit italienischer und weit opernhafter als die Aufnahme mit Helmuth Rilling und werden so vielleicht zu den eigentlichen späten Geburtshelfern des interessant-kuriosen Werks (DECCA 483 4084). Ingrid Wanja    

Keusche Töne

 

Miriam Feuersinger und Franz Vitzthum sind die Solisten in der Einspielung von Christoph Graupners Duo-Kantaten bei CHRISTOPHORUS (CHR 77427). Sie werden begleitet vom sechsköpfigen Capricornus Consort Basel, das unter der Leitung von Peter Barczi für zarte, liebliche Klänge sorgt. Die vier Kompositionen für Sopran und Alt schrieb der Komponist, der von 1683 – 1760 lebte, 1712 und 1720. Aus dem Erzgebirge war er als junger Mann an die Leipziger Thomasschule gekommen, wo er eine fundierte musikalische Ausbildung genoss. Von Leipzig ging er nach Hamburg, das mit seinem Theater am Gänsemarkt ein Zentrum des Musiklebens darstellte. Der Komponist Reinhard Keiser spielte bei diesem Unternehmen eine führende Rolle und wurde für Graupner ein neuer Lehrmeister. Bis zu seiner Erblindung 1754 schrieb dieser Werke von hohem musikalischem Niveau. Sie werden heute in der Hessischen Landesbibliothek Darmstadt verwahrt und warten großteils noch auf ihre Wiederentdeckung.

Der Capricornus Consort stellt den vier Kantaten, die hier erklingen, jeweils einen Satz aus dem Instrumentalschaffen Graupners voran, der in der Art einer Sinfonia auf die Vokalwerke einstimmen soll. Diese sanften, ruhig fließenden Stücke sind ebenso wie die Begleitung für die Sänger in den Kantaten auf den intimen Rahmen der Darmstädter Schlosskapelle abgestimmt. Die beiden Sängerinnen, Anna Maria Schober und Margaretha Susanna Kayser, hatte Graupner von der Hamburger Oper abgeworben. Sie hoben im Juni 1712 die beiden Kantaten Demüthiget euch nun und Wenn wir in höchsten Nöthen seyn aus der Taufe. Erstere eröffnet – nach dem Instrumentalstück Le Desire aus der Ouvertüre in F-Dur – das Programm der CD. Sie besteht aus zwei Duetten, einer Arie und einem Recitativo accompagnato, gesetzt in opernhafter Da-capo-Manier. Die österreichische Sopranistin Miriam Feuersinger und der deutsche Countertenor Franz Vitzthum bestechen im eingehenden Duett durch eine geradezu mirakulöse Verblendung ihrer Stimmen. Beide klingen in ihren Soli angenehm gerundet, auch in der exponierten Lage ohne jede Schärfe oder Schrillheit. Meisterhaft beherrscht wird das virtuose Vokabular, seien es Triller, Koloraturen oder Auszierungen, wie das abschließende Duett beweist. Die andere Kantate, die in der Reihenfolge als dritte ertönt, wird von einem Choral eingeleitet, den beide Stimmen unisono singen. Danach folgen zwei Arien, ein Accompagnato und ein Duett. Wieder erstaunt die perfekte Verschmelzung der Stimme des Soprans mit der des Altus.

Die zweite Kantate der Programmfolge ist Waffne dich, mein Geist, zu kämpfen von 1720, die erstmals in der Darmstädter Schlosskapelle zur Aufführung kam. Ihr wird das Affettuoso aus der Trio-Sonate in D-Dur vorangestellt. Auch hier findet man die Kombination aus Arien, Recitativi und einem Duett. Der Altus eröffnet mit einer bewegten Arie, deren Text der Kantate den Titel gab. Die Partie wurde wahrscheinlich für den Kastraten Antonio Gualandi, genannt Campioli, geschrieben, der in Darmstadt engagiert war. Die folgende Arie „Jesu, teure Kraft der Schwachen“ ist ein inniges Largo, in welchem die Sopranistin mit empfindsamem Vortrag berührt. Das finale Duett „Komme, teure Himmels-Gabe“  vereint dann wieder beide Interpreten in einem jubelnden Preisgesang.

Das letzte Beispiel aus Graupners Kantatenschaffen ist Weg, verdammtes Sündenleben. Nach einer Sonata in g-Moll gibt es wiederum die bekannte Zusammenstellung aus zwei Arien, Rezitativen und einem Zwiegesang als Abschluss. Erneut beginnt der Altus mit einem Gesang von sanfter Schönheit und auch dieser Part wurde für den Kastraten Campioli komponiert. Der Sopran hat danach eine Arie von berückendem Wohllaut, während der Schluss beiden Solisten vorbehalten ist. Im Duett „Mein Leben, meine Freude“ können sie noch einmal gebührend jubilieren. Bernd Hoppe

Caligula im Wahn

 

Giovanni Maria Pagliardis Oper  Caligula, die 1672 bei ihrer Uraufführung am Teatro San Giovanni e Paolo in Florenz auf Anhieb erfolgreich war und danach mehr als zehn Jahre in ganz Italien gespielt wurde, gibt ALPHA in einer ungewöhnlichen und sehr reizvollen Produktion mit der Compagnie nationale de Théatre Lyrique et Musical, Arcal, und dem Ensemble Le Poème Harmonique auf Blue-ray Disc heraus (716). Die Aufführung ist von Mimmo Cuticchio für Marionetten konzipiert, welche die Spieler zur Ouvertüre auf der winzigen Miniatur-Bühne von Isaure de Beauval vorstellen und sogleich in einen dramatischen Zweikampf ausbrechen, der die Konflikte der Handlung symbolisiert. Das Stück handelt vom römischen Kaiser Caligula, der sich in die unbekannte Königin Teosena verliebt hat und von ihr ein Porträt anfertigen lassen möchte. Das löst bei Caligulas Gattin, Kaiserin Cesonia, Gefühle der Eifersucht aus. Auch den beauftragten Maler bringt es in Verwirrung, ist er doch kein anderer als Teosenas tot geglaubter Gatte Tigrane, der einen Schiffbruch überlebt und sich verkleidet hat, um in Teosenas Nähe zu gelangen. Aber er muss auch gegen seinen Herrn Artabano, König der Parther, kämpfen, der ihn als Sklaven gekauft und sich gleichfalls in Teosena verliebt hat und sie entführen will. Höhepunkt des Werkes ist Caligulas Wahnsinnsszene, in welcher er seine Gattin verstößt, der alten Amme den Hof macht, sich für Herkules hält, der Diana verfolgt, und schließlich als Hirte den Mond anbetet. Daraufhin setzt der Senat Caligula zugunsten des Patriziers Claudio ab und ruft Cesonia aus ihrem Exil zurück. Tigrane macht seine Ansprüche auf Teosena gegenüber Artabano geltend, der nicht begreift, dass die Königin einen Sklaven ihm vorzieht. Überraschend kommt Caligula, der sich bis auf das Blut verletzt hatte,  wieder zu Verstand und kehrt zu seiner Gattin zurück, womit das lieto fine gesichert ist.

Das zauberhafte Spiel der Pupi von Cuticchios Teatro die Pupi figlie d’Arte gibt der Aufführung einen ganz eigenen Zauber. Die Sänger sind ausgewiesene Barock-Spezialisten, so der Tenor Jan van Elsacker in der Titelrolle, die Sopranistinnen Caroline Meng als Cesonia und Sophie Junker als Teosena, der Bariton Florian Götz als Artabano und der Countertenor Jean-François Lombard als Tigrane und Claudio. Vincent Demestre leitet Le Poème Harmonique mit großem Gespür für das musikalische Idiom des Frühbarock.

Das Booklet der Ausgabe bietet zwar kein Libretto, aber einen dreisprachigen Einführungstext, darunter auch – oh Wunder! –  in Deutsch. Bernd Hoppe

LICHT UND SCHATTEN

 

Der 1733 in Venedig uraufgeführte Motezuma gehört zu den rekonstruierten Opern Vivaldis, nur der zweite Akt ist vollständig erhalten, der erste und dritte nur teilweise, manchmal finden sich auch noch Fragmente fehlender Arien. Alan Curtis legte 2006 eine schlüssige Einspielung bei Archiv/Deutsche Grammophon  vor, bei der der Vivaldi-Experte Alessandro Ciccolini die fehlenden Stellen ersetzte bzw. Rezitative neu komponierte. Auf dieser Basis wurde 2008 im Teatro Comunale di Ferrara ein Live-Mitschnitt  auf DVD erstellt. Motezuma handelt von der spanischen Eroberung Mexikos durch Cortés und die Niederlage der Azteken und ihres Herrschers. Die Inszenierung (Regie: Stefano Vizioli) belässt die historische Einordnung, man sieht bunte Fantasie-Azteken im Kampf gegen die spanischen Eroberer, Szenenfolge, Tempo und Dramatik stimmen, beide Parteien sind gleichberechtigt, Cortés und Motezuma sind als Gegenspieler auf Augenhöhe. Das Bühnenbild von Lorenzo Cutuli ist durch ein auf dem Boden liegendes großes goldenes Kreuz als Podest gekennzeichnet, das blutverschmiert ist und eine waffenähnliche Spitze hat – Katholizismus und Kolonialismus gehören hier zusammen. Symbolische Farben und  Licht erzeugen Stimmungen, in der Summe sieht man eine schlüssige und homogene Produktion und wem die CD-Einspielung nicht genügt, der wird hier eine anschauliche  Bühnenfassung finden, die auch musikalisch überzeugt. Curtis und Il Complesso Barocco spielen animiert und eloquent ohne Extreme oder Zuspitzungen und verzichten wie gewöhnlich auf Countertenöre. Stimmen und Darstellung passen zusammen, nur ein Sänger der CD-Aufnahme findet sich auch auf der DVD wieder: Vito Priante singt erneut die Titelrolle. Die deutsche Mezzosopranistin Franziska Gottwald singt den Cortés, die interessanteste Figur ist die Mitrena von Mary-Ellen Nesi. Die Liebesgeschichte zwischen Montezumas Tochter Teutile (Laura Cherici) und Cortès‘ Bruder Ramiro (Theodora Baka) ist eher mager, dennoch bietet Motezuma aufgrund seines Themas und Potentials als politische Barockoper spannende Konflikte. 20 Minuten Zusatzmaterial zur Produktion und ein viersprachiges Beiheft werten diese Aufzeichnung weiter auf (2 DVD, Dynamic 33586).

Welten entfernt von Motezuma ist hingegen der ebenfalls bei Dynamic auf DVD erschienene Il Farnace. Keine andere Oper hat Vivaldi so oft überarbeitet, es gibt Versionen aus den Jahren 1727 1730, 1731 und 1732. 1738 änderte der Venezianer erneut für den Karneval des Folgejahrs in Ferrara, in der zum ersten Mal ein Kastrat für die Titelrolle vorgesehen war. Die von Dynamic als DVD herausgebrachte Live-Aufzeichnung erfolgte im Mai 2013 in Florenz und lässt viele Fragen offen. Regisseur Marco Gandini inszeniert semikonzertant: Bühne und Kostüme wirken improvisiert und ohne erkennbaren visuellen Reiz, Metallgestelle, Neonröhren, Affekt und Effekt finden in den Szenen kaum zueinander. Die Sänger singen meistens vom Blatt, die Rezitative hingegen sitzen, es gibt Notenständer an verschiedenen Stellen, die Inszenierung positioniert sie mal hier mal dort. Der Chor singt aus dem Orchestergraben und ist nicht ins Geschehen eingebunden. Visuell wird hier der Oper nichts hinzugefügt außer Alibi-Konstellationen. Wieso man diese Produktion auf DVD veröffentlichte, ist rätselhaft. Tatsächlich scheint sie auch auf CD vorzuliegen. Statt drei gibt es nur zwei Akte – die seltsame Edition von Bernardo Ticci wirft Fragen auf, die das Beiheft nicht ansatzweise beantwortet. Man verwendet die Version von 1738, besetzt die Titelrolle aber nicht mit einem Countertenor. Mary-Ellen Nesi ist eine sehr gute Wahl als Farnace, wie überhaupt die Frauenfiguren Eindruck hinterlassen: Sonia Prina ist Tamiri, Roberta Mameli singt die Gilade und Delphine Galou die Berenice. Die guten Männerstimmen von Magnus Staveland als Aquilio und Emanuele d’Aguanno als Pompeo bleiben dagegen etwas unauffällig. Federico Maria Sardelli dirigiert kein Barock-Ensemble, sondern das Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino. Sowohl Curtis bei Motezuma als auch Sardelli bei Farnace wählten die Sinfonia aus Vivaldis Bajazet als Ouvertüre. Der Vergleich geht eindeutig zu Gunsten von Curtis und Il Complesso Barocco aus, die federnder und geschmeidiger musizieren. Auch sonst wird wenig geboten, es gibt kein Zusatzmaterial und lediglich ein zweisprachiges Booklet. Diego Fasolis Einspielung des Farnace von 1738 mit Max E. Cencic bei Erato ist allemal empfehlenswerter, Mary-Ellen Nesi singt dort übrigens die Berenice (2DVD, Dynamic 37670). Marcus Budwitius

Sanfte Klänge

 

Virtuose Musik der venezianischen Renaissance stellt die Sopranistin Ulrike Hofbauer in ihrem Album „Co’l dolce suono“ bei audite (97.731) vor. Begleitet wird sie vom Baseler ensemble arcimboldo unter seinem Gründer Thilo Hirsch. Es sind Kompositionen für Sopran, Blockflöte und Streicher aus dem Künstlerkreis um Silvestro Ganassi, Adriano Willaert und Polissena Pecorina, die allesamt in Venedig wirkten. Mit ihrem silbrigen, reinen Sopran bietet die Solistin den Feunden dieses Genres großen Hörgenuss, so in dem Stück, welches der Sammlung den Titel gab – „Quando do’l dolce suono“ aus dem Primo libro di Madrigali von Jacques Arcadelt – oder der letzten Nummer, „Passa la nave“ von Adriano Willaert wegen  der tiefen Empfindung im Vortrag. Schon im ersten Beitrag, „Il bianco e dolce cigno“, gleichfalls von Arcadelt, becirct die Sängerin mit süßen, leicht getupften Tönen und keuscher Anmut. Einen Text von Petrarca, „Lasciar’ il velo“, vertonte Francesco de Layolle in asketisch strenger Anmutung. Jacquet de Berchem schrieb „O amorose mamelle“ mit orientalisch tönenden Melismen. „Un giorno mi pregò una vedovella“ von Willaert zeugt davon, dass der Komponist sich auch im volkstümlichen Idiom auskannte.

Mehr als die Hälfte der eingespielten Stücke sind reine Instrumentalwerke, welche auf Violen da gamba musiziert werden, die nach Instrumenten der Renaissance rekonstruiert wurden. Man dürfte damit dem Klang der Instrumente in jener Epoche nahe gekommen sein – er ist spröde, aber sehr reizvoll. Da finden sich Stücke von Willaert, wie das von der Blockflöte lieblich umspielte „Amor mi fa morire“, oder Madrigali und Ricercari von Giulio Segni, Giacomo Fogliano und Ganassi. Die sechs Mitglieder des ensemble arcimboldo überzeugen mit ihrem kultivierten Spiel, das viele filigrane Finessen offenbart (Foto oben Hofbauer). Bernd Hoppe

Leyla Gencer

 

Für uns Spätgeborene ist der Name von Leyla Gencer zeitgleich mit dem von Maria Callas. Und es ist wohl wahr, dass sie – die Gencer – darunter gelitten hat, denn sie hatte die solidere Karriere, die interessantere  Bandbreite und vor allem auch das größere, aktive Rollenspektrum. Es ist aber auch wahr, dass die Callas, deren Partien sie zum Teil nachsang (manchmal sogar im selben Kostüm) ihr insofern genützt hat, als dass das neue Interesse am Belcanto, durch die Callas und deren Wirkung geöffnet, der Gencer neue Rollen erschloss. Partien wie Donizettis Catarina Cornaro oder Antonina/Belisario wären ohne das Vorangehen der Callas nicht wahrscheinlich gewesen. Darin lag die große Stärke der Gencer, die sich im Schatten der Callas zur Belcanto-Spezialistin unter der schützenden Hand von Gianandrea Gavazzeni entwickelte, während die Callas der Liebe folgte und (nicht kausal)  ihre Stimme einbüßte.

Leyla Gencer und Carlo Bergonzi in „Lucrezia Borgia“/ Foto kimkimdir.gen.tr 

Die Gencer  (geb. Ceyrekgil, * 10. Oktober 1928 in Istanbul; † 9. Mai 2008 in Mailand) hatte eine im ganzen glanzvolle Karriere, Callas-Schatten hin oder her, und sie schrieb Geschichte an der Met mit ihrer Catarina Cornaro 1974 und andernorts. Aber sie hat auch zu lange gesungen, das muss man ebenfalls festhalten. Ich erlebte sie in den Achtzigern mit einem zu späten Arienabend zum Klavier in Ravenna, und die Missfallensäußerungen des ungezogenen Publikums waren einer so großen Persönlichkeit, einer wirklichen Diva nicht würdig (die Gencer als Diva kann man in dem Stefan-Zucker-Film nacherleben, die berühmte „voce-di-petto“-Diskussion). In ihren früheren Jahren – vor Ende der Siebziger – waren ihre Pianissimo-Töne der Höhe magisch, ihr decrescendo ihr Markenzeichen, ihre ebenso eigenwillige wie betörende Stimme der (zu) vielen Glottis und der energischen Brusttöne ebenso aufregend wie ihr starkes Temperament. Die frühen Dokumente wie die Francesca da Rimini oder auch die Tudor-Königinnen Donizettis sind einzigartig.

Ich muss gestehen, ich hatte stets eine gespaltene Zuneigung zu ihr. Zu oft glitt mir ihre Darstellung in die Manier ab, schliffen die Töne ineinander. Aber eben die frühen Dokumente zeigen sie in ihrer ganzen Kunst. Sie hätte am 10. Oktober 2018 ihren neunzigsten Geburtstag gehabt (sie starb am 9. Mai 2008 in Mailand). Mit etwas Verspätung ist es uns eine Freude, mit  einem der letzten Gespäche, dass unsere Freundin Gina Guandalini im Frühjahr 2000 mit ihr geführt hat, zu erinnern. Sie hat es mehr als verdient. G. H.

 

Für Tausende von Opernfans ist der Name der faszinierenden Sängerin aus  der Türkei, Leyla Gencer, eng verbunden mit der aufregenden Donizetti-Renais­ sance, die mit der historischen Anna Bolena der Callas an der Scala begann. Anna, Maria Stuarda, Caterina Cornaro, Paolina (Poliuto) und vor allem die gebieterische Elisabetta im Roberto Devereux leben seit zwei Dekaden auf den Einspielungen mit der agilen, wechselhaften, farbenreichen Gencer-Stimme. Aber es gab auch eine große Anzahl weiterer „Schöpfungen “ derselben musikalischen Provenienz, so die Medea in Corinto  Mayrs, die Saffo Pacinis und – es scheint, als wäre es erst gestern gewesen – die Primadonna in Gneccos Prova d’una ope­ ra seria. Als die Callas sich zu früh vom Schlachtfeld des Belcanto zurückzog, stürmte die Gencer nach und schuf eine lange Porträt-Galerie von Opern­ Heldinnen, von Mozart bis Smareglia, und in der Folge eine unübersehbare Schar an lautstarken Bewunderern. Heute (2000)  ist die Gencer eine sehr attraktive, sehr betriebsame Frau, die mit Gusto die Probleme des heutigen Opernlebens diskutiert und in einem eleganten Apartment in Mailand lebt.

Was macht Leyla Gencer eigentlich heute? Meine Tätigkeiten sind vielfältig. Als ich die Bühne verließ, wollte ich kein zurück-gezogenes, ruhiges Leben führen. Und nun fühle ich mich so, als ob ich heute mehr arbeite als früher. Seit 1997 gehöre ich der Accademia della Scala an, die Abschluss- Hochschule des Teatro alla Scala, wo ich Lehrerin und Mitglied des Koordinations­-Stabes bin. Wir sind sehr beschäftigt mit der Akademie, und sie nimmt viel Zeit und Mühe in Anspruch. Ich habe mich darauf spezialisiert, die Neuzugänge zu unterrichten, weil ich das schon tat, als ich noch sang. Ich habe mich auch bemüht, meine Erfahrungen an die jungen Sänger der Achtziger weiterzugeben. Damals war ich Direktorin der „Aslico“ (Associazione Lirico concertista) in Mailand, eine alte ruhmreiche Institution, bei der Sänger wie Bergonzi, Cappuccilli, Ricciarelli und viele andere ihre Karrieren begannen. Als ich bei der „Aslico“ war, bauten wir gerade solche Nachwuchssänger wie Pertusi, Sabbatini, Gavanelli oder Colombara auf, um ein paar von denen zu nennen, die mir gerade in den Kopf kommen. Sie sehen also, wie faszinierend es sein kann, den Jungen zu helfen – es macht mir wirklich großes Vergnügen. Als Riccardo Muli und der Scala­ Intendant Carlo Fontana mich baten, dem Stab der Accademia beizutreten und dort interpretazione zu unterrichten, nahm ich mit Freuden an. Ich gab alle anderen Tätigkeiten auf, um mich auf diese hier zu konzentrieren. Ich gebe nie Privatstunden. Nur sehr selten, wenn ein professioneller Sänger Probleme hat und mich um Hilfe bei einer Verdi· oder Donizetti-Partie bittet, aber das ist kaum vorgekommen.

Gibt es Verbindungen zum alten Heimatland, der Türkei? Es gibt mehrere, eine davon ist meine Präsidentschaft des International Festivals seit nunmehr 27 Jahren. Es hat seinen Sitz in Istanbul, dauert fünf Monate und beinhaltet Theater, Kino, bildende Künste, nicht nur klassische Musik. Der Gründer starb vor vier Jahren, und sein Tod hat meine Verantwortung gegenüber dieser Maschinerie nur noch verdoppelt. Es gibt auch einen Leyla­ Gencer-Wettbewerb für männliche und weibliche Stimmen, inzwischen im vierten Jahr. Auch der braucht viel Arbeit und Zeit, bringt aber auch große Genugtuung. Ich bin, was die Zukunft der Oper angeht, sehr optimistisch.

Leyla Gencer als Elisabetta im „Don Carlo“ in Rom/ Foto kimkimdir.gen.tr

Welche Veränderung gibt es in der Welt der Oper, seit Sie eine Anfängerin waren? Die Welt hat sich verändert, wie wir alle wissen. Sie lebt, sie fliegt in großer Eile dahin, und das ist nicht gut für die Musik. Musiker sein ist ein sehr ernsthafter Beruf, bei dem man viel Zeit braucht, um alle Dinge richtig zu machen. Man muss sich der Musik mit Leib und Seele widmen, und das ist heute angesichts der vielen Interessen der jungen Leute außerhalb der Musik kaum mehr möglich. Das Erreichen des Höchstmöglichen in einem Beruf ist heute nicht mehr das oberste Ziel. Man hält mehr von Geld und Luxus als von Kunst. Das ist ein großes Problem, das man kaum lösen kann. Ich versuche meine Schüler in diesem Sinne zu beeinflussen. Ich bin auf meine Schüler der letzten zwei Jahre recht stolz. Während dieser Zeit habe ich mein Bestes getan, dass sie ihren Beruf lieben lernen. Ich bin zuversichtlich, dass wir doch unseren Einfluss auf sie gefestigt haben. Man sollte nie an die Vergangenheit denken, sondern stets in die Zukunft. Wir müssen alle unsere Kraft an die jungen Künstler weitergeben, unsere Erfahrungen mitteilen. Denn auch meine eigene Karriere bestand aus Energie und Erfahrungen.

Hatten Sie während Ihrer eigenen Karriere je Momente von Selbstzweifel oder Enttäuschungen? Man hat immer Zweifel. Man fragt sich über die Richtigkeit des Weges, dem man folgen soll – ich meine in technischer Hinsicht, zum Beispiel, oder in der Wahl der Rollen. Man fragt sich, was die richtige Art zu singen sein mag. Jede Person, der wir begegnen – Lehrer, Dirigenten, Regisseure, Kollegen – gibt uns etwas. Danach muss man klug genug sein, für sich selber zu sehen, was gut ist und was nicht, was der Stimme und der Persönlichkeit hilft, und alles andere muss man fallen lassen. Meine erste Lehrerin war eine Französin, sie war sehr gut, aber ich hatte nicht verstanden, was sie mir beibringen wollte – oder vielleicht war ihre Technik nicht die richtige für mich. Ich habe von vielen gelernt, von einem wunderbaren Cellisten, was ein solfeggio ist, von einem genialen Komponisten, wie man eine Phrase interpretiert. Der Wendepunkt kam mit der (Giannina) Arangi Lombardi. Von ihr lernte ich auf dem Atem zu singen, sul fiato, und das ist für einen professionellen Sänger von elementarer Bedeutung. Natürlich war damals meine Stimme bereits richtig und technisch plaziert, weil ich von Kindheit an gut zuhörte, imitierte und vor mich hin sang. Die Arangi Lombardi hörte mich bei einem privaten Vorsingen und brachte mich in den Chor, damit sie mich unterrichten konnte und um mir einen Lebensunterhalt zu geben. Sie sagte zu mir: „Laß doch das Konservatorium und komm nach Ankara.“ Sie unterrichtete am Opernhaus dort.

Wann merkten Sie zum erstenmal, dass  Ihr ideales Repertoire im frühen neunzehnten Jahrhundert der italienischen Oper lag? Es war die Arangi Lombardi, die mich darauf brachte, weitgehend jedenfalls. Aber ich möchte  doch eines klar machen:  Man soll nicht sein ganzes Leben lang bei einem Lehrer bleiben, wie das heute junge Sänger gerne tun. Mit der Arangi Lombardi arbeitete ich nur ein Jahr lang! Dann ging sie zurück nach Italien, wurde krank und starb – an einer Herzattacke, glaube ich -, die arme Frau. Danach arbeitete und studierte ich alleine weiter. Wenn ich nicht wußte, wie ich einen vocalizzo  ausführen   sollte, versuchte  ich das für mich alleine   zu klären oder fragte einen Repetitor. Wenn  mir eine neue Oper vorgeschlagen wurde, las ich sie durch und entschied dann – ganz  für  mich  alleine  – ob sich  die  Entdeckung  lohnte. Ich muss sagen, daß ich immer von einer immensen  Neugier  gegenüber  aller mir unbekannter Musik besessen war. Alle diese Opern, die ich auszugraben  half, waren ja terra  incognita,  ein  großes  Risiko. Man wusste ja nie vorher: Gibt es einen Triumph oder ein Fiasko. Das waren  wirklich Abenteuer.  Am meisten interessierte mich immer, ob diese Rollen zu mir passten, ob ich sie singen konnte. Zu Beginn nahm ich alles an, meine Nachforschungen waren ohne Ende. Dann beschloss ich, dass das frühe ottocento mein eigentliches Feld war. Und das war so um 1950. Es geschah alles so schnell, alles nach dem einen Jahr mit der Arangi Lombardi. Ich war einfach an allem interessiert, nicht nur an der Musik, und ich wünschte, das wäre bei meinen Schülern auch so. Und ich hätte ebenso gut auch eine große Schauspielerin werden können, wie das eigentlich mein Ideal gewesen war. Ich versuchte genau, das mit all meiner Kraft auf der Opernbühne zu sein.

Leyla Gencer als Antonina in „Belisario“/ Wikipedia

Also, ich nahm natürlich nicht jedes Angebot an, wie das heute junge Sänger tun, damit sie um jeden Preis singen können. Das habe ich nie getan. Ich hatte auch meine Durststrecken, wo das Geld nicht sehr reichlich war. Ich wollte immer auswählen können, immer auch „Nein“ sagen können, um eben solche Rollen von Qualität, die für mich geeignet waren, zu bekommen. Elisabetta im Devereux war ein solches Abenteuer. Plötzlich fand ich mich in San Francisco wieder, wo ich Lucia sang, weil die Callas nicht kommen konnte.  Die ganze Zeit hatte ich mir vorgenommen, die Lucia zu lernen, aber ich kannte die Partie nicht wirklich, ich hatte sie nur auf meiner Repertoireliste für die Agenturen.  Aber das war eine Lüge, und ich musste sie nun in fünf Tagen lernen. Ich hatte großes Interesse an der Partie, weil ich die Wahnsinnsszene täglich zum Einsingen nahm – ich hatte die traditionellen Vokalisen so über! An der Scala waren wir per Vertrag verpflichtet, Rollen zu lernen, die wir nicht akut singen mussten, damit wir als Cover für die aktuellen Sänger auftreten konnten.

Während meiner ersten Saison an der Scala, 1958, wählte ich die Anna Bolena als Coverpartie und studierte die Partie mit Maestro Antonino Viotti, wie es die Callas im Jahr zuvor getan hatte. Ich glaube, auf der Bühne sang ich in Mefistofele in dieser Saison. Als Maestro Gavazzeni die Bolena für die RAI aufnehmen wollte, wählte er mich, weil ich bei ihm studiert hatte und ich in jeder Probe gewesen war. Das war damals üblich. 1960 war ich das Cover für die Callas im Poliuto, und ich sang auch ein paar Vorstellungen. Nun, wo die Wiederentdeckungen früher Verdi- und Donizetti-Opern Mode geworden sind, kann ich wohl sagen, dass auch Robert Devereux durch mich wieder im großen Repertoire ist. In den späten Fünfzigern sang ich dann noch in den Foscari, der Battaglia di Legnano, Macbeth, Gerusalemme und vielen mehr – eigentlich sang ich viel mehr Verdi als Donizetti, obwohl man das kaum glauben mag.

Ich pflegte eine Oper stets mit einem guten Repetitor vorzubereiten, wie wir alle in jenen Tagen. La Scala hatte Tonini und viele andere, zum Beispiel Piazza. Ich debütierte mit dem Devereux am San Carlo in Neapel, aber ich studierte die Oper mit Piazza in Mailand.

Hatten Sie ein besonderes Publikum, eine Lieblingsstadt? Meine Liebe, ich hatte immer ein viel besseres Verhältnis zum Publikum als zu den Theaterdirektoren, und das schließt auch Dirigenten ein! Ich wurde immer vom Orchester, vom Chor, von den Bühnenarbeitern und natürlich vom Publikum geliebt. Wenn ich heute in ein Theater gehe und diese Leute von damals treffe, gibt es jedesmal eine freudige Begegnung. Die Liebe meiner Fans ist für mich noch heute etwas Wunderbares. Und meine Live-Mitschnitte geben mir die Erinnerung an jenes Publikum, das mich damals hörte. Sie machen mich auch bei jenen jungen Hörern bekannt, die mich damals nicht erleben konnten. Diese jungen Leute schreiben mir, um mir zu sagen, dass sie meine Aufnahmen hören, die inzwischen auf CD herausgekommen sind, und sie fühlen sich inspiriert davon. 

Marilyn Horne und Gina Guandalini, unsere Autorin, bei einem Meisterkurs zu Rossini in Rom, den Marilyn Horne gab und über den Gina in dem Online-Opern-Journal Ape Musical 2014 mit einem Interview der Horne berichtete/ Foto Ape Musicale

Und warum so gut wie keine „offiziellen“ Aufnahmen? Ich muss dazu sagen, dass ich nie einen Agenten hatte, meistens setzten sich die Theater mit mir direkt in Verbindung. Die großen Plattenfirmen schlossen mich absichtlich aus, glaube ich. Ich hatte einen Vertrag mit der amerikanischen Columbia, und ich nahm nie eine Note dort auf. Das waren eben große Trusts,  und ihre Absicht war es, nur zwei oder drei große Namen zu „promoten“. Aber damals gab es eben auch viele andere große Sänger, die nur wenige Aufnahmen machten. Ich war ganz überrascht, daß Bongiovanni in Bologna die Bänder meiner Konzerte im Athené in Paris gefunden und als CD herausgegeben hat. Ich erinnere mich gar nicht mehr, wie ich damals geklungen oder was ich überhaupt gesungen habe. Normalerweise höre ich meine Dokumente nicht, weil ich sonst nur meine Fehler bemerke.

Zu meinem Abschied gab es keine geplante „Farewell-Opera“. Ich entschloß mich auf einmal, dass ich nicht weiter Oper singen sollte, einfach so. Ich lehnte nur einfach die eingehenden Angebote ab. Ich hatte damals zu viel Streß, weil ich beim Singen stets alles gab. Das letzte war Gneccos Prova für die Malibran und Pasta – eine Diva nimmt sich selber auf den Arm. Natürlich sang ich danach noch Recitals und Konzerte, also war das kein plötzlicher Abschied. (Übersetzung: G. H.)

Mehr geht nicht

 

Auch zwei Regisseure, Moshe Leiser und Patrice Caurier,  reichen nicht aus, um aus Verdis Giovanna d’Arco ein stimmiges, mitreißendes Operndrama zu machen, dazu ist das Libretto einfach zu dümmlich. Zwar ist es bereits Friedrich von Schiller anzulasten, dass er, obwohl Geschichtsprofessor, der es besser wusste, die historische Wahrheit, den zweifelsfrei überlieferten Schluss, nämlich das Ende Johannas auf dem Scheiterhaufen, in den Tod auf dem Schlachtfeld umwandelte, aber noch schlimmer ist die Reduzierung des Dramas auf einen Vater-Tochter-Konflikt und die Zusammenlegung der Schillerfiguren König und Lionel in eine Person. Die Regie rettet sich in den bereits zum Überdruss bekannten Ausweg, die Geschichte als das Delirium der todkranken Giovanna, an deren Bett der Vater oder auch Arzt wacht, zu gestalten. Dies aber geschieht, und so ist man versöhnt, in ästhetisch sehr ansprechender, phantasievoller Weise, wozu kommt, dass vorzügliche Sänger die drei Rollen ausfüllen.

Die beiden zeitlichen Ebenen, Verdi-Zeit für die Rahmenhandlung und Mittelalter für die Giovanna-Handlung, unterscheiden sich schon allein dadurch voneinander, dass erstere zur Sinfonia als Schwarzweißfilm gestaltet ist. Dieses Prinzip muss natürlich mit dem Aufgehen des Vorhangs aufgegeben werden, aber unschwer lassen sich beide Handlungsstränge dadurch leicht voneinander unterscheiden, dass die Jungfrauen-Geschichte äußerst phantasievoll wie ein Märchen gestaltet ist, mit einem ganz und gar goldenen König auf ebensolchem Ross, mit umwerfend gut gemachten Engels- und Teufelsfiguren, die Giovanna mit ihren Einflüsterungen plagen. Die Bühne von Christian Fenouillat und die Kostüme von Agostino Cavalca sind beste italienische Theaterkunst. Die Schrecken des Krieges werden zwar durch einige Liter Theaterbluts, vor allem was die Engländer angeht, dokumentiert, aber es gibt kein „modernes“ Schlachtfeld wie ein Jahr später beim Attila. Die Doppelbödigkeit der Inszenierung lässt das Stück durchaus gewinnen, es wirkt immerhin interessanter als vor Jahren die Aufführung in Bologna mit Dunn, La Scola und Bruson.

Anna Netrebko ist mit der Kurzhaarperücke sowohl in weißen Leggins wie in güldener Rüstung ganz das pausbäckige, von seiner Sendung überforderte Bauernmädchen, weiß die Figur sehr anrührend zu gestalten, hat wunderbar zarte Töne für die Fatidica Foresta, nur leichte Schwächen in der Intonation am Schluss des dritten Akts und weiß die Vision des vierten Akts kraftvoll und überzeugend zu vermitteln. Eine bedeutende Entwicklung hat Francesco Meli seit seiner Zeit als Rossini-Almaviva durchlaufen. Eine gut tragende mezza voce für Chi più felice amico, ein noch, was das kraftvolle Auftrumpfen angeht, ausbaufähiges Volumen in der Höhe und so viel Charakterisierung, wie sie bei einer Ganzkörpervergoldung möglich ist, machen seine Leistung zu einer sehr annehmbaren. Eine generöse Phrasierung, ein perfektes Legato und ein angenehmes Timbre lassen Carlos Alvarez zu einem würdigen Giacomo werden. Etwas schwergängig ist der Bass von Dmitry Beloselskiy für den englischen Heerführer Talbot, nur kurz ist der Auftritt von Michele Mauro als Delil.

Die größte Stärke dieser Oper sind die machtvollen Chöre des Leids oder Jubels, für die Bruno Casoni den Chor der Scala bestens vorbereitet hat. Das Orchester unter Riccardo Chailly beweist, dass es für die Musik Verdis geschaffen ist, spielt mit slancio, brio und grande passione (DECCA 074 3967). Ingrid Wanja      

Eine Frau mit Vergangenheit

 

Kurt Weill’s One Touch of Venus is generally considered a classic Broadway musical. And rightly so. Still, it has many roots in the world of operetta, going all the way back to Jacques Offenbach and Franz von Suppé who each wrote shows for dazzling divas in a Greek tunica—think La belle Hélène and Die schöne Galathée. The latter also stars a statue from classical antiquity coming to life, causing erotic chaos among mere mortals.

The Kurt Weill version, written in 1943 for Mary Martin, offers great show music for a great star in a great story. “Speak Low” and “I’m a Stranger Here Myself” are only two of many musical highlight. So, not surprisingly, Venus was an instant hit. And many of the operetta composers who were in New York in exile at the time—Emmerich Kálmán and Ralph Benatzky among them—went to see One Touch of Venus and admired it. It was admiration mixed with suppressed envy that Weill managed to get his show(s) produced on Broadway, while most other Europeans had no such luck.

The recording made back then of Venus for Decca is a rather restricted one. You could call it a “mini-album,” with ten tracks featuring Martin and a studio cast. Though it makes for very pleasant listening, it’s not representative of the show and all its glories. And you certainly wouldn’t consider Venus a cousin of operetta heroines such as Hélène and Galathee listening to Mary Martin.

In 1948, a film version came out starring Ava Gardner. It did not include much music, but it made memories of Schöne Galathee come alive when I saw it on DVD.

Of course, the Encores performance in New York City in 1996—starring the young and comparatively unknown Melissa Errico—was a different matter altogether. Not because the then 26-year-old Miss Errico sounds anything you might call “operettic,” but because hearing the entire music (the ballets “Forty Minutes for Lunch” and “Venus in Ozone Heights” included) made you realize what a stylistically diverse score Venus actually is, and that there is room for many influences to be played out, from Barber Shop quartets to, well yes, operetta. After all, Weill came from Berlin and had experienced the boom years of jazz operetta there first hand. They deeply influenced his own style.

The Encored performance of 1996 was not recorded, sadly. Even though everyone raved about it, including the New York Times. And a Japanese recording by the Takarazuka troupe (TMP TMPC-202-3) is not really an alternative.

Why it took the Weill Foundation so long to find a label to undertake a new studio recording, with Melissa Errico, remains their secret. But it finally happened. Steve Suskin reports on Playbill.com: “UK-based Jay Records arranged to make their own studio recording of the score. This turned out to be a long and tortured undertaking, apparently due to problems of financing. Three recording sessions were held in 2000, and then–nothing. Fans of Errico […] waited impatiently as the years turned into a decade. Back they went into the studio in 2012, finally.” It still took another two years to actually release the discs in 2014. (Suskin points out that Errico’s five main songs were all recorded in 2000, with conductor John Owen Edwards. “A good half of the score seems to have been recorded over the last two years, with conductor James Holmes.”)

JAY Records, you might remember, is the label that has issued some beloved operetta albums, for example ENO’s Orpheus in the UnderworldThe Mikado and some other shows such as Countess Maritza and, most famously, the complete Student Prince. You could call their new Venus a welcome addition to the operetta list, even if it took forever to get it recorded, edited and released. So, all’s well that ends well? In many ways, yes.

The full score heard on JAY Records is a marvel. And the cast presented pleasantly “unoperatic.” (In contrast, to let’s say the JAY Records Student Prince.) I especially liked the gangsters singing “The Trouble With Women” with Damon Runyon-ish accents, bringing a cartoonish quality to the show that goes well with the more slapstick (or operetta) side of proceedings.

As for the stars, and particularly Miss Errico, she sounds charming. Even two decades after her original Venus at Encores. My only reservation about this new recording is that it doesn’t have much theatrical flair or noticable personality. It’s very “studio” in style, which isn’t surprising given its history. But it makes listening to the double discs a bit stale at times. Also, the singers are rarely allowed to put more than nuances into their interpretations. I don’t know if someone from the Weill Foundation stood behind them with a shot gun, telling them that it was forbidden to handle Weill’s vocal lines more freely (as Mary Martin certainly did.) Whatever the reason, I feel these talented singers could have easily come up with a more bouncy and liberated version of Venus than heard here. And the National Symphony Orchestra under John Owen Edwards and James Holmes make Weill’s superb orchestrations sound good, but rarely exciting. And sensousness isn’t the top priority here, unfortunately.

But those are small quibbles. Though important ones. To finally have a full—and I truly mean “full”!—recording of One Touch of Venus is marvelous. An achievement everyone involved can be proud of.

I personally would love to hear Melissa Errico tackle Suppé’s Schöne Galathee, maybe in the original English language version. And Brent Barrett as Rodney Hatch—the modern-day barber of 1943 who Venus falls in love with—is a great partner in crime here. He too would make an interesting operetta hero for the more jazzed up side-roads of the genre. But, truth be told, he is no match for, let’s say, Cheyenne Jackson on the recently released new West Side Story. There’s none of the irresistable Jackson swagger in Barrett’s singing. And star quality, vocally speaking, is not spelled with a capital S either. However, that might change if you see him in action and on stage, one day, as Rodney Hatch. Because Mr. Barrett is certainly visually refreshing.

When future generations of operetta researchers will deal with adaptations of classic sagas and antiquity in general, they should include One Touch of Venus in their discussions of OrphéeHélèneIxion (the burlesque spectacle starring Lydia Thompson), Schöne Galathée in the Suppé version and the Max Hansen modernization, and many other glorious operettas. At least, with this new disc available, no one can claim that it’s impossible to actually listen to the music (JAY Records CDJAY2 362). Kevin Clarke (mit freundlicher Genehmigung von Operetta Research Center Amsterdam)

Händel aus Tourcoing

 

Aus dem Jahr 2008 (!!!) stammt ein Live-Mitschnitt von Händels Orlando aus dem Théatre Municipal de Tourcoing. Das Stück auf ein anonymes Libretto nach Ariostos Orlando furioso wurde 1733 in London uraufgeführt und behandelt die üblichen emotionalen Verstrickungen zwischen zwei Paaren. Ritter Orlando ist unglücklich verliebt in die Königstochter Angelica, die dem afrikanischen Prinzen Medoro zugeneigt ist, der wiederum von der Schäferin Dorinda begehrt wird. Für Händels Libretto wurde zusätzlich die Figur des Zoroastro erfunden – ein Magier und Wahrsager, der im Werk als Zeremonienmeister fungiert.

Das Live-Dokument ist durch die Mitwirkung von Christophe Dumaux in der Titelrolle von besonderem Interesse (PC 10392, 3 CD). Den französischen Countertenor, sonst vielerorts auf die zwiespältige Partie des Tolomeo in Giulio Cesare abonniert, in einer heroischen Partie zu erleben, ist sehr reizvoll. Schon in Orlandos Auftrittsarie, „Stimulato della gloria“, nimmt er mit seinem sinnlichen Timbre und der kultivierten Stimmführung für sich ein. Mit schmerzlichem Ton färbt er das Recitativo accompagnato „Imagini funeste“ und brilliert in der nachfolgenden Arie „Non fu già men forte Alcide“ mit mühelosem Fluss der Koloraturen. Orlandos Bravourarie, „Fammi combattere“, steht am Ende des 1. Aktes und Dumaux singt sie mit stupender Virtuosität in den Koloraturläufen und kunstvollen Variationen. Die Arie im 2. Akt, „Cielo!“, interpretiert er mit entschlossener Attacke und gibt den Koloraturrouladen Vehemenz. Die Schönheit und Besonderheit seiner Stimme spiegelt sich eindrucksvoll im Rezitativ „Dove, dove guidate“ wider. Überhaupt bestreitet der Held fast die gesamte zweite Hälfte des  2. Aktes. Von existentieller Verzweiflung erfüllt ist das Rezitativ „Ah stigie larve!“, von kühnen Harmonien das Arioso „Già latra Cerbero“. Eine äußerst flexible Stimmführung verlangt die Arie „Vaghe pupille“, der Counter singt sie betörend und träumerisch entrückt. Kunstvolle Interpretation und stimmliche Schönheit verbinden sich hier auf das Schönste. Starke Kontraste finden sich auch in seinen Soli im 3. Akt – von trancehaft überirdischem Klang „Già per la man“, von vehementer Erregung „Per far, mia diletta“. Schließlich führt Orlando das jubelnde Finale an, welches das lieto fine preist.

Das Niveau des Titelrollensängers erreicht kein anderer Interpret dieser Aufführung. Allenfalls der zweite Counter, Jean Michel Fumas, der den Medoro singt, kommt mit seiner weichen, sensiblen Stimme und dem empfindsamen Vortrag, der freilich gelegentlich die Grenze der Larmoyanz streift, in Dumaux’ Nähe. Besonders mit der Arie im 2. Akt, „Verdi allori“, die an Ruggieros „Verdi prati“ in Alcina erinnert und ein bewegendes Seelengemälde ist, bezaubert er mit schmeichelndem Ton. Die weibliche Hauptrolle der Angelica ist Elena de la Merced anvertraut. Auch sie kann gefallen mit ihrem Sopran, der lyrische Qualität aufweist. „Chi possessore“ singt sie mit kokettem Ausdruck, „Se fedel“ besitzt Nachdruck und Höhenglanz. Ungewöhnlich ist der Schluss des 1. Aktes mit einem Terzett, in welchem sich die Stimmen von Angelica. Medoro und Dorinda kunstvoll verflechten. Bei „Non potrà“ im 2. Akt hört man kämpferische Energie und stürmische Koloraturen. Die sehnsuchtsvollen Seufzer der „Verdi piante“ formuliert die Sopranistin mit berückender Innigkeit und Schlichtheit.

Jean-Claude Malgoire dirigiert den „Orlando“ aus Tourcoing/ Foto CBS

Der Sopran von Rachel Nicolls als Dorinda verfügt über weniger lyrische Substanz. Die Auftrittsarie „Ho un certo rossore“ wird getrübt von bohrendem Ton und heulendem Klang in der hohen Lage. Man hört ihrem Gesang nicht unbedingt gerne zu. Die muntere Arie „O care parolette“ singt sie beherzt, aber im 2. Akt stellt sich bei „Quando spieghi“ wieder der störend weinerliche Beiklang ein. Achtbar gelingt ihr „Amor è qual vento“ im letzten Akt. Auch Alain Buet als Zoroastro kann nicht voll überzeugen. Schon in seinem gewichtigen Auftrittsarioso lässt er einen verquollenen Bariton mit dumpfer Tiefe hören. Sein nächstes Solo, „Mira, e prendi“, ist geprägt von energischem Vortrag, doch sind die Koloraturen verwaschen. Immerhin kann er im 3. Akt bei „Sorge infausta“ durch autoritären Klang punkten.

Jean-Claude Malgoire, der im Jahre 2018 verstorbene französische Dirigent (der ja bereits früher Händel-Aufnahmen in Tourcoing gemacht hat), leitet das von ihm gegründete Ensemble La Grande Écurie el la Chambre du Roy. Schon in der gravitätischen Ouverture mit einem rhythmisch straffen Mittelteil überzeugt das klangvolle Spiel des Orchesters. Diesen Eindruck bestätigt die Sinfonia vor dem 3.  Akt. Und wie sensibel und differenziert der Klangkörper einzelne Arien einleitet und den Sängern damit die denkbar beste Folie liefert für ihre Interpretation, ist beglückend zu hören. Bernd Hoppe

Offenbach: „Les Fées du Rhin“

.

Lange hielt sich die Behauptung, Offenbach habe Zeit seine Lebens eine Grand Opéra schreiben wollen und nur mit  Les Contes d’Hoffmann habe er dies erreicht, wobei er die Uraufführung nicht mehr erlebte. Spätestens seit 2002 war es mit dieser Legende vorbei, als erstmals (in Lubljana) die Rheinnixen erstaufgeführt wurden, eine für Wien komponierte veritable Grand Opéra in deutscher Sprache auf ein Libretto nach Nuitter von Offenbach selbst  in der Übersetzung und mit Zutaten weitgehend von Alfred von Wolzogen. Eben da liegt der Diskussionsstoff, denn Offenbach-Spezialist und Herausgeber Jean-Christoph Keck und der Verlag Boosey & Hawk sind der Auffassung, die Oper sei eigentlich eine auf einen originalen französischen Text von Offenbach und Nuitter (dem Librettisten auch des französischen Tannhäuser und anderer Kompositionen) geschriebene Grand Opéra.  Diese Version des Verlages in einer von Christophe Mirambeau vervollständigten Fassung hat als Les Fées du Rhin an der Opéra de Tours im September/ Oktober 2018 ihre Uraufführung gefunden, über die Boris Kehrmann berichtet. Das schweizerische Biel folgte im Dezember 2018 als Koproduktion mit einer veränderten Besetzung, darüber schreibt Samuel Zinsli. G. H.

 

„Les Fées du Rhin“/ Jacques Offenbach/Wiki

Die Uraufführung in Tours: Für die beschränkten Mittel der Opern von Tours und Biel/Solothurn, die – anders als die großen Häuser wie Wien oder Paris – sich für die Uraufführung der französischen Erst-Fassung zusammengetan haben, sind aufwendige  Féerien (davon nachstehend mehr) natürlich schon finanziell unerreichbar. So musste sich Pierre-Emmanuel Rousseau auf eine „realistische“ Lesart in günstigen Gegenwartskostümen einlassen. Rousseau verlegt die Handlung aus der Zeit der Pfälzer Sickingen-Fehde 1522  in die der Bosnienkriege 1992-1995. Die Soldaten tragen die regietheaterübliche Tarnkleidung, die Bäuerinnen Kittel bzw. folkloristische Trachten, die Elfen als Naturgeister Tierköpfe. Das Ballett war zwar zu hören, zu sehen aber waren Projektionen des spielenden Windes in den Blättern, des Mondlichts im Wald, eines – toten? schlafenden? – Mädchens mit geschlossenen Augen. Realistische Baumstämme formten einen schönen Wald. Das Einheitsbühnenbild war natürlich dem knappen Budget geschuldet, erschwerte es aber, den Initiationsweg von der Wirklichkeit einer Winzergemeinde im Nahetal in das Feenreich utopischer Phantasie mit aller Suggestivität nachzuvollziehen.

Die Aufführungen in Tours und ab November/ Dezember auch in Biel, Solothurn, Thun und Schaffhausen unterscheiden sich mit zwei Ausnahmen nicht nur in der Besetzung, sondern auch in der Strichfassung und in der Zweisprachigkeit. Während in Tours nur Bauern- und Soldatenchöre großzügig gekürzt waren, was sich insofern verschmerzen ließ, als der 27-köpfige Chor der Oper Tours ohnehin zu laut für den intimen Saal sang, so kommt es in Biel zu weiteren Strichen. Außerdem werden Vaterlandslied und Frantz’ Romanze entsprechend Offenbachs Vorgabe deutsch erklingen, zusätzlich allerdings auch die Barkarole.

Insgesamt ist der Opéra de Tours aller Respekt zu zollen, dass sie sich überhaupt dieser Aufgabe für nur drei gut besuchte, aber keineswegs ausverkaufte Vorstellungen annahm, vor der alle anderen französischen Bühnen bisher gekniffen haben. Andererseits ist nicht zu übersehen und -hören, dass nicht nur die szenischen, sondern auch die musikalischen Ansprüche des Werks die Möglichkeiten des Hauses übersteigen. So recht wollen sich seidiger Streicherglanz, romantischer Hörnerklang, elfisches Harfenflirren oder das Raffinement des Wiener Walzers beim Orchestre Symphonique Région Centre-Val de Loire/Tours unter der Leitung von Benjamin Pionnier nicht einstellen. Im Laufe des dreidreiviertelstündigen Abends ließen Konzentration und Inspiriertheit der Musiker hörbar nach. Mir zumindest schien es zunehmend so, als versuche man den Dienst nur noch mit Anstand hinter sich zu bringen. Im Gegensatz zu den deutschsprachigen Aufführungen unter Friedemann Layer in Montpellier (2002), Marc Minkowski in Lyon (2005) oder Reinhard Petersen in Cottbus (2006) zerfiel das Mosaik der Partitur in zuweilen auch hölzerne Einzelteile. Für Ulrichs Glockenlied im 3. Akt, das Offenbach später im Fantasio wieder verwendete, wählte Pionnier absurd hektische Tempi.

Offenbach: „Les Fées du Rhin“ an der Opéra de Tours/ Szene/ Foto wie auch oben  Sandra Daveau

Die Solistinnen und Solisten sangen sich im Laufe des Abends frei, stießen aber immer wieder an ihre Grenzen. Die türkische Sopranistin Serenad Burcu Uyar, Début-Preisträgerin 2006, künstlerische Partnerin Fazil Says, heute überwiegend auf frankophonen Opernbühnen tätig und demnächst auch in der Schweiz dabei, verfügt über die nötige Agilität und robuste Kraft für die lyrisch-dramatische Zwischenfachpartie der Laura, vermag aber nicht alle Zierfiguren mit letzter Sauberkeit auszuführen. Ihre gutturale, dunkle Klangfarbe entspricht nicht direkt dem, was man sich unter einer Engelsstimme vorstellt. Mit der zwischen Opferrolle und fluchender Mänade schwankenden Partie der Mutter Edwige haben sich Nuitter und Offenbach an Meyerbeers Fidès orientiert. Kenner des Propheten werden bis in die musikalische Struktur (Trio bouffe; Soldatenchöre) und szenische Details (das Pulverfass, das die Mörderband in die Luft sprengen soll; die Pervertierung eines unschuldigen Jungen zum Bandenführer) hinein zahlreiche weitere Berührungspunkte entdecken. Das heißt aber auch, dass die Fluch- und Klageszenen der Edwige für Marie Gautrot, die sich mit letztem Einsatz durch diese vokal-emotionale tour de force kämpft, eine Nummer zu groß ist. Die grob veristische Stimmführung der sich bis zum letzten verausgabenden Mezzosopranistin führt zu Verhärtungen in den dramatischen Teilen, die Höhen klingen nicht selten schrill. Einmal wagt Gautrot sogar einen realistischen Schrei, um ihre Verzweiflung zu beglaubigen. Anrührend wird diese gepeinigte Mutter, die um das Leben ihrer Tochter kämpft, dennoch nie. Dazu ist die Stimme zu hart.

Zu Offenbachs „Fées du Rhin“ an der Opéra de Tours/ Poster/ OBA

Der zwischen zwei Welten hin- und hertaumelnde, von unbegreiflichen Ahnungen heimgesuchte, unbehauste Frantz ist ein Part aus der Familie jener lyrisch-sensiblen Tenorhelden, die von Rossinis Arnold über Meyerbeer bis zum Werther reichen und für die neben weicher Linienführung, heldisch-dramatische Reserven und eine tadellose voix mixte unerlässlich sind. All das besitzt Sébastien Droy in Ansätzen. Wirklich frei klingt der engagierte Sänger nie. Besonders in der hohen Lage leidet man mit ihm mit. Ulrich (nach Ulrich von Hutten, Nuitters Hauptinspiration), der in Tours wie in Kecks neuem Klavierauszug seltsamerweise nach der Wolzogen-Version Conrad von Wenckheim heißt, ist ein Kavaliersbariton, dessen Eleganz Jean-Luc Ballestra nur in den undramatischen Stellen, in denen er nicht forciert, zur Geltung bringt. Hier stellt sich das generelle Problem, das auch Werke wie Rossinis Guillame Tell aufgeben, wie ein extrem brutaler Text mit einer poetischen Musik vermittelt werden kann? „Realistischer“ Brutalismus zerstört die Aura der Musik. Regie und Sänger müssen eine Balance finden, die weder die vom Werk vorgegebene reale Brutalität unterschlägt, noch die Weigerung der Komponisten, selbst auch in diese Falle der Brutalität zu tappen. Ballestra bleibt der Dämonie des Bösen Raffinement und Noblesse schuldig und stürmt mit seinem guten Material und unbändigen Bühnentemperament viel zu direkt auf seine Gesangslinien los.

Den unglücklich in Laura verliebten Gottfried, bei dem Offenbach und seine Librettisten sich unsicher waren, ob sie ihn lieber als Pfälzer Winzer oder Jäger zeigen sollten, deutet der Regisseur zum orthodoxen Geistlichen um. Rousseau begründet das damit, dass Gottfried sich mit einem Gebet einführt, Laura, die ihn nicht liebt, christlich entsagt und sein Leben opfert, um die Ebernburg vor den Landsknechten zu retten. Die ständig flehend zum Himmel gereckten Hände des in Talar gehüllten, soliden Bassisten Guilhem Worms machen das Stück aber für meinen Geschmack zu sehr zum katholischen Passionsspiel claudelscher Prägung. Offenbachs Liebeserklärung an die Macht der Fantasie und des Theaters wird bis zur Unkenntlichkeit überlagert, nicht durch den Schluss, wo das knieende Trüppchen mit der mittlerweile regietheaterüblichen Maschinengewehrsalve niedergemäht wird.

Offenbach: „Les Fées du Rhin“ an der Opéra de Tours/ Szene/ Foto Sandra Daveau

Alle Einwände entwerten das historische Verdienst der Produktion und den Einsatz aller Beteiligten nicht. Bleibt am Ende die Frage, was der Klang der französischen Sprache mit Offenbachs Musik macht. Der erste Eindruck bei dieser Aufführung war, dass sie den Charakter der Musik nicht so grundlegend verändert hat, wie ich mir das beim Studium des Particells vorgestellt hatte. Das könnte aber auch ein Resultat der Ausführung sein, denn auch jede musikalische Interpretation ist nur eine Interpretation, das heißt die Lesart der Ausführenden und nicht das Werk selbst. Hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Marc Minkowski, ein langjähriger Verfechter des Werks, und die Leitung der Oper von Bordeaux waren am 2. Oktober in Tours zugegen. Boris Kehrmann

.

.

Und über die Bieler Aufführung schreibt Samuel Zinsli: Zwei Dinge wusste ich über die Rheinnixen oder Fées du Rhin vor der am 23.12. 2018 besuchten Aufführung in Biel – dass es sich um eine in diesem Jahrtausend wiederentdeckte Offenbach-Oper handelt und dass die Barcarolle (die Barcarolle) ursprünglich für dieses Stück und nicht für Contes d’Hoffmann geschrieben wurde.

Wenn bei Shakespeare Böhmen am Meer liegt, darf bei Offenbach natürlich der Rhein auch in die Adria fließen – nach der schon in den ersten Takten anklingenden Barcarolle begegnen einem noch weitere Bekannte aus dem ebenfalls wiederaufgefundenen vollständigen Venedig-Akt der Contes d’Hoffmann in den Fées du Rhin – Hoffmanns Trinklied singt hier (mit noch brachialerem Text) der Heerführer Conrad, und Lauras Ballade von den Rheinnixen (neben der Barcarolle das zweite musikalische Element, das beinahe als Leitmotiv mit ihnen verbunden ist) erweist sich als Giuliettas Arie mit den irisierenden Vokalisen im Refrain.

Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner in Personalunion Pierre-Emmanuel Rousseau hat eine lauschige Waldgegend auf die Bühne gezaubert, die der Idylle ebenso entspricht wie den beunruhigenden Seiten des romantischen deutschen Waldes – dem Übernatürlichen wie Conrads marodierenden Soldaten. Die Geschichte spielt hier, wie Kostüme und Bewaffnung nahelegen, in einer Gegenwart. Der Gegensatz zwischen realistischer Kriegssituation und eben magischen Phänomenen funktioniert im Heute genauso gut. Noch dazu hält Rousseau die Präsenz der Nixen in einer konsequenten Schwebe. Sehr präsent sind sie schon im Libretto nicht: Meist wird über sie gesungen oder man hört lediglich ihren eigenen Gesang. Ihr einziger vielleicht realer Auftritt zu Beginn des 3. Aktes wird als Vision von durch den Wald wandelnden Frauen mit Tierköpfen hinter einem Gazevorhang gezeigt. Ob die (auch nur akustische) Begegnung Conrads und Franzens mit ihnen (die immerhin die geistige Gesundung des Letzteren und den Gesinnungswandel des Ersteren auslöst) Halluzination oder real ist, bleibt auch offen – allerdings retten die Nixen in Rousseaus Inszenierung am Ende die fünf Protagonist/-innen nicht vor den sie verfolgenden Soldaten, was eher für Halluzination spricht. Das verweigerte Happyend ist gewiss grausam, aber irgendwie folgerichtig.

Offenbach: „Les Fees du Rhin“/ Poster für die Aufführungen in Biel

Aber zurück zum Anfang. Das Stück beginnt mit einer (Dorf?-)Gemeinschaft, die sich um einen kleinen Kastenwagen im Wald versammelt, in dem (zunächst etwas befremdlich, aber man gewöhnt sich dran) sowohl ein Kruzifix als auch ein Gewehr an der Wand hängen und ein Mikrophon mit Lautsprecher herumstehen. Das Kruzifix benutzt Gottfried (mit frei strömendem, warmem Bass Lisandro Abadie; darstellerisch wirkt er etwas steif, aber das passt ganz gut und kann auch an der Anlage der ab dem 2. Akt doch recht undankbaren Figur liegen) für einen Gottesdienst. (Aber wenn er ein Priester ist, macht das doch seinen Heiratsantrag an Laura unsinnig?).

Ins (natürlich nicht echte) Mikrophon singt Laura zur Unterhaltung der Gesellschaft  (und zum Missfallen ihrer Mutter Edwige, was an Senta und Mary denken lässt) die Ballade von den Rheinnixen sowie einen Hymnus an die Heimat («Du schönes Land», im Unterschied zum restlichen Text auf Deutsch). Serenad Uyar gibt eine patente, selbstbewusste jungen Frau (ihre Balance zwischen Tradition und Aufbruchstimmung pfiffig sekundiert durch ihr Kostüm, eine Kombination aus einer Art Bollywoodrock und einer Nietenlederjacke), die wie die Mutter in der Gemeinschaft durchaus was zu sagen hat. Mit ihrem saftigen, leuchtenden Sopran phrasiert sie schön und gestaltet ausdrucksvoll; auch die Verständlichkeit in beiden Sprachen ist gut. Ein, zwei Spitzentöne sitzen am besuchten Tag nicht ganz sicher, aber das kommt eben vor. Edwige lässt in der ganzen Anlage der Figur mehr an Azucena als an die deutsche romantische Oper denken. Marie Gautrot macht Furore als hagere, etwas verhärmte Version ihrer Tochter, der sie verschweigt, dass ihr Vater ein Vergewaltiger und Soldat gewesen ist. Sie kennt weder stimmlich noch darstellerisch Schonung, ohne ihrem flammenden Mezzo je Gewalt anzutun, singt auch die wildesten Attacken so intensiv wie kultiviert, packt in den schmerzlichen Rückblicken und verhaltenen Klageliedern gleichermaßen. Im Grunde ist sie die Hauptfigur der Oper (ist das immer so oder liegt das an Gautrot?) und überzeugt szenisch noch in den schlimmsten Momenten mit expressiver Wucht. Franz, Lauras Verlobter, der ins Heer eingezogen wurde, dort durch eine Verletzung sein Gedächtnis verloren hat und so mit Conrads Truppen in seine eigene Heimat einfällt, wird hervorragend gesungen von Gustavo Quaresma, der seinen strahlenden, gut fokussierten Tenor flexibel führt und als gequälter Amnesiast schnell Sympathie erringt. Als er durch die Begegnung mit den Nixen allmählich sein Gedächtnis zurückerlangt, sind die Qualen natürlich nicht zu Ende; auch das spielt er ohne Larmoyanz.

Offenbach: „Les Fees du Rhin“/Szene aus der Aufführung in Biel/ Foto Joel Schweizer

Leonardo Galeazzi braucht die Bühne nur zu betreten, und die lauernde Energie Conrads, die in jähe Brutalität umschlagen kann, wird sofort sichtbar – er ist so angsteinflößend, wie er zuvor beschrieben wird. Sein kernig-brillanter, durchschlagskräftiger Bariton tut ein Übriges, der auch biegsam genug für das Trinklied im 1. und die lyrischen Soli im 4. Akt ist. Sein natürliches Spiel macht auch den Gesinnungswandel in diesem letzten Akt so gut wie möglich glaubwürdig. Denn in diesem letzten Akt klappert’s etwas im Libretto – einerseits entstehen hier Längen, wenn die fünf Flüchtigen sich selbst für eine Oper sehr viel Zeit für die Flucht vor den Soldaten lassen, noch ein Gebet einschieben etc.; andererseits ist Conrads Gesinnungswandel reichlich suspekt – der wird durch die Entdeckung ausgelöst, dass Laura seine Tochter ist. Man hat den Eindruck, dass es der Beleg seiner Potenz ist, der ihn berührt, nicht etwa die Wiederbegegnung mit der von ihm hässlich behandelten Edwige. Item, er ist im Finale bereit, sich für Laura, Franz, Edwige und Gottfried zu opfern, und so, wie Galeazzo das singt und spielt, möchte man ihm in der Tat glauben und vergeben. Und hoffen, dass solche Umkehr eines Kriegsbefürworters möglich ist. In der Perspektive wird auch der zum Schluss wieder erklingende Hymnus auf Deutschland genießbar, und das bereits erwähnte Unhappyend markiert wachsame Skepsis.

Als Bauer und blutrünstiger Soldat ergänzt mit Elan Yi-An Chen, und der Chor unter Valentin Vassilev ist wie immer mit begeisterndem Einsatz bei der Sache, v.a. die Herren als stimmstarke und typenreiche Soldateska, während die Damen in ihrem Nixensolo etwas schmal besetzt klingen (zu ätherisch gedacht?).

Am Pult des Orchesters des Theaters Biel Solothurn schafft Francis Benichou als aufmerksamer Begleiter die faszinierende stilistische Mischung zwischen Offenbach, wie wir ihn schon kannten, und der von ihm anverwandelten romantischen deutschen Oper. In der für Biel größtmöglichen Besetzung (mit der kultverdächtigen Harfe im Zuschauerraum) stoßen sie gelegentlich an die akustischen Grenzen des Raums, aber wohl nur, weil sie die Kontraste so plastisch gestalten und dafür eben auch mit hauchfeinen Nixenklängen und einer reichen Farbpalette erfreuen. Samuel Zinsli

.

.

Boris Kehrmann, Dramaturg und Musikwissenschaftler, der sich seit langem mit Offenbachs Oeuvre und eben dieser Oper beschäftigt, macht sich im Nachstehenden Gedanken über Fassung und Zweisprachigkeit sowie über Titel und Genesis dieser spannenden Oper: Wie die meisten Melomanen lernte ich Jacques Offenbachs Oper Die Rheinnixen 2002 durch Friedemann Layers Radio France-Aufnahme für das Montpellier Festival kennen. Der Titel war bekannt. Kein Text zu Les contes d’Hoffmann lässt unerwähnt, dass Offenbach die Barkarole seiner ersten Oper entnommen hat. Das Werk selbst aber war unbekannt, da das (verstümmelte) Libretto nur als Programmheft der Wiener Ur- bzw. Kölner Erstaufführung und die Musik nie gedruckt wurde.

Die Poesie der Musik packte mich vom ersten Augenblick, die humane Botschaft des Stücks war frappierend aktuell in einer Zeit, da Deutschland begann, die Gewalt der Wutbürger als bürgerlichen Widerstand zu verherrlichen, das Schlachten in Bosnien kurz zurücklag, Russland Teile Georgiens annektierte, Kriege und Bürgerkriege in Afghanistan, Darfur, im Nahen Osten und Irak wüteten. Schließlich kamen mir Offenbachs Rheinnixen wie eine Gegendarstellung zu Wagners gewalttätigem Siegfried mit seinem Vergessenstrank vor, was nicht abseitig erschien, da das viel diskutierte Ring-Textbuch Anfang 1863 öffentlich erschien und Wagner Teile der Tetralogie Ende 1862 in einem Wiener Konzert dirigierte. Später stellte sich heraus, dass Charles  Nuitter, der Librettist der Rheinnixen, 1860 Wagners Tannhäuser, 1861 den Fliegenden Holländer übersetzt und 1862 am Libretto der Meistersinger mitgearbeitet hatte, wie Wagner in seiner Autobiografie andeutet. Übersetzungen des Lohengrin und Rienzi folgten 1868 und 1869. Als ehemaliger Rechtsanwalt trieb Nuitter Wagners Tantièmen in Frankreich ein und beriet den Komponisten und seine Frau lebenslang in juristischen Fragen. Ihr 2002 publizierter Briefwechsel zeigt dies in aller Ausführlichkeit. Nuitter war also ein Kenner der Werke und Ideen des Meisters aus engem persönlichem Umgang.

.

Offenbach: „Les Fées du Rhin“ an der Opéra de Tours/ Szene/ Foto Sandra Daveau

Es geht in den Rheinnixen um einen Mann, der im Krieg den Verstand verliert, im Zustand totaler Amnesie zur unschlagbaren Kampfmaschine mutiert und durch die Macht eines Liedes stufenweise seine Erinnerung wieder- bzw. zur Humanität zurückfindet. Damit ist nicht nur die Unschuld der Kindheit gemeint – die verlassene Braut nennt das Lied in einer Notiz Offenbachs am Rand des Particells zum Duett Nr. 26 „ce chant, qui bercait nos premières ans“ – „dieses Lied, das unsere Kindheit wiegte“  –, sondern auch die Erinnerung daran, dass er Mensch ist. Im so genannten „Vaterlandslied“, dem Kernmotiv und Ohrwurm des Stücks, überlagern sich Menschenliebe, Heimatliebe, erotische Liebe. Frantz verrät nicht nur die Erde und die Heimat, die er verwüstet, sondern auch seine Braut Armgard bzw. in der Urfassung Laura, die er sitzen ließ. „Du, Vaterland, bist meine Braut“, heißt es im Vaterlandslied. Folgerichtig geht es im Stück darum, dass die Braut ihren Bräutigam zurückerobert – mit allen ethischen Konsequenzen. Vaterland und Braut sind auf symbolischer Ebene austauschbar. Frantz‘ Rehumanisierungsprozess vollzieht sich in vier Stufen, die durch seine drei Arien ­- pro Akt  eine – bzw. durch das Duett im letzten Akt bezeichnet werden. Das Duett ist kein konventionelles Liebesduett, sondern eher eine Art Anamnese. Die Liebenden klären die letzten Fragen ihrer wiedergewonnenen Vergangenheit. Dem Ausdruck der Liebe in ihrer überpersönlichen Dimension als Menschen- und Weltliebe dient die Poesie der Musik nicht nur dieses Duetts, sondern des ganzen Werks überhaupt. Auch wenn Offenbach und Nuitter das Motiv des Soldaten, der in der Schlacht sein Gedächtnis verliert und es durch ein Lied wieder zurückerhält, neben weiteren Anregungen Scribe-Boieldieus Dame blanche entnommen hatten (Scribe variierte damit Paisiellos berühmte Nina), schienen mir Offenbachs Wendung ins Ethische, in die große Féerie-Allegorie, und seine Musik singulär zu sein. Nur das gestelzte, grammatikalisch oft falsche, hohle und antiquierte, teilweise auch unverständliche Operndeutsch des Librettos verstellt den Blick auf die Größe des Werkes. Sein Libretto strotzt von Sätzen wie „Mein sei die holde Maid“, wo Offenbach brutal „Non elle est à moi“ komponiert hat, oder Schüttelreimen wie „Wer die Elfen jemals spricht, / der kann leben länger nicht“.

.

Zu Offenbachs „Fées du Rhin“: Aubers „Lac des Fées“/ Illustration/ Gallica BNF

Die Quellen: In der spärlichen Literatur zu den Rheinnixen ist zu lesen, Offenbach habe das Stück teils auf Französisch, teils auf Deutsch komponiert. Leider war Jean-Christophe Kecks Ausgabe für den Verlag Boosey & Hawkes / Bote & Bock, die die Wiederentdeckung der Oper ermöglichte, nicht zu entnehmen, welche Passagen in welcher Sprache komponiert wurden und wie der von Offenbach vertonte Wortlaut hieß. Kecks erste Ausgabe von 2002 präsentierte das Werk in der Fassung der Partiturhandschrift, die Offenbach dem Wiener Hoftheater vor Probenbeginn vorlegte. Deren ersten drei Akte werden in zwei Bänden in der Staats- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. verwahrt. In zwei Bänden deshalb, weil die Akte 2 und 3 in der stark gekürzten, nach Offenbachs Aussage „verstümmelten“ Fassung der Uraufführung zu einem Akt zusammengelegt und die Bogen der Handschrift anschließend in einem Band zusammengebunden wurden. Der Registraturvermerk „1941/26“ deutet darauf hin, dass es sich um Naziraubgut handelt. Der 3. Band der autographen Partitur befindet sich in Privatbesitz. Diese drei Bände enthalten das gesamte Werk in deutscher Sprache. Die in Wien gestrichenen Passagen sind durch Streichungen bezeichnet.

.

Zu „Les Fées du Rhin“: auch von Auber gab es einen „Feensee“ i.e. „Le Lac des Fées“ in Deutsch, hier der Klavierauszug/ OBA

In der Pierpont Morgan Library befindet sich aber, fälschlich als Vocal score, also Klavierauszug ausgewiesen, das Particell Offenbachs, das den Prozess der Komposition dokumentiert und das mir Frank Harders-Wuthenow vom Verlag Boosey & Hawkes 2017 großzügigerweise in Kopie zur Verfügung stellte. Ihm ist zu entnehmen, dass das nahezu vollständige Libretto von Charles Nuitter in französischer Sprache verfasst und von Offenbach in französischer Sprache vertont wurde. Während der Arbeit schickte Offenbach die fertigen Bögen laufend an Alfred von Wolzogen nach Breslau, der unter die französischen Verse seine deutsche Übersetzung schrieb und sie wieder zurücksandte, damit Offenbach auf dieser Grundlage die Instrumentation fertig-, also das oben beschriebene Frankfurter bzw. im Privatbesitz befindliche Manuskript herstellen konnte. Nicht nur die Schreiberhände im Particell lassen diesen Entstehungsprozess erkennen. Er ist auch durch Briefe und Anweisungen Offenbachs an Wolzogen im Particell selbst dokumentiert. Im 2. Akt hatte Nuitter für Frantz beispielsweise keine Arie vorgesehen. Bei der Komposition spürte Offenbach aber, dass er seinen Helden hier auf der zweiten Stufe seines Gesinnungswandels zeigen musste und komponierte eine poetische Erinnerungsmelodie ohne Worte, über die er für seinen deutschen Übersetzer schrieb: „Il faut deux couplets pour la Romance de Frantz – Hier brauchen wir zwei Strophen für Frantz‘ Romanze“. So wurden zweieinhalb der 29 Nummern des Werks original ohne Text (die eben genannte Romanze) oder auf Deutsch vertont. Zu Letzteren gehört das Finale, wo Offenbach sich bereits mit Kritik der Beteiligten auseinanderzusetzen hatte, und das Vaterlandslied, wo er auf eine eigene Komposition von 1848 zurückgriff. In den Rheinnixen findet nämlich nicht nur Frantz zu seiner Vergangenheit zurück, sondern auch Offenbach. Es ist ein Werk, das einen Kontakt zwischen zwei Welten herzustellen versucht: Vergangenheit und Gegenwart, Deutschland und Frankreich. Insofern hat seine originale Zweisprachigkeit einen tieferen Sinn.

.

Nuitters Verse sind im Gegensatz zu denen Wolzogens klar, modern und unsentimental und könnten dem Werk den Weg auf die Bühnen ebnen, das nun erstmals auch sprachlich auf der Höhe seiner Musik und Dramaturgie steht. Sie waren am 28. September 2018 als Welturaufführung in einer Koproduktion der Opern Tours und Biel/Solothurn in dem kleinen Stadttheater der Loire-Metropole zu hören. Trotzdem besteht kein Anlass zum Wolzogen-Bashing. Wer Wolzogens Schriften liest, lernt in dem Vater des Herausgebers der antisemitischen „Bayreuther Blätter“ ((Sohn Hans von Wolzogen gab noch 1930 zu Protokoll, dass er als Kind Orpheus-Fan war und den Komponisten, den er im Zusammenhang mit der Mitarbeit seines Vaters an den Rheinnixen auch persönlich in Breslau kennen gelernt hatte, ungeachtet seiner antisemitischen Auftragswerke für Cosima Wagner immer noch liebte), einen menschlich vornehmen, klugen und fähigen Schriftsteller und Theatermann kennen, der gutes Deutsch schrieb und Offenbachs Vertrauen verdiente. Ihm waren nur wie jedem Opernübersetzer, der die Musik mit ihren musikalischen Sprachakzenten und auskomponierten Satzmelodieverläufen, Silbenzahl und Reimzwang respektiert, die Hände gebunden. Man kann Offenbachs Rheinnixen so wenig nach der deutschen Fassung beurteilen, wie man Rigoletto oder La traviata nach den deutschen Übersetzungen des 19. Jahrhunderts beurteilen kann.

Zu Offenbachs „Fées du Rhin“: Maria Taglioni in Nourrits Ballett „La Sylphide“/ Gallica BNF

Dankbarkeit und Bedauern: Nicht hoch genug zu schätzen sind auch die Verdienste des Herausgebers Jean-Christophe Keck und des Verlags Boosey & Hawkes. Ohne sie könnten wir Die Rheinnixen heute weder lesen, spielen, noch hören. Der Verlag erhält keine Fördermittel und keine institutionelle Unterstützung von akademischer Seite zur Realisierung des Mammutprojekts „Offenbach Edition Keck“ (OEK). Boosey & Hawkes / Bote & Bock finanzieren, redigieren und publizieren es im Alleingang von Berlin aus. Jean-Christophe Keck stemmt es von Herausgeberseite als Einmannunternehmen. An allen anderen seriösen Werkausgaben wirken Heerscharen von Herausgebern und wissenschaftlichen Mitarbeitern mit, das heißt zahllose Augen, die Fehler korrigieren, zahllose Köpfe, die knifflige Fragen diskutieren, zahllose Hände, die brauchbare kritische Berichte schreiben. Sie alle fehlen bei der Offenbach Edition Keck. Die Folge sind zahllose Lesefehler wie z. B. der Name des Helden, den die OEK als Folge von Problemen mit dem Frakturdruck als Franz Waldung statt Baldung angibt, was für jene Interpreten nicht unwichtig ist, die der Wagner-Fährte folgen möchten, weil Siegfrieds Schwert in Wagners Nibelungen-Ausgabe von 1863 noch nicht Nothung, sondern Balmung hieß. Inzwischen hat der Verlag die Verlesung auf meinen Hinweis hin korrigiert. Ein Herausgeber-Gremium hätte vielleicht die Fehlentscheidung verhindert oder zumindest begründet, Offenbachs Rheinnixen 2002 einsprachig deutsch herauszugeben und so den Eindruck zu erwecken, es handle sich um eine deutsche Oper. Sie wurde mit der zweisprachigen Neuausgabe unter dem Titel Les Fées du Rhin. Opéra romantique en 4 actes. Livret du Jacques Offenbach et Charles Nuitter. Version française complétée par Christophe Mirambeau 2018 korrigiert. Warum muss die Version française aber von Christophe Mirambeau vervollständigt werden? Warum wird das Kind jetzt mit dem Bade ausgeschüttet und der im Particell deutlich erkennbare Anteil Alfred von Wolzogens am Libretto komplett unterschlagen? Warum ist im Druckbild nicht erkennbar, wo Nuitters Text aufhört und Mirambeaus „Vervollständigung“ anfängt? Ein Kritischer Bericht hätte schließlich aufgelistet, welche Handschriften und Librettodrucke des Werks existieren, wo sie liegen, was sie enthalten, wer sie schrieb, was für einen Werkzustand sie dokumentieren, ob es sich um Dokumente der Entstehung, um Bearbeitungen zu Aufführungszwecken oder um Abschriften zur Verbreitung handelt. Er hätte auch alle Herausgebereingriffe dokumentiert. Leider wird öffentlich zum Beispiel immer noch nicht preisgegeben, wo sich der privat gehortete 3. Band der oben beschriebenen Frankfurter Partiturhandschrift befindet. Eine Untersuchung des 4. Aktes durch die Forschung ist also weiterhin unmöglich, was angesichts der Tatsache, dass das Finale, um das alle drei Autoren rangen, besondere Textprobleme aufwirft, schwer erträglich ist. Der Verlust dieses Bandes würde jede weitere Arbeit unmöglich machen. Gerade die Offenbach-Forschung wurde von solchen Katastrophen aber seit Offenbachs Tod ständig heimgesucht, zuletzt 2009 durch den Einsturz des Kölner Stadtarchivs mit den Quellen zu den jüdischen, karnevalesken und patriotischen Vereinseinflüssen auf Musik und Musikdramaturgie des Komponisten, sowie 2018 durch den Brand des brasilianischen Nationalmuseums Rio de Janeiro, das die größte Quellensammlung reichen lateinamerikanischen Offenbach-Rezeption und Aufführungsgeschichte des 19. Jahrhunderts enthielt.

 

Zu „Les Fées du Rhin“: Offenbachs Ballett „Le Papillon““/ Illustration/ Gallica BNF

Les Fées du Rhin oder Les Elfes?: Das sind keine akademischen Fragen, sondern solche des Werkverständnisses. Warum heißt das Stück jetzt zum Beispiel auf einmal Les Fées du Rhin, obwohl die Titelheldinnen im Urtext fast immer als „les elfes“ bezeichnet werden? Dies scheint bis Frühjahr 1863 auch Nuitters und Offenbachs Arbeitstitel gewesen zu sein. Les Fées du Rhin taucht im Manuskript erstmals (!!!) als Überschrift zum 4. Akt auf, in der Presse – vermutlich von Offenbach lanciert – erstmals im Pariser Ménéstrel vom 12.4.1863. Die Niederrheinische Musik-Zeitung vom 25.4.1863 übersetzt oder verliest („Fées“, „Filles“) den Titel als Die Rheintöchter und Offenbach verwendet in seinen Briefen stets den Singular La Fée du Rhin, gelegentlich Die Rheinnixe. Die Niederrheinische Musik-Zeitung folgt ihm darin ab dem 8.8.1863. Der Wiener Hofoperndirektion wurde die Partitur am 12.9.1863 unter dem Titel Armgard oder die Geister des Rheins / Armgard ou Les Esprits de Rhin eingereicht, Kaiser Franz Joseph I. erhielt am 25.1.1864 eine Partitur mit dem Titel Die Rheinnixen, womit das Werk seinen finalen Titel erlangt hatte. Im 3. Akt tritt als Chorführerin „Une Fée“ auf, während der Chor als „Les sylphides“ bezeichnet wird. Die Damen und Herren des Chores, letztere hinter der Szene, werden von ihrer Chorführerin als „folles sylphides – wahnsinnige Sylphiden“ herbeigerufen. Lauras Mutter, die zum „Elfenstein“ (!) gekommen ist, um hier ihre in einen Naturgeist verwandelte Tochter nach ihrem Tod wieder zu sehen, bezeichnet die Titelheldinnen in Nuitters Originallibretto als Baumgeister: „A l’ombre de ces pins antiques / ménant leurs rondes fantastiques / les elfes prennent leurs ébats – Im Schatten jener alten Kiefern tanzen die Elfen ihre gespenstischen Reigen und spielen ihre Spiele.“ In der Schlussapotheose schließlich werden, wieder nach Nuitter, alle Arten von Elementargeistern zusammengeführt: „on entend au loin le chant des elfes on voit peu à peu au fond les nuages qui s’ecartent et qui laissent voir les nymphes suspendus dans l’air d’autres glissent sur le Rhin – Man hört in der Ferne den Gesang der Elfen. Im Hintergrund teilen sich die Wolkenschleier nach und nach und enthüllen Nymphen, die [auf Wolkengondeln] in der Luft schweben. Andere gleiten über den Rhein.“ Schauplätze der Elfenakte sind die Tanzplätze der Elfen. Es ist also unzweifelhaft, dass die Autoren kein Stück über Nixen oder Feen schrieben, sondern eines über Nebelgeister, die nordischen Personifikationen des Nebels, der nachts auf feuchten Hochebenen liegt. Als „folles sylphides“ werden sie spezifiert. Warum sie „wahnsinnig“ sind oder wurden, wissen wir aus den einschlägigen Erfolgsballetten La Sylphide (1832) und der am Rhein spielenden Giselle (1842). Die Elfen sind verlassene Bauernmädchen, die an gebrochenem Herzen sterben und sich zur Mitternacht als Revenants oder Wiedergängerinnen auf nebligen Waldlichtungen versammeln, um ihre ungetreuen Liebhaber zu Tode zu tanzen. Genau das geschieht bei Offenbach und Nuitter. Die „Sylphiden“ oder „trügerischen Sylphen mit ihren weißen Flügeln“, wie Ulrich sie im 4. Akt beschreibt, tanzen das erste Mörderbataillon der Landsknechte Ende des 3. Akts sowie ein zweites Ende des 4. Akts zu den Felsklippen, wo sie abstürzen, und zwar auf die Musik des „Valse de rayons“, des Walzers der Schmetterlinge im Licht der Sonnenstrahlen aus Le Papillon, dem „conte fantastique“, den Offenbach 1860 für Marie Taglioni, die Uraufführungs- und Starinterpretin von Nourrits Ballett La Sylphide, komponierte. Damit ist die Inspiration für die beiden „Weißen Akte“ der Fées du Rhin auch musikalisch dokumentiert. Ehebrecher im Sinne der Ballette sind bei Offenbach allerdings nur Frantz und Ulrich, der Lauras Mutter Edwige betrog. Beide werden am Ende aber bekehrt und gerettet, weil Offenbach nicht den erotischen Liebesverrat als Skandal aus der Welt schaffen wollte, sondern die Gewalt in Gestalt der Landsknechte. In diesem Sinne variieren die Autoren die Handlung der Ballette. An die Seite des tödlichen Tanzes gesellt sich der tödliche Sirenengesang. „Singt und Tanz“, heißt es im Elfenchor. Das ist eine Kombination, die Offenbach fasziniert zu haben scheint. Sie kommt im Hoffmann in den Gestalten Antonias und Olympias wieder vor. Letztere tanzt Hoffmann fast zu Tode. Tatsächlich apostrophiert auch Edwige die Fées du Rhin – oder wollen wir das Werk lieber Les Elfes nennen? – zweimal als „rächende Sirenen“.

.

Zu Offenbachs „Fées du Rhin“: Kaiser Franz Joseph wurden die Wiener „Rheinnixen“ gewidmet/ Wiki

Eine Vampir-Story: Entscheidend ist der Seitenblick auf La Sylphide/ Giselle für das Verständnis der Oper darum, weil Offenbach vorsah, dass Laura Ende des 1. Aktes wie ihre Ballettschwestern tatsächlich stirbt und Ende des 2. Aktes kraft einer übermenschlichen moralischen Anstrengung als Revenant oder Vampir wieder aus ihrem Sarg aufsteht, um Frantzens Leben zu retten. Die Tote hat in ihrem Todesschlaf nämlich halbbewusst mitbekommen, dass Gottfried die Landsknechte mit Frantz zum Elfenstein führen wird, um sie dort von den Sylphiden in den Abgrund stürzen zu lassen. Davor will Laura Frantz bewahren. Was die Theaterwelt in La Sylphide und Giselle akzeptierte, schien sie in der Oper aber nicht glauben zu wollen. Aus einem von Anton Henseler (Jakob Offenbach, Berlin 1930) publizierten Brief Offenbachs an Wolzogen erfahren wir, der Komponist habe mehrfach mit Nuitter darüber diskutiert, dass „die Situation des jungen Mädchens, das wieder lebendig wird“, zu phantastisch sei. So verfiel er auf die platt-realistische Lösung eines Scheintodes und wies seine Librettisten an, Laura im Duett des 4. Aktes von dem ganzen Geschehen als einem Traum sprechen zu lassen. Das macht die Sache aber nicht glaubwürdiger, da nun nicht mehr zu entscheiden ist, wo dieser Traum anfangen und wo er enden soll. Auf dem Elfenstein erklärt Laura ihrer Mutter, die ihrer verwandelten Tochter ins Reich des Todes gefolgt ist, klipp und klar, dass sie nie wieder in die Welt der Lebenden wird zurückkehren können. Die „Weißen Akte“ der Oper werden nach dem Gesetz des Balletts und der Féerie immer irrealer. Es geht hier um Kunstmärchen, um die Allegorie einer utopischen Welt, in der die Liebe die Gewalt verdrängt. Die Gewalttäter werden buchstäblich aus dem Elfenhain vertrieben. Darum scheint mir eine realistische Lesart verfehlt. Die phantastische Urkonzeption mit der vampirhaften Sylphide, die ihren Geliebten aus der Hand der Rächerinnen verratener Liebe rettet, ist poetisch und theatralisch weit ergiebiger. Allein das 2. Finale, in dem der totenstarre Vampir in seinem Sarg neben sich das Komplott Frantz‘, Ulrichs und Gottfrieds mithört, mit im totenstarren Körper somnambul hin- und herzuckenden Augen, bis es ihm schließlich gelingt, die Totenstarre aufzubrechen, scheint mir theatralisch faszinierend. Lauras Erklärung „ja ich entriss mich dem Todesschlaf, um dich zu retten“ bezeichnet einen moralischen Akt.

Zu Offenbach: die Opéra de Tours/ Innenansicht/ OBA

Dramaturgie der Zweisprachigkeit: Jean-Christophe Keck und der Verlag haben seit 2002 immer betont, dass die Rheinnixen eine französische Oper seien und um französischsprachige Aufführungen geworben. Eine zweisprachige Ausgabe wurde 2007 abgebrochen, weil von Theaterseite kein Interesse bestand. Kein Interesse bestand aber auch deshalb, weil die Theater aufgrund der Wiener Uraufführung und der deutschen Ausgabe glauben mussten, diese sprachlich nahezu unzumutbare Fassung sei das Original. Ein Teufelskreis.

2018 wurde er durch einen neuen zweisprachigen Klavierauszug durchbrochen, der den deutschen Text Wolzogens und den französischen Nuitters „complétée par Christophe Mirambeau“ zur Verfügung stellt. Einzelne Nummern sind in als „version originelle“ „version de Vienne“, „version Nuitter/Mirambeau“ usw. bezeichneten Varianten abgedruckt. Auf der letzten Seite der französischen Librettoausgabe sind Seiten- und Taktzahlen der von Mirambeau ergänzten Stellen aufgelistet. Warum die Ergänzungen nötig sind, was hier im Particell steht, was sie also inhaltlich bedeuten, können Theaterleute aber auch diesem Klavierauszug wieder nicht entnehmen.

Die Opéra de Tours spielte mit einer frankophonen Besetzung eine durchgängig französischsprachige Fassung. Eine Fassung also, die Offenbach nie geschrieben hat. Sie unterdrückt damit die Zweisprachigkeit des Werkes so wie sie im Particell steht. Zu behaupten, Offenbach habe das Werk zweisprachig intendiert, ist sicher falsch. Allerdings hat er auch in anderen Werken mit Zweisprachigkeit gearbeitet. In dem Singspiel La Diva machen zwei deutsche Offiziere der Pariser Titelheldin ihre Aufwartung in ihrer Garderobe und singen auf Deutsch – ein Vaterlandslied! Zweisprachigkeit war also eine Option in Offenbachs Dramaturgie. Warum sollte man sie aufgrund einer weder be-, noch widerlegbaren Herausgeber-Hypothese von vorneherein ausschließen? Warum bevormunden Verlag und Herausgeber künftige Regisseurinnen und Regisseure, Interpretinnen und Interpreten, indem sie ihnen vorenthalten, was Offenbach wirklich geschrieben hat?

Zu Offenbachs „Fées du Rhin“: die Opéra de Tours/ Kuppel des Saales/ OBA

Zumal Zweisprachigkeit über die oben angedeuteten Aspekte hinaus auch noch in anderer Beziehung Sinn macht. Offenbach komponierte das Vaterlandslied 1848 für einen Kölner Verein, der preußische Hegemonieideen ablehnte und politisch einen deutschen Staatenbund unter österreichischer Führung nach dem Muster des K.u.K.-Vielvölkerstaats propagierte. In diesem Staatenbund sollte unter anderem eine Verfassung ausgehandelt werden, der die Rechte der Bürger einklagbar festschrieb und schützte. Sie sollte ein Instrument der Vermeidung von Gewalt und Kriegen werden, die durch den Bruder des österreichischen Kaisers geschützt wurde. Diesem Kaiser überreichte Offenbach am 25. Januar 1864 in einer persönlichen Audienz die Partitur der Rheinnixen, das heißt, das Vaterlandslied, seine Bitte um eine menschenfreundliche Regelung der deutschen, ja europäischen politischen Verhältnisse, erreichte nach 16 Jahren endlich seinen eigentlichen Adressaten. Warum sollte man diese utopische „Flaschenpost“ aus Paris nach Wien nicht auch sprachlich herausheben dürfen?

Vom Nationalismus zur Auflösung der Nationen aus dem Geist des Theaters: Dieses Vaterlandslied mit dem Refrain „Du liebes Land! Du schönes Land! Du schönes, großes deutsches Vaterland!“ hat es in sich. Offenbach vertonte Hermann Herschs chauvinistischen Text („Die deutschen Mädchen trügen, / Mit keinen welschen Lügen! … Ich lebe dir mein Vaterland, / Ich sterbe dir mein Vaterland“ usw.) 1848, weil er und seine Familie als Revolutionsflüchtlinge Geld brauchten. Vordergründig bat er Wolzogen aus Urheberrechtsgründen, den Text umzuformen, damit Hersch keine Tantièmen beanspruchen konnte. In Wirklichkeit macht das Lied aber auch im Stück textlich eine Metamorphose durch. Aus dem „deutschen Vaterland“ des 1. Aktes wird am Ende der Oper nämlich ein „ewges Vaterland“. Die beiden bekehrten Paare und ihr treuer Freund Gottfried werden am Ende von deutschen Landsknechten eingeschlossen und erkennen, dass die Welt am deutschen Wesen nicht von Gewalt genesen kann. Also rufen sie ein größeres Vaterland an: Das Vaterland aller Menschen guten Willens.

Zu Offenbachs „Fées du Rhin“ an der Opéra de Tours/ Szene/ Foto Sandra Daveau

Pierre-Emmanuel Rousseau, der Regisseur und Ausstatter der Tourer Uraufführung der Originalfassung, sieht darin die finale religiöse Wende des Stücks, die seiner Meinung nach schon im 1. Finale damit angefangen habe, dass sich die Heldin Laura opfert, um das Land vor den einfallenden Landsknechten zu retten. Für ihn wird sie zur Heiligen und Märtyrerin. Wer die Eingeschlossenen bei Offenbach rettet, das ist aber nicht der Liebe Gott, sondern das sind die Elfen. In Nuitters Entwurf des Finales heißt es: „Der Gesang der Elfen dauert an. Die von ihrem Zauber angezogenen Soldaten stürzen in den Abgrund, andere in den Rhein und verschwinden. Frantz, Ulrich, Gottfried und Hedwig nehmen in einem Akt der Dankbarkeit ihren Gesang Du liebes Land wieder auf.“ Offenbach komponiert hier, möglicherweise in Anlehnung an Aubers Schlussapotheose des Lac des fées (1839) eine große Liebeserklärung nicht an Gott, sondern an die Macht der Fantasie und des Theaters. Ein Wolkenschleier nach dem anderen schwebt im Hintergrund in die Höhe und enthüllt auf hinter einander gestaffelten Wolkengondeln ad infinitum immer neue Ränge singender Elfen. Offenbach hat solche Apotheosen zuvor im Olympbild des Orpheus parodiert und später in Werken wie La Diva und Les contes d’Hoffmann als Liebeserklärung an das Theater und die Fantasie erneut gestaltet. Ob diese Apotheose wirklich auf Aubers Lac des fées zurückgeht, wie in der Literatur immer wieder behauptet wird, muss sehr hypothetisch bleiben, da Aubers süßliche Feenoper ein ausgesprochener Misserfolg war und kaum nachgespielt wurde. Boris Kehrmann

.

Mit Dank an Wolfgang Denker für die Archivarbeit bei der Bereitstellung von Illustrationen!

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.