Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Unbekannter Paisiello

 

Von Giovanni Paisiellos etwa 100 Bühnenwerken konnten sich nur Il barbiere di Siviglia und Nina auf den Spielplänen behaupten. Da kommt Filippo Mineccias neue CD bei Pan ClassicsThe Paisiello Album – gerade recht, ermöglicht sie doch die Bekanntschaft mit unbekannten Kastratenarien aus verschiedenen drammi per musica des Komponisten auf Libretti von Metastasio. Paisiellos Stil ordnet man eher leichteren Werken von heiterem Charakter zu, aber die Eingangsarie des Alessandro, „Meglio rifletti“, aus Antigono beweist, dass der Komponist sich durchaus auch im heroischen Metier auskannte. Er schrieb die Partie für Angiolo Monanni, genannt  Manzoletto, der sie 1875 in Neapel kreierte. Der italienische Counter Mineccia singt sie mit klangvoller, resonanter Stimme und energischem Ausdruck. Die Ausflüge in das hohe Register gelingen hier perfekt.

In der Auswahl finden sich noch weitere Arien für Manzoletto, so die des Arbace aus Catone in Utica, „So che pietà non hai“, die 1789 ebenfalls in Neapel zur Uraufführung kam. Es ist ein getragenes Stück, das die  Schönheit von Mineccias Stimme besonders herausstellt. Auch der Titelheld in Artaserse wurde für diesen Kastraten komponiert, doch stammt dieses Werk von Felice Alessandri, einem Zeitgenossen Paisiellos. Dessen Arie „Deh respirar lasciatemi“schildert die Zweifel der gespaltenen Titelfigur, was Mineccia mit erregtem Duktus (und einigen aus dem Lot geratenen Spitzentönen) ausdrückt.

Dass Manzoletto einer der führenden Sänger jener Zeit in Neapel war, beweist, dass auch Domenico Cimarosa für ihn geschrieben hat. Pilades große Szene aus Oreste von 1783 mit Rezitativ und Arie („Oreste, Elettra, o stelle!/Ah che in petto“) steht am Ende der Auswahl und zeigt noch einmal Mineccias Kunst, eine dramatische Situation zu schildern und das Herzklopfen der Musik in charaktervolle Töne umzusetzen.

Schließlich findet sich mit Giacomo Tritto (1733 – 1824) noch ein weiterer Komponist, der in der Karriere von Manzoletto von Bedeutung war. In dessen Artenice sang er bei der Uraufführung am Teatro di San Carlo 1784 den Oronteo. Seine Arie „Guarda s’inbruna il cielo“steht für das Modell der klassischen Sturmarie, welche die Verdunklung des Himmels, das Erwachen der Winde und das Anwachsen des Sturmes schildert. Mineccia weiß das mit seiner Stimme von erregtem Vibrato imposant zu verdeutlichen.

Ein anderer Kastraten-Star jener Epoche war Giovanni Rubinelli, der in der Saison 1784/85 Manzoletto aus seiner Führungsposition in Neapel verdrängte. In Paisiellos Antigono interpretierte er die Rolle des Demetrio. Mineccia nutzt dessen Arie „Già che morir degg’ io“zur Gestaltung eines bewegenden Lamento, vom klopfenden Rhythmus des Orchesters spannungsreich untermalt.

In Paisiellos Alessandro Nell’Indie sang er den Poro, dessen aufgewühlte, vom Solofagott begleitete  Arie „Destrier, che all’armi usato“  Mineccia mit gebotener Bravour und Expressivität interpretiert, dabei seine Substanz in der unteren Lage effektvoll ausstellt.

Giuseppe Aprile, genannt Sciroletto, kreierte in Paisiellos Kantate Il ritorno di Perseo den Titelhelden. Dessen Arie „La tua fé“mit Verzierungen, Trillern und Melismen ist eine typische Komposition für einen Star-Kastraten.

Weniger berühmt sind Francesco Casini Papi und Francesco Fariselli. Ersterer sang in Paisiellos Il Gran Cid die Partie des Armindo. Dessen Arie „Tu del popolo“ ist von bewegtem, virtuosem Charakter, von Mineccia zuverlässig geboten, allerdings wieder mit einigen aus dem Gesamtklang fallenden exponierten Tönen. Fariselli war der Olinto in Paisiellos Demetrio (1771/Modena). Mineccia präsentiert daraus zwei Ausschnitte. Der erste, „Trova un sol“, ist ein sentimentales Stück, gleichwohl von vielen abbellimenti geschmückt, der zweite, „Di quell’ingiusto sdegno“, von entschlossenem Auftritt mit ebenfalls reichlich Zierwerk.

Nicht bekannt ist der erste Interpret der Partie La Discordia in Paisiellos La Pace, komponiert zur Feier der Rückkehr der Bourbonen auf den neapolitanischen Thron.  Mineccia weiß die wiegende Arie „Fiumicello che riceve“ mit betörend sanften Tönen auszustatten.

Das begleitende Ensemble Divino Sospiro  unter Massimo Mazzeo musiziert auf historischen Instrumenten inspiriert und alert. Mit der Ouvertüre zu Demetrio hat es auch Gelegenheit für einen solistischen Auftritt. Das Album (PC 10394) ist eine Fundgrube für Musikfreunde der italienischen Oper des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Bernd Hoppe

Margarete Klose

 

Margarete Klose – von 1930 bis 1960 weltweit eine der gefragtesten und bedeutendsten Sängerinnnen im dramatischen Alt- und Mezzofach – hat ihren unbestreitbaren Weltruhm nie benutzt, um sich in den Mittelpunkt zu stellen. So verwundert es nicht, dass sie, die an der Berliner Staatsoper, in Bayreuth sowie weltweit an Häusern wie der Scala, der Staatsoper Wien, der Covent Garden Opera London, dem Teatro Colon in Buenos Aires und an vielen anderen deutschen und internationalen Bühnen ein unauslöschliches Stück Operngeschichte mitgeschrieben hat, nur noch den „Spezialisten“ unter den Opernfreunden in Erinnerung ist. Bedenklicher erscheint es schon, wenn ein Kompendium über die Sängereliten des 20. Jahrhunderts wie Kestings „Die großen Sänger“ Margarete Klose nur in einer Namensaufzählung erwähnt. Das Richtige hat dagegen wohl der Tenor Rudolf Schock, der oft mit ihr gemeinsam auf der Bühne stand, in seiner Biographie getroffen, wenn er sie in fairer Kollegialität eine Jahrhundertstimme nennt. (…)

Margarete Klose hat sich als Berlinerin ihrer Geburtsstadt stets auf besondere Weise verbunden gefühlt. Sie stammt aus dem mittelständischen Milieu einer Fleischerfamilie, die für die musikbegeisterte Tochter den Blick auf eine solide bürgerliche Berufsausbildung nicht aus den Augen verlor und ihr zunächst eine kaufmännische Ausbildung nicht ersparte. Doch dann ging es Schlag auf Schlag. Sie ließ ihre schöne, samtweiche Stimme bei Franz Marschalk am Klindworth-Scharwenka-Konservatorium ausbilden und startete bereits 1927 als 25jährige ihre Bühnenlaufbahn am Stadttheater Ulm, von dem aus ein Jahr später Herbert von Karajan seinen Weg in die Weltkarriere als Chorleiter beginnen sollte.

Aber da war auf die junge, ehrgeizige Sängerin bereits das Nationaltheater Mannheim aufmerksam geworden, in dem zu jener Zeit sporadisch Dirigenten wie Furtwängler, Kleiber und Pfitzner ans Pult traten. Schnell wurde erkannt, welches außergewöhnliche Talent hier im dramatischen Altfach heranwuchs. Bereits 1929 wurde sie zu den Wagnerfestspielen nach Paris eingeladen und konnte hier besonders als Waltraute erste Triumphe feiern. Wien und Hamburg machten ihr verlockende Angebote. Aber als Berlinerin entschied sie sich dafür, 1931 in ihrer Heimatstadt an die Staatsoper Unter den Linden zu gehen, der sie erst bis 1949 ununterbrochen angehörte. Hier, wo sie mit ihren Idolen aus dem Sopranfach Frida Leider und Maria Müller gemeinsam auf der Bühne stehen sollte, sang sie zunächst unter Furtwängler in der Uraufführung von Pfitzners Oper Das Herz. Ihre Gestaltung von Glucks Orpheus beeindruckte in derselben Saison den Gastdirigenten Thomas Beecham so sehr, dass er alles daran setzte, die junge Frau für seine im nächsten Jahr an der Covent Garden in London vorgesehene Produktion der Oper zu gewinnen. In seiner Begeisterung für die Klose er sie in der für Pauline Viardot  geschriebenen französischen Version der Berlioz-Bearbeitung einsetzen wollte. Aber Tietjen, der Generalintendant der Preußischen Bühnen, zog glücklicherweise die Notbremse und erhob dagegen berechtigte künstlerische Einwände, denen sie klugerweise folgte. Und bereits hier zeigt sich ein Zug der Sängerin, den sie zeitlebens beibehalten sollte – sie vertraute stets dem Rat kompetenter Autoritäten.

Natürlich ließ Beecham auch später nicht locker und konnte die von ihm Hochgeschätzte endlich 1937 als Brangäne in London als Gast in zwei historisch gewordenen Aufführungen präsentieren (Live-Mitschnitt bei EMI). Die Aufzeichnung dieser Aufführung und der ersten Premiere des Tristan nach dem 2. Weltkrieg mit der Staatskapelle unter Furtwängler am 3. 10. 1947 im Admiralspalast, von der leider nur der 2. und 3. Akt erhalten geblieben sind (Fonit Cetra),  zeigt eine frappierende Ausnahmestimme, die ans Herz greift. Hier wird deutlich, weshalb die Brangäne der Klose als unübertroffen galt. Die Sängerin präsentiert hier in berückendem Ton wirklich eine junge Frau, die vokal mit grenzenlosem Farbreichtum und einer brillanten Diktion den inneren Gehalt jeder Sekunde leidenschaftlich widerspiegelt.

Aber die Stimme der Klose hatte noch mehr, was sie aus heutiger Sicht einzigartig macht. Die Premieren der 30jährigen im Jahre 1932 an der Staatsoper können dies ein wenig verdeutlichen. Sie war unter Furtwängler als Klytämnestra in Elektra, als Adriano im Rienzi unter Blech und unter Kleiber erstmals als Ortrud angesetzt. Die Künstlerin war einfach ein Stimmphänomen, das die hoch angelegten Mezzopartien  wie die Ortrud und später die Brangäne neben der tiefen Klytämnestra und sogar der Erda singen konnte, ohne dass ihre Stimme Schaden nahm. Dies ermöglichte ihr ein Rollenspektrum, das von der Fricka, der Waltraute, der Eboli, der Amneris, der Maddalena, der Carmen, dem Orpheus, der Klytämnestra in Glucks lphigenie in Aulis bis zur Azucena und Ulrica reichte und die Küsterin in Jenufa zu einer ihrer Glanzpartien machte. Das Geheimnis hierfür ist nicht allein die samtige Stimme, sondern die wunderbare Technik, mit der sie selbst die gewaltigsten vokalen Ausbrüche souverän meisterte. Ihre hohe Phrasierungskunst verband sich mit stupender Atemtechnik, die es ihr gestattete, gut abgestützt auf Linie zu singen und den Ton bis in die höchsten Regionen mit klangvoller Resonanz und Farbe zu versehen. Dies alles verband sich bei ihr mit einer hoch­ differenzierten darstellerischen Wandlungsfähigkeit, in der zum Beispiel ihre leider zu Unrecht vergessene Carmen eine seither kaum mehr überbotene Vielschichtigkeit erhielt. Regelmäßig hat die Altistin ihre Stimme kontrollieren lassen, zunächst durch ihren Ehemann, den Hofoperntenor Walther Bültemann, und nach dessen Tod durch den Heldentenor Hans Grahl, der auch Elfriede Trötschel, Günther Treptow und den für mich unvergessenen Ernst Krukowski betreute.

Der Berliner Riesenerfolg der Ortrud veranlasste Tietjen, der zugleich auch die Zügel in Bayreuth in der Hand hatte, sie in dieser Partie 1936 mit sensationellem Erfolg ans dortige Festspielhaus zu verpflichten, wo sie bis 1942 auch als Brangäne, Fricka, Erda, Waltraute und sogar als 1. Norn auftrat. 1935 hatte sie als Adriano in der wegen seiner Akustik berühmten Waldoper Zoppot reüssiert. Von 1941 bis Kriegsende gastierte sie ständig in Wien und war dort von 1949 bis 1955 Mitglied der Staatsoper.

Die Berliner Staatsoper, die nach dem 2. Weltkrieg wegen des zerstörten Hauses im Admiralspalast (Metropoltheater) eine Spielstätte gefunden hatte, blieb sie bis 1949 als Mitglied verbunden. Schweren Herzens sah sie sich nach der Spaltung Berlins als Westberlinerin veranlasst, dem im Ostteil liegenden Haus Adé zu sagen und wechselte an die Städtische Oper im Westteil. Dagegen gelang es Walter Felsenstein nach Gründung der Komischen Oper im Ostteil Berlins, sie bis 1960 immer wieder einmal als Gast zu verpflichten. Daneben gastierte die Sängerin in ihren Paraderollen in aller Welt, wobei sie erstmals in den USA (Los Angeles, San Francisco) und besonders häufig in Italien (Rom, Florenz, Palermo), aber auch wie­der in Paris auftrat.

Margarete Klose (r.) und Maria Müller in Glucks „Orpheus“ an der Berliner Staatsoper 1937/ auf dem Foto oben als Ortrud/ OBA

Im September 1955 wurde das wiederaufgebaute Gebäude der Staatsoper in Berlin erneut seiner Bestimmung übergeben. Erich Kleiber hatte zugesagt, erneut die Funktion des GMD zu übernehmen. Margarete Klose war aus alter Anhänglichkeit bereit, an ihr altes Haus zurückzukehren. Kleiber aber, der hier bereits von 1923 bis 1934 als GMD gewirkt hatte, sagte schließlich ab. Nun zögerte auch die Klose, die in Berlin so populär wie heute ein Popstar war, den Schritt zu vollziehen. Die seit langem  vom Markt verschwundene Tageszeitung Telegraf textete daraufhin im März 1955 auf der Titelseite: „Ganz ohne Kleiber geht die Chose nicht, ganz ohne Kleiber singt die Klose nicht“. Aber sie ist dann schließlich doch an ihr altes Haus zurückgekehrt, weil sie es als ihre künstlerische Heimat betrachtete. Mit dem Bau der Mauer verließ sie die geliebte Stätte und trat nur noch einige Male im Westteil der Stadt auf. Margarete Klose akzeptierte die Situation, wie sie nun eingetreten war. Sie begann zu unterrichten und übernahm später eine Professur am Mozarteum in Salzburg. Ich hatte sie schon einige Jahre vorher kennengelernt. Wenn sie nun von der Vergangenheit sprach, tat sie es immer wieder in tiefer Dankbarkeit. In Erinnerung  geblieben  ist mir der  Satz: „Es war eine wunderbare, große Zeit“.  Am 14. Dezember 1968 erlag sie in Berlin einem Schlaganfall.  Es gilt, eine wunderbare, große Menschendarstellerin nicht zu vergessen. Karl Klebe (Red. G. H.)

 

Margarete Klose/ Künstlerpostkarte/ Bach-Cantatas/Manfred Krugmann

Margarete Klose, die auf dem Berliner Friedhof am Olympiastadion begraben liegt, ist glücklicher Weise reich dokumentiert (ein Blick zu jpc oder Amazon zeigt manche Wiederauflagen, die website von cantabile-subito.de listet die meisten ihrer Dokumente auf). Ihr Orpheus ist sogar in Deutsch und Italienisch erhalten (was Historienkenner Heiko Cullmann in Frage stellt – ich meine aber, es gibt einen deutschsprachigen Orpheus von ihr, oder?), ihr Adriano und vor allem ihre Ortrud neben Franz Völker gehören zu meinen absoluten Lieblingsaufnahmen ebenso wie ihre Strauss´sche Klytämnestra, ihre Brangäne oder Waltraute. Auch für mich, der ich das Glück hatte, sie noch in ihren letzten Auftritten in West-Berlin zu erleben und dank Frida Leider auch kennen zu lernen, hat sich ihre wunderbare, unglaublich persönliche Stimme in die Erinnerung eingebrannt. Besonders – und gar nicht zentral in ihrem Spektrum – sind mir ihre Monteverdi- und Händel-Aufnahmen, aber auch die Brahms-Lieder. Schuberts „Du bist die Ruh“ oder von Strauss „Ruhe meine Seele“ haben auch heute noch zeitlose Gültigkeit. Dankenswerter Weise hatte die französische EMI in ihrer Edition Les Introuvables du Chant Wagnerien sie reichlich aufgeführt, eine weitere Electrola-LP „Das musikalische Selbstporträt“ lässt sie sogar mit ihrer tiefen Sprechstimme zu Worte kommen. Ihre deutsch gesungene Gräfin in der Pique Dame neben der Grümmer bleibt in Erinnerung. Aber auch das Heitere lag ihr: Ihre Lady Pamela im Frau Diavaolo ist ebenso komisch wie ihre Frau Reich oder die Baronin im Wildschütz. Lieder gab es auch auf der inzwischen verschwundenen Urania-LP geraubter Aufnahmen aus dem Reichsrundfunks Berlin, die in Teilen sich auf der Preiser LP/ CD wiederfinden. Aber vielleicht das beeindruckendste Dokument ist ihre Mitwirkung in der Furtwänglerschen Matthäuspassion 1950, die Archipel noch einmal in hervorragendem Klang veröffentlicht hatte. Die profunde Aussage, die tiefe Gläubigkeit in den Auftritten der Altpartie gehen mir wie die ihrer jüngeren Kollegin Marga Höffgen tränentreibend ans Herz. Was für eine Stimme. Geerd Heinsen

 

Zum Thema Orpheus mit der Klose schreibt unser Leser Carl Meffert: Zu der im Beitrag Nr. 8 genannten Aufnahme von Glucks „Orfeo ed Euridice“ kann ich mitteilen, dass es sich um eine Schallplattenaufnahme (in italienischer Sprache) für die ‚American Sound Corporation‘ in Belleville/New Jersey handelt, die lt. Beilageheft an einem einzigen Tag (2. 3. 1952) in Berlin entstand und unter dem Label ‚Urania‘ 1952 in den USA auf drei LPs veröffentlicht wurde.Dies ist m. W. auch die einzige Aufnahme, die eine eigene Sängerin – Fia Fleig von der Städtischen Oper Berlin – für die Rolle des ‚Seligen Geistes‘ im 2. Akt mit der Arie „Quest‘ asilo di placide calme“ einsetzt, was der hier eingespielten (französischen) Fassung von 1774 entspricht, wo Orpheus Eurydike erst am Ende des 2. Aktes sehen darf. Diese Praxis wurde bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts – hauptsächlich in Frankreich – beibehalten; z. B. sangen bei den Salzburger Festspielen 1948 unter Herbert von Karajan Maria Cebotari die ‚Eurydike‘ und Elisabeth Schwarzkopf den ‚Seligen Geist‘. Dass heutzutage beide Rollen von einer Sängerin gesungen werden, geschieht wohl den ‚Eurydike‘-Interpretinnen zuliebe, die nun noch eine zusätzliche Arie (ausser „Che fiero momento! Che barbara sorte!“ im 3. Akt) singen dürfen…Übrigens gab es 1955 einen deutsch gesungenen Querschnitt (LP / 30 cm) der ‚DGG‘ mit Margarete Klose, Anny Schlemm und Rita Streich, in dem ‚die‘ Schlemm die Arie des ‚Seligen Geistes‘ „Diese Auen sind seligem Frieden…“ singt; Artur Rother dirigierte den Chor des Bayerischen Rundfunks und drei verschiedene Orchester (Bamberger Symphoniker, Berliner Philharmoniker, Münchner Philharmoniker) – ich habe davon die Zweitpressung auf ‚Heliodor‘ von 1965. Von einer deutsch gesungenen Gesamtaufnahme mit Margarete Klose ist mir nichts bekannt. Carl Meffert

Köstlicher Flop

 

Das Jahr 2018 neigt sich dem Ende zu, und mit ihm geht auch das Rossini-Jubiläums-Jahr zu Ende. Kurz vor Toresschluss erschien bei Naxos Rossinis Oper Aureliano in Palmira in einem Mitschnitt vom Rossini-Festival in Bad Wildbad. Die Oper gehört zu meinen Rossini-Favoriten. Das ist einer der ganz wenigen Flops Rossinis – und der hat ihn Ende 1813 kalt erwischt, denn der junge Komponist war absolut im Aufwind und komponierte einen Super-Hit nach dem nächsten: La scala di seta, Tancredi und die Italienia in Algieri wurden schnell in ganz Italien nachgespielt. Und jetzt der endgültige Griff nach der Opern-Weltmacht, die erste ernste Oper für die Mailänder Scala! An seiner Seite der ebenfalls junge kongeniale Star-Librettist Felice Romani, der später die Texte zu Liebestrank und Norma verfassen sollte. Und dann der Flop! Kein Wunder, dass Rossini das Werk später nicht mehr mochte und viel  Material lieber nochmal woanders genutzt hat, unter anderem für den Barbiere di Siviglia.

Doch ganz verschwand das Werk im 19. Jahrhundert nicht von den Bühnen. Erstaunlicherweise wurde es später in Lissabon und London erfolgreich aufgeführt. Oder doch nicht so erstaunlich? Kommt der wenig effekthascherische, aber sehr emotionale Aureliano bei introvertierteren Portugiesen, Engländern und besser an, während er heißblütige Italiener kalt lässt? Das mag klischeehaft klingen, aber die stille Kammeroper scheint außerhalb Italiens wirklich mehr anzusprechen. Denn auch in Deutschland funktioniert er – das ist schon die zweite Aufführungsserie aus Wildbad, die nun auf CD vorliegt – und mit Abstand die bessere.

Mezzo ist besser: Diesmal hat man nämlich den Arsace, der ursprünglich von einem Kastraten gesungen wurde, nicht mit einem Countertenor besetzt, sondern von einer Mezzosopranistin. Und auch wenn Marina Viotti so ihre Schärfen in den Höhen hat, ist sie doch um Dimensionen besser als Männer in dieser Rolle, Manch einer mag die opulentere Aufnahme von 2010 unter Maurizio Benini bei Opera Rara vorziehen, die mir aber zu steif und repräsentativ klingt; grade das Kammermusikalische, Intime kommt hier in diesem Mitschnitt gut Geltung; alle Solisten singen passabel bis ausgezeichnet.

Schade dass der Camerata Bach Choir aus Poznan hier bei so wichtigen Aufgaben etwas kläglich klingt und der einst so bewunderte Hirten-Solo-Chor kaum Wirkung entfaltet, und dass dann am Ende doch so ein bisschen der letzte Schliff fehlt.

Es überwiegt die Freude: Die meisten ernsten Opern aus Wildbad haben eine gewisse Eckigkeit und Kantigkeit, die stört; es fehlt dieser Hauch gelassener Eleganz, den die ernsten Opern Rossinis unbedingt brauchen, um wirklich perfekt zu klingen. Vielleicht sind deshalb die buffe aus Wildbad fast immer großartig und überschatten die serie.

Alles in allem ist das aber Meckern auf hohem Niveau; es überwiegt bei mir doch die Freude, dass dieses schöne Werk nun für einen erschwinglichen Preis und sensibel dirigiert auf dem Markt erhältlich ist (Gioachino Rossini: Aureliano in Palmira mit Juan Francisco Gatell, Silvia Dalla Benetta, Marina Viotti, Ana Victoria Pitts, Virtuosi Brunensis, Jose Miguel Perez Sierra; Naxos 2CD 8719659-60). Matthias Käther

UNTERSCHÄTZTE HANDLUNGSTRÄGER

 


Eine Opernaufführung verdankt ihren Erfolg nicht den Rezitativen, eine kommerzielle CD-Aufnahme der besten Sprechgesänge wird es nicht geben. Schon im 17. Jahrhundert galt das Rezitativ als potenziell langweilig, als Handlungsträger ist es allerdings unerlässlich und Triebfeder des musikalischen Dramas. Wer heutzutage mediale Aufregungen und Pseudoskandale verfolgt, der könnte den Eindruck erhalten, dass das Modell Rezitativ plus Arie eine passende Grundlage für eine zeitgenössische politische Oper sein könnte, bei der die ariose Selbstdarstellung des Egos im Affekt überdeckt, was sich tatsächlich an Wahrheitsgehalt nebensächlich für die Mehrheit im Rezitativ versteckt. Zeit für eine Ehrenrettung.  Daniel Rilling studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und italienische Literaturwissenschaft an der Universität Heidelberg. 2012 begann er seine Dissertation über Händels Opernrezitative, die nun 2018 im be.bra.Wissenschaftsverlag unter dem Titel Die Rezitative in Händels Oper vorliegt. Betreut wurde diese Arbeit von der renommierten Professorin Silke Leopold. Betrachtet werden die kompositorischen Mittel bei der Vertonung der Librettos im Kontrast als auch im Zusammenspiel mit bereits bestehenden sprachlichen Akzentuierungen des Opern Textes. Die Analyse der musikalischen Interpretation erfolgt überdies vor dem Zusammenhang der Verortung im dramatischen Geschehen anhand dreier Elemente: Vers, Rhythmus und melodische Gestaltung. Die Kapitel handeln u.a. von versgebundener Rezitation und die Vertonung der Vers-Anfänge und der Vers-Enden, die Ausdeutung der Verse durch Enjambements und Zäsuren bzw. durch Rhythmisierung, Melodik und Harmonik hinsichtlich Frage- und Schlusskadenzen, Akkordbrechung, Tonleiter und Intervalle und die Verwendung entfernter Tonarten in Grenzsituationen sowie eine Betrachtung von Rezitativ und Szene im Kontext, bspw. bei Monologen, Dialogen und Schlussszenen. Rillings umfangreiche Dissertation bietet  Informationen und Analysen für Experten und Praktiker, 337 Notenbeispiele bei 367 Seiten Umfang verleihen dem Text musikalische Prägnanz. (ISBN 978 3954 102211) Marcus Budwitius

Alagna mit blasser Partnerin

 

Eine Aufnahme von Emma Calvé, für deren Stimmbänder Jules Massenet die Anita in der Kurzoper La Navarraise komponiert hatte, ist in dieser Partie nicht überliefert, wohl aber Carmen und anderes, und sie lassen eine dunkel timbrierte, aber auch zu Sopranhöhen aufsteigende Stimme hören. Deshalb ist eher nachvollziehbar, dass Elina Garanca gemeinsam mit Roberto Alagna das Werk konzertant aufführte, es davon auch eine Aufnahme gibt, die aber nicht auf den Markt kam (youtube). Zudem ist an Aufnahmen kein Mangel – die Einspielungen mit Marilyn Horne oder Lucia Popp sind ja noch greifbar (Decca/ Sony). Und die schöne alte mit der wunderbaren Genevieve Moizan und Alain Vanzo vom französischen Rundfunk 1963 (zuletzt auf Chant du Monde) sollte nicht vergessen werden.

Jetzt gibt es bei Warner Classics eine 45 Minuten dauernde CD, auf der Aleksandra Kurzak in der Rolle der Anita dem Gatten auch Gesangspartnerin ist. Verismo-Experte Alberto Veronesi begleitet mit dem Opera Orchestra of New York und kostet mit diesem nicht nur das wunderschöne Nocturne aus, sondern auch die Mitwirkung von Glocken, spanisches Kolorit und Schlachtenlärm, Elemente, die einen Kritiker zu dem scherzhaft gemeinten Untertitel Cavalleria espanola inspirierten. Wie viele Opern Massenets wurde auch diese im Ausland uraufgeführt, in London und mit großem Erfolg. Königin Victoria lud das Ensemble nach Windsor zu einer Privatvorstellung ein.

Das Stück, das es zwar auf zwei Akte, aber nur auf eine Dreiviertelstunde Spieldauer bringt, spielt im Baskenland zur Zeit eines der vielen Kriege zwischen Carlisten und Liberalen. Letztere stehen kurz vor einer endgültigen Niederlage. Der Soldat Araquil und die arme Anita aus Navarra lieben einander, der reiche Vater Araquils will aber nur eine Schwiegertochter mit einer Aussteuer von mindestens Douros tolerieren. Als Anita den Anführer der Liberalen Garrido sagen hört, er würde jede Summe an denjenigen zahlen, der den Tod seines Feindes verursachen könnte, eilt Anita ins feindliche Lager und ermordet denselben. Araquil indessen denkt, sie sei ihm untreu geworden, schließlich, sie habe sich an den Feldherrn verkauft, eilt ihr nach, wird verwundet und erfährt sterbend die Wahrheit. Anita wird wahnsinnig, und mit einer schrecklich grellen Lache, die das bezeugt, endet die Oper.

Was bereits für die jüngst erschienene CD mit Puccini-Duetten gilt, ist auch auf dieser CD nicht zu überhören. Die Stimme des Tenors ist viel reifer, d.h. auch farbiger, dramatischer und ausdrucksvoller als die des Soprans, der für Verismo-Partien wie diese an, wenn nicht über die Grenzen seines Vermögens gerät. Schön und innig gesungen ist das Gebet zu Beginn, verhuscht klingt der Sopran im ersten Duett mit dem Tenor, in ihrer Klage über die Höhe der Mitgift kann er in der Höhe nicht nach Hörerwunsch aufblühen und  versöhnt erst wieder im Duett mit dem Bariton mit feinem Sehnsuchtsklang, ehe er am Schluss, aber das soll dann wohl den beginnenden Wahnsinn ausdrücken, schrill wird. Perfekt gibt der Tenor die fiebrige Sehnsucht, die den Araquil beherrscht, wieder, agogikreich und zu dramatischen Aufschwüngen fähig. Garrido ist George Andguladze mit dumpfer Stimme, der auf die Mitgift versessene Vater Remigio wird markant von Brian Kontes verkörpert, in kleinen Partien gefallen Issachan Savage als Ramon und mit einem Soldatenliedchen Michael Anthony McGee als Bustamente. Bei Alberto Veronesi war 2018 das Stück, das man zu einem Zwilling von Cavalleria oder Pagliacci machen könnte, wie bereits erwähnt in den denkbar erfahrensten Händen (Warner Classics 01900295605704). Ingrid Wanja     

Ivor Novellos „Dancing Years“

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Die Musik- und Musiktheaterwerke von Ivor Novello (1893-1951) sind außerhalb Großbritanniens kaum bekannt – ganz im Gegensatz zu denen seines Kollegen und Konkurrenten Noel Coward, dessen Operetten (Bitter-Sweet etc.) auch an den Broadway transferierten und der später selbst mit seinen Songs in Las Vegas auftrat. Ivor Novello trat zwar auch in seinen eigenen Stücken an, aber er tat dies kaum außerhalb des Londoner West End. Dort schuf er in den 1930er Jahren fürs Theatre Royal Drury Lane eine Serie von spektakulären „Romantischen Operetten“, die zu den größten Erfolgen der Epoche gehören und bis heute Meilensteine der britischen Theatergeschichte sind. Eines der Drury-Lane-Werke nimmt dabei eine besondere Position ein: The Dancing Years, 1939 uraufgeführt und danach in England vielfach wiederaufgenommen, u.a. als The Dancing Years on Ice und als Filmversion aus den 1950er-Jahren. Jetzt ist die erste Gesamtaufnahme auf zwei CDs herausgekommen bei Jay Records, dirigiert von John Owen Edwards (keine Bestellnummer ersichtlich).

Ivor Novello hatte zwei Karrieren, eine als Filmschauspieler (u.a. in Hitchcocks The Lodger), wo er verstörend attraktive, aber ‚schwierige‘ junge Männer spielte. Novellos klassisches Profil war dabei sein Markenzeichen. Zum anderen fing er früh an, Lieder zu schreiben, die schon im Ersten Weltkrieg populär wurden. Als er anfing nicht nur Lieder, sondern ganze Bühnenwerke-mit-Musik zu schreiben, war die Schwierigkeit, dass zwar alle Novello in diesen Stücken sehen wollten, er aber nicht singen konnte. Die Folge war, dass die Haupthits immer von Sopranen dargeboten wurden, die Tenöre und Baritone Staffage blieben und der männliche Star natürlich Ivor Novello in einer Sprechrolle war. So ist das auch in The Dancing Years.

Es erzählt kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und nach dem Anschluss Österreichs 1938 die Geschichte einer Wienerwalzerkomponisten namens Rudi Kleber (Ivor Novello), dessen Karriere 1911 beginnt. Er wird berühmt mit Werken, die er für die Primadonna Maria Ziegler (Mary Ellis) schreibt, mit der ihn eine komplizierte Liebesgeschichte verbindet, die dazu führt, dass Maria ein Kind von ihm bekommt, das aber verheimlicht und stattdessen jemand anderen heiratet. Auf dem Höhepunkt seines Ruhms wird Rudi mit Aufführungsverbot belegt. Wir schreiben das Jahr 1938. Er wird von den Nazis verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Ihm droht die Todesstrafe, weil er anderen jüdischen Künstlern bei der Flucht geholfen hat. Aber in letzter Sekunde schafft er Maria, die inzwischen mit einem einflussreichen Politiker verheiratet ist, Rudi zu befreien und ihm selbst die Flucht aus Österreich zu ermöglichen.

Damit ist The Dancing Years – neben dem viel späteren Musical The Sound of Music – eines der wenigen Werke des Unterhaltenden Musiktheaters, das die politische Situation der späten 30er-Jahre nicht nur aufgreift, sondern auf der Bühne ausspielt. Und dies zu einem Zeitpunkt, wo viele Operettenkomponisten tatsächlich auf der Flucht waren, u.a. Mischa Spoliansky nach London oder Emmerich Kálmán nach New York. Ganz zu schweigen von Fritz Löhner-Beda (Das Land des Lächelns), der 1939 bereits im KZ saß.

Offensichtlich wurde das Stück im Großdeutschen Reich niemals gespielt. Nach dem Krieg wurde auch in England das Nazi-Element der Handlung entfernt, weil das sicherlich in einer „Eisrevue“ kaum gepasst hätte. Man machte aus den Dancing Years eine Art britisches Im weißen Rössl. Die Filmversion spielte dann praktischerweise auch gleich in St. Wolfgang, das Rössl-Hotel sieht man mehrfach im Hintergrund.

Es gab in der Vergangenheit bereits diverse sehr gute Aufnahmen der Highlights aus den Dancing Years, u.a. 1969 eine Aufnahme mit Sopran June Bronhill. Von Ivor Novello und seinem Uraufführungsstar Mary Ellis gibt es ebenfalls wunderbare Aufnahmen, in denen auffällt, dass kurze Dialogszenen inkludiert wurden, vor allem, damit man Ivor Novello selbst hören kann. In diesen Dialogszenen entfaltet sich eine enorme Dramatik, man ist als Hörer sofort in einen Kontext versetzt, in dem die rauschhaft schöne Musik ihre volle Wirkung entfalten kann. Das gilt besonders für das melancholische „My Dearest Dear“, das die Liebesbeziehung zwischen Rudi und Maria auf den Punkt bringt. Novello und Ellis präsentieren das auf unvergleichliche Weise (man kann das auf YouTube nachhören).

Nun also endlich eine vollständige Aufnahme, die dem Werk neue Aufmerksamkeit verschaffen könnte. Und die es auch Hörern außerhalb Großbritanniens erlaubt, das Stück vollständig kennenzulernen. Mit Sopran Valerie Masterson in der Rolle der Primadonna, die alle berühmten Titel singen darf: „I Can Give You the Starlight“ und „Waltz of My Heart“ zum Beispiel. Selbstverständlich auch „My Dearest Dear“. Woran man auch sieht, wie alt die Aufnahme uist.

Im Booklet erfährt man, dass die Aufnahme bereits 1995 in den Abbey Road Studios entstanden ist, also zu einer Zeit, als Miss  Mastersons Stimme in perfekter Form war. Sie klingt durchweg überzeugend in dieser Einspielung. Aber … und ja, es gibt ein großes Aber: In dieser Gesamtaufnahme fehlen sämtliche Dialoge und Verbindungsszenen, was vor allem deshalb auffällt, weil die gesamte Untermalungsmusik eingespielt wurde, ohne dass Text darüber gelegt ist. Man hört also zwischen den berühmten Nummern endlos lang ausgestreckte „Incidental Music“ mit endlosen Wiederholungen, die präsentiert wird wie Konzertstücke, aber niemals für diesen Zweck komponiert wurde.

Statt Dialog gibt’s eine 2016 aufgenommene Erzählerin, die Texte von Musical- und Operettenhistoriker Kurt Gänzl vorträgt. Janie Dee tut das sehr gut, aber im Erzählertext bleibt die politische Seite der Urfassung ausgeklammert. Übrig bleibt nur eine diffus in der Vergangenheit angesiedelte Walzerromanze zwischen Rudi und Maria. Und das ist wirklich bedauerlich, weil es dem Stück elementare Wirkungsmöglichkeiten nimmt. Und weil es auch genau den Punkt ausblendet, der The Dancing Years von allen anderen Operette (auch denen von Ivor Novello) unterscheidet: die zeitgeschichtliche Relevanz.

Ivor Novello: „The Dancing Years“/ zeitgenössisches Foto aus der Londoner Aufführung 1941/ Clarke

Gerade dieser historische Hintergrund macht die Musik oftmals beklemmend. Dabei hilft es nicht wirklich, dass Dirigent John Owen Edwards mit dem National Symphony Orchestra auch nicht gerade jemand ist, der einer bewusst überzuckerten Musik zu echtem Glanz verhilft. Da fehlt (in meinen Ohren) jedes Gespür für Rubato und Steigerung; Dinge, die man u.a. bei Emmerich Kálmán hört, als dieser nach seiner Ankunft im New Yorker Exil ein Konzert mit dem NBC Orchestra mit eigenen Werken dirigierte. (Davon gibt es eine Aufnahme.) Wenn man hört, wie flexibel Kálmán mit Dreivierteltaktmusik umgeht und wie grandios er auf die Höhepunkte zusteuert mit Accellerandos, dann weiß man, was bei Owen Edwards fehlt.

Die restliche Besetzung bei Jay Records ist ordentlich, gleichwohl David Fieldsend kein ernsthafter Ersatz für Novello in der männlichen Hauptrolle ist. Katrina Murphy singt ‚die andere Frau‘ im Stück, das Mädchen Gretl. Sie tut das charmant, aber für ihre große Nummer „Primrose“ fehlt ihr der hörbare Spaß, den man mit diesem Stück haben kann. (Ebenfalls nachzuhören auch diversen älteren Aufnahmen.)

Es tut mir persönlich wirklich leid, dass ich zu dieser Aufnahme wenig Positiveres schreiben kann, denn ich hätte mir gewünscht, dass diese neue Einspielung vor allem in Deutschland und Österreich Hörer davon überzeugt hätte, The Dancing Years endlich zur Kenntnis zu nehmen und vielleicht auf die Bühne zu bringen – in der Wiener Volksoper zum Beispiel. Die Jay-Records-Aufnahme wird das wohl kaum anstoßen.

Übrigens: Ivor Novello tritt als historische Figur in dem Hollywoodfilm Gosford Park auf, dort gespielt von Jeremy Northam. Der singt im Film auch das Lied „My Dearest Dear“ auf eine Weise, die zeigt, wie man heute mit Novello umgehen und damit maximalen emotionalen Effekt erzielen kann. Es ist schade, dass Mr. Northam in dieser Aufnahme nicht die Rolle von Rudi Kleber übernommen hat; es hätte super gepasst. Denn das Stück braucht Star Quality, und das Stück hatte bei der Uraufführung die entsprechende Star Quality. Kevin Clarke

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Maxim Michajlov

 

Am 21. November 2018 starb der russische Bass Maxim Michajlov. Den Namen seines mythischen Vorgängers im Ensemble des Bolschoj-Theaters (Maxim Dormidontovič Michajlov, 1893-1971), trug er zu Recht – er war nämlich dessen Enkel. Sein Vater, Igor Maximovič Michajlov (1920-1983), war – eine wohl einmalige Dynastie – ebenfalls als Bass Mitglied des Bolschojensembles; er hat weniger Spuren als sein Vater und sein Sohn hinterlassen, ist aber immerhin auf zwei offiziellen Melodija-Gesamtaufnahmen der 50erj Jahre zu hören (als König in Aida unter Melik-Pašaev 1954 und als Zareckij in Onegin unter Chajkin 1955).

Maxim Michajlov der Jüngere wurde 1962 in Moskau geboren. Er schlug zunächst nicht die Sängerlaufbahn ein, sondern studierte am Moskauer Gnessin-Institut Posaune. Ab 1981 war er Soloposaunist im Bolschoj-Orchester, und da fiel er dem Bassisten Artur Ejzen auf (ob er bei Proben mitgesungen hat?). Unter Ejzen absolvierte er nun parallel zu seiner Posaunistenanstellung eine Gesangsausbildung und wechselte – auch dies wohl ein Unikat – 1987 fliegend vom Orchester auf die Bühne. Im selbem Jahr gewann er den 2. Preis des Glinka-Gesangswettbewerbs. Von da an sang er, wie auf der Homepage des Bolschoj-Theaters nachzulesen ist, praktisch das gesamte Bassrepertoire und einige Bassbaritonpartien. Explizit erwähnt werden Sarastro, Figaro (Nozze), Golaud, Méphistophélès, Ramfis, Susanin, Gremin, Kontschak, Varlaam, Chovanskij, Sobakin, Dodon und der Baron (Rachmaninovs Geiziger Ritter) – eine Tendenz ins Charakterfach lässt sich erkennen, eben eher Varlaam und Chovanskij und nicht oder seltener Boris, Pimen und Dosifej. Darin liegt eine klare Parallele mit seinem Lehrer Artur Ejzen, mit dem ihn neben der beeindruckenden, im Zweifelsfall eher expressiven als balsamischen Stimme auch ein herausragendes darstellerisches Talent verband. Das soll nun aber nicht heißen, dass Michajlov nicht auch mit Rollen wie Zaccaria oder Banco reüssiert hätte.

Seine internationale Karriere begann 1993 mit dem 1. Platz im Belvedere-Wettbewerb. Er hat von der MET über Covent Garden bis zur Scala praktisch an allen großen Opernhäusern gastiert – nicht immer in großen Partien, aber er wusste eben jede Rolle einprägsam zu gestalten. Dabei reichte sein Repertoire von Giove (Cavallis Calisto, Wien 1998) über Masetto (Covent Garden 1996), Sarastro (Wien 1996), Banco (Oslo 2000) bis zu Polonius (Thomas, Hamlet, MET 2010); vor allem aber war er natürlich im russischen Repertoire häufiger Gast „im Westen“ (Dodon in Graz 1996/7, Müller in Dargomyschskijs Rusalka in Wexford 1997, Nikititsch und Tschernjakovskij unter Abbado im Salzburger Boris 1998, Pope in Lady Macbeth in Bruxelles 1999 und an der Scala 2007 u.v.m.). Eine besonders enge Zusammenarbeit verband ihn mit der Dirigentenfamilie Jurovskij. Michajlovs Repertoire umfasste auch zeitgenössische Partien; sein bärbeißig-kraftvoller Lear in Sergej Slonimskijs Shakespeare-Oper unter Vladimir Jurovskij z.B. ist in der Videosammlung des Moskauer Tschajkovskij-Konzertsaals vollständig zu sehen (https://meloman.ru/concert/korol-lir/).

In den letzten Jahren arbeitete Michajlov auch als Regisseur; am Northern Lights Music Festival in Minnesota inszenierte er Gianni Schicchi, I Pagliacci und Evgenij Onegin.

Meine eigenen Live-Erlebnisse mit Maxim Michajlov begannen mit seinem Dolochov in Krieg und Frieden 2005, zum letzten Mal habe ich ihn als Nikitisch und Offizier im Boris im Juni 2018 gehört, beides an der Bastille und unter Vladimir Jurovskij. Unter dem selben Dirigenten war er im November 2016 in der konzertanten Aufführung von Prokofjevs Semjon Kotko am Concertgebouw Amsterdam der zwielichtige Tkatschenko, dem er auch in diesem Rahmen schillerndes Profil zu verleihen mochte, vom griesgrämigen unwilligen Schwiegervaterbuffo in den ersten Akten bis zum rücksichtslosen Verräter in der zweiten Hälfte. Solche zwischen komisch und bedrohlich lavierenden Charaktere lagen ihm besonders gut (ich erinnere mich an seinen Lady Macbeth-Polizeichef in Antwerpen 2014), aber auch im Buffofach war er ein Vergnügen (etwa als Teufel in Tschajkovskijs Pantöffelchen in Covent Garden 2009).

Über die Todesursache schweigt sich auch die Bolschoj-Homepage aus; es ist in jedem Fall ein Verlust (Foto Mariinski Theatre St Petersburg). Samuel Zinsli  

Hana Janku

 

Für mich als Berliner Operngänger war Hanna Janku in den Siebzigern der Deutschen Oper eine Offenbarung. Ich werde nie  vergessen, wie ich in eine bis dahin doch eher unterbesetzte Gioconda-Vorstellung ging und mich der dramatischen Wucht und der belkantistisch angelegten Titelpartie der Janku ausgesetzt sah – eine ehrliche, unverstellte Sopranstimme voller Farben mit vielen, vielen Nuancen, mit diesem typisch slawisch-nasalen „Schnaufer“ in der Höhe, mit einer beispiellosen Attacke furchtlos in die Noten hinein (wenngleich manchmal in späteren Jahren auch sehr charakteristisch in der Höhe geschleift wurde), mit einer durchschlagenden Kraft eben besonders in der Höhe, wo die Stimme in anderen Partien auch durchdringend sein konnte. Vor allem aber war man erschlagen von der Identifikation der Janku mit ihren Rollen. Und da gab es viele nachhaltige, darunter die in der stockfinsteren alten Karajan-Produktion des Trovatore, in der sie eine Leonora “ hinlegte“, dass einem der Atem stockte. Hier herrschten Kunst und vor allem solider, beherrschter Gesang, kein Säuseln, kein Betrug, sondern unverstellte Rollenauslebung.

Hana Janku (25. Oktober 1940 – 28. April 1995) wurde in Brünn geboren und erhielt ihre Ausbildung ebendort. Laut Kutsch-Riemens gab sie ihr Debüt als Gräfin in der tschechischen Oper Lucerna von Novak 1959 ebenfalls in Brünn, wo sie in derselben Spielzeit als Trovatore-Leonora, als Turandot, Smetanas Libussa und Dvoráks Rusalka auftrat sowie die Milada im Dalibor  von Smetana sang – keine leichte Kost, aber für Jankus Stimme Erfolgspartien für lange Zeit. Dies führte zur Verpflichtung an die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf, aber auch an die Deutsche Oper Berlin. Gastspiele brachten die nun vielgefragte Sopranistin, vor allem als gesuchte Turandot, an die internationalen Häuser von Wien, Buenos Aires, San Francisco, Mexico City und andere  Zentren.  Sie stand nun in der vordersten Reihe der Spinto-Sängerinnen ihrer Zeit, wobei besonders ihr Auftritt als Tosca an Covent Garden nachhaltige Bewunderung hinterließ, aber auch die Festspiele von Verona und Caracalla versicherten sich 1973 und 1974 ihrer Mitwirkung. Spanier werden sich an ihre sensationelle Forza­-Leonora  in Barcelona  erinnern.  Strauss‘ Ariadne und natürlich auch viele Konzerte rundeten ihr Repertoire ab.

Aber was bleibt, sind – zumindest für den Berliner Opernfan – diese ganze wunderbare Reihe von Bühnenfiguren, denen Hana Janku unverwechselbares Leben einhauchte: ihre Forza-Leonora „, ihre herrliche Gioconda, Tosca, Trovatore-Leonora (welche Leidenschaft und welches Temperament!), ihre Turandot, ihre anrührende und besonders in den zarten Tönen überzeugende Elisabetta im Don Carlo und ihre fulminante, unverwechselbare Lady Macbeth ­ tschechische Entschlossenheit und italienisches  Feuer verbanden sich zu einem atemberaubenden Portrait. Ihre Kundry blieb für mich Geschmacksache, und Kundry war auch eine ihrer  letzten Partien in Mannheim, als ihre lange, schreckliche Krankheit bereits das Letzte von ihr forderte. Hana Janku starb daran, und die Opernwelt ist um eine große Gestalterin und vor allem Sängerin der alten Schule ärmer. Sie gehörte einer Ära an, in der Spinto-Soprane mit Persönlichkeit genauso selbstverständlich waren wie erste italienische Tenöre, aber selbst darunter nahm sie einen Ausnahmeplatz ein. Was sind wir, die sie erlebt haben, doch reich von ihr beschenkt worden! S. L.

Liebesleid und Vogelgezwitscher

 

An neuen aAufnahmen der Mélodies von Claude Debussy besteht kein dringender Bedarf. Trotzdem hat sich die britische Sopranistin Lorna Windsor im Januar und Februar in Perugia daran gemacht, eine beträchtliche Auswahl aufzunehmen (Brillant Classics 95741). Hundert Minuten lang durchschreitet sie auf zwei CDs Debussys Liedschaffen, angefangen von der Nuit d’étoiles bis zu Noël des enfants qui n’ont plus de maison, von Debussys ersten Lied bis zu seinem letzten. Dazwischen Lieder aus dem Album für Madame Vasnier, Beispiele aus den Fêtes galantes, den Chansons de Bilitis, den Ariettes oubliées auf Texte Verlaines mit den reizenden Green und Spleen, die Trois poèmes de Stéphane Mallarmé. Leider kann die Sopranistin ein gewisses Gleichmaß des Ausdrucks nicht überspielen und bleibt bei aller vorsichtigen Annäherung manchmal zu allgemein und wenig distinktiv im Klang, dagegen nimmt ihr feinsinniger Begleiter Antonio Ballista immer wieder durch nuancierten und visionären Ton gefangen und seine Fähigkeit, die Chansons aus der Dichtung entstehen zu lassen. Glücklicherweise kommt wenige Tage nach diesem eher frustrierenden Höreindruck eine andere Einspielung der Debussy-Lieder ins Haus, neben der Lorna Windsor eindeutig das Nachsehen hat.

Ebenfalls auf zwei CDs singen Sophie Karthäuser und Stéphane Degout rund 40 Lieder Debussys, zwischen denen einige wenige Klavierstücke eingestreut sind, sie begleitet von Eugene Asti, er von Alain Palnès (HMM 902306.07).  Schöne Ausstattung, Beiheft mit sämtlichen Liedtexten. Die belgische Sopranistin Sophie Karthäuser singt gleich die Nacht der Sterne, Nuit d’étoiles, auf einen Text von Théodore de Banville mit der auch diese Edition beginnt, mit einer magischen Klarheit, klanglichen Brillanz und Schönheit. In der Folge fallen ihr drei Lieder der Fêtes galantes zu, darunter das berühmte Clair de lune, die Chansons de Bilitis, und die unter dem Eindruck der Bayreuth-Besuche 1888 und 1889 entstandenen Cinq Poèmes de Charles Baudelaire, wobei die spontan wirkende Natürlichkeit, die Durchdringung und die Leichtigkeit der Sopranistin überwältigen, die diese Liebeserinnerung innig, aber unverkitscht singt. Schwer, fast düster, in der grobkörnigen Lasur durchaus elegant singt Stéphane Degout die Trois Mélodies nach Paul Verlaine, und es ist sofort klar, dass die Zuteilung der Lieder nur so sein kann. Degouts schwermütig dunkler Klang, sein wuchtiges Agieren ist wie gemacht für die Trois chansons de France, Trois Ballades de François Villon, Trois Poèmes de Stéphane Mallamé und die Le Promenoir des deux Amants. Manchmal wirkt Degouts Wucht fast zu überstark, doch dann ist er, wie in den Trois Chansons de France. zu leuchtender Sanftheit fähig. Die beiden ausgezeichneten Sänger lassen diese Auswahl zu einem Erlebnis werden, wie sie Silben ausdeuten, dem Text eine Bedeutung geben, klang- und wortsensibel agieren ist von sublimem, manchmal sinnlichem Reiz.

Die Aufnahmen entstanden Ende 2017 und Anfang 2018 in Berlin, wo Sophie Karthäuser bereits im Jahr zuvor, ebenfalls mit Eugene Asti, Le Bal des Animaux aufgenommen hatte, wofür sich harmonia mundi (902260) eine besonders hübsche Ausstattung hat einfallen lassen. Wen finden wir da nicht alles auf diesem „Ball der Tiere“, Ravels Pfau stolziert zwischen Lalos Nachtigallen, Faurés Schmetterling flattert zwischen Chabriers kleinen Enten und Zikaden, Hahns Nachtigall, Chaussons Kolibri, dem kleinen Vögelchen der Viardot und den Marienkäfer Bizets, und Poulenc entlässt gleich eine ganze Menagerie vom Dromedar und der tibetische Ziege bis zur Maus, dem Grashüpfer und dem Floh auf diese Wiese. Dieses musikalische Bestiarium ist eine rein französische Angelegenheit, inklusive der Zugereiste und Offenbach und Rossini als Franzosen ehrenhalber, wobei man inzwischen festgestellt hat, dass Rossini gar nicht der Autor des Duetto buffo di due gatti ist. Karthäuser singt wieder mit Charme und der Kunst der Anverwandlung. Und es gelingt ihr fast immer, jedem dieser oftmals sehr rasch vorbeifliegenden oder hüpfenden Tiere ein Bild zu geben. Kurze Impressionen, Salonpiècen, Charakterstücke und Romanzen wechseln sich ab, darunter das Katzenduett Rossinis – gemeinsam mit Dominique Visse höchst charaktervoll gemiaut – Offenbachs frühe Vertonung einer Fabel von Jean de la Fontaine Le Corbeau et le Renard, die bereits spätere Comique-Couplets ankündigt, Bizets raffinierten Walzer La Coccinelle und Faurés Strophenlied op. 1 Le Papillon et la Fleur. Rolf Fath

Erstmals seit 1867

 

Der Hund ist der beste Freund des Menschen. Auch Maïma hat solch einen guten Freund, dazu noch einen anderen, Saëd. Beide wurden ihr von Soldaten entführt. Nun klagt sie auf dem Markt von Lahore ihrer besten Freundin ihr Leid. Doch auch diese hat ihr Päckchen zu tragen, vermutet sie doch ihren Geliebten Xaïloum unter den Revoluzzern, die gerade den Gouverneur aus seinem Palast stürzten. Den zehnten innerhalb eines Jahres. Da wird es dem Großmogul zu bunt und er bestraft sein Volk, indem er ihm einen Hund vor die Nase setzt. Der Köter als Regent. Das Lahore hat natürlich nicht mit dem märchenhaft-exotischen Lahore zu tun, in dem 17 Jahre später Massenet seinen Roi de Lahore spielen ließ, sondern zielt auf Jacques Offenbachs Pariser Gegenwart von 1860.

Am Weihnachtsabend betrat er als gefeierter Komponist – zwei Jahre zuvor hatte Orphée aux enfers an seinem eigenen Theater Premieren – die Portale der Opéra Comique, durch deren Bühneneingang er rund ein Vierteljahrhundert zuvor als 14jähriger Teenie-Cellist gekommen war. Zusammen mit Eugène Scribe und Henri Boisseau hatte er sich eine Satire ausgedacht, bei der es nicht wundert, das die Zensur bei der Freigabe gezögert hatte. Das sittenlose Treiben der Götter wurde nochmals gesteigert: Ein Hund im Titel, ein Hund auf dem Thron, ein Hund als Retter von Lahore. Bakouf ou Le chien au pouvoir, also Bakouf oder Der Hund an der Macht, erlebte ein paar Aufführungen, verschwand dann von der Bildfläche, bis ihn Jean-Christophe Keck wieder aufspürte und ihn Mariame Clément an der Straßburger Rheinoper in seine Hundehütte setzte, neben der sich praktischerweise gleich ein Behälter für Hundekotbeutel befindet.

Natürlich bot Offenbach für sein Debüt an der Opéra Comique alles auf. Er ist feinsinnig und geschmackvoll, amüsant und witzig in den Couplets, Liedchen, Ariettes, die von gewitzten Ensembles umarmt und kleinen Duos durchsetzt werden, sentimental in den Romanzen der jungen Liebenden, manches klingt noch so verschämt wie bei seinem Vorgänger Hervé, anderes im flüssigen Gesangsparlando so raffiniert, dass noch zwei Generationen von Opéra-bouffe-Nachfolgern darauf aufbauen konnten. Vielleicht fehlt der letzte Kick, der grandiose Ranschmeißer, doch der dritte Akt mit den Verschwörern hat es in sich, das sind großformatige, aber leichthändig aufgeblätterte Ensembleszenen von virtuoser Vertracktheit und Kunstfertigkeit, wie auch der instrumental ausgeleuchte Orchestersatz, vor allem das Vorspiel zum dritten Akt. Jacques Lacombe und das Orchester aus Mulhouse spielen das, nach einer gewissen Anlaufzeit, mit der nötigen Beweglichkeit

Offenbachs „Barkouf“ an der Opéra du Rhin Strasbourg/ Szene/ Foto wie auch oben  Klara Beck

Natürlich findet Maïma ihren Hund wieder. Es ist just jener Barkouf, den der Großmogul als Strafe für das widerspenstige Volk als Gouverneur einsetzt. Allerdings hatte sich Bababeck, Inbegriff des fiesen, schleimigen Hofintriganten, ebenfalls Hoffnung auf den Posten gemacht. Nachdem der Eunuch fast von dem Hund zerfetzt wurde und Bababeck erkennt, dass Maïma ein Händchen für ihren wiedergefundenen Barkouf hat und dieser geradezu freudig auf sie reagiert, setzt er sie zur Dolmetscherin und Handlangerin ein, die seine eigenen Worte, mit denen er das Volk drangsalieren will, als Worte des Hundes und somit Befehle des neuen Gouverneurs ausgeben soll. Doch Maïma handelt eigenständig, lässt Milde walten, begnadigt die Aufständischen, darunter Xaïloum, worauf das Volk voll des Lobes auf Barkouf ist. Der Hund als der bessere Mensch. Am Ende bekommt auch Maïma ihren entführten Freund wieder, den schmucken Offizier Saëb, der eigentlich Bababecks schwer an den Mann zu bringende Tochter Périzade ehelichen soll. Als Napoleon III und Eugénie posieren Maïma und Saed vor der Hundehütte.

Bis sie allerdings in Offenbachs Gegenwart ankommt, legt Mariame Clément einen langen Weg zurück. Der Markt in Lahore spielt sich in einem jener tristen Jubelhallen ab, die es vermutlich von Weißrussland bis Nordkorea gibt, wo die Frauen in stramm sitzenden Röcken und Blusen und uniformem orange-weiß alles für den Empfang des Großmoguls vorbereiten, derweil Bababeck im Hinblick auf sein neues Junggesellendasein seine Macht auskostet. Zunächst verkündet das Staatsfernsehen vom „König der Könige, Stern der Sterne“ und vom Missgeschick des Gouverneurs. Der Großmogul macht böse Miene, zeigt sich aber auch ganz locker tänzelnd auf der Showtreppe im „Grand Mogul“. Clément führt das aber nicht weiter aus. Julia Hansens Bühne ist wieder großartig. Ein deprimierender Raum mit Holzverkleidung, umgeben von dichten Regalwänden, deren fünfzehn Reihen bis oben hin dicht gefüllt sind mit Akten, die den Menschen geradezu um die Ohren fliegen. Ein Amtsdiener wuselt hin und her. Mit seinen quietschenden Schuhen ein hübscher Pausenfüller. Clément hat viele hübsche Ideen, wozu auch die Verschwörer gehören, die Barkouf töten wollen, weil er Unrecht riechen kann, und sich für ihr umstürzlerischer Tun die Masken von Hollande, Sarkozy und Macron und ihrer Minister umhängen. Gelächter. Angesichts der Gewaltausschreitungen in Paris hätte man sich giftigere Pfeile vorstellen können. Welche Masken werden die Sänger wohl in Köln tragen, wohin die Produktion anlässlich der Feiern zu Offenbachs 200. Geburtstag wandert?

Offenbach verlangt nach singenden Schauspielern, parlierenden Komödianten und agilen Buffi. Große Operngesten sind verpönt. Selten versucht er sich an den virtuosen Mustern Rossinis oder Aubers, doch die Dressur-Arie der Maïma fordert einen glitzernd reschen Koloratursopran, wie er Pauline Texier zur Verfügung steht, die bereits wie eine Verbindung von Olympia und Antonia klingt. Auch ihr Saëb ist ein gestandener Amoroso, dessen lyrische Zurückhaltung Patrick Kabongo mit zarter Empfindsamkeit umgibt. Stefan Sbonnik ist der Revoluzzer Xaïloum, der mit süßem Klitzekleintenor sein Motto, wonach ihm der Sinne nach Zerstörung stehe, ins Lächerliche abbiegt. Rodolphe Briand als Bababeck, Nicolas Cavalier als Großmogul, Fleur Barron als Balkis und Anaïs Yvoz als Schnurrbart tragende Périzade kommen groß heraus an diesem Abend, mit dem die Opéra du Rhin in das Jahr von Offenbachs 200. Geburtstag gleitet (7. Dezember 2018) .   Rolf Fath

Gianfranco Cecchele

 

Der beliebte und in seiner Zeit vielbeschäftigte italienische Tenor Gianfranco Cecchele ist am 12. Dezember 2018 verstorben. Nachstehend eine Zusammenfassung seines reichen beruflichen Lebens aus dem unersetzlichen Kompendium Kutsch/ Riemens.

Cecchele, Gianfranco, Tenor, * 25.6.1940 Galliera Veneta – 12. 12. 2018. Schüler von Marcello del Monaco in Treviso. Er gegann seine Karriere 1964 an der Oper von Catania und hatte bald große Erfolge an den führenden Opernbühnen der italienischen Halbinsel. Er sang an der Mailänder Scala (u.a. 1963 den Walter in Catalanis »Loreley«) und am Opernhaus von Rom, in Bologna, Neapel, Palermo, Parma, Turin, Venedig, Triest, beim Maggio musicale Florenz, bei den Festspielen in den Thermen des Caracalla in Rom und in der Arena von Verona, wo er in den Jahren 1967-68, 1977-79, 1984 und nochmals 1995 (als Radames)auftrat. Er gastierte an der Wiener Staatsoper, an der Covent Garden Oper London, an der Pariser Grand Opéra, in Brüssel, Marseille, Nizza, Monte Carlo, Barcelona, Sofia, Budapest, am Opernhaus von Köln, an den Staatsopern von Hamburg und München. In Nordamerika war er an den Opern von Chicago, Philadelphia und Montreal zu hören. 1965 wirkte er an der Oper von Rom in der Uraufführung der Oper »Wallenstein« von Mario Zafred mit. 1968 sang er in der New Yorker Carnegie Hall in einer konzertanten Aufführung von Verdis »Alzira« den Zamoro. Die gleiche Partie hatte er zuvor 1967 an der Oper von Rom vorgetragen. Sein Repertoire gipfelte in den heldischen Partien der italienischen Oper, vor  allem in den Opern von Verdi und Puccini. Seine Karriere war von langer Dauer; so sang er 1988 in Rio de Janeiro den Radames in »Aida«, 1987 bei den Festspielen von Split in der vergessenen Oper »La Vestale« von S. Mercadante. 1993 hörte man ihn am Teatro Filarmonico Verona als Walter in Catalanis »Loreley«, 1994 in Viterbo als Kalaf in Puccinis »Turandot«. – Auch sein Sohn Lorenzo Cecchele wurde als Tenor und Opernsänger bekannt.

 

Schallplattenaufnahmen auf RAI-Cetra, darunter auch Partien in vollständigen Opern; Titelrolle in »Aroldo« von Verdi auf CBS, Walter in Catalanis »Loreley« auf BJR/ Nuova Era; auf MRF in Verdis »Alzira«, auf Rococo Titelheld in »Rienzi« von R. Wagner, auf Bongiovanni in »La Vestale« von Mercadante, auf Frequenz Turiddu in »Cavalleria rusticana«. [Lexikon: Cecchele, Gianfranco. Großes Sängerlexikon, S. 4034 (vgl. Sängerlex. Bd. 1, S. 602) (c) Verlag K.G. Saur] (Foto facebook)

 

Michel Hampes Comédie humaine 

 


Die einen lieben Austen-Verfilmungen oder Downtown Abbey, die anderen möglicherweise die Ausgabe von fünf Rossini-Opern, die Michael Hampe zwischen 1988 und 1992 als Zusammenarbeit der Kölner Oper und Schwetzinger Festspiele inszenierte. Aufgenommen im Schwetzinger Schlosstheater, bieten sie genau die Qualitäten der britischen Serien oder Literaturverfilmungen: akribische historische Genauigkeit, Stilgefühl und feinfühlige Charakterzeichnungen. Die fünf frühen Rossinis, also vier Farsen – in der Reihenfolge ihrer Uraufführung: Il cambiale di matrimonio von 1810, La scala di seta und L‘ occasione fa il ladro beide 1812, Il Signor Bruschino von 1813 – und der der nicht dazu passende Barbiere (leider nicht die fünfte Farsa L’inganno felice von 1812) bilden so etwas wie einen Zyklus, sozusagen Rossinis (und Michael Hampes) Comédie humaine. Das mag etwas hoch gegriffen sein. Auf jeden Fall liebäugeln sie nicht mehr mit den zappelnden Harlekinaden der Commedia dell‘ arte, sondern wenden sich dem französischen Lustspiel und der bürgerlichen Gesellschaftskomödie des 19. Jahrhunderts zu.

Ehrlich gesagt, hatte ich mir von dieser Box Rossini Early Operas (EuroArts 5 DVD 2057388, vorher bei verschiedenen Firmen wie Arthaus etc.) nicht allzu viel erwartet. Hatte ich Michael Hampe nicht richtig eingeschätzt oder früher einfach das Falsche gesehen? Doch mit welchem Ernst und Seriosität er die frühen Werke Rossinis behandelte, war vor dreißig Jahren, als sie hierzulande nicht all zu oft anzutreffen waren, etwas Besonders. Das ist heute noch etwas Besonders. Erlebt man doch gerade die Kurzopern als klamottige Fingerübungen, scheinbar witzig, töricht aktualisiert. Es sind aber, wie Hampe und Gelmetti – beim Barbiere stand noch Ferro am Pult – beweisen, ausgezeichnete Charakterkomödien, an denen man sich schier nicht satt sehen kann. Es gilt genau das, was Sebastian Rother im Beiheft zu La Cambiale di matrimonio befindet,Im Grunde handelt es sich bei diese Stoff um eine typische bürgerliche Charakterkomödie mit dezent sozialkritischem Anstrich, wie sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Mode kamen – wenn auch einzig der galanten, geistreichen Unterhaltung verpflichtet und fern jeder moralisierenden und aufklärerischen Ambitionen wie sie in de Folge der Französischen Revolution allerorten anzutreffen waren“.

Die Aussage mag ein Gemeinplatz sein, doch selten erlebt man diese Komödien so genau und ernsthaft in Szene gesetzt, eben großes Theater wie Gaudenzio in Il Signor Bruschino festhält, „Nel teatro del gran mondo“/ „Im großen Welttheater“. Es ist eine pure Freude. Hampe standen erste Kräfte zu Verfügung, die diese Einsichten vom Kaufmanns-Kontor und britischen Herrenzimmer über das Damenboudoir und Aussichtsidyllen bis zum Salon des Ancien Régime samt Tapetentüren und Terrassen zu einer Stilkunde des gesellschaftlichen Miteinanders der besseren Stände machen: Carlo Diappi, den durch die Strehler-Schule gegangenen Ezio Frigerio und Carlo Tommasi sowie Mauro Pagano. Da stimmt alles vom Muster der Tapeten, der Draperien, den Lüstern, den Kanapees, den Kostümen, Rüschen, dem Frühstücksgeschirr, Wohlfühl-Einraum-Bühnenbilder für die 90-minütigen Einakter, farblich gut abgestimmt, kommod eingerichtet, mit Ausblich auf die Santa Maria della Salute oder den Triumphbogen, auf die Berge, das Meer (L ‚occasione braucht den Szenenwechsel) oder die italienische Landschaft, in Schuss gehalten von wuselnden mehr oder weniger aufdringlichen Dienstboten. Schöner Wohnen zu Rossinis Zeiten. Immer geht es um Geld und Liebe bzw. Liebe und Geld, reiche Geldsäcke hüten ihren Besitz und wollen ihn durch die Verheiratung der Töchter und Mündel mehren. Den Jungen geht es um Liebe statt Geld – und letzteres kommt dann dazu. Wie Hampe und seine Bühnenbildner und Kostümbildner das Thema variieren hat große Klasse, dieser Zyklus, der wegen des fehlenden L’inganno felice leider nicht ganz rund ist, ist ein theatralisches Ereignis. Regiehandwerk versteckt sich hinter Menschenbeobachtung. Hampe reiht nie Arien an Arien, sondern bezieht die beobachtenden, wartenden oder nur Stichworte liefernden Figuren stets mit ein.  Aus einer Arie oder einem Duett wird eine komplexe Szene, ein Gesellschaftsbild en minature. Ein Kosmos.

Da ist er wieder: der fabelfafte „Barbiere di Siviglia“ mit der jungen Bartoli aus Schwetzingen 1988, natürlich inszeniert von Michael Hampe in Ezio Frigerios hinreissender Ausstatung, nun bei Euroarts (im Vertrieb von Warner, 200118), eine der schönsten Video-Opern überhaupt – nichts wie haben wollen. G. H.

Gianluigi Gelmetti, ein Mittdreißiger und noch vor seiner Zeit beim SWR Radio Sinfonieorchester Stuttgart, war damals noch nicht die Koryphäe, als die er kürzlich bei Rossini in Wildbad wieder nach Baden-Württemberg zurückkehrte, aber eine gute Wahl. Er liebt diese Musik und die Sänger. Wie uns in diesen Werken immer wieder die gleichen Verhaltensmuster und Charaktere begegnen, treffen wir auf immer wieder die gleichen Sänger, die vor rund 30 Jahren unser Rossini-Bild prägten und bestimmten: voran viermal der jungenhaft schlanke und smarte, seine Fräcke mit Eleganz tragende, als Almaviva allerdings etwas penetrante David Kuebler, der nicht ganz so smarte, später  zum Heldentenor gewandelte Robert Gambill (Conte Alberto in L’occasione fa il ladro). Alle Wandlungen des Dieners und Begleiters und Freundes bis zum Gaudenzio durchläuft Alessandro Corbelli als glänzender Singdarsteller und singender Akrobat, der im Barbiere vermisst wird. Weniger Buffo als Liebhaber ist Natale de Carolis, dessen Karriere irgendwann eingeschlafen ist, ein präsenter vielseitiger Gestalter Alberto Rinaldi als Bruschino padre sowie Slook in La cambiale und Blansac in der Seidenen Leiter.  Man weiß gar nicht, in welcher Reihenfolge man alle nennen soll. Klar ist, es sind alles Sänger, die etwas vermitteln, den Gefühlsreichtum und die Abgründe aufzeigen, damit Mozart näherstehen als den italienischen Intermezzo-Drollerien. Stuart Kale ist ein runder Eusebio in L’occasione, Amelia Felle – ungleich divenhafter als Sofia in dem im gleichen Jahr aufgezeichneten Bruschino – und Carlos Feller, haben nicht die tollsten Stimmen, sind aber hinreißend zum Zuschauen in La cambiale di matrimonio (Feller dann auch als Bartolo). Luciana Serra hatte auch damals schon die nicht unbedingt charmanteste Stimme, aber mit unbestrittener Technik und Zierfreude singt sie die Giulia in La scala di seta und hat mehr Klasse als die sanftstimmig langweilige Susan Patterson als Berenice in Occasione, die sich leicht von ihrer Zofe Monica Bacelli als Ernestina ausstechen lässt. Wir treffen noch auf Janice Hall als Fanny in La cambiale, Edith Kertész-Gabry als Berta. Im dem von Daniele Ferro vibrierend dirigierten, 1988 offenbar als Versuchsballon gezündeten Barbiere,  ist die 22jährige Cecilia Bartoli als Rosina noch fern von der ratternden Koloraturmaschine späterer Jahre. Gino Quilico ist der draufgängerisch fesche good guy Figaro, der heftig akklamierte Robert Lloyd hinreichend zwielichtig als Basilio (Foto oben Ausschnitt aus dem „Baribiere“/ Euroarts).  Rolf Fath

Digitale Wunder

 

„What becomes a legend most“ (frei übersetzt: Was steht einer Legende gut) las man in den Siebzigern der USA einen Werbungspruch für herrliche schwarze Nerzmäntel. Eine Parade von Pop-Stars und besonders Sängern der Met präsentierte sie. Und womit wird heute eine Legende geehrt? Die Frage stellt sich für Maria Callas, die ihren 95. Geburtstag am 2. Dezember 2018 gehabt hätte. Pünktlich dazu tourte „Maria Callas“ als sie selbst (jaja) mit einer 4D-Hologramm-Show durch die Säle Amerikas und Europas, in Paris gleich zweimal (davon nachstehend mehr). Und zeigt geradezu beispielhaft, zu welchen Ergebnissen und Verirrungen die digitale Technik bei der Aufbereitung von Dokumenten und der Erschaffung von Images, von virtueller Realität, führen  kann. Zu digitalen Wundern, wenn man so will.

 

„Maria by Callas“/ Prokino

Denn es erschien im November 2018 eine bemerkenswerte DVD, „Maria by Callas“ von Tom Volf bei Prokino (201 362, als Bonus ein Interview mit dem Regisseur), auf der das ereignisreiche Leben der Diva mit vielen, vielen höchst seltenen und mir zumindest oft unbekannten Dokumenten aus ihrem Bühnen- und Privatleben sozusagen retro während eines TV-Interviews nacherzählt wird. Eva Matthes liest die eingestreuten späten Briefe der Callas während und nach der Onassis-Episode. Die große Fanny Ardant ist damit im französischen Original zu hören. Staunenswert digital aufgearbeitete Filmclips zeigen die Callas als Butterfly (!!!) in Bewegung und in Farbe 1950 in Mexico City, in Farbe auch im legendären Konzert in Paris 1958 sowie in einem mir unbekannten Clip ebenfalls in Farbe bei der Londoner Tosca (1964, 2. Akt – die Verfilmung der ganzen Oper war ja geplant und es kam nur zum 2. Akt, bislang in Schwarz-Weiß bei Warner DVD), einige Sekunden in Farbe auch die späte Londoner Norma 1964. Dazwischen viele, unendlich viele Clips aus ihrem Privatleben und manchen Backstage-Momenten. Im Mittelpunkt steht dabei ein bislang weitgehend unveröffentlichtes TV-Interview, das Fernsehlegende David Frost 1970 mit Callas führte.

„Maria by Callas“/London 1964/ Screenshot DVD/ Prokino

Es ist dieses Interview aus der Zeit ihres erzwungenen künstlerischen Asyls, das den Rahmen vorgibt. Den zum Teil indiskreten und CNN-typischen Fragen begegnet die Callas mit einer Mischung aus unglaublicher, fast masochistischer Offenheit, aber auch mädchenhafter Koketterie. Natürlich hat sie zu oft zu viel von sich erzählt, wiederholt mantrahaft ihre musikalischen und künstlerischen Credos auch hier. Aber sie gewinnt doch eine erneute überzeugende Glaubwürdigkeit. Als ob wir dies alles zum ersten Mal miterleben. Untermalt von dieser Bilderflut rollt sich das tragische Leben der Sängerin und zu spät erblühten Frau noch einmal vor unseren Augen auf. Ich hatte zu Beginn gedacht: bloß nicht noch ein Film über die Callas, alles ist doch gesagt. Nein, ich hatte mich geirrt. Dies ist ein anderer Film, einer, der betroffen macht, der das viel zu oft ausgepresste Leben, die Lebensumstände, die Einsamkeiten emotional plausibel macht und nahe bringt. Dem Lebensrhythmus der Callas folgt der Film mit seinem eigenen Tempo. Nach hektischem Beginn (schnelle Schnitte) verharrt er bei den entscheidenden Momenten, um dann zum Schluss die Eintönigkeit, die Gräue ihres Pariser Daseins abzubilden. Die letzten Bilder (nur Bilder!) von der irregeleiteten Tournee mit Di Stefano zeigen die Angst in ihren Augen, das Wissen um das Nicht-mehr-Genügen. Das Versagen vor ihren eigenen (zu?) hohen Maßstäben.

„Maria by Callas“/1970/ Screenshot DVD/ Prokino

Manche Informationen überraschen. So die Details der Freundschaft mit Onassis zum Beispiel, der ihr trotz der Ehe mit Jackie Kennedy als hilfesuchender Freund erhalten blieb. Manches wird ausgespart oder wird nur diskret gestreift, wo ich mir mehr erwartet hätte: die traumatische Jugend in Athen während der deutschen Besatzung, die nicht minder traumatischen  Beziehungen zu Mutter und Schwester (der Erbin). Callas die Tigerin in Dallas, als sie einen Gerichtsbeschluss zugestellt bekommt und die berühmten Furien-Fotos um die Welt gehen. Manches wird ausgewalzt: die dto. traumatische Trennung von Meneghini, die vielen Posen, der Flirt mit den Reportern. Aber an den entscheidenden Stellen kommt die Callas als die ganz Große und Kompromisslose herüber – etwa im Interview in Dallas, als sie gerade von Bing gefeuert wurde und sie sehr temperamentvoll ihre künstlerische Integrität verteidigt. „Meine Stimme ist kein Fahrstuhl!“ sagt sie woanders und geißelt zu Recht die Mottenproduktionen der Met und den ewigen Partnerwechsel jedes Bühnen-Abends. Sie ist eben eine Künstlerin, eine eigenständige und wunderbare dazu, und dieser Film tut in großer Liebe alles, um das zu verdeutlichen.

„Maria by Callas“/Mexico 1950/ Screenshot DVD/ Prokino

Da klingt es fast kleinkariert, wenn man nun doch einiges anmerkt, das man hätte besser machen können, namentlich bei der mangelhaften Dokumentation (und der Abspann korrigiert den Eindruck nicht).  Es ist ja schön, dass wir eingeblendet lesen, dass z. B. Brigitte Bardot beim Pariser Prominenz-Konzert in der Salle Garnier die Treppe hochschritt. Aber man kann keinen Film über das musikalische Metier machen, ohne die abgebildeten und eben für die Callas so wichtigen Größen zu nennen: Serafin, Visconti, Zeffirelli, Di Stefano, Gobbi, Cioni, Prêtre und viele, viele mehr bleiben namenlos (wobei der TV-Konzert-Clip von 1958 mit ihrer Amina-Arie unter eben Prêtre zu dem Schönsten gehört, was je gesungen wurde).  Ebenso ungenannt bleiben Churchill (!!!) oder die Kelly, die Windsors (beide) oder die langjährige Sekretärin und Nachlassverwalterin Vasso Devetzki, die ihr wie der auch nicht benannte Portier der Callas in den letzten Jahren zur Seite standen. Sie hätten Erwähnung verdient. Mich störte zudem enorm dieses TV-typische Unterlegen von Opernarien zu Bildern, die dazu nicht passen wollen. Und manches mehr. Dennoch – Maria by Callas – eine Art Lebens-Retro-Revue in Bildern und Briefen ist eine wunderbare Hommage an diese Stimme und Frau, die für uns Nachgeborene unseren Zugang zu Opernrollen, zur Oper und zum Theater zu entscheidend mitbeeinflusst hat. Ohne sie hätte sich Oper anders entwickelt, auch wenn sie nicht die einzige Große war, wie ihr Mentor Tullio Serafin bemerkte. Der zog – eben aus seiner eigenen Erfahrung – Rosa Ponselle vor…

 

Die CD zur Tour: „Callas in Concert“/ Warner Classics 0190295653569

Und wie vermarktet man eine Legende höchst gewinnbringend? Indem man glauben macht, die Legende sei die Wirklichkeit. So wie dann viele, viele Fans in die Kinos von Hauptstadt und Provinz strömen, um sich bei Sekt und Tütensnacks die diskutablen Produktionen aus der Met und Covent Garden anzuschauen und ihnen die Illusion vermittelt wird, sie wohnten einer Live-Show bei. Nun hat die amerikanische Hightech-Firma Base Hologram nach Michael Jackson und anderen Pop-Größen Maria Callas zu neuem virtuellen Leben erweckt. Hamburg ist am 7. Dezember dran, als einzige deutsche Location. Endstation einer langen Tournee, die im September 2018 im kalifornischen Sacramento begann und in 22 Stationen die Grenzenlosigkeit der digitalen Technik demonstriert(e). So sehen heute Wunder aus.

Wie ein Freund aus New York schrieb: Im ausverkauften Lincoln Center wirkte Maria Callas ein wenig blass. Verständlicherweise: Sie ist ja seit 1977 tot. Diese Callas heute Abend aber war ein dreidimensionales Hologram, das jüngste in einer Reihe von musikalisch-visuellen Auferstehungen, zu denen Michael Jackson und andere Popstars gehörten. Die Callas – gruselig, wohlauf, in einer weißen Abendrobe und mit einer ellenlangen roten Stola schimmernd – wurde für diesen Anlass neu erschaffen, bis hin zu den kleinsten Bewegungen ihrer Hände und der subtilsten Mimik ihres Gesichtes. Ihre Stimme (von ihren eigenen Aufnahmen aus dem Warner-Depot) wurde von einem Live-Orchester (!) unterstützt. Von Zeit zu Zeit drehte sie sich zur Seite, warf einen Blick über ihre Schulter, gab sich auch kokett und spielte mit der Stola in ihren Armen. Es war unglaublich, aber auch absurd; im gleichen Maße seltsam fesselnd wie auch kitschig und lächerlich. (…) Dieses holographische Gespenst war auf abartige Weise reizend, auch wenn es schwerlich aus diesem Grunde geschaffen worden war. J. K.

 

Maria Callas Hologram Tours/ Foto Evan Agostini  Base Hologram

Und aus Paris hört man: Maria Callas, The Hologram Tour – Paris (Salle Pleyel): Was für ein Auftritt! Die ehrwürdige Salle Pleyel ist am 28. November 2018 ausverkauft. Das Licht dimmt. Ein Orchester nimmt Platz, beginnt die Rossini-Ouvertüre. Und dann kommt sie: Maria Callas, was für eine Erscheinung. Sie tritt übrigens nicht einfach auf, sie gleitet wie Lucia beim Bankett herein, das Geräusch ihrer Absätze auf dem Boden der Konzertplatform überlaut und uns nach einem ersten geisterhaften Eindruck in eine weitere virtuelle Wirklichkeit zurückholend. Maria im 1958er Look, mit dem berühmten Chignon im Nacken und dem bodenlangen, trägerlosen weißen Abendleid, wie es sich durch die Fernsehübertragung des Konzerts im Palais Garnier für immer in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt hat.

Der Hightech Firma Base Hologram ist die Leistung gelungen, aus den relativ wenigen erhaltenen visuellen Informationen eine virtuelle Göttin zu schaffen, einen fast perfekten Klon. Dolly singt und schwebt. Wenn man dieses technische Wunder wirklich wahrnehmen will, sollte man in den ersten Reihen sitzen, um den Ausdruck des irgendwie vertrauten, aber doch so fremden Gesichts und die Bewegungen des Mundes, die genau jedem Wort, jeder Phrase entsprechen, zu bestaunen. Olympia? Ein Automat? Auf beiden Seiten der entmaterialisierten Sängerin sitzt das Live-Orchester, ungefähr 60 Musiker. Die musikalische Synchronisation ist ein Kunstwerk ohne jeden Fehler. Das metronomische Dirigat von Eimear Noone sichert eine perfekte Koordination. Mehr nicht, aber dies doch.

Der Sound dagegen lässt zu wünschen übrig. Der Zuschauer muss eine unangenehme  Verstärkung der Instrumente akzeptieren. Das ist wohl der Preis, um das Ungleichgewicht mit der von verschiedenen Aufnahmen auf Band aufgenommenen Stimme (die aus dem ganzen Klangspektrum  herausgelöst wurde) zu reduzieren, und ist somit den qualitativen Unzulänglichkeiten der damaligen EMI-Mikrophone ausgesetzt. Die digitale Technik konnte nicht verhindern, dass die tiefsten Noten in Macbeth und Gioconda (mono von 1954) schwammig herüber klingen. Im Gegensatz dazu waren in „Casta Diva“ noch kleine Chorfetzen zu hören. Ärgerlich. Ein Bruchteil einer Sekunde genügt eben, um ein sehr relatives Tonvergnügen zu zerstören (zum Nachhören vereint eine speziell herausgegebenes Album von Warner die Originalversionen der hier gesungenen Arien in einer etwas anderen Rehenfolge: Callas in Concert).

Maria Callas Hologram Tour/ Foto Evan Agostini Base Hologram

Visuell erlebt man staunend ständig neue, unerwartete Gesten und Effekte. Die Mimik von Carmen, der Brief der Lady oder das Giftfläschchen der Gioconda werden wie schlechtes Theater mit übergroßen Gesten – die der kunstverpflichteten Callas absolut fremd auf dem Podium waren – illustriert. Die Karten der Carmen (temperamentvoll hochgeworfen) verbleiben für Sekunden in der Luft, um dann langsam fallend den Übergang zu Macbeth einzuleiten. Die zugeworfene Rose eines imaginären Fans, die Maria Callas auf amüsant-geschickte Weise fängt: Zahllos sind die Gelegenheiten, sich über diese virtuellen Vorführungen zu gruseln.
Denn die Interaktion mit der Realität ist weniger überzeugend. Die Applaus entspricht nicht den Verbeugungen der Sängerin. Und man erlebt eine erstaunliche  Verhaltenheit des Publikums gegenüber einem Image, das sicherlich perfekt hergestellt ist, das aber eben nicht lebt, das nicht kommuniziert. Das eben „nur paradiert wie auf einem Laufsteg, merkwürdig leblos wirkt, wie aus Plastik scheint. Wer amerikanische Scifi-Blockbuster kennt, kennt auch dies: ein leblos-lebendiges Hologram eben. Der Triumph der Computertechnik. Und die moderne Technik arbeitet dieser Technik zu. Das Smartphone in der Hand filmt das Publikum hemmungslos und quälend, photographiert und teilt dies sofort auf den sozialen Medien. Man hat den Vorteil, dass die Diva sich das nicht verbittet.

„Maria by Callas“/Paris 1958/ Screenshot DVD/ Prokinol

Lohnt sich diese Erfahrung, die ohne Pause eineinhalb Stunden dauert? Ja und nein – mehr nicht. Wenn der Überraschungseffekt vorbei ist, wird es langweiligman bestaunt nur den technischen Aufwand, wie wenn man eine simulierte Marslandung bestaunt. Aus nachvollziehbaren Gründen, entspricht diese Technik besser Rock- und Pop-Ereignissen. Michael Jackson und andere gab es bereits, Auch die Zugaben sind bekannt. Das Hologram von Maria Callas löst sich in Luft auf. Man jubelt dem Virtuellen, der technischen Kopie zu. Jean LeMaire (Übersetzung Ingrid Englitsch/ Foto oben: Callas Paris 1958/ „Maria by Callas“/ Prokino)

 

Das macht den Musikfreund sprachlos. Die Firma Base Holgram und auch Warner (EMI-Erbin der Callas-Aufnahmen, aus deren Beständen die Musikbeiträge der Tour stammen) schreiben auf ihrer Seite:  „Anhand von Spitzentechnologie und außergewöhnlicher theatralischer Bühnenkunst bringt das erste Live-Konzert dieser Art die berühmte Opernsängerin 40 Jahre nach ihrem Tod, mithilfe einer atemberaubenden, hochmodernen digitalen Laserprojektion, zurück auf die Bühne. Die Zuschauer erwartet ein umfassendes Live-Konzert Erlebnis mit digital remasterten Originalaufnahmen. Mit großem Orchester werden die Arien präsentiert, die Maria Callas in ihrer einzigartigen Genialität interpretiert und unvergesslich gemacht hat. Neueste Technologie ermöglicht die Wiederauferstehung der immer noch bewunderten und geliebten Operndiva.“ 

 

Callas Hologram Tour/ Foto Evan Agostini Base Hologram

Im Interview beim Deutschland Radio plaudert Marty Tudor (Executive Producer und CEO von BASE Hologram Productions) aus dem technischen Nähkästchen: „Wir finden ein Körper-Double für die Künstlerin und üben mit diesem Double. Im Fall von Callas hat das Körper-Double 12 Wochen lang intensiv geprobt, und dann haben wir die Performance des Doubles aufgenommen. Danach wurden digital Veränderungen vorgenommen, um das richtige Aussehen der Person zu kreieren. Ganz ähnlich wurde Peter Cushing für den neuesten Star Wars-Film erschaffen. Oder Carrie Fisher in demselben Film. Wir machen es im Wesentlichen genauso. In diesem Fall war eine Opernsängerin das Double. Denn wenn eine Opernsängerin singt, dann bewegt sich nicht nur ihr Mund, sondern es bewegt sich buchstäblich jeder Muskel in ihrem Körper, um diesen bezaubernden Klang zu erzeugen. Mit einer Schauspielerin ginge das deswegen nicht. (…) Es kommt auf das Aussehen der Person an, auf die Fähigkeit der Person, eine echte Performance zu geben, auch die Fähigkeit, die richtigen physischen Eigenschaften der Künstlerin zu haben. Und was wir im Fall von Maria Callas auch gemacht haben: Wir haben einen Regisseur gesucht, der Maria Callas sehr gut kannte. Und in diesem Fall war das Steven Wadsworth. Steven ist der Leiter der Opernabteilung der New Yorker Juilliard School sowie Personalchef der Metropolitan Opera und er war der Regisseur einer sehr erfolgreichen Broadway-Show über Maria Callas, genannt Masterclass. So haben wir jemanden gefunden, der jedes Detail über Maria Callas und die Art, wie sie auftrat, kennt. Und das müssen Sie tun, um authentisch zu sein, und es ist entscheidend für uns, authentisch zu sein. Wir arbeiten sehr eng mit dem Nachlass der Callas zusammen, um sicherzustellen, dass auch sie uns den richtigen Input geben, damit wir Dinge authentisch umsetzen, anstatt uns nur einzubilden, dass wir es machen. Wir wollen, dass sie so ist, wie sie war.(sic!)

 

Ein Foto unserer tapferen und stets arbeitswilligen Übersetzerin aus dem Französischen Ingrid Englitsch aus Wien – Danke!

Das Image „Maria Callas“ als digitale 4-D-Nachschöpfung. Die Stimme – bei späteren Aufnahmen ohnehin eigens mit einem eigenen Mikro aufgenommen – herausgelöst und zu einem Live-Orchester auf der Bühne einem digital aufbereitetem Double unterlegt. Bereits bei Caruso hatte die RCA dies ohne überzeugenden Erfolg probiert. Ob die Callas das gewollt hätte? Sie, die sich über künstlerischen Fragen zerquälte? Die den italienischen Präsidenten lieber versetzte als eine schlechte Vorstellung abzuliefern? Die sich weigerte, nicht passende Rollen durcheinander zu singen und lieber ihr Met-Debüt dafür platzen ließ? Die – „Vissi d´arte“ – alles für ihre Kunst gegeben hat? Hätte sie ihrem dahingleitenden digitalen Double, dessen Körper nicht einmal der eigene war, zugenickt? Ich glaube nicht. Ich fand schon Berichte von Michael Jacksons Wiederauferstehung gruselig. Und die der Callas noch mehr. Ein ganzer Saal, nein: Säle in aller Welt, bejubeln ein Hologram zu Live-Musik und Gesang aus dem Archiv. Arme Maria C.  „What becomes a legend most?“ Dies nicht. G. H.

Dobrzynskis Oper „Monbar“

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Eine Piraten-Oper von 1863 aus Polen? Unser östliches Nachbarland ist nicht gerade für seine Seefahrer-Vergangenheit bekannt, wenngleich natürlich die Ostesee Zugang zu den Weltmeeren bietet. Aber eigentlich sind wir an vaterländische Themen in der Literatur und Musik im Polen jener Jahre gewöhnt, das ja fast immer unter Fremdherrschaft litt und mehr als dreigeteilt seine Geschicke erdulden musste. Vielleicht ist es dieses Grundgefühl, das eine Oper hervorbringt, in der der Titelvertreter ein Anti-Held ist, ein von Emotionen zerrissener Pirat, der am Schluss der Oper die Tochter seiner Widersachers im Meer ertränken will und dabei selber erstochen in den Fluten versinkt. Vielleicht ist es auch nur blankes Entertainment, das uns mit dieser Oper auf das Libretto von Ludwik Paprocki nach der Novelle von Carl Franz van der Velde begegnet.

Musikalisch ist hier beste Romantik zu hören. Große Chöre, programmatische Meeresidylle und Sturmesbrausen, effektvolle Solopassagen und ein wunderbares Liebesduett, dazu die Titelfigur stark umrissen in tenoraler Pracht (bemerkenswert, einen Tenor für diese negative Figur zu wählen).

Ignacy Feliks Dobrzyński, Komponist des „Monbar“/ Wiki.pl

Ignacy Feliks Dobrzyński zeigt sich hier von seiner besten Seite in dieser seiner einzigen vollendeten Oper, die Lukasz Borowicz, der operalounge.de-Lesern kein Unbekannter ist, als Eröffnung der Konzertsaison beim Polnischen Radio Warschau 2010 vorstellte – eine Ausgrabung, die zum Glück den Weg auf eine gut ausgestattete CD gefunden hat (keine westliche Übersetzung des Librettos!) und die polnische Oper von einer anderen, exotischen, sehnsuchtsvollen Seite in Zeiten von politischer Unterdrückung zeigt (wie ja auch Monisuzkos Paria eine andere, weitere Welt öffnete – Irena Poniatowska spricht von einer „unterdrückten, inneren Romantik“). Eine lohnende Ausgrabung für Freunde der romantischen Oper in der Tat. Deshalb bringen wir nachstehend einen Artikel (ohne Autor) aus dem Booklet zur Aufnahme, die vielleicht etwas schwierig zu erhalten ist (Polskie Radio SA). Daniel Hauser besorgte wieder die Übersetzung. G. H.

 

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Die Geschichte einer vergessenen Oper: Monbar czyli Flibustierowie (Monbar oder die Flibustier) – die erste und einzige vollendete Oper von Ignacy Feliks Dobrzyński (1807-1867) – trug ursprünglich den Titel Korsarz (Der Korsar). Sie wurde zwischen 1836 und 1838 zu einem Libretto von Ludwik Paprocki, einem Freund des Komponisten, geschrieben, basierend auf einer Kurzgeschichte von Carl Franz van der Velde. Eine konzertante Aufführung der Ouvertüre und des Duetts der beiden Hauptfiguren fand bereits 1837 statt, das Finale im darauffolgenden Jahr. Es vergingen indes viele Jahre, bis Dobrzyńskis Werk auf die Opernbühne kam. Fragmente wurden konzertant in Posen (1845), Berlin (1845/46) und Dresden (1847) aufgeführt. Zu den Highlights eines dieser Konzerte in Berlin am 6. August 1845 zählte ein in Korsarenkostüme gekleideter Männerchor; der Bolero wurde als Ballett-Zwischenspiel präsentiert. Trotz wohlwollender Kritiken fand sich niemand, der eine Gesamtproduktion der Oper verantworten wollte. Erst 1860 begannen die Vorbereitungen für die szenische Uraufführung.

1863 veröffentlichte Geberthner & Wolff einen Klavierauszug der Opernpartitur, der vom Komponisten und seinem Sohn Bronislaw Dobrzyński arrangiert worden war. Das Libretto wurde von Seweryna Pruszakowa speziell für die Bühnenaufführung adaptiert. Die Premiere fand schließlich am 10. Jänner 1863 an der Warschauer Oper statt, 25 Jahre nachdem Dobrzyński die Partitur geschrieben hatte. Zur Besetzung gehörten die führenden Solisten dieser Zeit – Bronislawa Dowlakowska, Maria Gruszczyriska, Jozefa Chodowiecka-Hess, Jan Koehler, Wilhelm Troschel, Leon Borkowski und Franciszek Cieslweski (sie sangen auch bei den ersten Aufführungen der Opern von Stanislaw Moniuszko). Gerade zwölf Tage nach der Uraufführung brach der Januaraufstand gegen die Zarenherrschaft in Kongresspolen aus und die Aufführungen mussten eingestellt werden.

Die Oper wurde seither nicht mehr gespielt. Die Ouvertüre war das einzige erhaltene Fragment des Werkes. Die Orchesterparts wurden höchstwahrscheinlich während des Brandes der Warschauer Oper 1939 mit der gesamten Musikbibliothek oder im Warschauer Aufstand von 1944 zerstört. Glücklicherweise hat sich das Autograph der Oper in der Sammlung der Warschauer Musikgesellschaft WTM erhalten. Ein Klavierauszug der Partitur in hervorragendem Zustand befindet sich ebenfalls in dieser Kollektion.

Lukasz Borowicz dirigiert beim polnischen Rundfunk/ Foto „Monbar“ Box

Die Idee, Monbar wieder zum Leben zu erwecken, ist einer Initiative von Lukasz Borowicz, dem damaligen künstlerischen Leiter des Polnischen Rundfunk-Sinfonieorchesters (heute bei der Philharmonie Posen), zu verdanken. Möglich gemacht wurde das Projekt aufgrund der Unterstützung des polnischen Rundfunksenders Radio Polen 2 und des Nationalen Audiovisuellen Institutes. Tomasz Moscicki, Theaterkritiker und Photograph, hat beinahe eintausend Photographien des Autograph-Manuskriptes angefertigt, welches als Quellenmaterial für Boguslaw Tabaka diente, der die 650-seitige Partitur editierte und das Orchestermaterial zusammenstellte. Dank des Engagements eines großen Teams und des Entgegenkommens von Anna Malewicz-Madey, der Vorsitzenden der Warschauer Musikgesellschaft, ist Ignacy Feliks Dobrzyńskis Monbar oder die Filibustier wieder in das Opernrepertoire zurückgekehrt und füllt damit eine Lücke in der Geschichte der polnischen Musik. Eine im Westen sehr schwierig zu besorgende CD folgte diesen Bemühungen.

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Zum Komponisten: Ignacy Feliks Dobrzyński, geboren am 25. Februar 1807 in Romanow, Wolhynien, war Komponist, Dirigent, Pianist und Pädagoge; er starb am 9. Oktober 1867 in Warschau. Seine musikalische Ausbildung erhielt er bei seinem Vater Ignacy, einem Geiger, Komponisten und Dirigenten. 1825 begann er in Warschau sein Studium bei Jozef Elsner, zunächst im Privatunterricht und anschließend als Schüler der Musikhochschule von 1826 bis 1828.

Dobrzyński schrieb seine ersten Kompositionen zunächst in Winnitsa. Den Großteil seines Lebens verbrachte er jedoch in Warschau, wo er komponierte, lehrte, Musikgruppen organisierte und nach Unterstützung für von ihm selbst geleitete Sinfoniekonzerte suchte. Seine Fähigkeiten als Klavierlehrer waren seinerzeit weithin anerkannt und seine Szkola na fortepian (Schule für Klavier) wurde 1845 von Sennewald in Warschau veröffentlicht. Seine Sinfonie Nr. 2 c-Moll op. 15 brachte ihm 1835 den zweiten Platz beim Komponistenwettbewerb in Wien ein; ausgewählte Sätze dieser Sinfonie wurden später in Warschau und Leipzig unter der Leitung von Felix Mendelssohn Bartholdy aufgeführt. 1862 publizierte Sennewald eine Fassung für zwei Klaviere mit der Bezeichnung Sinfonie im charakteristischen Geiste der polnischen Musik.

„Monbar“: der Schriftsteller Carl Franz van der Velde lieferte die Vorlage/ Wiki

Trotz des jugendlichen Alters des Komponisten sind seine Sinfonien ausgereifte und handwerklich einwandfreie Kompositionen, welche die Entwicklung seines künstlerischen Talents darlegen. Sein volles künstlerisches Potential erreichte Dobrzyński in den 1830er Jahren, als er sich Werken verschiedener musikalischer Gattungen widmete: Sinfonien, Ouvertüren, Opern sowie Klavierstücke. Obschon seine Kompositionen im spätklassischen Stile verwurzelt sind, zeigen sie bereits die stilistische Charakteristik der Romantik.

Dobrzyński komponierte zwischen 1836 und 138 seine erste Oper Monbar czyli Flibustierowie (vgl. oben). Von 1841 bis 1843 unterrichtete er Musik am Alexandrinischen Institut für Mädchen. Ab März 1845 reiste er durch Europa, um seine Kompositionen zu präsentieren. Er besuchte Berlin, Leipzig, Dresden, München, Bonn, Frankfurt am Main und Wien. In Berlin blieb er einige Zeit und verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Musiklehrer. Während dieser Zeit wurde ihm die Rückkehr nach Polen verboten, weil er einige patriotische Lieder geschrieben hatte, darunter Do matki Polki (Einer polnischen Mutter), basierend auf einem Gedicht von Adam Mickiewicz. Er sollte nicht vor September 1847 nach Warschau zurückkehren.

Im Jahre 1852 wurde Dobrzyński zum Opernintendanten des Teatr Wielki ernannt, eine Position, die er für weniger als ein Jahr innehaben sollte. In den darauffolgenden Jahren dirigierte er das Opernorchester bei Sinfoniekonzerten, unter anderem in der Handelskammer. Im Oktober 1857 organisierte er schließlich das nach ihm benannte Polnische Ignacy-Feliks-Dobrzyński-Orchester, das aus herausragenden Musikern des Teatr Wielki bestand. Der neue Klangkörper gab wöchentliche Konzerte in der Neuen Akademie in der Marszalkoweska-Straße.

Zwischen 1858 und 1860 saß Dobrzyński im Gründungskommitee des Institutes für Musik und wurde Mitglied der Lemberger Musikgesellschaft. Nachdem sich sein Gesundheitszustand verschlechtert hatte, zog er sich 1860 allmählich aus der Warschauer Musikszene zurück und widmete sich ausschließlich dem Komponieren.

„Monbar“: Wie schön ist doch das Piratenleben: Erroll Flynn war der Inbegriff des Sexy-Piraten der Nachkriegszeit/ Wiki

Ignacy Feliks Dobrzyński war ein Zeitgenosse von Chopin, der sein Leben in Polen verbrachte, wo er mit den Einschränkungen des Musiklebens in Warschau zu kämpfen hatte. Sein Stil ist weniger abenteuerlich als jener Chopins; der Einfluss von John Field wird in seinem jugendlichen Klavierkonzert deutlich, während seine feurige Ouvertüre zu Monbar an Weber erinnert. Seine zweite Sinfonie, die 1834 geschrieben und 1862 revidiert wurde, orientiert sich in jedem Satz an einem polnischen Tanz; diese Aufnahme enthält als Extra einen langsamen Satz, der in der Endfassung verworfen wurde. Die Musik mag vielleicht nicht in jederlei Hinsicht erstklassig sein, doch die Aufführungen sind es, erfassen sie doch sowohl die Leidenschaft als auch den Charme dieses wenig bekannten Komponisten. Übersetzung Daniel Hauser

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Irina Poniatowska schreibt dazu in ihrem Artikel über Chopin und Dobrzýnski: Die Ouvertüre zu Monbar oder die Filibuster, die von Zeit zu Zeit aufgeführt wird, zeugt davon, das Dobrzyński das Kompositionshandwerk sehr gut beherrschte. Sie zeichnet sich durch eine kompakte, plastische Konstruktion und eine interessante Instrumentierung aus. (…) In den Jahren 1845 – 1847 unternahm Dobrzyński eine Tournee nach Deutschland und Österreich, während der der Künstler eigene Werke aufführte. In den Musikkritiken hieß es, er sei ein ausgewiesener Musiker. Seine Instrumentalwerke waren durchaus bekannt, da sie in Leipzig und in Berlin herausgegeben wurden. Man erkannte in der Symphonie caractéristique“  ein nationales Werk mit polnischen Rhythmen wie der Mazurka im 1. Satz und des Krakowiaks im Finale. Das Werk wurde sehr hoch eingeschätzt. Die Instrumentierung Dobrzyńskis wurde gelobt, desgleichen die zwei Streichquintette und Fragmente aus der Oper Monbar. Die Tournee brachte Dobrzyński keine größeren materiellen Vorteile, er hatte sein Leben lang mit finanziellen Problemen zu kämpfen. Später, nach der Zeit, in der er Direktor des Großen Theaters war (Teatr Wielki 1852 – 1855), begann er die Musik zu der dramatisierten Fassung von Konrad Wallenrod zu schreiben, ohne sie aber zu beenden, sowie zum Drama Die Burggrafen von Victor Hugo, von der nur die Ouvertüre und einige Fragmente existieren.

Ignacy Feliks Dobrzyńskis „Monbar“ in der Aufnahme des polnischen Rundfunks Warschau unter Lukas

In Polen war die Lage sehr schwierig. In die Zeit, in der Dobrzyński lebte, fallen beide Aufstände, der Novemberaufstand im Jahre 1830 und der Januaraufstand im Jahre 1863, die vor allem im Königtum Polen ausgetragen wurden. Es war eine Zeit des politischen und kulturellen Niedergangs. Nach der Niederlage des Novemberaufstands wurden die Warschauer Universität, die Hauptschule für Musik und die Wissenschaftsgesellschaft  geschlossen. 15 % der Einnahmen wurden für den Bau der Zitadelle verwendet, eines Gefängnisses, das zum Symbol der politischen Unterdrückung wurde. Zu jener Zeit setzte die Große Emigration ein, in deren Folge das Land seine bedeutendsten Künstler und politischen Anführer einbüßte. Dobrzyński blieb in Polen, hatte aber keine Mäzene, obwohl er begabt war. Er suchte den Geschmack des Bürgertums zu befriedigen und schrieb Kammermusik, Klavierwerke und Lieder, hatte aber weiterhin den Ehrgeiz, sich durch großformatige Werke auszuzeichnen, für die es in Polen jedoch keine Entwicklungsmöglichkeiten gab. Das Bürgertum gab sich mit sentimental-virtuoser Salonmusik zufrieden, die Musikkritik wiederum verlangte nach nationaler, ideeller Kunst. Um diese betreiben zu können, um sich voller Hingabe dieser Mission, dem Dienst an der Nation zu widmen, stand dem Künstler nur eine Möglichkeit offen, den Lebensunterhalt zu bestreiten: die Erteilung von Unterricht.

Chopin schuf den Nationalstil als neuen Wert, drang in die Tiefe, in das Wesen des Nationalen selbst vor und transformierte es in Klänge, weit entfernt von Polen. Die meisten Komponisten hingegen, die in Polen lebten, unterstrichen, auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ihre engen Bande zur nationalen Tradition, indem sie die volkstümlichen Rhythmen und Melodien ganz einfach stilisierten. Das war damals quasi ein bürgerlicher und künstlerischer Imperativ. Aus diesem Grunde wurde die innerpolnische Romantik „unterdrückte Romantik“ genannt. Dobrzyński offenbarte und entfaltete schon früh sein Talent, doch später stagnierte sein Kompositionsstil. Es gab in Warschau kein festes Orchester, in der Oper wurde fast ausschließlich ausländisches Repertoire aufgeführt. Dobrzyński fehlte es somit an Anreizen, sich schwieriger Aufgaben anzunehmen, d. h. große Formen zu schreiben. Er blieb der Salonmusik, Gelegenheits-Musikstücken sowie der Kammermusik verhaftet, die man leichter aufführen konnte als Orchesterwerke.

 

„Monbar“: Sklavenmarkt in tripolis/ Gustav Boulanger 1882/ Wiki

Irena Poniatowska schreibt zudem zur Situation des polnischen Theaters (bzw. des Teatre Wielki in Warschau) jener Jahre: Im 19. Jahrhundert hatte die Kultur in Polen die Aufgabe, die geistigen Traditionen zu festigen und dem Volk Kraft einzuflößen. Eine wichtige Rolle dabei spielte das Theater als Institution. Nach dem Novemberaufstand von 1831 (gegen die russischen Besatzer)  blieb das Theater das einzige Zentrum der polnischen Kultur. Das Große Theater in Warschau übernahm gewisse Traditionen des früheren Nationaltheaters, das noch in der Regierungszeit des letzten polnischen Königs geschaffen wurde. Aber jetzt wurde es nicht mehr „national“, sondern „groß“ genannt. Errichtet zwar auf Kosten der städtischen Selbstverwaltung, war es Eigentum des polnischen Volkes, aber die zaristischen Behörden überwachten die Gesinnung  der hier betriebenen Kunst. (…) Nach dem Januaraufstand (gegen die russischen Besatzer) von 1863 erfolgte eine noch düsterere Zeit für die polnische Kultur. Der Okkupant rottete alles aus, was polnisch war, es kam zu einer intensiven Russifizierung. Die Regierung sprach sogar für eine Zeit das Verbot von Theaterbesuchen aus. Die Flaute in der künstlerischen Arbeit hielt bis 1865 an. Aber nirgendwo hatte das Theater eine solche Bedeutung wie in Polen, und wohl nirgendwo gab es im Theater ein zahlenmäßig so starkes Publikum. (…)

Im Theater wurden sowohl das polnische Ensemble als auch Gastauftritte italienischer Ensembles gefeiert. Letztere blieben in der Regel zwischen vier und sechs Monaten in der Stadt. Das polnische Ensemble war ein „notwendiges Übel“, da ein Chor und ein Orchester existieren mussten, die den Kern der polnischen und italienischen Inszenierungen bildeten. (…) So wirkte sich die Tätigkeit der italienischen Ensembles beispielsweise hemmend auf die Entwicklung der heimischen Aufführungspraxis aus. (…) Im 19. Jahrhundert forderte man in Polen nicht nur polnische Opern, sondern begrüßte auch enthusiastisch Premieren fremder Werke in polnischer Sprache. (…) 1861 kam es in den Warschauer Straßen im Laufe einer Manifestation zu den ersten Opfern. Als der Zar Warschau besuchte, sollte im Theater eine feierliche Vorstellung gegeben werden, aber diese kam nicht zustande, da eine unbekannte Hand in den Saal eine ätzende Flüssigkeit goss. Künstler, die unter dem Verdacht einer antirussischen Tätigkeit standen, wurden entlassen. (…) In Polen wäre vermutlich zu einem früheren Zeitpunkt die russische Oper boykottiert worden. Erst die politische Passivität am Ende des 19. Jahrhunderts und die positivistischen Losungen der Zeit milderten die russlandfeindliche Einstellung. Unter diesen ungünstigen Bedingungen kam es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Großen Theater zu einem echten Aufbruch der nationalen Oper. (…)

Das Publikum des Theaters setzte sich aus 60% Polen, 37% Juden sowie Russen zusammen. Die Russen besuchten das Ballett und gelegentlich ausländische Opern. Die Polen bevorzugten polnische Werke, und die Juden, die die Galerien füllten, kamen nicht, wenn es etwas gab, was die Russen interessierte, die Russen wiederum erschienen nicht zu Opern, die von Juden bevorzugt wurden, und die Polen missachteten mitunter den Geschmack sowohl der Russen als auch manchmal der Juden. Die Logen und die Stühle blieben oft leer, dafür waren die Galerie und der oberste Rang überfüllt. Die Organisation der Spielzeiten im Großen Theater verweist auf eine totale Dominanz des fremden Repertoires. Die Abhängigkeit der künstlerischen Leitung von der Politik der Regierung destabilisierte jegliche Pläne. Die Direktion der Regierungstheater schloss Verträge mit jedem durchreisenden Künstler, in aller Eile wurden Vorstellungen vorbereitet, die Frequenz war schlecht, das Defizit vergrößerte sich. Es herrschten Zufälligkeit und eine Missachtung des polnischen Ensembles.

„Monbar“: die Musikwissenschaftlerin Irena Poniatowsky, Autorin des Beitrags/ OBA

Seit Ende der vierziger Jahre dominierten im Repertoire die Werke von Verdi, vorerst italienisch aufgeführt, später einige von ihnen in polnischer Sprache Dann wurden auch Werke der lyrischen französischen Oper aufgeführt sowie der Veristen, Wagners Opern kamen erst ziemlich spät (…). Es ist charakteristisch, dass die erste russische Oper erst 1897 in Warschau aufgeführt wurde, es war Jolanthe von Tschaikowsky. (aus: Irena Poniatowska, Das Große Theater in Warschau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und das nationale Opernrepertoire; mit Dank an die Autorin. Irena Poniatowska ist eine renommierte Musikwissenschaftlerin in Polen, die ihren Aufsatz „Dobrzyński und Chopin. Stilistische Ähnlichkeiten und Unterschiede“ im Jahrbuch des Wissenschaftlichen Zentrum der Polnischen Akademie in Wien in Band 3/ 2010-2012/ Wien 2012 veröffentlichte, woraus wir den vorstehenden Auszug mit sehr freundlicher Genehmigung der Autorin übernehmen.)

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Robert Dumé

 

Der 1941 in Nizza geborene französische Tenor Robert Dumé ist am Wochende des 9. Dezember 2018 gestorben.  1970 aus dem Pariser Konservatorium kommend wurde er bald darauf an die Pariser Oper engagiert, wo er in dem meisten Aufführungen der Ära Liebermann in kleinen Rollen mitwirkte, insbesondere als Nathanael in“Les Contes d’Hoffmann“ (in der Chéreau-Inszenierung von 1974-1980), als Majordomus bei Faninal im „Rosenkavalier“(in der Inszenierung von Ezio Frigerio von 1976 bis 1981). In den 80-iger Jahren steigt er auf: Laca bei der Wiederaufnahme von Jenufa, Schuiski in Boris Godounov, Macduff in Macbeth, Aegisth in Elektra. Bei der Eröffnung der Bastille-Oper war er Don Curzio in der Wiederaufnahme der  Strehler-Inszenierung von Le nozze di Figaro von1991 bis 1994. Außerhalb der Hauptstadt und im Ausland  verkörperte er anspruchsvollere Rollen (Florestan im Fidelio, die Titelrolle in Lohengrin). 1992 wurde er zum Gesangsprofessor am Pariser Conservatoire ernannt, unter anderem war der Bassbariton Paul Gay sein Schüler. (Quelle: Forumopera/ Foto dr)