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Lange hielt sich die Behauptung, Offenbach habe Zeit seine Lebens eine Grand Opéra schreiben wollen und nur mit Les Contes d’Hoffmann habe er dies erreicht, wobei er die Uraufführung nicht mehr erlebte. Spätestens seit 2002 war es mit dieser Legende vorbei, als erstmals (in Lubljana) die Rheinnixen erstaufgeführt wurden, eine für Wien komponierte veritable Grand Opéra in deutscher Sprache auf ein Libretto nach Nuitter von Offenbach selbst in der Übersetzung und mit Zutaten weitgehend von Alfred von Wolzogen. Eben da liegt der Diskussionsstoff, denn Offenbach-Spezialist und Herausgeber Jean-Christoph Keck und der Verlag Boosey & Hawk sind der Auffassung, die Oper sei eigentlich eine auf einen originalen französischen Text von Offenbach und Nuitter (dem Librettisten auch des französischen Tannhäuser und anderer Kompositionen) geschriebene Grand Opéra. Diese Version des Verlages in einer von Christophe Mirambeau vervollständigten Fassung hat als Les Fées du Rhin an der Opéra de Tours im September/ Oktober 2018 ihre Uraufführung gefunden, über die Boris Kehrmann berichtet. Das schweizerische Biel folgte im Dezember 2018 als Koproduktion mit einer veränderten Besetzung, darüber schreibt Samuel Zinsli. G. H.
Die Uraufführung in Tours: Für die beschränkten Mittel der Opern von Tours und Biel/Solothurn, die – anders als die großen Häuser wie Wien oder Paris – sich für die Uraufführung der französischen Erst-Fassung zusammengetan haben, sind aufwendige Féerien (davon nachstehend mehr) natürlich schon finanziell unerreichbar. So musste sich Pierre-Emmanuel Rousseau auf eine „realistische“ Lesart in günstigen Gegenwartskostümen einlassen. Rousseau verlegt die Handlung aus der Zeit der Pfälzer Sickingen-Fehde 1522 in die der Bosnienkriege 1992-1995. Die Soldaten tragen die regietheaterübliche Tarnkleidung, die Bäuerinnen Kittel bzw. folkloristische Trachten, die Elfen als Naturgeister Tierköpfe. Das Ballett war zwar zu hören, zu sehen aber waren Projektionen des spielenden Windes in den Blättern, des Mondlichts im Wald, eines – toten? schlafenden? – Mädchens mit geschlossenen Augen. Realistische Baumstämme formten einen schönen Wald. Das Einheitsbühnenbild war natürlich dem knappen Budget geschuldet, erschwerte es aber, den Initiationsweg von der Wirklichkeit einer Winzergemeinde im Nahetal in das Feenreich utopischer Phantasie mit aller Suggestivität nachzuvollziehen.
Die Aufführungen in Tours und ab November/ Dezember auch in Biel, Solothurn, Thun und Schaffhausen unterscheiden sich mit zwei Ausnahmen nicht nur in der Besetzung, sondern auch in der Strichfassung und in der Zweisprachigkeit. Während in Tours nur Bauern- und Soldatenchöre großzügig gekürzt waren, was sich insofern verschmerzen ließ, als der 27-köpfige Chor der Oper Tours ohnehin zu laut für den intimen Saal sang, so kommt es in Biel zu weiteren Strichen. Außerdem werden Vaterlandslied und Frantz’ Romanze entsprechend Offenbachs Vorgabe deutsch erklingen, zusätzlich allerdings auch die Barkarole.
Insgesamt ist der Opéra de Tours aller Respekt zu zollen, dass sie sich überhaupt dieser Aufgabe für nur drei gut besuchte, aber keineswegs ausverkaufte Vorstellungen annahm, vor der alle anderen französischen Bühnen bisher gekniffen haben. Andererseits ist nicht zu übersehen und -hören, dass nicht nur die szenischen, sondern auch die musikalischen Ansprüche des Werks die Möglichkeiten des Hauses übersteigen. So recht wollen sich seidiger Streicherglanz, romantischer Hörnerklang, elfisches Harfenflirren oder das Raffinement des Wiener Walzers beim Orchestre Symphonique Région Centre-Val de Loire/Tours unter der Leitung von Benjamin Pionnier nicht einstellen. Im Laufe des dreidreiviertelstündigen Abends ließen Konzentration und Inspiriertheit der Musiker hörbar nach. Mir zumindest schien es zunehmend so, als versuche man den Dienst nur noch mit Anstand hinter sich zu bringen. Im Gegensatz zu den deutschsprachigen Aufführungen unter Friedemann Layer in Montpellier (2002), Marc Minkowski in Lyon (2005) oder Reinhard Petersen in Cottbus (2006) zerfiel das Mosaik der Partitur in zuweilen auch hölzerne Einzelteile. Für Ulrichs Glockenlied im 3. Akt, das Offenbach später im Fantasio wieder verwendete, wählte Pionnier absurd hektische Tempi.
Die Solistinnen und Solisten sangen sich im Laufe des Abends frei, stießen aber immer wieder an ihre Grenzen. Die türkische Sopranistin Serenad Burcu Uyar, Début-Preisträgerin 2006, künstlerische Partnerin Fazil Says, heute überwiegend auf frankophonen Opernbühnen tätig und demnächst auch in der Schweiz dabei, verfügt über die nötige Agilität und robuste Kraft für die lyrisch-dramatische Zwischenfachpartie der Laura, vermag aber nicht alle Zierfiguren mit letzter Sauberkeit auszuführen. Ihre gutturale, dunkle Klangfarbe entspricht nicht direkt dem, was man sich unter einer Engelsstimme vorstellt. Mit der zwischen Opferrolle und fluchender Mänade schwankenden Partie der Mutter Edwige haben sich Nuitter und Offenbach an Meyerbeers Fidès orientiert. Kenner des Propheten werden bis in die musikalische Struktur (Trio bouffe; Soldatenchöre) und szenische Details (das Pulverfass, das die Mörderband in die Luft sprengen soll; die Pervertierung eines unschuldigen Jungen zum Bandenführer) hinein zahlreiche weitere Berührungspunkte entdecken. Das heißt aber auch, dass die Fluch- und Klageszenen der Edwige für Marie Gautrot, die sich mit letztem Einsatz durch diese vokal-emotionale tour de force kämpft, eine Nummer zu groß ist. Die grob veristische Stimmführung der sich bis zum letzten verausgabenden Mezzosopranistin führt zu Verhärtungen in den dramatischen Teilen, die Höhen klingen nicht selten schrill. Einmal wagt Gautrot sogar einen realistischen Schrei, um ihre Verzweiflung zu beglaubigen. Anrührend wird diese gepeinigte Mutter, die um das Leben ihrer Tochter kämpft, dennoch nie. Dazu ist die Stimme zu hart.
Der zwischen zwei Welten hin- und hertaumelnde, von unbegreiflichen Ahnungen heimgesuchte, unbehauste Frantz ist ein Part aus der Familie jener lyrisch-sensiblen Tenorhelden, die von Rossinis Arnold über Meyerbeer bis zum Werther reichen und für die neben weicher Linienführung, heldisch-dramatische Reserven und eine tadellose voix mixte unerlässlich sind. All das besitzt Sébastien Droy in Ansätzen. Wirklich frei klingt der engagierte Sänger nie. Besonders in der hohen Lage leidet man mit ihm mit. Ulrich (nach Ulrich von Hutten, Nuitters Hauptinspiration), der in Tours wie in Kecks neuem Klavierauszug seltsamerweise nach der Wolzogen-Version Conrad von Wenckheim heißt, ist ein Kavaliersbariton, dessen Eleganz Jean-Luc Ballestra nur in den undramatischen Stellen, in denen er nicht forciert, zur Geltung bringt. Hier stellt sich das generelle Problem, das auch Werke wie Rossinis Guillame Tell aufgeben, wie ein extrem brutaler Text mit einer poetischen Musik vermittelt werden kann? „Realistischer“ Brutalismus zerstört die Aura der Musik. Regie und Sänger müssen eine Balance finden, die weder die vom Werk vorgegebene reale Brutalität unterschlägt, noch die Weigerung der Komponisten, selbst auch in diese Falle der Brutalität zu tappen. Ballestra bleibt der Dämonie des Bösen Raffinement und Noblesse schuldig und stürmt mit seinem guten Material und unbändigen Bühnentemperament viel zu direkt auf seine Gesangslinien los.
Den unglücklich in Laura verliebten Gottfried, bei dem Offenbach und seine Librettisten sich unsicher waren, ob sie ihn lieber als Pfälzer Winzer oder Jäger zeigen sollten, deutet der Regisseur zum orthodoxen Geistlichen um. Rousseau begründet das damit, dass Gottfried sich mit einem Gebet einführt, Laura, die ihn nicht liebt, christlich entsagt und sein Leben opfert, um die Ebernburg vor den Landsknechten zu retten. Die ständig flehend zum Himmel gereckten Hände des in Talar gehüllten, soliden Bassisten Guilhem Worms machen das Stück aber für meinen Geschmack zu sehr zum katholischen Passionsspiel claudelscher Prägung. Offenbachs Liebeserklärung an die Macht der Fantasie und des Theaters wird bis zur Unkenntlichkeit überlagert, nicht durch den Schluss, wo das knieende Trüppchen mit der mittlerweile regietheaterüblichen Maschinengewehrsalve niedergemäht wird.
Alle Einwände entwerten das historische Verdienst der Produktion und den Einsatz aller Beteiligten nicht. Bleibt am Ende die Frage, was der Klang der französischen Sprache mit Offenbachs Musik macht. Der erste Eindruck bei dieser Aufführung war, dass sie den Charakter der Musik nicht so grundlegend verändert hat, wie ich mir das beim Studium des Particells vorgestellt hatte. Das könnte aber auch ein Resultat der Ausführung sein, denn auch jede musikalische Interpretation ist nur eine Interpretation, das heißt die Lesart der Ausführenden und nicht das Werk selbst. Hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Marc Minkowski, ein langjähriger Verfechter des Werks, und die Leitung der Oper von Bordeaux waren am 2. Oktober in Tours zugegen. Boris Kehrmann
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Und über die Bieler Aufführung schreibt Samuel Zinsli: Zwei Dinge wusste ich über die Rheinnixen oder Fées du Rhin vor der am 23.12. 2018 besuchten Aufführung in Biel – dass es sich um eine in diesem Jahrtausend wiederentdeckte Offenbach-Oper handelt und dass die Barcarolle (die Barcarolle) ursprünglich für dieses Stück und nicht für Contes d’Hoffmann geschrieben wurde.
Wenn bei Shakespeare Böhmen am Meer liegt, darf bei Offenbach natürlich der Rhein auch in die Adria fließen – nach der schon in den ersten Takten anklingenden Barcarolle begegnen einem noch weitere Bekannte aus dem ebenfalls wiederaufgefundenen vollständigen Venedig-Akt der Contes d’Hoffmann in den Fées du Rhin – Hoffmanns Trinklied singt hier (mit noch brachialerem Text) der Heerführer Conrad, und Lauras Ballade von den Rheinnixen (neben der Barcarolle das zweite musikalische Element, das beinahe als Leitmotiv mit ihnen verbunden ist) erweist sich als Giuliettas Arie mit den irisierenden Vokalisen im Refrain.
Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner in Personalunion Pierre-Emmanuel Rousseau hat eine lauschige Waldgegend auf die Bühne gezaubert, die der Idylle ebenso entspricht wie den beunruhigenden Seiten des romantischen deutschen Waldes – dem Übernatürlichen wie Conrads marodierenden Soldaten. Die Geschichte spielt hier, wie Kostüme und Bewaffnung nahelegen, in einer Gegenwart. Der Gegensatz zwischen realistischer Kriegssituation und eben magischen Phänomenen funktioniert im Heute genauso gut. Noch dazu hält Rousseau die Präsenz der Nixen in einer konsequenten Schwebe. Sehr präsent sind sie schon im Libretto nicht: Meist wird über sie gesungen oder man hört lediglich ihren eigenen Gesang. Ihr einziger vielleicht realer Auftritt zu Beginn des 3. Aktes wird als Vision von durch den Wald wandelnden Frauen mit Tierköpfen hinter einem Gazevorhang gezeigt. Ob die (auch nur akustische) Begegnung Conrads und Franzens mit ihnen (die immerhin die geistige Gesundung des Letzteren und den Gesinnungswandel des Ersteren auslöst) Halluzination oder real ist, bleibt auch offen – allerdings retten die Nixen in Rousseaus Inszenierung am Ende die fünf Protagonist/-innen nicht vor den sie verfolgenden Soldaten, was eher für Halluzination spricht. Das verweigerte Happyend ist gewiss grausam, aber irgendwie folgerichtig.
Aber zurück zum Anfang. Das Stück beginnt mit einer (Dorf?-)Gemeinschaft, die sich um einen kleinen Kastenwagen im Wald versammelt, in dem (zunächst etwas befremdlich, aber man gewöhnt sich dran) sowohl ein Kruzifix als auch ein Gewehr an der Wand hängen und ein Mikrophon mit Lautsprecher herumstehen. Das Kruzifix benutzt Gottfried (mit frei strömendem, warmem Bass Lisandro Abadie; darstellerisch wirkt er etwas steif, aber das passt ganz gut und kann auch an der Anlage der ab dem 2. Akt doch recht undankbaren Figur liegen) für einen Gottesdienst. (Aber wenn er ein Priester ist, macht das doch seinen Heiratsantrag an Laura unsinnig?).
Ins (natürlich nicht echte) Mikrophon singt Laura zur Unterhaltung der Gesellschaft (und zum Missfallen ihrer Mutter Edwige, was an Senta und Mary denken lässt) die Ballade von den Rheinnixen sowie einen Hymnus an die Heimat («Du schönes Land», im Unterschied zum restlichen Text auf Deutsch). Serenad Uyar gibt eine patente, selbstbewusste jungen Frau (ihre Balance zwischen Tradition und Aufbruchstimmung pfiffig sekundiert durch ihr Kostüm, eine Kombination aus einer Art Bollywoodrock und einer Nietenlederjacke), die wie die Mutter in der Gemeinschaft durchaus was zu sagen hat. Mit ihrem saftigen, leuchtenden Sopran phrasiert sie schön und gestaltet ausdrucksvoll; auch die Verständlichkeit in beiden Sprachen ist gut. Ein, zwei Spitzentöne sitzen am besuchten Tag nicht ganz sicher, aber das kommt eben vor. Edwige lässt in der ganzen Anlage der Figur mehr an Azucena als an die deutsche romantische Oper denken. Marie Gautrot macht Furore als hagere, etwas verhärmte Version ihrer Tochter, der sie verschweigt, dass ihr Vater ein Vergewaltiger und Soldat gewesen ist. Sie kennt weder stimmlich noch darstellerisch Schonung, ohne ihrem flammenden Mezzo je Gewalt anzutun, singt auch die wildesten Attacken so intensiv wie kultiviert, packt in den schmerzlichen Rückblicken und verhaltenen Klageliedern gleichermaßen. Im Grunde ist sie die Hauptfigur der Oper (ist das immer so oder liegt das an Gautrot?) und überzeugt szenisch noch in den schlimmsten Momenten mit expressiver Wucht. Franz, Lauras Verlobter, der ins Heer eingezogen wurde, dort durch eine Verletzung sein Gedächtnis verloren hat und so mit Conrads Truppen in seine eigene Heimat einfällt, wird hervorragend gesungen von Gustavo Quaresma, der seinen strahlenden, gut fokussierten Tenor flexibel führt und als gequälter Amnesiast schnell Sympathie erringt. Als er durch die Begegnung mit den Nixen allmählich sein Gedächtnis zurückerlangt, sind die Qualen natürlich nicht zu Ende; auch das spielt er ohne Larmoyanz.
Leonardo Galeazzi braucht die Bühne nur zu betreten, und die lauernde Energie Conrads, die in jähe Brutalität umschlagen kann, wird sofort sichtbar – er ist so angsteinflößend, wie er zuvor beschrieben wird. Sein kernig-brillanter, durchschlagskräftiger Bariton tut ein Übriges, der auch biegsam genug für das Trinklied im 1. und die lyrischen Soli im 4. Akt ist. Sein natürliches Spiel macht auch den Gesinnungswandel in diesem letzten Akt so gut wie möglich glaubwürdig. Denn in diesem letzten Akt klappert’s etwas im Libretto – einerseits entstehen hier Längen, wenn die fünf Flüchtigen sich selbst für eine Oper sehr viel Zeit für die Flucht vor den Soldaten lassen, noch ein Gebet einschieben etc.; andererseits ist Conrads Gesinnungswandel reichlich suspekt – der wird durch die Entdeckung ausgelöst, dass Laura seine Tochter ist. Man hat den Eindruck, dass es der Beleg seiner Potenz ist, der ihn berührt, nicht etwa die Wiederbegegnung mit der von ihm hässlich behandelten Edwige. Item, er ist im Finale bereit, sich für Laura, Franz, Edwige und Gottfried zu opfern, und so, wie Galeazzo das singt und spielt, möchte man ihm in der Tat glauben und vergeben. Und hoffen, dass solche Umkehr eines Kriegsbefürworters möglich ist. In der Perspektive wird auch der zum Schluss wieder erklingende Hymnus auf Deutschland genießbar, und das bereits erwähnte Unhappyend markiert wachsame Skepsis.
Als Bauer und blutrünstiger Soldat ergänzt mit Elan Yi-An Chen, und der Chor unter Valentin Vassilev ist wie immer mit begeisterndem Einsatz bei der Sache, v.a. die Herren als stimmstarke und typenreiche Soldateska, während die Damen in ihrem Nixensolo etwas schmal besetzt klingen (zu ätherisch gedacht?).
Am Pult des Orchesters des Theaters Biel Solothurn schafft Francis Benichou als aufmerksamer Begleiter die faszinierende stilistische Mischung zwischen Offenbach, wie wir ihn schon kannten, und der von ihm anverwandelten romantischen deutschen Oper. In der für Biel größtmöglichen Besetzung (mit der kultverdächtigen Harfe im Zuschauerraum) stoßen sie gelegentlich an die akustischen Grenzen des Raums, aber wohl nur, weil sie die Kontraste so plastisch gestalten und dafür eben auch mit hauchfeinen Nixenklängen und einer reichen Farbpalette erfreuen. Samuel Zinsli
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Boris Kehrmann, Dramaturg und Musikwissenschaftler, der sich seit langem mit Offenbachs Oeuvre und eben dieser Oper beschäftigt, macht sich im Nachstehenden Gedanken über Fassung und Zweisprachigkeit sowie über Titel und Genesis dieser spannenden Oper: Wie die meisten Melomanen lernte ich Jacques Offenbachs Oper Die Rheinnixen 2002 durch Friedemann Layers Radio France-Aufnahme für das Montpellier Festival kennen. Der Titel war bekannt. Kein Text zu Les contes d’Hoffmann lässt unerwähnt, dass Offenbach die Barkarole seiner ersten Oper entnommen hat. Das Werk selbst aber war unbekannt, da das (verstümmelte) Libretto nur als Programmheft der Wiener Ur- bzw. Kölner Erstaufführung und die Musik nie gedruckt wurde.
Die Poesie der Musik packte mich vom ersten Augenblick, die humane Botschaft des Stücks war frappierend aktuell in einer Zeit, da Deutschland begann, die Gewalt der Wutbürger als bürgerlichen Widerstand zu verherrlichen, das Schlachten in Bosnien kurz zurücklag, Russland Teile Georgiens annektierte, Kriege und Bürgerkriege in Afghanistan, Darfur, im Nahen Osten und Irak wüteten. Schließlich kamen mir Offenbachs Rheinnixen wie eine Gegendarstellung zu Wagners gewalttätigem Siegfried mit seinem Vergessenstrank vor, was nicht abseitig erschien, da das viel diskutierte Ring-Textbuch Anfang 1863 öffentlich erschien und Wagner Teile der Tetralogie Ende 1862 in einem Wiener Konzert dirigierte. Später stellte sich heraus, dass Charles Nuitter, der Librettist der Rheinnixen, 1860 Wagners Tannhäuser, 1861 den Fliegenden Holländer übersetzt und 1862 am Libretto der Meistersinger mitgearbeitet hatte, wie Wagner in seiner Autobiografie andeutet. Übersetzungen des Lohengrin und Rienzi folgten 1868 und 1869. Als ehemaliger Rechtsanwalt trieb Nuitter Wagners Tantièmen in Frankreich ein und beriet den Komponisten und seine Frau lebenslang in juristischen Fragen. Ihr 2002 publizierter Briefwechsel zeigt dies in aller Ausführlichkeit. Nuitter war also ein Kenner der Werke und Ideen des Meisters aus engem persönlichem Umgang.
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Es geht in den Rheinnixen um einen Mann, der im Krieg den Verstand verliert, im Zustand totaler Amnesie zur unschlagbaren Kampfmaschine mutiert und durch die Macht eines Liedes stufenweise seine Erinnerung wieder- bzw. zur Humanität zurückfindet. Damit ist nicht nur die Unschuld der Kindheit gemeint – die verlassene Braut nennt das Lied in einer Notiz Offenbachs am Rand des Particells zum Duett Nr. 26 „ce chant, qui bercait nos premières ans“ – „dieses Lied, das unsere Kindheit wiegte“ –, sondern auch die Erinnerung daran, dass er Mensch ist. Im so genannten „Vaterlandslied“, dem Kernmotiv und Ohrwurm des Stücks, überlagern sich Menschenliebe, Heimatliebe, erotische Liebe. Frantz verrät nicht nur die Erde und die Heimat, die er verwüstet, sondern auch seine Braut Armgard bzw. in der Urfassung Laura, die er sitzen ließ. „Du, Vaterland, bist meine Braut“, heißt es im Vaterlandslied. Folgerichtig geht es im Stück darum, dass die Braut ihren Bräutigam zurückerobert – mit allen ethischen Konsequenzen. Vaterland und Braut sind auf symbolischer Ebene austauschbar. Frantz‘ Rehumanisierungsprozess vollzieht sich in vier Stufen, die durch seine drei Arien - pro Akt eine – bzw. durch das Duett im letzten Akt bezeichnet werden. Das Duett ist kein konventionelles Liebesduett, sondern eher eine Art Anamnese. Die Liebenden klären die letzten Fragen ihrer wiedergewonnenen Vergangenheit. Dem Ausdruck der Liebe in ihrer überpersönlichen Dimension als Menschen- und Weltliebe dient die Poesie der Musik nicht nur dieses Duetts, sondern des ganzen Werks überhaupt. Auch wenn Offenbach und Nuitter das Motiv des Soldaten, der in der Schlacht sein Gedächtnis verliert und es durch ein Lied wieder zurückerhält, neben weiteren Anregungen Scribe-Boieldieus Dame blanche entnommen hatten (Scribe variierte damit Paisiellos berühmte Nina), schienen mir Offenbachs Wendung ins Ethische, in die große Féerie-Allegorie, und seine Musik singulär zu sein. Nur das gestelzte, grammatikalisch oft falsche, hohle und antiquierte, teilweise auch unverständliche Operndeutsch des Librettos verstellt den Blick auf die Größe des Werkes. Sein Libretto strotzt von Sätzen wie „Mein sei die holde Maid“, wo Offenbach brutal „Non elle est à moi“ komponiert hat, oder Schüttelreimen wie „Wer die Elfen jemals spricht, / der kann leben länger nicht“.
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Die Quellen: In der spärlichen Literatur zu den Rheinnixen ist zu lesen, Offenbach habe das Stück teils auf Französisch, teils auf Deutsch komponiert. Leider war Jean-Christophe Kecks Ausgabe für den Verlag Boosey & Hawkes / Bote & Bock, die die Wiederentdeckung der Oper ermöglichte, nicht zu entnehmen, welche Passagen in welcher Sprache komponiert wurden und wie der von Offenbach vertonte Wortlaut hieß. Kecks erste Ausgabe von 2002 präsentierte das Werk in der Fassung der Partiturhandschrift, die Offenbach dem Wiener Hoftheater vor Probenbeginn vorlegte. Deren ersten drei Akte werden in zwei Bänden in der Staats- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. verwahrt. In zwei Bänden deshalb, weil die Akte 2 und 3 in der stark gekürzten, nach Offenbachs Aussage „verstümmelten“ Fassung der Uraufführung zu einem Akt zusammengelegt und die Bogen der Handschrift anschließend in einem Band zusammengebunden wurden. Der Registraturvermerk „1941/26“ deutet darauf hin, dass es sich um Naziraubgut handelt. Der 3. Band der autographen Partitur befindet sich in Privatbesitz. Diese drei Bände enthalten das gesamte Werk in deutscher Sprache. Die in Wien gestrichenen Passagen sind durch Streichungen bezeichnet.
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In der Pierpont Morgan Library befindet sich aber, fälschlich als Vocal score, also Klavierauszug ausgewiesen, das Particell Offenbachs, das den Prozess der Komposition dokumentiert und das mir Frank Harders-Wuthenow vom Verlag Boosey & Hawkes 2017 großzügigerweise in Kopie zur Verfügung stellte. Ihm ist zu entnehmen, dass das nahezu vollständige Libretto von Charles Nuitter in französischer Sprache verfasst und von Offenbach in französischer Sprache vertont wurde. Während der Arbeit schickte Offenbach die fertigen Bögen laufend an Alfred von Wolzogen nach Breslau, der unter die französischen Verse seine deutsche Übersetzung schrieb und sie wieder zurücksandte, damit Offenbach auf dieser Grundlage die Instrumentation fertig-, also das oben beschriebene Frankfurter bzw. im Privatbesitz befindliche Manuskript herstellen konnte. Nicht nur die Schreiberhände im Particell lassen diesen Entstehungsprozess erkennen. Er ist auch durch Briefe und Anweisungen Offenbachs an Wolzogen im Particell selbst dokumentiert. Im 2. Akt hatte Nuitter für Frantz beispielsweise keine Arie vorgesehen. Bei der Komposition spürte Offenbach aber, dass er seinen Helden hier auf der zweiten Stufe seines Gesinnungswandels zeigen musste und komponierte eine poetische Erinnerungsmelodie ohne Worte, über die er für seinen deutschen Übersetzer schrieb: „Il faut deux couplets pour la Romance de Frantz – Hier brauchen wir zwei Strophen für Frantz‘ Romanze“. So wurden zweieinhalb der 29 Nummern des Werks original ohne Text (die eben genannte Romanze) oder auf Deutsch vertont. Zu Letzteren gehört das Finale, wo Offenbach sich bereits mit Kritik der Beteiligten auseinanderzusetzen hatte, und das Vaterlandslied, wo er auf eine eigene Komposition von 1848 zurückgriff. In den Rheinnixen findet nämlich nicht nur Frantz zu seiner Vergangenheit zurück, sondern auch Offenbach. Es ist ein Werk, das einen Kontakt zwischen zwei Welten herzustellen versucht: Vergangenheit und Gegenwart, Deutschland und Frankreich. Insofern hat seine originale Zweisprachigkeit einen tieferen Sinn.
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Nuitters Verse sind im Gegensatz zu denen Wolzogens klar, modern und unsentimental und könnten dem Werk den Weg auf die Bühnen ebnen, das nun erstmals auch sprachlich auf der Höhe seiner Musik und Dramaturgie steht. Sie waren am 28. September 2018 als Welturaufführung in einer Koproduktion der Opern Tours und Biel/Solothurn in dem kleinen Stadttheater der Loire-Metropole zu hören. Trotzdem besteht kein Anlass zum Wolzogen-Bashing. Wer Wolzogens Schriften liest, lernt in dem Vater des Herausgebers der antisemitischen „Bayreuther Blätter“ ((Sohn Hans von Wolzogen gab noch 1930 zu Protokoll, dass er als Kind Orpheus-Fan war und den Komponisten, den er im Zusammenhang mit der Mitarbeit seines Vaters an den Rheinnixen auch persönlich in Breslau kennen gelernt hatte, ungeachtet seiner antisemitischen Auftragswerke für Cosima Wagner immer noch liebte), einen menschlich vornehmen, klugen und fähigen Schriftsteller und Theatermann kennen, der gutes Deutsch schrieb und Offenbachs Vertrauen verdiente. Ihm waren nur wie jedem Opernübersetzer, der die Musik mit ihren musikalischen Sprachakzenten und auskomponierten Satzmelodieverläufen, Silbenzahl und Reimzwang respektiert, die Hände gebunden. Man kann Offenbachs Rheinnixen so wenig nach der deutschen Fassung beurteilen, wie man Rigoletto oder La traviata nach den deutschen Übersetzungen des 19. Jahrhunderts beurteilen kann.
Dankbarkeit und Bedauern: Nicht hoch genug zu schätzen sind auch die Verdienste des Herausgebers Jean-Christophe Keck und des Verlags Boosey & Hawkes. Ohne sie könnten wir Die Rheinnixen heute weder lesen, spielen, noch hören. Der Verlag erhält keine Fördermittel und keine institutionelle Unterstützung von akademischer Seite zur Realisierung des Mammutprojekts „Offenbach Edition Keck“ (OEK). Boosey & Hawkes / Bote & Bock finanzieren, redigieren und publizieren es im Alleingang von Berlin aus. Jean-Christophe Keck stemmt es von Herausgeberseite als Einmannunternehmen. An allen anderen seriösen Werkausgaben wirken Heerscharen von Herausgebern und wissenschaftlichen Mitarbeitern mit, das heißt zahllose Augen, die Fehler korrigieren, zahllose Köpfe, die knifflige Fragen diskutieren, zahllose Hände, die brauchbare kritische Berichte schreiben. Sie alle fehlen bei der Offenbach Edition Keck. Die Folge sind zahllose Lesefehler wie z. B. der Name des Helden, den die OEK als Folge von Problemen mit dem Frakturdruck als Franz Waldung statt Baldung angibt, was für jene Interpreten nicht unwichtig ist, die der Wagner-Fährte folgen möchten, weil Siegfrieds Schwert in Wagners Nibelungen-Ausgabe von 1863 noch nicht Nothung, sondern Balmung hieß. Inzwischen hat der Verlag die Verlesung auf meinen Hinweis hin korrigiert. Ein Herausgeber-Gremium hätte vielleicht die Fehlentscheidung verhindert oder zumindest begründet, Offenbachs Rheinnixen 2002 einsprachig deutsch herauszugeben und so den Eindruck zu erwecken, es handle sich um eine deutsche Oper. Sie wurde mit der zweisprachigen Neuausgabe unter dem Titel Les Fées du Rhin. Opéra romantique en 4 actes. Livret du Jacques Offenbach et Charles Nuitter. Version française complétée par Christophe Mirambeau 2018 korrigiert. Warum muss die Version française aber von Christophe Mirambeau vervollständigt werden? Warum wird das Kind jetzt mit dem Bade ausgeschüttet und der im Particell deutlich erkennbare Anteil Alfred von Wolzogens am Libretto komplett unterschlagen? Warum ist im Druckbild nicht erkennbar, wo Nuitters Text aufhört und Mirambeaus „Vervollständigung“ anfängt? Ein Kritischer Bericht hätte schließlich aufgelistet, welche Handschriften und Librettodrucke des Werks existieren, wo sie liegen, was sie enthalten, wer sie schrieb, was für einen Werkzustand sie dokumentieren, ob es sich um Dokumente der Entstehung, um Bearbeitungen zu Aufführungszwecken oder um Abschriften zur Verbreitung handelt. Er hätte auch alle Herausgebereingriffe dokumentiert. Leider wird öffentlich zum Beispiel immer noch nicht preisgegeben, wo sich der privat gehortete 3. Band der oben beschriebenen Frankfurter Partiturhandschrift befindet. Eine Untersuchung des 4. Aktes durch die Forschung ist also weiterhin unmöglich, was angesichts der Tatsache, dass das Finale, um das alle drei Autoren rangen, besondere Textprobleme aufwirft, schwer erträglich ist. Der Verlust dieses Bandes würde jede weitere Arbeit unmöglich machen. Gerade die Offenbach-Forschung wurde von solchen Katastrophen aber seit Offenbachs Tod ständig heimgesucht, zuletzt 2009 durch den Einsturz des Kölner Stadtarchivs mit den Quellen zu den jüdischen, karnevalesken und patriotischen Vereinseinflüssen auf Musik und Musikdramaturgie des Komponisten, sowie 2018 durch den Brand des brasilianischen Nationalmuseums Rio de Janeiro, das die größte Quellensammlung reichen lateinamerikanischen Offenbach-Rezeption und Aufführungsgeschichte des 19. Jahrhunderts enthielt.
Les Fées du Rhin oder Les Elfes?: Das sind keine akademischen Fragen, sondern solche des Werkverständnisses. Warum heißt das Stück jetzt zum Beispiel auf einmal Les Fées du Rhin, obwohl die Titelheldinnen im Urtext fast immer als „les elfes“ bezeichnet werden? Dies scheint bis Frühjahr 1863 auch Nuitters und Offenbachs Arbeitstitel gewesen zu sein. Les Fées du Rhin taucht im Manuskript erstmals (!!!) als Überschrift zum 4. Akt auf, in der Presse – vermutlich von Offenbach lanciert – erstmals im Pariser Ménéstrel vom 12.4.1863. Die Niederrheinische Musik-Zeitung vom 25.4.1863 übersetzt oder verliest („Fées“, „Filles“) den Titel als Die Rheintöchter und Offenbach verwendet in seinen Briefen stets den Singular La Fée du Rhin, gelegentlich Die Rheinnixe. Die Niederrheinische Musik-Zeitung folgt ihm darin ab dem 8.8.1863. Der Wiener Hofoperndirektion wurde die Partitur am 12.9.1863 unter dem Titel Armgard oder die Geister des Rheins / Armgard ou Les Esprits de Rhin eingereicht, Kaiser Franz Joseph I. erhielt am 25.1.1864 eine Partitur mit dem Titel Die Rheinnixen, womit das Werk seinen finalen Titel erlangt hatte. Im 3. Akt tritt als Chorführerin „Une Fée“ auf, während der Chor als „Les sylphides“ bezeichnet wird. Die Damen und Herren des Chores, letztere hinter der Szene, werden von ihrer Chorführerin als „folles sylphides – wahnsinnige Sylphiden“ herbeigerufen. Lauras Mutter, die zum „Elfenstein“ (!) gekommen ist, um hier ihre in einen Naturgeist verwandelte Tochter nach ihrem Tod wieder zu sehen, bezeichnet die Titelheldinnen in Nuitters Originallibretto als Baumgeister: „A l’ombre de ces pins antiques / ménant leurs rondes fantastiques / les elfes prennent leurs ébats – Im Schatten jener alten Kiefern tanzen die Elfen ihre gespenstischen Reigen und spielen ihre Spiele.“ In der Schlussapotheose schließlich werden, wieder nach Nuitter, alle Arten von Elementargeistern zusammengeführt: „on entend au loin le chant des elfes on voit peu à peu au fond les nuages qui s’ecartent et qui laissent voir les nymphes suspendus dans l’air d’autres glissent sur le Rhin – Man hört in der Ferne den Gesang der Elfen. Im Hintergrund teilen sich die Wolkenschleier nach und nach und enthüllen Nymphen, die [auf Wolkengondeln] in der Luft schweben. Andere gleiten über den Rhein.“ Schauplätze der Elfenakte sind die Tanzplätze der Elfen. Es ist also unzweifelhaft, dass die Autoren kein Stück über Nixen oder Feen schrieben, sondern eines über Nebelgeister, die nordischen Personifikationen des Nebels, der nachts auf feuchten Hochebenen liegt. Als „folles sylphides“ werden sie spezifiert. Warum sie „wahnsinnig“ sind oder wurden, wissen wir aus den einschlägigen Erfolgsballetten La Sylphide (1832) und der am Rhein spielenden Giselle (1842). Die Elfen sind verlassene Bauernmädchen, die an gebrochenem Herzen sterben und sich zur Mitternacht als Revenants oder Wiedergängerinnen auf nebligen Waldlichtungen versammeln, um ihre ungetreuen Liebhaber zu Tode zu tanzen. Genau das geschieht bei Offenbach und Nuitter. Die „Sylphiden“ oder „trügerischen Sylphen mit ihren weißen Flügeln“, wie Ulrich sie im 4. Akt beschreibt, tanzen das erste Mörderbataillon der Landsknechte Ende des 3. Akts sowie ein zweites Ende des 4. Akts zu den Felsklippen, wo sie abstürzen, und zwar auf die Musik des „Valse de rayons“, des Walzers der Schmetterlinge im Licht der Sonnenstrahlen aus Le Papillon, dem „conte fantastique“, den Offenbach 1860 für Marie Taglioni, die Uraufführungs- und Starinterpretin von Nourrits Ballett La Sylphide, komponierte. Damit ist die Inspiration für die beiden „Weißen Akte“ der Fées du Rhin auch musikalisch dokumentiert. Ehebrecher im Sinne der Ballette sind bei Offenbach allerdings nur Frantz und Ulrich, der Lauras Mutter Edwige betrog. Beide werden am Ende aber bekehrt und gerettet, weil Offenbach nicht den erotischen Liebesverrat als Skandal aus der Welt schaffen wollte, sondern die Gewalt in Gestalt der Landsknechte. In diesem Sinne variieren die Autoren die Handlung der Ballette. An die Seite des tödlichen Tanzes gesellt sich der tödliche Sirenengesang. „Singt und Tanz“, heißt es im Elfenchor. Das ist eine Kombination, die Offenbach fasziniert zu haben scheint. Sie kommt im Hoffmann in den Gestalten Antonias und Olympias wieder vor. Letztere tanzt Hoffmann fast zu Tode. Tatsächlich apostrophiert auch Edwige die Fées du Rhin – oder wollen wir das Werk lieber Les Elfes nennen? – zweimal als „rächende Sirenen“.
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Eine Vampir-Story: Entscheidend ist der Seitenblick auf La Sylphide/ Giselle für das Verständnis der Oper darum, weil Offenbach vorsah, dass Laura Ende des 1. Aktes wie ihre Ballettschwestern tatsächlich stirbt und Ende des 2. Aktes kraft einer übermenschlichen moralischen Anstrengung als Revenant oder Vampir wieder aus ihrem Sarg aufsteht, um Frantzens Leben zu retten. Die Tote hat in ihrem Todesschlaf nämlich halbbewusst mitbekommen, dass Gottfried die Landsknechte mit Frantz zum Elfenstein führen wird, um sie dort von den Sylphiden in den Abgrund stürzen zu lassen. Davor will Laura Frantz bewahren. Was die Theaterwelt in La Sylphide und Giselle akzeptierte, schien sie in der Oper aber nicht glauben zu wollen. Aus einem von Anton Henseler (Jakob Offenbach, Berlin 1930) publizierten Brief Offenbachs an Wolzogen erfahren wir, der Komponist habe mehrfach mit Nuitter darüber diskutiert, dass „die Situation des jungen Mädchens, das wieder lebendig wird“, zu phantastisch sei. So verfiel er auf die platt-realistische Lösung eines Scheintodes und wies seine Librettisten an, Laura im Duett des 4. Aktes von dem ganzen Geschehen als einem Traum sprechen zu lassen. Das macht die Sache aber nicht glaubwürdiger, da nun nicht mehr zu entscheiden ist, wo dieser Traum anfangen und wo er enden soll. Auf dem Elfenstein erklärt Laura ihrer Mutter, die ihrer verwandelten Tochter ins Reich des Todes gefolgt ist, klipp und klar, dass sie nie wieder in die Welt der Lebenden wird zurückkehren können. Die „Weißen Akte“ der Oper werden nach dem Gesetz des Balletts und der Féerie immer irrealer. Es geht hier um Kunstmärchen, um die Allegorie einer utopischen Welt, in der die Liebe die Gewalt verdrängt. Die Gewalttäter werden buchstäblich aus dem Elfenhain vertrieben. Darum scheint mir eine realistische Lesart verfehlt. Die phantastische Urkonzeption mit der vampirhaften Sylphide, die ihren Geliebten aus der Hand der Rächerinnen verratener Liebe rettet, ist poetisch und theatralisch weit ergiebiger. Allein das 2. Finale, in dem der totenstarre Vampir in seinem Sarg neben sich das Komplott Frantz‘, Ulrichs und Gottfrieds mithört, mit im totenstarren Körper somnambul hin- und herzuckenden Augen, bis es ihm schließlich gelingt, die Totenstarre aufzubrechen, scheint mir theatralisch faszinierend. Lauras Erklärung „ja ich entriss mich dem Todesschlaf, um dich zu retten“ bezeichnet einen moralischen Akt.
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Dramaturgie der Zweisprachigkeit: Jean-Christophe Keck und der Verlag haben seit 2002 immer betont, dass die Rheinnixen eine französische Oper seien und um französischsprachige Aufführungen geworben. Eine zweisprachige Ausgabe wurde 2007 abgebrochen, weil von Theaterseite kein Interesse bestand. Kein Interesse bestand aber auch deshalb, weil die Theater aufgrund der Wiener Uraufführung und der deutschen Ausgabe glauben mussten, diese sprachlich nahezu unzumutbare Fassung sei das Original. Ein Teufelskreis.
2018 wurde er durch einen neuen zweisprachigen Klavierauszug durchbrochen, der den deutschen Text Wolzogens und den französischen Nuitters „complétée par Christophe Mirambeau“ zur Verfügung stellt. Einzelne Nummern sind in als „version originelle“ „version de Vienne“, „version Nuitter/Mirambeau“ usw. bezeichneten Varianten abgedruckt. Auf der letzten Seite der französischen Librettoausgabe sind Seiten- und Taktzahlen der von Mirambeau ergänzten Stellen aufgelistet. Warum die Ergänzungen nötig sind, was hier im Particell steht, was sie also inhaltlich bedeuten, können Theaterleute aber auch diesem Klavierauszug wieder nicht entnehmen.
Die Opéra de Tours spielte mit einer frankophonen Besetzung eine durchgängig französischsprachige Fassung. Eine Fassung also, die Offenbach nie geschrieben hat. Sie unterdrückt damit die Zweisprachigkeit des Werkes so wie sie im Particell steht. Zu behaupten, Offenbach habe das Werk zweisprachig intendiert, ist sicher falsch. Allerdings hat er auch in anderen Werken mit Zweisprachigkeit gearbeitet. In dem Singspiel La Diva machen zwei deutsche Offiziere der Pariser Titelheldin ihre Aufwartung in ihrer Garderobe und singen auf Deutsch – ein Vaterlandslied! Zweisprachigkeit war also eine Option in Offenbachs Dramaturgie. Warum sollte man sie aufgrund einer weder be-, noch widerlegbaren Herausgeber-Hypothese von vorneherein ausschließen? Warum bevormunden Verlag und Herausgeber künftige Regisseurinnen und Regisseure, Interpretinnen und Interpreten, indem sie ihnen vorenthalten, was Offenbach wirklich geschrieben hat?
Zumal Zweisprachigkeit über die oben angedeuteten Aspekte hinaus auch noch in anderer Beziehung Sinn macht. Offenbach komponierte das Vaterlandslied 1848 für einen Kölner Verein, der preußische Hegemonieideen ablehnte und politisch einen deutschen Staatenbund unter österreichischer Führung nach dem Muster des K.u.K.-Vielvölkerstaats propagierte. In diesem Staatenbund sollte unter anderem eine Verfassung ausgehandelt werden, der die Rechte der Bürger einklagbar festschrieb und schützte. Sie sollte ein Instrument der Vermeidung von Gewalt und Kriegen werden, die durch den Bruder des österreichischen Kaisers geschützt wurde. Diesem Kaiser überreichte Offenbach am 25. Januar 1864 in einer persönlichen Audienz die Partitur der Rheinnixen, das heißt, das Vaterlandslied, seine Bitte um eine menschenfreundliche Regelung der deutschen, ja europäischen politischen Verhältnisse, erreichte nach 16 Jahren endlich seinen eigentlichen Adressaten. Warum sollte man diese utopische „Flaschenpost“ aus Paris nach Wien nicht auch sprachlich herausheben dürfen?
Vom Nationalismus zur Auflösung der Nationen aus dem Geist des Theaters: Dieses Vaterlandslied mit dem Refrain „Du liebes Land! Du schönes Land! Du schönes, großes deutsches Vaterland!“ hat es in sich. Offenbach vertonte Hermann Herschs chauvinistischen Text („Die deutschen Mädchen trügen, / Mit keinen welschen Lügen! … Ich lebe dir mein Vaterland, / Ich sterbe dir mein Vaterland“ usw.) 1848, weil er und seine Familie als Revolutionsflüchtlinge Geld brauchten. Vordergründig bat er Wolzogen aus Urheberrechtsgründen, den Text umzuformen, damit Hersch keine Tantièmen beanspruchen konnte. In Wirklichkeit macht das Lied aber auch im Stück textlich eine Metamorphose durch. Aus dem „deutschen Vaterland“ des 1. Aktes wird am Ende der Oper nämlich ein „ewges Vaterland“. Die beiden bekehrten Paare und ihr treuer Freund Gottfried werden am Ende von deutschen Landsknechten eingeschlossen und erkennen, dass die Welt am deutschen Wesen nicht von Gewalt genesen kann. Also rufen sie ein größeres Vaterland an: Das Vaterland aller Menschen guten Willens.
Pierre-Emmanuel Rousseau, der Regisseur und Ausstatter der Tourer Uraufführung der Originalfassung, sieht darin die finale religiöse Wende des Stücks, die seiner Meinung nach schon im 1. Finale damit angefangen habe, dass sich die Heldin Laura opfert, um das Land vor den einfallenden Landsknechten zu retten. Für ihn wird sie zur Heiligen und Märtyrerin. Wer die Eingeschlossenen bei Offenbach rettet, das ist aber nicht der Liebe Gott, sondern das sind die Elfen. In Nuitters Entwurf des Finales heißt es: „Der Gesang der Elfen dauert an. Die von ihrem Zauber angezogenen Soldaten stürzen in den Abgrund, andere in den Rhein und verschwinden. Frantz, Ulrich, Gottfried und Hedwig nehmen in einem Akt der Dankbarkeit ihren Gesang Du liebes Land wieder auf.“ Offenbach komponiert hier, möglicherweise in Anlehnung an Aubers Schlussapotheose des Lac des fées (1839) eine große Liebeserklärung nicht an Gott, sondern an die Macht der Fantasie und des Theaters. Ein Wolkenschleier nach dem anderen schwebt im Hintergrund in die Höhe und enthüllt auf hinter einander gestaffelten Wolkengondeln ad infinitum immer neue Ränge singender Elfen. Offenbach hat solche Apotheosen zuvor im Olympbild des Orpheus parodiert und später in Werken wie La Diva und Les contes d’Hoffmann als Liebeserklärung an das Theater und die Fantasie erneut gestaltet. Ob diese Apotheose wirklich auf Aubers Lac des fées zurückgeht, wie in der Literatur immer wieder behauptet wird, muss sehr hypothetisch bleiben, da Aubers süßliche Feenoper ein ausgesprochener Misserfolg war und kaum nachgespielt wurde. Boris Kehrmann
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Mit Dank an Wolfgang Denker für die Archivarbeit bei der Bereitstellung von Illustrationen!
Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.