André Campra steht zeitlich zwischen Lully und Rameau und will nicht so richtig aus deren Schatten treten. Er begann als Kirchmusiker, seine erste Oper L’Europe galante (1697) gilt als erstes maßgebliches und beliebtes Werk der Gattung Opéra-ballet, das über Jahrzehnte in Paris gespielt wurde. Bereits 1973 nahm Gustav Leonhardt Auszüge diese Oper mit La Petite Bande für Schallplatte auf. In der Folge versuchte man wiederholt, Campra zurück ins Rampenlicht zu holen: bspw. Jean-Claude Malgoire spielte 1986 Campras Tragédie lyrique Tancrède (1701) ein, William Christie und Les Arts Florissants 1991 Idoménée (in der Version von 1732). 2011 erschien Campras zweite Opéra-ballet Le carnaval de Venise (1699) in einer schönen Aufnahme Hervé Niquets und seines Concert spirituel, 2015 erneut Tancrède mit dem Ensemble Les Temps Présents dirigiert von Olivier Schneebeli.
Die Neueinspielung des L’Europe galante entstand im November 2017 in Versailles und ist die erste Gesamtaufnahme bei der eigenen Firma Chateau de Versailles Spectacles. Das Genre der Opéra-ballet hatte schon zuvor Prototypen, bspw. 1695 Le Ballet des Saisons von Pascal Colasse. Besonders ist bei Campra, daß seine Oper weder mythologische oder antike noch allegorische Helden als Hauptfiguren hat, sondern in Abfolge Liebesgeschichten erzählt. Die Liebe in vier Ländern wird besungen, man sieht und hört eine Länderreise als Revue in vier Akten mit vier eigenständigen kurzen Handlungen und einem Vorspiel, das das Thema vorgibt. Die Charakterisierung der Länder bildet Kontraste, der französische Akt ist pastoral, eine nächtliche Serenade für Spanien, ein italienischer Maskenball und farbiges Kolorit im osmanischen Serail. Die barocken Stimmungen schwanken, mal charmant, mal launisch, edelmütig und schwärmerisch, eifersüchtig und temperamentvoll. Die einzelnen Nummern sind stets kurz, die Handlungen sind durch Divertissements unterbrochen, die orchestralen Zwischenstücke, Chöre und Tänze setzen auf Abwechslung, Schwung und instrumentale Raffinesse – das Anhören ist kurzweilig, aber genrebedingt ohne Spannungsbogen. Rameaus bekanntes Opéra-ballet Les indes galantes nimmt nicht nur im Titel Anleihen bei Campra.
Musiziert und gesungen wird in dieser Einspielung charmant, galant und homogen. Fünf Sänger singen 18 Rollen, Sopranistin Caroline Mutel als etwas zu wenig verführerische Venus und die warm timbrierte Mezzosopranistin Isabelle Druet als Discorde bestimmen den Prolog, die kanadische Sopranistin Heather Newhouse als spröde Schönheit Céphise, Isabelle Druet als Doris und der vielfältig einsetzbare Bassist Nicolas Courjal mit durchgängig schöner und ausdrucksvoller Stimme als Silvandre stellen das Dreiecksverhältnis des französischen Akts dar. Tenor Anders J. Dahlin – ein bemerkenswerter haut-contre – als Dom Pedro und Nicolas Courjal als Dom Carlos rivalisieren in Spanien unter den Balkonen. In Italien prägen dunkle Leidenschaft und Eifersucht die Liebe Octavios (Nicolas Courjal) zu Olimpia (Isabelle Druet). Und im Serail verliebt sich die Sklavin Zaïde (Isabelle Druet) in Sultan Zuliman (Nicolas Courjal), der Roxane (Caroline Mutel) nicht mehr begehrt. Sébastien d’Hérin dirigiert das mit 28 Musikern besetzte Ensemble Les Nouveaux Caractères, der Eindruck ist frisch und lebendig. Die Ouvertüre schreitet zeremoniell tänzelnd und pompös, als ob dem Sonnenkönig gehuldigt wird, danach hört man eine Interpretation mit viel Sinn für Details, bei der die jeweils aufspielenden Einzelinstrumente oft im Vordergrund sind. Die 18 Chorsänger haben einiges zu tun und meistern ihre Aufgabe souverän. In der Summe eine gelungene und lückenschließende Einspielung mit vielen Stärken, bei der man bestenfalls anmerken kann, dass manchmal ein pastoser Pinselstrich fehlt, der etwas mehr Kontur verleiht (2 CD, Château de Versailles Spectacles, CVS002). Marcus Budwitius