Händel aus Tourcoing

 

Aus dem Jahr 2008 (!!!) stammt ein Live-Mitschnitt von Händels Orlando aus dem Théatre Municipal de Tourcoing. Das Stück auf ein anonymes Libretto nach Ariostos Orlando furioso wurde 1733 in London uraufgeführt und behandelt die üblichen emotionalen Verstrickungen zwischen zwei Paaren. Ritter Orlando ist unglücklich verliebt in die Königstochter Angelica, die dem afrikanischen Prinzen Medoro zugeneigt ist, der wiederum von der Schäferin Dorinda begehrt wird. Für Händels Libretto wurde zusätzlich die Figur des Zoroastro erfunden – ein Magier und Wahrsager, der im Werk als Zeremonienmeister fungiert.

Das Live-Dokument ist durch die Mitwirkung von Christophe Dumaux in der Titelrolle von besonderem Interesse (PC 10392, 3 CD). Den französischen Countertenor, sonst vielerorts auf die zwiespältige Partie des Tolomeo in Giulio Cesare abonniert, in einer heroischen Partie zu erleben, ist sehr reizvoll. Schon in Orlandos Auftrittsarie, „Stimulato della gloria“, nimmt er mit seinem sinnlichen Timbre und der kultivierten Stimmführung für sich ein. Mit schmerzlichem Ton färbt er das Recitativo accompagnato „Imagini funeste“ und brilliert in der nachfolgenden Arie „Non fu già men forte Alcide“ mit mühelosem Fluss der Koloraturen. Orlandos Bravourarie, „Fammi combattere“, steht am Ende des 1. Aktes und Dumaux singt sie mit stupender Virtuosität in den Koloraturläufen und kunstvollen Variationen. Die Arie im 2. Akt, „Cielo!“, interpretiert er mit entschlossener Attacke und gibt den Koloraturrouladen Vehemenz. Die Schönheit und Besonderheit seiner Stimme spiegelt sich eindrucksvoll im Rezitativ „Dove, dove guidate“ wider. Überhaupt bestreitet der Held fast die gesamte zweite Hälfte des  2. Aktes. Von existentieller Verzweiflung erfüllt ist das Rezitativ „Ah stigie larve!“, von kühnen Harmonien das Arioso „Già latra Cerbero“. Eine äußerst flexible Stimmführung verlangt die Arie „Vaghe pupille“, der Counter singt sie betörend und träumerisch entrückt. Kunstvolle Interpretation und stimmliche Schönheit verbinden sich hier auf das Schönste. Starke Kontraste finden sich auch in seinen Soli im 3. Akt – von trancehaft überirdischem Klang „Già per la man“, von vehementer Erregung „Per far, mia diletta“. Schließlich führt Orlando das jubelnde Finale an, welches das lieto fine preist.

Das Niveau des Titelrollensängers erreicht kein anderer Interpret dieser Aufführung. Allenfalls der zweite Counter, Jean Michel Fumas, der den Medoro singt, kommt mit seiner weichen, sensiblen Stimme und dem empfindsamen Vortrag, der freilich gelegentlich die Grenze der Larmoyanz streift, in Dumaux’ Nähe. Besonders mit der Arie im 2. Akt, „Verdi allori“, die an Ruggieros „Verdi prati“ in Alcina erinnert und ein bewegendes Seelengemälde ist, bezaubert er mit schmeichelndem Ton. Die weibliche Hauptrolle der Angelica ist Elena de la Merced anvertraut. Auch sie kann gefallen mit ihrem Sopran, der lyrische Qualität aufweist. „Chi possessore“ singt sie mit kokettem Ausdruck, „Se fedel“ besitzt Nachdruck und Höhenglanz. Ungewöhnlich ist der Schluss des 1. Aktes mit einem Terzett, in welchem sich die Stimmen von Angelica. Medoro und Dorinda kunstvoll verflechten. Bei „Non potrà“ im 2. Akt hört man kämpferische Energie und stürmische Koloraturen. Die sehnsuchtsvollen Seufzer der „Verdi piante“ formuliert die Sopranistin mit berückender Innigkeit und Schlichtheit.

Jean-Claude Malgoire dirigiert den „Orlando“ aus Tourcoing/ Foto CBS

Der Sopran von Rachel Nicolls als Dorinda verfügt über weniger lyrische Substanz. Die Auftrittsarie „Ho un certo rossore“ wird getrübt von bohrendem Ton und heulendem Klang in der hohen Lage. Man hört ihrem Gesang nicht unbedingt gerne zu. Die muntere Arie „O care parolette“ singt sie beherzt, aber im 2. Akt stellt sich bei „Quando spieghi“ wieder der störend weinerliche Beiklang ein. Achtbar gelingt ihr „Amor è qual vento“ im letzten Akt. Auch Alain Buet als Zoroastro kann nicht voll überzeugen. Schon in seinem gewichtigen Auftrittsarioso lässt er einen verquollenen Bariton mit dumpfer Tiefe hören. Sein nächstes Solo, „Mira, e prendi“, ist geprägt von energischem Vortrag, doch sind die Koloraturen verwaschen. Immerhin kann er im 3. Akt bei „Sorge infausta“ durch autoritären Klang punkten.

Jean-Claude Malgoire, der im Jahre 2018 verstorbene französische Dirigent (der ja bereits früher Händel-Aufnahmen in Tourcoing gemacht hat), leitet das von ihm gegründete Ensemble La Grande Écurie el la Chambre du Roy. Schon in der gravitätischen Ouverture mit einem rhythmisch straffen Mittelteil überzeugt das klangvolle Spiel des Orchesters. Diesen Eindruck bestätigt die Sinfonia vor dem 3.  Akt. Und wie sensibel und differenziert der Klangkörper einzelne Arien einleitet und den Sängern damit die denkbar beste Folie liefert für ihre Interpretation, ist beglückend zu hören. Bernd Hoppe