Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Festivalecho

Nicht unterkriegen lassen von Covid-19 wollte sich die Donizetti-Stadt Bergamo, die zu Beginn der Pandemie als abschreckendes Beispiel für eine verfehlte Krisenpolitik bekannt wurde, und so führte sie trotz allem ihr alljährliches Festival im Herbst auch im Jahr 2020 durch. Anders verhielt man sich in Wien, wo für Aufführungen von Donizettis Belisario am Theater der Stadt Wien sogar teilweise, mit Roberto Frontali und Carmela Remigio, dieselben Sänger für die Titelpartie und die Antonina verpflichtet waren, wo die Aufführungen jedoch ersatzloch gestrichen wurden.

Natürlich gab es nicht wie vorgesehen eine szenische, sondern eine konzertante Aufführung, vom Label Dynamic dankenswerterweise aufgezeichnet. Das Parkett war dafür leergeräumt worden, sodass die Sänger viel Platz für beachtliche Abstände voneinander hatten, zwischen den ebenfalls über einen gewaltigen Raum verteilten, dazu noch mit Masken versehenen Chor, den Bläsern ohne und den Streichern mit Masken waren Plexiglaswände aufgestellt, auch Dirigent Riccardo Frizza trug eine Maske, die ihm allerdings regelmäßig unter die Nase rutschte. Eine eigenartig beklemmende Atmosphäre also, und umso größer die Bewunderung dafür, dass eine überaus mitreißende Aufführung von hohem künstlerischem Rang gelingen konnte.

Noch während Donizetti an seiner Lucia di Lammermoor für Neapel feilte, hatte er die Arbeit am Belisario begonnen, an der Vertonung des Schicksals eines oströmischen Feldherrn, der von Vandalen bis Persern alles besiegte, was dem oströmischen Kaiserreich als Bedrohung erschien, der sich schließlich eines ruhigen Lebensabends erfreute, was natürlich wenig operntauglich ist, so dass das Libretto lieber der Legende folgte, die von Blendung  und frühem Tod nach einer ungerechten Anschuldigung wissen will.

Ursprünglich war Placido Domingo, der immer bestrebt ist, sein Bariton-Repertoire zu erweitern, für die Titelpartie vorgesehen, sagte jedoch ab, so dass Roberto Frontali die Rolle übernahm und sich als wahrer Glücksfall erwies. Übrigens hatte bereits 1970 das Stück mit Leyla Gencer als Antonina eine promintente Besetzung erfahren. Der italienische Bariton nun gleicht von Mal zu Mal stärker Renato Bruson, was Legato und Phrasierung betrifft, die Stimme ist mit den Jahren etwas dunkler geworden, trägt auch in der mezza voce sehr gut und ist purer vokaler Balsam im Duett mit seiner Bühnentochter Irene „Ah se potessi piangere“. Letztere wird vom Mezzosopran Annalisa Stroppa gesungen, mit einer Stimme bis in die höchsten Höhen wie aus einem Guss, die die Töne raffiniert modelliert, feinste Tongespinste für  „Amici, è forza separarci“ hat und die das Terzett im letzten Akt nicht nur mit leuchtender Stimme anführt, sondern auch noch mit einem schönen Schlusston krönt.  Die aus gutem Grund intrigante Gattin Belisarios mit Namen Antonina wird von Carmela Remigio angemessen exaltiert, doch nie Belcantogrenzen überschreitend  gesungen, mit tollem Pianissimo in „Sin la tomba“, ebenmäßig bis in die Tiefe bei „é a me negata“, geschickt Belcanto an die Grenzen des Möglichen, was Expression betrifft, treibend. Ein echter tenore di grazia ist Celso Albelo, der als Alamiro seine Stärken in der leider nicht oft geforderten Höhe hat, während die Mittellage recht flach klingt, in „A si tremendo annunzio“ bewegt er sich leider nicht in seiner Komfortzone, erst in der folgenden Cabaletta geht es endlich in die bemerkenswerte Höhe. Es gibt noch einen zweiten Tenor, Klodjan Kacani als Eutropio, optisch wesentlich attraktiver als die Nummer 1 und vokal durchaus markant. Den Kaiser Giustiniano singt mit machtvoller Röhre Simon Lim.

Riccado Frizza ist ein erfahrener Kapellmeister, der bereits in der Sinfonia sowohl die tiefe Tragik wie das befremdend fröhlich Beschwingte auszuloten weiß mit einem Orchester, das natürlich seinen Donizetti im Schlaf spielen könnte. Die Oper Belisario verdient, da sie hinter der gleichzeitig entstandenen Lucia musikalisch in nichts zurücksteht, unbedingt einen Platz im Repertoire (Dynamic 57907 +7907.02 2 CDs/Audio)Ingrid Wanja     

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Ungekürztes aus Innsbruck

 

Il matrimonio segreto von Domenico Cimarosa ist ein melodramma giocoso in zwei Akten nach einem Libretto von Giovanni Bertati, das am 7. Februar 1792 unter der Leitung des Komponisten im k.k. Theater nächst der Burg (Burgtheater) in Wien uraufgeführt wurde. Obwohl Cimarosas bekannteste Oper relativ selten auf der heutigen Bühne und Tonträger zu finden ist (wenngleich doch einige ältere, wenngleich gekürzte  Aufnahmen wie z. B. die von der DG, Decca oder die alte verdienstvolle RAI-Einspieling in Erinneriung bleiben), seine Zeitgenossen, unter anderen Kaiser Leopold II., jedoch so begeistertwaren, dass das ganze Stück am Abend der zweiten Aufführung wiederholt werden musste.

Die vorliegende Aufnahme (CPO 555 295-2), ein Live-Mitschnitt von der Innsbrucker Festwochen den Alten Musik (August 2016), bietet, insofern ich weiß, die einzige ungekürzte Fassung der Oper.  Alessandro De Marchi dirigiert das Orchester der Academia Montis Regalis auf historischen Instrumenten mit Präzision, Scharfsinnigkeit und Detailgenauigkeit sowie emotionale Ausdruck in eine durchaus fesselnde und überzeugende Einspielung. Das Publikum ist meistens nur zwischen den musikalischen Nummern hörbar: ihr Applaus sowie Gelächter vermitteln den Eindruck einer echten Theateraufführung.

Il matrimonio segreto enthält keine Chöre, die Oper besteht aus Arien und Ensembles. Die hervorragende Sängerbesetzung umfasst Renato Girolami (Conte Robinson), Donato Di Stefano (Geronimo), Loriana Castellano (Fidalma), Klara Ek (Elisetta), Giulia Semenzato (Carolina) und Jesús Álvarez (Paolino). Da etwa 80 Prozent von ihnen Muttersprachler sind, merkt man, dass sie verstehen was sie singen und den komplexen Text idiomatisch ausdrücken können.

Semenzato und Álvarez wirken sympathisch als ein junges Liebespaar, das heimlich geheiratet hat; Girolami verkörpert einen lustigen Grafen der sein Versprechen, Elisetta zu heiraten erfüllt, obwohl er Carolina eigentlich liebt; Castellano schildert mitfühlend die Enttäuschung von einer reichen Witwe, die in Liebe zu Paolino entbrannt ist, ohne ihr Wissen, dass er bereits mit Carolina verheiratet ist; Ek porträtiert eine eifersüchtige, wütende ältere Schwester, die möglicherweise um eine Ehe mit einem adligen Mann betrogen werden könnte; Di Stefano gibt das Gefühl von einen liebevollen, aber verwirrten Vater, der das Beste für seine beiden Töchter will.

Diese Aufnahme gehört zu der Sammlung von jeden Kenner und Liebhaber der Wiener Klassik, nicht nur weil es eine Lücke in unserer Auffassung dem musikalischen Zeitgeist in Wien während der 1790er Jahre füllt, sondern als auch eine große Vergnügung. Die Präsentation von CPO ist insgesamt gut, ein Beiheft mit vollständigem Libretto in italienischer, deutscher und englischer Sprachen ist dabei. Leider gibt es weder Seitenzahlen für einzelne Titel noch Kommentar auf Italienisch, der Sprache des Werkes.

Es wäre eine große Freude, mehr von Maestro De Marchi und seiner Academia zu hören. Wünschenswert wären Aufnahmen von Nicolò Jomellis Armida abbandonata, was Mozart und sein Vater im Teatro die San Carlo in Neapel am 30. Mai 1770 erlebt haben, sowie Martin y Solers Una cosa rara und Giovanni Paisiellos Il Barbiere di Siviglia. Daniel Floyd

Domenico Cimarosa: Il matrimonio segreto, mit Renato Girolami, Donato Di Stefano, Loriana Castellano, Klara Ek, Giulia Semenzato, Jesús Álvarez, Academia Montis Regalis, Alessandro De Marchi; CPO 3 CD 555 295-2

Achtungserfolg aus Wien

 

Platée, eine lyrische Komödie („ballet bouffon“) von Jean-Philippe Rameau mit einem Libretto von Adrien-Joseph Le Valois d’Orville, besteht aus einen Prolog und drei Akten und wurde am 31. März 1745 in Versailles uraufgeführt. Das Werk fand erstmals wenig Erfolg, erst neun Jahre später mit einer Wiederaufnahme des Werkes erlebte es einen Triumph. Dann verschwand die Komposition aus dem Repertoire bis zu einer Wiederentdeckung im Mitte des 20. Jahrhunderts, dank einer Produktion des Aix-en-Provence Festspiels im 1956.

Es gibt nur eine kleine Auswahl von Aufnahmen auf dem Markt: u.a. eine aus der obengenannten Aufführung von Aix-en-Provence unter der Leitung von Hans Rosbaud, sowie eine von Marc Minkowski, die 1990 veröffentlicht wurde. Eine kürzlich erschienene Aufnahme von Les Arts Florissants mit dem Arnold Schoenberg Chor unter der Leitung von William Christie wurde im Theater an der Wien in Dezember 2020 aufgenommen (Harmonia Mundi,  HAF890534950). Es handelt sich um eine Live-Aufführung ohne Publikum, die sehr klar, frisch, lebendig, detailliert und warm klingt.

Bedauerlicherweise kann Christies Aufnahme der Platée nur eingeschränkt empfohlen werden, obwohl es viele positive Eigenschaften, insbesondere das ausgezeichnete Barockorchester, hat. Die Verpackung scheint eher ein Souvenir der Bühnenproduktion als eine ernsthafte Audioaufnahme von Rameaus Werk. Als Beispiel könnten die vielen Fotos von der Inszenierung, die nicht für eine Audioaufnahme relevant sind (für eine DVD-Video hätten sie mehr Sinn), mit ausführlichen Kommentar und ein paar Bildern der ursprünglichen Interpreten und Veranstaltungsorte, in denen Rameau dieses Werk aufführte, ersetzt werden.

Ein vollständiges Libretto im französischen Original mit Übersetzungen ins Englische und Deutsche ist erfreulicherweise im Textheft zu finden. Der Aufsatz von Lionel Esparza bietet Hintergrundinformationen zur Oper an, aber das Interview mit Christie gibt mehr Auskunft über seine persönlichen Erfahrungen als über die Komposition selbst (es beginnt mit der Frage, ob ihm das Stück wirklich gefällt). Als renommierter Rameau-Experte, hätte Christie einen eigenen wissenschaftlichen Aufsatz über das Werk verfassen können. Er deutet an, dass eine Mischung von Ausgaben (der Uraufführung und der Wiederaufnahme) verwendet wurde, aber weitere Einzelheiten zu den getroffenen Entscheidungen wären wünschenswert. Weiterhin wäre es hilfreich, die Schlussszene, die Rameau für die Wiederaufnahme komponierte, in einem Anhang zu haben, um die beiden Fassungen vergleichen zu können.

Die Sängerbesetzung ist für dieses Repertoire gut, allerdings gibt es den Eindruck, dass sie durch Konzentration auf die Inszenierung von der Musik abgelenkt werden. Die namensgebende Rolle ist mehr als ein lächerlicher, eitler Charakter, sie hat Gefühle und wird manipuliert, um zu glauben, dass Jupiter sie wirklich liebt. Am Ende wird sie gefühllos zurückgewiesen, verhöhnt und erniedrigt, ohne dass sie dafür entschädigt oder ihr erklärt wird, warum sie missbraucht wurde. Daher würde eine komplexere Darstellung von Platée besser zum wiederholten Hören passen als die eindimensionale Charakterisierung auf dieser Aufnahme (vielleicht könnte Marcel Beekman auf der Bühne als Schauspieler überzeugen, aber seine stimmlichen Manierismen sind nervig).

Insgesamt ist dies ein lohnender Beitrag zur winzigen Diskographie der Platée-Aufnahmen, aber es lässt mehrere Wünsche offen und gilt als eine Fallstudie, die veranschaulicht, warum eine Audioaufnahme anders als eine Bühnenproduktion konzipiert werden muss. Die Kenntnis von Rameaus Musik ist wichtig, um einen umfassenden Überblick über die Entwicklung des Musikdramas im 18. Jahrhundert zu gewinnen. Mit einigen Verbesserungen könnte diese Aufnahme als Referenz für dieses Schlüsselwerk gelten und, hoffentlich, könnte Harmonia Mundi sie wiederveröffentlichen mit einem Ansatz, den ich oben angedeutet habe. Daniel Floyd

 

Jean-Philippe Rameau: Platée, mit Marcel Beekman, Jeanine de Bique, Cyril Auvity, Marc Mauillon, Edwin Crossley-Mercer, Emmanuelle de Negri, Emilie Renard, Arnold Schoenberg Chor, Les Arts Florissants, William Christi; harmonia mundi 2 CD  HAF890534950

Hommage und Visitenkarte

 

Nach und neben Karl Böhm war der gebürtige Salzburger Leopold Hager lange Zeit der herausragende Zeuge für einen authentischen Mozart-Stil, bevor „Revoluzzer“ von Nikolaus Harnoncourt bis Teodor Currentzis mit ihren alternativen Klangvorstellungen auch bei den Salzburger Festspielen für einen grundlegenden Paradigmen-Wechsel sorgten. In gewisser Weise ist dieses von dem Bariton Rafael Fingerlos im zurückliegenden Frühjahr in Salzburg produzierte und sängerisch bestrittene Recital Mozart made in Salzburg eine nostalgische Zeitreise, bei der sich Hörer, die noch mit Böhm und Hager aufgewachsen sind, entspannt zurücklehnen können. Der zum Zeitpunkt der Aufnahme 85jährige Hager zeigt mit dem Salzburger Mozarteum-Orchester, dessen Chefdirigent er von 1969-81 war, keine Spur von Altersmüdigkeit und lässt Mozarts Musik mit weitgehend beschwingten Tempi in üppiger Klangpracht erblühen. Die generationenübergreifende Zusammenarbeit im Dienste Mozarts war dem jungen Bariton ein Herzensanliegen und sollte zugleich eine Hommage an die Stadt werden, von der seine rasche Karriere ihren Ausgang genommen hatte.

Das Recital enthält alle Mozart-Opern, in denen Fingerlos aufgetreten ist, dazu eine bravouröse Arie aus der unvollendet gebliebenen „Zaide“, vier Konzertarien und das von Hager am Klavier begleitete Kunstlied „An Chloë“. Dazu das kurze Lamento „Wie unglücklich bin ich nit“ von 1772. Dass diese große Huldigung an Mozart zugleich eine tönende Visitenkarte des Sängers ist, steht außer Zweifel und er ist sich auch wohl bewusst, dass er sich bei dieser Gelegenheit mutig einer langen und großen Tradition stellen muß.

So locker und verschmitzt, wie er sich auf dem Cover präsentiert, mit Hosenträgern über dem T-Shirt, ist Fingerlos als Sänger nicht. Da ist schon etwas eine spätere Kammersängerwürde zu ahnen. Die Stimme ist kernig und der Vortrag zeigt Energie und Autorität. Die dargestellten Charaktere aber teilen sich nur verschwommen mit, vor allem fehlt es durchweg an komödiantischer Nuancierung. Und wenn wir schon in Salzburg sind: In den beiden Papageno-Arien vermisst man den Volkstheaterton, wie ihn Erich Kunz und Walter Berry so unvergeßlich trafen. In Guglielmos Arie „Donne mie“ drängen sich Vergleiche mit dem ungleich witzigeren und charmanteren Hermann Prey auf und für das Ständchen des Don Giovanni fehlt es an dem verführerischem Schmelz eines Cesare Siepi. Mag sein, dass Fingerlos in allen drei Rollen auf der Bühne und ohne die Last bedeutender Vorbilder auf dem Rücken stärkere Wirkungen erzielt.

Auf Hagers Vorschlag hin hat er in diesem Recital auch die Arien des Leporello und des Figaro aufgenommen. An sich eine reizvolle Idee, viele Sänger haben ja abwechselnd den Herrn und den Diener gesungen – man denke an Samuel Ramey, Ferruccio Furlanetto und Bryn Terfel – und ihre jeweiligen Rollenprofile haben von diesem Wechsel profitiert. Auf der Klangbühne aber sind im Falle von Fingerlos die farblichen Kontraste zwischen den Gegenspielern nicht scharf genug. Leporello ist stimmlich imposant, auch Figaro weniger aufmüpfig als herrisch. Das überraschende Prunkstück der Sammlung, auch in sängerischer Hinsicht, ist die veränderte Cabaletta der Grafen-Arie, die Mozart für den Sänger der Wiener Premiere geschrieben hatte und die selbst der Mozart-Experte Hager vorher nicht kannte. Sie erfordert eine ungeheure stimmliche Flexibilität und ist mit 14 hohen G’s eine Herausforderung für jeden Bariton. Für Fingerlos, der kein Bassbariton ist, wie er in vielen Mozartrollen angelegt ist, sondern mehr in die tenorale Richtung neigt, ist das ein gefundenes Fressen. (Solo Musica SM 377Ekkehard Pluta

Bekenntnisse eines Kiri-Te-Kanawa-Fans

 

Dieser Rosenkavalier aus Covent Garden mit Kiri Te Kanawa als Marschallin hat in meinem Leben eine derart zentrale Rolle gespielt, dass ich ihn jetzt, wo er nochmals neu bei Opus Arte als DVD (OA1341D DVD) erschienen ist, nicht sehen kann, ohne dass gleich eine ganze Backstory mitschwingt. Wegen der ich diese von Georg Solti dirigierte Produktion mit Kostümen von Maria Björnson und in der Regie von John Schlesinger immer mehr lieben werde als alle anderen Fassungen. Mit Ausnahme des Schwarzkopf/Karajan-Films, der (für mich) außer Konkurrenz läuft.

Im Jahr 1985 war ich 18 Jahre alt und hatte im deutschen Kino gerade den E.-M.-Forster-Film Zimmer mit Aussicht gesehen, der mein Leben nachhaltig verändern sollte – Italiensehnsucht und all das. Im Film hört man zweimal Te Kanawa mit Puccini-Arien. Ich verfiel dieser Stimme unmittelbar und hörte über Wochen und Monate den Soundtrack rauf und runter, wie man das mit pubertärem Enthusiasmus halt so tut. Kiri Te Kanawa selbst hatte ich nie gesehen (YouTube gab es noch nicht), live konnte ich sie in Berlin auch nicht hören, weil sie dort erst sehr viel später einmal als Arabella auftrat.

Deshalb war ich einigermaßen aufgeregt, als während der Sommerferien bei meinen Großeltern in Irland jemand sagte: „Deine Kiri ist heute im Fernsehen!“ Es war eine Übertragung dieses Rosenkavalier aus London. Und ich sehe mich noch mit fast religiösem Ernst vorm kleinen TV-Gerät meines Großvaters in Belfast sitzen, der glaubte, ich sei verrückt, drei Stunden vorm Fernseher zu verbringen. Aber genau das geschah. Ab und zu brachte meine Großmutter eine Tasse Tee vorbei und fragte, wann es denn endlich vorbei sei, damit sie wieder ins Wohnzimmer könne. Sie musste sich gedulden, weil mein Großvater entschied, dass man die Kulturbegeisterung seines ältesten Enkels nicht abwürgen sollte. (Danke! Danke! Danke!)

Ja, natürlich hat die Marschallin nicht viele Passagen im ersten Akt, wo es um Stimmschönheit geht. Jedenfalls nicht in einer Weise, die mit Puccini-Arien vergleichbar wäre und Zimmer mit Aussicht. Deshalb läuft alles auf den Moment zu, wo die Marschallin am Ende des ersten Akts auf das hohe As segelt, ein Ton, den Te Kanawa mit einer Weltentrücktheit hält, der mich mitten ins Herz traf. (Vorher gab’s auch weitere solche Passagen, etwas „Und in dem wie… da liegt der ganze Unterschied“.)

Man sieht dazu opulente Kostüme von der Frau, die zeitgleich The Phantom of the Opera kreierte. Hier gibt’s zwar keine herabstürzenden Kronleuchter und Masken, aber es ist eine ausladende Barockwelt mit Goldprunk und Liebe zum Detail. Die Farben wirken in der Neuausgabe etwas matt. Ich bin sicher, dass das live im Theater gleißender zwischen Gold und Silber (im 2. Akt) changierte. Das zu restaurieren wäre lohnend.

In diesem Gold-und-Silber-Ambiente singen neben Te Kanawa weitere vorzügliche Solisten. Besonders Barbara Bonney ist eine fabelhafte junge Sophie, die die Rosenübergabe mit berückenden Oktavsprüngen gestaltet und für mich angenehmer anzuhören ist als Barbara Hendricks auf der späteren EMI-Einspielung mit Te Kanawa. Während dort Anne Sofie von Otter als herb-sinnlicher Octavian brilliert, tritt hier Anne Howells an. Sie ist international kaum bekannt geworden, war damals aber ein Ensemblemitglied von Covent Garden und liefert einen souveränen Octavian mit heller höhensicherer Stimme ab. Und mit viel Spielbegeisterung.

Die drei Damen zusammen bilden im dritten Aufzug dann das Trio für den Moment-der-Momente. Selbstredend ist Te Kanawas „Hab mir’s gelobt“ das gesangliche Highlight dieser Aufführung. Ich erinnere mich, wie ich vor lauter E.-M.-Forster-Begeisterung 1987 nach London zog, erstmals weg von Berlin und von zuhause (nach Italien kam ich erst später als Student). In London ergatterte ich einen Job als Platzanweiser in Covent Garden. Gleich in meiner ersten Woche stand eine Abschiedsgala für den scheidenden Intendanten Sir John Tooley an. Und Te Kanawa sollte kommen, um mit Solti das Rosenkavalier-Trio zu singen. Schließlich fiel die vorliegende Rosenkavalier-Inszenierung in Tooleys Amtszeit.

Ich schlich mich also am Probentag auf einen Platz ganz hinten im Theater und wartete auf Dame Kiri. Genau wie das Orchester. Als sie mit zirka 20 Minuten Verspätung im weißen Tennisoutfit und mit vielen zusammengeklebten A4-Seiten unterm Arm auf die Bühne schlenderte, sagte Solti mit seiner unverwechselbaren Stimme aus dem Orchestergraben: „Kiri, you naughty, naughty girl!“ Sie lächelte und entschuldigte sich. Faltete die geklebten Seiten auseinander. Und fing an zu singen. Ich weiß leider nicht mehr, wer die anderen Solisten waren, weil alles von Te Kanawa überstrahlt wird in meiner Erinnerung. Denn was dann bei der Probe an Tönen bis in den obersten Rang von Covent Garden herüberwehte, gehört für mich zum Eindringlichsten, was ich je live gehört habe. Es war meine erste direkte Begegnung mit der Stimme, die ich so sehr verehrte. Und ich weiß noch, dass ich so gerührt davon war, dass ich weinen musste. Besonders als dann beide Soprane aufs hohe H zusteuerten und dieser Ton durchs Auditorium flog – bis zu mir, unterm Dach im Dunkeln. Man könnte sagen es war ein „Operntuntentraum“, und ich muss heute selbst lachen wenn ich das sage.

An diesen Live-Effekt kommt die DVD nicht heran. Denn Kiris Stimme hatte in der Höhe eine schwebende körperlose Qualität, die Tonträger nur ansatzweise einfangen können. Aber wie die Kameras von Brian Large die drei Damen einfangen und übereinander montieren, um das Gegeneinander der Gefühle zu verdeutlichen, das ist schon großartig. Und wenn Kiri am Schluss wieder ihren Betroffenheitsblick mit den gespannten Lippen aufsetzt, dann verfehlt das seine Wirkung nicht. Offensichtlich weiß sie immer, wo die Kamera ist. Und sie kommuniziert durch die Kamera direkt mit ihren Fans, ohne dabei die Rolle der Marschallin zu verlassen. Das hier ist keine Marie-Theres, die lange allein sein wird. Dafür ist sie viel zu souverän und sich ihrer Anziehungskraft bewusst. Was eine interessante Interpretation der Rolle ist.

Aage Haugland ist ein guter Baron von Ochs, rund und plump, wie aus dem Bilderbuch. Auch die übrigen Rollen sich mit Sorgfalt besetzt: Dennis O’Neill als italienischer Sänger, Jonathan Summers als Faninal, Phyllis Cannan als Marianne etc. Aber: Schlussendlich bleibt es die Te-Kanawa-Show, getragen von Georg Solti am Pult. Dass er seine Diva liebt, spürt man in jedem Moment, denn er gibt ihr immer wieder Zeit zum Atmen. Und wenn die Herzstillstandmomente kommen, erlaubt er sogar ein Ritardando, was bei Solti nicht unbedingt selbstverständlich ist. Das gilt übrigens auch für Bonney, die vom Dirigenten ebenfalls wie auf Händen getragen wird. Von den diversen Gerüchten rund um Beziehungen zwischen Dirigent und Sopranen hörte ich während meiner Platzanweiserzeit von einem Geiger im Orchester. Auch ihn hier im Film kurz zu sehen … ist eine Erinnerung an meine „wilden“ Tage in London und Covent Garden, die mein Verständnis von Oper nachhaltig geformt haben.

Schwärmt für Kiri Te Kanawa: Autor und Operettenchampion Kevin Clarke/Foto ORCA

Das alles nun nach 35 Jahren nochmals komplett zu sehen, statt nur Ausschnitte auf YouTube, ist wunderbar. Ob die Magie sich auch auf andere überträgt, die keine hoffnungslosen Kiri-Fans  sind, kann ich nicht beurteilen. Als Rosenkavalier-Film ist die Schwarzkopf-Fassung viel überzeugender, gar keine Frage. Verglichen mit etlichen Regieexperimenten der letzten Jahre finde ich die Schlesinger/Björnson-Fassung wie eine Flaschenpost aus einer anderen Zeit, als man Oper – zumindest in England – noch im historischen Kontext der Originalhandlung beließ und klar eine Geschichte erzählte, die mit dem Libretto deckungsgleich ist.

Man kann die Opus-Arte-Neuausgabe auf DVD also als historisches Dokument sehen. Auf der EMI-Einspielung von 1991 mit der Staatskapelle Dresden, unter Bernhard Haitink, klingt Te Kanawa noch souveräner als hier, allerdings finde ich Soltis raschere Tempi und Energie überzeugender. Das Covent-Garden-Orchester spielt unter Soltis Drill hervorragend. Und die Kostüme von Björnson für Dame Kiri – inklusive weißer Perücke im letzten Akt – bleiben singulär schön (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)Kevin Clarke

 

Der Artikel von Freund Kevin Clarke hat uns bei operalounge.de zutiefst gerührt, erinnert seine nostalgische Schwärmerei uns doch alle an eben diese unvergesslichen Momente im Leben jedes einzelnen, in denen die Zeit stillstand und die uns alle so nachhaltig geprägt und beeinflusst haben. Ein jeder hat diesen Schatz an Eindrücken und erinnert sich an eben diesen einen, ganz wichtigen, unvergleichlichen Moment wie durch eine Lupe schauend in das eigene Erleben. Wir haben deshalb beschlossen, mit Kevins Artikel eine neue Reihe zu begonnen: „Glück, das mir verblieb …“ und werden solche bleibenden Eindrücke sammeln und vorstellen. Danke Kevin.

Aufregend

 

Sie war in vielen Produktionen der erotischste, liebenswerteste Cherubino in Mozarts Le Nozze di Figaro, jetzt hat sich die französische Sängerin  mit auch spanischen Wurzeln Marianne Crebassa mit der Seguedilles genannten Erato-CD einer der weiblichsten Heldinnen der Oper, nämlich Bizets Carmen angenommen, deren drei Arien sie zu Beginn, in der Mitte und ganz am Schluss ihrer Aufnahme zum Besten gibt. Dazwischen allerdings wird man mit weit weniger Bekanntem konfrontiert, Opernarien und Chansons in französischer oder spanischer Sprache, erstere vom Orchestre National du Capitole de Toulouse unter Ben Glasberg, letztere von Alphonse  Cemin auf dem Klavier begleitet.

Crebassas Carmen ist keine schwerblütige, dunkle Erotik versprühende, sondern eine sehr moderne mit straffer und manchmal ganz leicht scharfer Stimme dem Hörer mitteilend, dass mit ihr nicht gut Kirschen essen ist. In der Habanera versieht sie „L’amour“ mit vielen unterschiedlichen Schattierungen, zieht das Schlank- dem Üppigsein vor, ist voller vokaler Raffinessen wie einer Piano-Fermate, einem Schluss mit bemerkenswertem Crescendo, üppig nicht durch Klangvolumen, sondern durch die schöne dunkle Farbe. Auch die Séguedille ist von verführerischer, maliziöser Leichtigkeit, rhythmisch ausgefeilt und sich bedeutsam gebend erst mit „qui m’aime“. Das Chanson bohéme schließlich besticht durch die Atemlosigkeit, besser Hurtigkeit, die schon beinahe schwindelerregend ist. Es gibt natürlich auch einen Don José, Stanislas de Barbeyrac, der auch in anderen Tracks und dort ausführlicher werdend auftaucht und eine sehr angenehme Tenorstimme hören lässt.

Als Salud aus De Fallas La vida breve scheut die Sängerin auch ein schönes Pathos nicht, erfreut den Hörer durch eine schwelgerische Trauer in der Stimme, die schlank und farbig in die Tiefe hinabsteigt. Massenets Dulcinée ist von eleganter Leichtigkeit mit schönem Triller prunkend, lässt den dunklen Hintergrund des Geschehens erahnen, während Offenbachs Périchole in ihrer Séguedille Leichtigkeit und Spritzigkeit versprüht.

Vier aus den sechs Canciones Castellanas von Jesús Guridi verzücken den Hörer durch feine Tongespinste, durch ein zartes Leuchten der Stimme, durch duftig Hingetupftes. In Massenets Nuit d’Espagne wetteifern Stimme und Gitarre (Thibaut Garcia) im zunehmend Fordernden miteinander. Camille Saint-Saens ist mit El Desdichado vertreten, in dem Mezzosopran und der Sopran von Adriana Gonzáles reizvoll miteinander wetteifern. Es folgen fünf Chansons von Federico Mompou, in denen die Stimme, wo es angebracht erscheint, sehr schön instrumental geführt wird, bitter-süß klingt und alles von einer sehr interessanten Begleitung profitiert. Fast in Sopranhöhen und das ohne Mühe schwingt sich der Mezzosopran in De Fallas Séguedille, ehe mit Ravels L’Heure espagnole der vorläufige und mit Bizets Carmen der endgültige Schlusspunkt für eine wegen ihrer eindringlichen Schönheit, ausgefeilten Technik und bestechenden Stilgefühls überaus hörenswerte Stimme und deren CD erreicht ist. Übrigens gibt Marianne Crebassa ihr Rollendebüt als Bellinis Romeo 2022 an der Mailänder Scala.( Erato 019296676895Ingrid Wanja

 

Merrie England

 

Arthur Sullivan (1842-1900) ist heutzutage in erster Linie als Komponist leichter Opern und Operetten bekannt, was ihn im angelsächsischen Raum zu einer der populärsten Gestalten in der Musikgeschichte macht. Dass ihm indes aufgrund der Wertschätzung seitens des britischen Königshauses auch andere Kompositionen zukamen, ist mittlerweile beinahe vergessen. Festmusik für die Royals komponierte er schon in den 1860er Jahren, darunter ein Festival Te Deum (1872), mehrere Oden, den Imperial March (1893) und ein weiteres Te Deum (1900) – sein letztes vollendetes Werk. Anlässlich des Diamantenen Thronjubiläums von Königin Victoria im Jahre 1897 schrieb er nicht nur die Jubilee Hymn, sondern auch das Ballett Victoria and Merrie England. Die Zuneigung der Queen für Sullivan zeigte sich schon 1883, als er den Ritterschlag erhielt – seinerzeit für einen Komponisten eine alles andere als selbstverständliche Auszeichnung. Tatsächlich unterschieden sich die damaligen englischen Ballette deutlich von jenen aus Russland (Tschaikowski) und Frankreich (Delibes). Stets einaktig angelegt, waren sie vielmehr Mimendramen in zahlreichen Szenen.

 Victoria and Merrie England wurde am 25. Mai 1897 am 1936 abgerissenen Alhambra Theatre in London uraufgeführt, erfreute sich großen Zuspruchs und hielt sich bis 1912 im Repertoire. In acht Szenen untergliedert, ist das Stück eine Apotheose auf die britische Geschichte, beginnend mit Ancient Britain, also dem vorchristlichen Britannien, über die elisabethanische Epoche in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (May Day in Queen Elizabeth’s Time – zwei Szenen umfassend), die legendäre Jagdgottheit Herne, derer sich Shakespeare bediente (The Legend of Herne the Hunter – wiederum zwei Szenen), die Zeit des Stuartkönigs Karl II. in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Christmas Revels in the Time of Charles II) bis hin zur 1838 erfolgten Krönung Victorias (Coronation of Queen Victoria) und dem nämlichen Jubiläumsjahr als glorreichen Abschluss (1897 – Britain’s Glory). Die Szenen dauern zwischen sechs und gut zwanzig Minuten. Musikalische Zitate aus Rule, Britannia, The British Grenadiers und am Ende der Nationalhymne God Save the Queen sind geschickt eingebaut. Ein wirkliches Meisterwerk ist diese Ballettmusik eher nicht. Die Musik wirkt vielfach austauschbar. Am stärksten ist sie tatsächlich in den wenigen dramatischen Momenten, besonders beim Sturm im Wald von Windsor aus Herne the Hunter. Gleichwohl wird ein spannender Blick auf den Komponisten Arthur Sullivan abseits seiner ungleich berühmteren Bühnenwerke eröffnet.

Die Weltersteinspielung des Werkes besorgte – wie so häufig – das umtriebige Label Marco Polo (Aufnahme: Dublin, September 1993; erschienen 1995). Fast drei Jahrzehnte später sorgt Naxos für eine Neuauflage (8.555216). Es zeichnet verantwortlich die irische RTÉ Sinfonietta unter dem Dirigat des in diesem Repertoire bewährten Andrew Penny. Die Darbietung ist künstlerisch vollkommen angemessen und überzeugt auch klanglich. Die Textbeilage (bloß auf Englisch) fällt labeltypisch spartanisch, aber noch ausreichend aus. Daniel Hauser

Überwältigende Konkurrenz

 

Die beste aller möglichen Candide-Aufnahmen zu finden ist schwer. Weil Leonard Bernsteins eklektisches Werk von 1956 – seine einzige echte „Operette“ – so oft umgeschrieben und überarbeitet wurde, dass es unendliche viele (interessante) Fassungen gibt. Und entsprechend viele Herangehensweisen ans Stück.

Auf der neuen Doppel-CD hält sich Dirigentin Marin Alsop mit dem London Symphony Orchestra an jene Konzertversion, die bereits das New York Philharmonic 2004 sehr erfolgreich präsentiert hatte. Davon gibt’s zwar keine CD oder DVD, aber viele atemberaubende Ausschnitte auf YouTube. Atemberaubend, weil die Besetzung Musical-Stars allererster Güte bietet. Allen voran Kristin Chenoweth als Cunegunde, die kurz nach ihrem Wicked-Triumpf zeigt, wie sehr diese Rolle von perfektem Comedy Timing profitiert und wie wichtig es ist, „Glitter and be Gay“ auch zu spielen, um maximalen Effekt aus dem Koloratur-Blockbuster herauszuholen.

Dann ist da auch noch die one-and-only Patti LuPone (Broadways erste Evita) als Old Lady, die sich mit Chenoweth ein Diven-Doppel liefert, bei dem die Fetzen fliegen, wenn‘s darum geht, wer „die erste Sängerin“ sei. Paul Groves trat damals als Candide an, Thomas Allen war in der Doppelrolle des Erzählers und des Dr. Pangloss dabei.

Und Alsop dirigierte. Sie fiel mir jedoch nie auf, weil die Solisten – allen voran Chenoweth/LuPone – alles überstrahlen. Nun also nochmals Alsop und Candide. Diesmal auf CD, statt gefilmt.

Leider hat sich Alsop für die zwei Aufführungen im Londoner Barbican 2018 keine Musicaldarsteller aus dem West End geholt, sondern ein reines Opernteam zusammenstellen lassen. Zu dem gehört abermals Thomas Allen als Dr. Pangloss/Erzähler, ohne dass er großartig Neues mitzuteilen hätte. Und letztlich auch keinen Vergleich aushält mit Adolph Green, der 1989 den Erzähler auf der berühmten von Bernstein selbst dirigierten Aufnahme bei Deutsche Grammophon gibt. Überhaupt: Bei Bernstein/DG ist viel mehr Musik zu hören, und Hand aufs Herz: neben Bernstein am Pult wirkt Alsop nicht sonderlich fetzig. Was man bereits bei den ersten Takten der Ouvertüre merkt, wo der Drive und der Mut zur Operettengroteske fehlen. Da kann die Dirigentin sich im Booklet noch so sehr als enge Freundin des Komponisten darstellen – sie hätte besser von ihm lernen sollen. Ja, müssen.

Im Barbican traten Leonard Capalbo als Candide, Jane Archibald als Cunegonde, Marcus Farnsworth als Maximilian, Thomas Atkins als Gouverneur und Anne Sofie von Otter als Old Lady an. Sie alle singen gut. Aber es ist niemand von so überragender Persönlichkeit bei, weswegen ich mir unbedingt diese neue Candide-CD anschaffen würde. Wer „Glitter and be Gay“ nicht à la Chenoweth mag, sondern die Rolle lieber von einer Operndiva interpretiert hören will, ist bei June Anderson besser aufgehoben, die die Koloraturkaskaden mit jener Übertreibung und Selbstpersiflage singt, die Archibald vollkommen fehlt. Natürlich trifft Jane Archibald alle Töne, aber der Spaß bleibt (rein akustisch) auf der Strecke, als würde sie sich nicht trauen, over-the-top zu gehen. Und das betrifft nicht nur die Arie, sondern die gesamte Aufführung. Diese wirkt oft steril. Und anteilnahmslos abegeliefert.

Capalbo fehlt die honigsüße Unschuld, um ein idealer Candide zu sein. Robert Rounseville auf der Originalaufnahme von 1956 ist da unterreicht in seinem jugendlichen Optimismus. Unerreicht ist auch Irra Petina als originale Old Lady. Selbst im Vergleich zu Christa Ludwig (1989) wirkt von Otter hier lediglich passabel, ohne besondere Hingabe zu Details des gewitzten Textes. Manche werden sich an sie in der Barrie-Kosky-Inszenierung an der Komische Oper Berlin erinnern, wo sie auch eher blass blieb; zumindest für mein Empfinden. Und ich bin ein großer von-Otter-Fan!

Schmissiger und lustiger: Bernsteins von ihm selbst dirigierte Fassung bei DG

Es gibt von den diversen Candide-Fassungen hochindividuelle Aufnahmen: von der späteren Harold-Prince-Produktion von 1974, auch die New-York-City-Opera-Fassung wurde 1982 aufgenommen (nein, nicht mit Beverly Sills als Cunigonde, sondern mit Erie Mills), es gibt Aufnahmen von der erfolgreichen Fassung der Scottish Opera (1991 mit Marilyn Hill Smith als Cunegonde, Ann Howells als Old Lady und Mark Beudert als wunderbar singendem Candide), es gab eine weitere Broadway-Produktion 1997, die auf CD vorliegt mit dem famosen Jason Danieley als Titelheld, und dann existiert eine Aufnahme des Royal National Theatre (1999 mit Alex Kelly als spektakulärer Cunegonde und Daniel Evans als Candide). Die erwähnte halbszenische Aufführung des New York Philharmonic Orchestra 2004 findet sich auf YouTube. Und ja, die Deutsche-Grammophon-Aufnahme ist neben dem Original-Broadway-Cast-Album (mit der jungen Barbara Cook als frecher Cunigonde) weiterhin der Maßstab aller Dinge hier. Gemessen an all den vorangegangenen Aufnahmen ist die LSO-Einspielung wirklich nicht individuell genug, um echte Interesse zu wecken.

Es ist schon schade, dass nach so vielen Jahren wieder eine neue Candide-Aufnahme rauskommt, und die nachgerückte Künstlergeneration absolut gar nichts Neues zum Stück zu sagen hat. Die Dirigentin offensichtlich auch nicht. Da ist der ebenfalls neue West Side Story-Soundtrack zum Steven-Spielberg-Film ein gutes Beispiel, dass es auch anders geht. Dort treten Rachel Zegler und Ansel Elgort (bekannt aus Baby Driver) als Tony/Maria an und schaffen eine emotionale Direktheit, die in dieser Form neu und verblüffend ist. Ariana DeBose singt als Anita „A Boy Like That“ derart aggressive und dramatisch, dass man als Hörer umgehauen wird und meint, das noch nie so gehört zu haben. Und Rita Moreno demonstriert, dass man auch ohne Stimme eine herzergreifende Version von „Somewhere“ abliefern kann (Moreno hatte im Film von 1961 die Anita gespielt). Dazu Gustavo Dudamel als Dirigent, der mit Spielbergs Tontechnikern eine raffiniert neu ausbalancierte Lesart der überbekannten Partitur bietet, die von David Newman adaptiert wurde (John Williams war als Berater tätig, was man hört, in der besten aller möglichen Weisen). Das ist insgesamt vorbildlich. Denn: Wenn schon eine Neueinspielung, dann sollte sie auch etwas Neues zu sagen haben (LSO0834/ 10. 12. 21). Kevin Clarke

Belcanto mit Corona-Masken

 

Ausnahmsweise nicht aus Bergamo, sondern aus Florenz stammt die Aufnahme von Donizettis Linda di Chamounix, und zwar aus diesem Jahr mitten in einer Corona-Welle, sodass nicht nur Dirigent und Orchester, mit Ausnahme natürlich der Bläser, Masken tragen, sogar der Chor, der wohl deswegen oft nur wie aus einem Scherenschnitt stammend am Horizont erscheint. Immerhin wirkt das Ganze nicht allzu verstörend, da im Orchester die Masken in Schwarz gehalten sind und fast wie ein modisches Accessoire passend zum gleichfarbigen Frack erscheinen.

Neben Stilisiertem findet sich in der Inszenierung von Cesare Lievi auch Naturalistisches, so ein Häufchen Sand, dass man schön durch die Finger rieseln lassen kann. Zu Ersterem allerdings ist die Bühne von Luigi Perego zu zählen, der im zweiten Akt den Aufenthaltsort Linas in Paris nur andeutet, im ersten und letzten Akt den Schreibtisch des Präfekten unweit des Riesentisches der Dorfgemeinschaft platziert. An ersterem sitzt fast durchgehend Il prefetto, so dass man auch annehmen könnte, die Regie habe hier den Komponisten, der die Aufführung seines Werks beobachtet, in die Produktion eingefügt. Neben einer fast durchweg stimmigen Personenregie finden sich auch peinliche Ungeschicklichkeiten, so hätte ein Diwan im zweiten Akt verhindert, dass  das junge Paar beim Verführungsversuch des Visconte ungeschickt auf dem Fußboden herumrobbt. Alles in allem aber ist das eine weder im guten noch im schlechten Sinn aufregende Inszenierung, und die Kostüme von ebenfalls Luigi Perego sind sehenswert.

Sehr ansehnlich ist die Sängerbesetzung, von der sicherlich dem Prefetto die Krone gebührt. Michele Pertusi scheint auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn angekommen zu sein, sein geschmeidiger Bass weist Eigenschaften eines basso profondo auf, ohne die für den Belcanto unverzichtbaren Qualitäten eines basso cantante verloren zu haben. So nimmt es nicht wunder, dass eine absolute Rarität, das Duett zweier Bässe, denn auch der Vater Lindas, Antonio, ist ein solcher, zum sängerischen Höhepunkt der Oper wird. Vittorio Prato heißt der zweite Vertreter des tiefen Fachs, ein auf „alt“ geschminkter  Sänger mit gut konturierter, junger, gesunder Stimme. Die Oper ist ein melodramma semiserio, d.h. ist gibt zwar tragische Verwicklungen, ja, Linda wird sogar zeitweise wie auch andere Damen des Belcanto, wahnsinnig, aber es gibt ein happy end. Kennzeichnend für die Gattung ist auch das Vorhandensein komischer Figuren, hier des Marchese di Boisfleury, des Möchtegernverführers, der seiner musikalischen Ausstattung nach dem Don Pasquale oder Liebestrank entsprungen sein könnte.  Dem Sänger wird also viel vokale Geläufigkeit abgefordert, und Fabio Capitanucci geizt damit nicht, so in seiner großen Arie „È un giglio di puro candore“.

Entspricht eine Sängerin in unseren Zeiten nicht dem landläufigen, an Models orientierten Schönheitsideal, dann kann man sicher sein, dass sie eine besonders schöne Stimme hat. Das trifft auch auf Teresa Iervolino zu, die den sympathischen Pierotto darstellt und ihn mit einem Mezzosopran wie kostbarer Samt, warm und rund und farbig bis hinaus zum Spitzenton ausstattet. Wunderschön melancholisch klingt „Cari luoghi“, und reizvoll ist das Duett mit Linda. Diese wird von Jessica Pratt gesungen, und ihr weicher, geschmeidiger Sopran dominiert schön die Ensembles, klingt wie fein hingetupft in „Oh luce“, zeigt sich souverän in den Intervallsprüngen und wahnsinnsumflort im „Carlo, Carlo“. Dieser ist  mit Francesco Demuro leider eine Schwachstelle der Produktion, nicht nur wegen der sehr unvorteilhaften Frisur, sondern wegen des manchmal recht weinerlich klingenden Tenors, zwar höhensicher und mit manch schönem diminuendo aufwartend, aber insgesamt doch nicht das Ideal eines tenore di grazia.

Michele Gamba dirigiert das Orchestra del Maggio ( aber im Gennaio) Musicale Fiorentino und erweist sich als zuverlässiger Begleiter der Solisten.

Dem Label Dynamic aus Genua ist es zu verdanken, dass man ansprechende Produktionen wie diese im rauen Opernnorden genießen kann. (Dynamic 57911). Ingrid Wanja  (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.) 

Edita Gruberová

 

Die verstorbene Edita Gruberová (* 23. Dezember 1946 in Bratislava-Rača, Tschechoslowakei; † 18. Oktober 2021 in Zürich) hat eine Opern-Ära geprägt: Dass sie „die letzte Assoluta“ war, wie Jürgen Kesting in seinem Nachruf in der Frankfurter Allgemeinen behauptet, ist fraglich, da eine Cecilia Bartoli, die diesen Rang ebenfalls für sich in Anspruch nehmen kann, noch immer aktiv ist. Den Titel einer Jahrhundert-Primadonna, die mehr als 50 Jahre mit gleich bleibendem Erfolg auf der Bühne stand, kann ihr dagegen niemand bestreiten. Edita Gruberová, die am 18. Oktober – wenige Wochen vor ihrem 75. Geburtstag – in ihrer Wahlheimat Zürich an den Folgen eines häuslichen Unfalls überraschend gestorben ist, hat in der Nachfolge von Maria Callas, Joan Sutherland und Montserrat Caballé eine Ära des Belcanto-Gesanges geprägt und dabei einen unverwechselbaren Stil gefunden, der alle Vergleiche mit den großen historischen Vorgängerinnen aushält.

Am 23. Dezember 1946 als Tochter einer ungarischen Mutter und eines deutschstämmigen Vaters im slowakischen Bratislava-Rača geboren, begann sie ihre Ausbildung schon mit 15 Jahren am Konservatorium von Bratislava. Schon während der Studienzeit wirkte sie am dortigen Opernhaus als Choristin und gab ebenda am 19. Februar 1968 ihr Solo-Debüt als Rosina im Barbier von Sevilla. Die kommenden drei Spielzeiten war sie dann Ensemblemitglied des Theaters in Banská Bystrica, wo sie schon einige große Fachpartien singen konnte, darunter Violetta in La Traviata und die vier Frauenrollen in Hoffmanns Erzählungen. Am 7. Februar 1970 gab sie als Königin der Nacht ihren beachtlichen Einstand an der Wiener Staatsoper, dem fünf Tage später ein weiterer Auftritt als Olympia folgte, was zu einem festen Engagement führte. Das Jahr darauf siedelte sie nach Wien über.

Ein märchenhafter Beginn. Aber von einer Blitzkarriere konnte nicht die Rede sein, denn in den kommenden fünf Jahren musste sie sich mit kleinen und kleinsten Rollen wie der Modistin im Rosenkavalier, Ida in der Fledermaus oder Stimme vom Himmel in Don Carlos regelrecht „hochdienen“. Das Archiv der Staatsoper verzeichnet in dieser Zeit nur vereinzelte Auftritte als Konstanze, Rosina, Zerbinetta und in den beiden Einstandspartien. Vielleicht mussten erst die auswärtigen Erfolge als Königin der Nacht bei den Festspielen in Glyndebourne und Salzburg (unter Herbert von Karajan) kommen (beide 1974), bevor sie an ihrem Stammhaus wirklich ernst genommen wurde. Als 1976 eine Neu-Inszenierung der Ariadne auf Naxos unter Karl Böhm angesetzt wurde, konnte sie ein Vorsingen beim damals schon legendären Maestro durchsetzen und hatte bei der Premiere einen Sensationserfolg, der sich zwei Jahre später bei einer neuen Lucia di Lammermoor wiederholte. Und bei der Silvesterpremiere der Fledermaus 1979 machte sie  schließlich als Adele Furore.

Mit diesen vier Rollen – Königin der Nacht, Zerbinetta, Lucia und Adele – wurde ihr Name in den folgenden Jahren vor allem identifiziert. Nach und nach fand sie – zunächst in Wien – neue Aufgaben im französischen Fach (Manon) und auf dem Gebiet der Belcanto-Oper (Maria Stuarda, Giulietta in Capuleti e Montechi), aber auch als Gilda, Violetta, Rosina, Norina. Mit diesem Repertoire festigte sie international ihren Ruf als „slowakische Nachtigall“. Daneben vertiefte und erweiterte sie ihr Mozart-Repertoire, wobei die Zusammenarbeit mit Nikolaus Harnoncourt von zentraler Bedeutung für sie war. Zahlreiche Aufnahmen auch weniger gespielter Werke wie Lucio Silla und La finta giardiniera legen davon Zeugnis ab.

Der Nimbus der unübertroffenen Virtuosa, die sich mühelos in stratosphärischen Höhen bewegen konnte, reichte ihr auf Dauer aber nicht und sie begann mit über 40 Jahren gleichsam eine zweite Karriere im dramatischen Belcanto-Fach, ohne Koloraturpartien wie Amina (La sonnambula), Elvira (I Puritani), Marie (La fille du régiment) und Linda di Chamounix  zu vernachlässigen. Als Startschuß für den Neuanfang kann man ihre frenetisch gefeierte Elisabetta in Donizettis Roberto Devereux am Teatre Liceu in Barcelona (1990) ansehen, die in den folgenden Jahrzehnten bis zu ihrem Bühnenabschied ihre Paraderolle wurde, vergleichbar der Adriana Lecouvreur von Magda Olivero. Von da an eroberte sie sich weitere Belcanto-Rollen, die mithilfe ihrer Regisseure (erst Daniel Schmid und Giancarlo del Monaco, später vorzugsweise Christof Loy) auch in schauspielerischer Hinsicht Kabinettstücke wurden: Donizettis Anna Bolena, Maria Stuarda und Lucrezia Borgia, Bellinis Beatrice di Tenda und Alaide (La straniera). Mit Norma, die sie erstmals 2006 in München auch szenisch ausprobierte, begab sie sich in einen Grenzbereich, womit sie bei der Kritik ein geteiltes Echo fand. Als dramatische Belcanto-Sängerin hatte sie weltweit nur eine Konkurrentin, die im deutschen Sprachraum weniger bekannte Italienerin Mariella Devia, die auch eine annähernd lange Karriere (1973-2018) aufzuweisen hatte.

Kontinuität und künstlerische Entwicklung über die Jahrzehnte hinweg waren nur möglich, weil sich Edita Gruberová nicht damit begnügte, als virtuoser Superstar durch die Welt zu jetten, sondern an einigen Theatern ein künstlerisches Zuhause suchte und fand. Der Wiener Staatsoper hielt sie ein Leben lang die Treue. 711 Vorstellungen hat sie dort in 48 Jahren gesungen. München folgt mit 308 Vorstellungen, ihre Wahlheimat Zürich brachte es auf immerhin 200 Vorstellungen in 17 Rollen. Aber auch am Teatre Liceu in Barcelona und an der Metropolitan Opera war sie über viele Jahre ein regelmäßiger Gast. Berlin bekam sie erst seit 2013 in konzertanten Aufführungen regelmäßig zu sehen. Ihre Treue zu den Stammhäusern wurde belohnt, vor allem in München und Zürich erhielt sie die Möglichkeiten, neue Partien auszuprobieren, man richtete den Spielplan nach ihren Wünschen aus.

Was war das Besondere an Edita Gruberová? Alle Kritiker waren sich von Anfang an in ihrer Bewunderung ihrer makellosen Technik einig und über den abgerundeten Wohlklang ihrer hellen und klaren, gut fokussierten Stimme. „Ein Sonnenstrahl, durch einen Diamanten gebrochen“, dichtete Jürgen Kesting im schon erwähnten Nachruf in der FAZ. Und dieses poetische Bild entspricht durchaus der überlieferten klanglichen Realität, jedenfalls in der ersten Hälfte ihrer Karriere. Damals gab es aber auch Kritiker – wenn ich mich recht erinnere, gehörte ich selbst dazu -, die von der kühlen Vollkommenheit ihres Vortrags unberührt blieben und geprägt von Höreindrücken bei Maria Callas oder Renata Scotto das dramatische Feuer vermissten. Heute höre jedenfalls ich aus der Kenntnis ihrer späteren Aufnahmen auch in den Dokumenten der Frühzeit das innere Feuer heraus. Harnoncourt, der gleichzeitig ihre Abkehr von Mozart bedauerte, hatte Recht, als er in einem Interview behauptete, sie sei „wahrscheinlich die einzige Sängerin, die Koloraturen nicht als Sport betreibt, sondern als Ausdrucksmittel“. Und die Diva selbst meinte als 65jährige in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau rückblickend, „dass ihr als junger Sängerin schon oft der Vorwurf gemacht wurde, eine kalte Technikerin zu sein. Jetzt habe ich das Handwerkszeug, eine Emotion ganz gelassen in eine Koloratur, eine Verzierung hineinfließen zu lassen. Weil ich über Technik nicht mehr nachdenken muss.“

Um den Nachruhm Edita Gruberovás muß man sich keine Sorgen machen, denn ihre diskographische und videographische Hinterlassenschaft ist gewaltig und schier unübersichtlich. Alle ihre erfolgreichen Bühnenrollen sind dokumentiert, teilweise mehrfach und aus verschiedenen Phasen ihrer Karriere. Doch auch ihr Konzertrepertoire ist so gut wie komplett aufgezeichnet. In der ersten Phase ihrer Karriere stand sie bei tonangebenden Firmen wie Decca, EMI und Teldec unter Vertrag, aber die Unzufriedenheit mit den Produktionsbedingungen und den vielen technischen Manipulationen bei den Aufnahmen bewog sie dazu, 1992 ihr eigenes Label Nightingale zu gründen, wo sie in der Folge vor allem ihre Belcanto-Rollen in kompletten Konzertmitschnitten einspielte. Perfektionistin, die sie von Anfang an war, vertraute sie der Perfektion ihrer Live-Auftritte mehr als der synthetischen Studio-Perfektion. Bei nochmaliger Durchsicht ihrer wichtigsten Aufnahmen muß ich konstatieren, dass sie Recht hatte. Die Mitschnitte ihrer ersten Wiener Triumphe (Ariadne auf Naxos und Lucia di Lammermoor), beide bei Orfeo veröffentlicht, dürfen in keiner Sammlung fehlen, auch die Nightingale-Aufnahmen aus späterer Zeit sind für alle Freunde des Belcanto ein Muß, wobei Semiramide, La straniera und Maria di Rohan besonders hervorzuheben sind, da sie nicht in anderen Aufnahmen mit ihr vorliegen. Von ihren zahlreichen Recitals empfehle ich vor allem die in München produzierte Kunst der Koloratur (Orfeo), die auch die einschlägigen Konzertarien von Glière, Proch und Alabieff enthält, und die bei Nightingale publizierten Programme mit Schubert- und Dvořák-Liedern sowie die Duett-Platte mit Vesselina Kasarova (Wir Schwestern zwei, wir schönen).

Wohl keine andere Primadonna ist auch auf Video so umfassend dokumentiert wie Edita Gruberová, von den Anfängen in der Slowakei 1968 bis zum Bühnenabschied in München im März 2019. Auf der Internet-Seite Opera on Video finden sich an die 100 Dokumente, in der Mehrzahl komplette Aufzeichnungen von Opern und Konzerten. Zweifellos sehenswert sind die im Studio entstandenen Verfilmungen von Arabella (Schenk/Solti, Decca 1977), Ariadne auf Naxos (Sanjust/Böhm, DG 1978) Hänsel und Gretel (Everding/Solti, DG 1980) Rigoletto (Ponnelle/Chailly, DG 1982) und Cosi fan tutte (Ponnelle/Harnoncourt, DG 1988). Noch spannender sind aber auch hier ihre Live-Auftritte. In einigen Partien (z. B. Lucia, Elisabetta) ist sie gleich mehrfach vertreten. Einiges davon ist in hoher technischer Qualität als DVD erhältlich, anderes – darunter viele amateurhafte Privataufnahmen von Verehrern – ist bei youtube einsehbar.

Die frühesten Studio-Dokumente haben besonderen historischen Wert. Im Jahr ihres Debüts in Banská Bystrica hat das slowakische Fernsehen ein kleines Recital und eine komplette Traviata mit ihr aufgenommen. Im 19minütigen Recital, das Arien von Scarlatti und Hasse sowie Lieder von Mozart, Schubert, Beethoven und Strauss enthält, singt sie mit silberklarem, filigranem Sopran und bestrickendem Charme. Diese Stimme, prädestiniert für Rollen wie Norina und Gilda, kann natürlich nur eine Seite der Violetta abdecken, doch auch wenn sie in dieser Partie noch keine tragische Größe gewinnt, erscheint die erst 21jährige Sängerin doch schon erstaunlich reif in der Gestaltung. Ein kurioses Dokument entstand drei Jahre später beim ORF. Hier singt sie schülerhaft brav und dramatisch unbeteiligt, dafür gestochen scharf die zweite Arie der Königin der Nacht, wobei sie beim hohen f jedes Mal die Zunge herausstreckt („Ich dachte damals einfach, nur so kriege ich den Ton optimal.“)

 Aus den frühen Wiener Jahren gibt es einige sehenswerte Videos kompletter Vorstellungen. Erst vor ein paar Monaten kam bei Naxos ein deutsch gesungener Don Pasquale heraus, mit dem die Staatsoper 1977 in der Steiermark gastierte. Er wurde auf dieser Seite schon gebührend gewürdigt. Wir erleben hier die Komödiantin Gruberová in ihrer ersten Blüte, wenig später auch in Otto Schenks unverwüstlicher Fledermaus-Inszenierung (Arthaus, 1980), wo sie als Adele auf ihre slowakische Kollegin Lucia Popp in der Rolle der Rosalinde trifft. Ein noch immer erfrischendes Hör- und Sehvergnügen. Mit Massenets Manon hat sie sich in Jean-Pierre Ponnelles Inszenierung (DG, 1983) lyrisches Terrain erobert. Gleichwohl überzeugt sie im koloraturengespickten 3. Akt auf dem Cours-la-Reine am meisten.

Die Münchner Video-Dokumente beginnen mit einer Entführung aus dem Serail von 1980 (DG) mit dem greisen Karl Böhm am Pult. Gruberová singt da eine fulminante Marternarie mit metallischen Spitzentönen, bleibt aber darstellerisch im Rahmen der relativ konventionellen Inszenierung von August Everding. Auch für ihr szenisches Norma-Debüt hätte man der da schon 60jährigen Sängerin einen anderen Regisseur gewünscht als den sehr formal arrangierenden Jürgen Rose. Stimmlich ist das ein hochrespektables Rollenporträt, zu den ganz großen Interpretinnen dieser Partie zählt sie gleichwohl nicht. Als singende Schauspielerin sui generis zeigt sie sich in den Produktionen von Lucrezia Borgia (2009, Unitel) und Roberto Devereux (2009, DG), wo sie in den spannenden, wenngleich umstrittenen Inszenierungen von Christof Loy Mut zur auch stimmlichen Hässlichkeit beweist und durch den Gesang zugleich psychologische Innensichten vermittelt. Diese beiden DVDs müssen Gruberová-Verehrer unbedingt besitzen.

Einer von diesen hat ihren definitiven Bühnenabschied in der Rolle der Elisabeth I. an der Bayerischen Staatsoper (27. März 2019) aufgezeichnet, eine in jeder Hinsicht amateurhafte Aufnahme, aber ein sehr bewegendes Dokument. Eine Königin der Opernszene tritt ab wie die von ihr dargestellte englische Königin („Non regno! Non vivo!“ – Ich herrsche und ich lebe nicht mehr) und das Publikum huldigt ihr eine dreiviertel Stunde lang mit Ovationen, die einen eigenen Opernakt darstellen.

Einen sehr aparten Nachklang zu diesem pathetischen Opernschluss bildet die Aufzeichnung ihres tatsächlich letzten Auftritts, eines Konzerts in der Stadthalle von Gersthofen (bei Augsburg), am 20. Dezember aufgenommen, drei Tage vor ihrem 73. Geburtstag. Sie wurde am Klavier von ihrem slowakischen Landsmann, dem Dirigenten Peter Valentovic begleitet. Und sie inszeniert diesen Abgang in den Zugaben (die beiden Adele-Arien) mit hinreißender Komik und ausgebufften Nuancen auch im Gesanglichen. Und ihr launiger Klavierpartner spielt auch szenisch hübsch mit. Eine Primadonna persifliert ihren eigenen Status. Ein würdiger Abschluss. Ekkehard Pluta

 

 

Die Deutsche Oper Berlin schreibt: in der Welt der Oper, die von persönlichen Urteilen und Vorlieben geprägt ist, geschieht es sehr selten, dass einer Sängerin unbestritten der Titel einer Königin zuerkannt wird. Edita Gruberová (* 23. Dezember 1946 in Bratislava-Rača, Tschechoslowakei; † 18. Oktober 2021 in Zürich) war einer dieser seltenen Fälle: als Königin des dramatischen Belcanto regierte sie über ein Vierteljahrhundert lang ein Reich, dessen Kernlande sich um die romantischen Opern Bellinis und Donizettis konzentrierten. Und wie Elisabeth I., die sie in Donizettis Roberto Devereux so eindrucksvoll porträtierte, zog sie umher, hielt Hof und zeigte sich ihren treuen, jubelnden Untertanen.

In Berlin war die Deutsche Oper Berlin der Ort, an dem Gruberová empfing: seit 2013 war sie bis zu ihrem Bühnenabschied im Jahr 2019 regelmäßig hier zu Gast und demonstrierte, eskortiert von einem auserlesenen Hofstaat an Comprimarii, als Norma, Elisabetta und Lucrezia Borgia in konzertanten Aufführungen ihre ungebrochene Souveränität in diesem Repertoire. Mit diesen Auftritten knüpfte die 1947 in Bratislava geborene Sängerin inhaltlich direkt an ihr Hausdebüt 1980 in der umjubelten Premiere von Donizettis Lucia di Lammermoor an und bewies, dass sie sich in der dazwischenliegenden Zeitspanne nicht nur ihre blendenden Spitzentöne bewahrt, sondern an Gestaltungskraft noch hinzugewonnen hatte. Tatsächlich hat sich Edita Gruberová, deren Karriere lange an Partien des Koloraturfachs wie Mozarts Königin der Nacht und Konstanze und vor allem die Zerbinetta in Strauss‘ Ariadne auf Naxos geknüpft war, ihre Herrschaft im Reich der romantischen, zumeist italienischen Oper erst erkämpft und damit auch ein Vakuum ausgefüllt, das nach dem Abschied der voraufgegangenen Generation einer Joan Sutherland, Montserrat Caballé und Leyla Gencer entstanden war. Diese erstaunliche Spätkarriere war auch das Resultat einer Zusammenarbeit mit dem Regisseur Christof Loy, mit dem Gruberová maßstäbliche Produktionen der großen Opern Bellinis und Donizettis erarbeitete und sich so auch als Darstellerin von dramatischem Format etablierte. Jetzt ist Edita Gruberová überraschend in ihrer Zürcher Wahlheimat verstorben. Berlin bleibt der Trost, den glanzvollen Karriereherbst eine der großen Opernsängerinnen unserer Zeit miterlebt zu haben. Die Deutsche Oper Berlin wird Edita Gruberová ein ehrendes Angedenken bewahren. Kirsten Hehmeyer/ Pressebüro/ Deutsche Oper Berlin/Foto Copyright: Bettina Stöß 

 

Ein ausführlicher Nachruf von Ekkehard Pluta folgt.

Verdis „Macbeth“ 1865

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Verdi-Fans und besonders Freunde der französischen Oper wird das Herz schneller geschlagen haben, als sie die Ankündigung eines Macbeth in der Pariser Fassung (von 1865 für das Théatre Lyrique Impérial) nun beim Verdi Festival Parma 2020 hörten. Diese ist von Dynamik mitgeschnitten und veröffentlicht worden. Der Jubelkelch beinhaltet allerdings kleine Wermutstropfen, denn nicht alle italienischen Mitwirkenden sind im Französischen zu Hause…. Wie man auch beim Trouvere in der Dynamic-Einspielung aus Parma feststellen konnte. Dieser Macbeth bleibt auf weite Strecken eine italienische Affaire.

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Aber Ludovic Tézier sorgt in der Titelrolle des Macbeth für das richtige idiomatische Ambiente und singt fabelhaft wie stets, unglaublich wortdeutlich, vielleicht ein wenig weich im Timbre, was aber der Rolle gerecht wird. Schon seinetwegen lohnt sich die Anschaffung: Seine Szene mit den Hexen im 3. Akt und vor allem auch seine letzte Arie sind ein weiterer Beweis für seine wunderbare Stimme und seine Gestaltung, sonor, absolut wortverständlich und einen plastischen Charakter erschaffend. Ich muss gestehen, dass ich seine Teile der Aufnahme mehrfach hintereinander gehört habe und nicht genug davon bekommen konnte! Hier steht ein Künstler auf dem Zenith seines Könnens.

Die in letzter Minute eingesprungene und außerordentlich tapfere  Silvia Dalla Benedetta macht einen jener kleinen Wermutsanteile nella tazza del delizio aus, ist doch die Stimme recht unruhig und auch scharf unter Druck, und man versteht nicht all zuviel vom  französischen Text Nuitiers (dem Tüchtigen, der auch Wagners Tannhhäuser für die Opéra verarbeitete). Aber der gewisperte Brief im 1. Akt zeigt, dass sie beim Sprechen des Französischen hervorragend mächtig ist. Und sie steigert sich namentlich im zweiten Akt sehr. Die Nachtwandlerszene hat man schon eindrucksvoller gehört, trotz der Bemühung zur Gestaltung. Banquo und Macduff bleiben im italienischen Mittelfeld. Und einen Macduff stellt man sich strammer vor als Giorgio Berrugi. den er mit recht trockenem Timbre abliefert. Riccardo Zanellato macht als Banquo gute Figur, aber mehr gibt die Rolle ja auch nicht her. Francesco Leone fällt mir mit seinen drei Worten als Medico angenehm auf.

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Wir von operalounge.de halten jedoch diese erste  Aufnahme (und Aufführung!) unter einem schwungvollen Roberto Abbado am Pult des Filarmonico Arturo Toscanini und des schlagkräftigen Teatro Regio di Parma (und des flotten Chores der Hexen und Höflinge am Ende des 1. Aktes!) für eine überaus wichtige Neueinspielung und eine mehr als ersehnte Ergänzung für den Kanon des französischen Verdi. Und sie ist unglaublicherweise wirklich eine Erstaufführung in moderner Zeit – denn selbst die beim französischen Rundfunk von 1972 ausgestrahlte Macbeth-Fassung mit Robert Massard und Michelle LeBris wurde in Italienisch gesungen. Soweit der Franzosen und ihr nationales Erbe …

Nachstehend folgt zum allgemeinen Verständnis der Artikel von Giuseppe Martini aus dem Beiheft der Dynamic-Aufnahme mit freundlicher Genehmigung des Teatro Regio di Parma in unserer eigenen Übersetzung von Daniel Hauser. G. H.

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Verdis „Macbeth“ 1865 in Parma 2020 konzertant/ Teatro Regio Parma

Nun also der Text von Giuseppe Martini: Im März 1864 teilte Léon Carvalho, der Intendant des Pariser Théâtre Lyrique Impérial, Verdi mit, dass er eine französische Version von Macbeth inszenieren wolle; einen Titel, den der Komponist bereits 1847 kurz nach seiner Uraufführung im Pergola-Theater in Florenz für die Opéra übersetzen wollte, obwohl der Plan keine Gestalt annahm. Nachdem er Carvalhos Vorschlag erhalten und die sechzehn Jahre zuvor fertiggestellte Partitur ausgegraben hatte, erkannte Verdi sofort, dass viele Teile der Oper von 1847 weder mehr den Geschmack Mitte der 1860er Jahre trafen noch seine eigene musikalische Entwicklung widerspiegelten, nämlich Lady Macbeths Arie im zweiten Akt, einige Teile der Erscheinungsszene mit Macbeths Arie im dritten Akt und die ersten Szenen des vierten Aktes; sie mussten von Grund auf neu geschrieben werden, und um dem Geschmack des Pariser Publikums zu entsprechen, musste er das obligatorische Ballett einfügen und auf Carvalhos Wunsch Macbeths Schlussarie durch einen Chor ersetzen. Auf Verdis Warnung hin, dass er Zeit brauchen würde, antwortete Carvalho mit dem großzügigen Angebot einer Entschädigung und der Zusage, die Übersetzung des Librettos zu bezahlen. Von diesen Argumenten überzeugt, machte sich Verdi Anfang Dezember 1864 an die Arbeit und schickte am 3. Februar 1865 die fertige Partitur an Ricordi. Die neuen Teile des Librettos wurden Francesco Maria Piave anvertraut. Das Ballett wurde passenderweise im dritten Aufzug eingefügt (als Macbeth zu den Hexen geht): ein Ballabile in fünf Sätzen mit der Erscheinung von Hécate, beschlossen durch einen Sabbat vor Macbeths Ankunft und einen Tanz von Nymphen und Sylphen über dem besinnungslosen Macbeth, der nach den Prophezeiungen in Ohnmacht gefallen war.

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Verdis „Macbeth“ Paris 1865/ Bühnenbildentwurf für den 1. Akt/ Gallica/BFN

Der neue Macbeth, der am 21. April 1865 im Théâtre Lyrique – übrigens ohne Verdis Anwesenheit und mit mäßigem Erfolg – inszeniert wurde, war also eine musikalisch überarbeitete Oper nach dem italienischen Libretto von 1847, teilweise umgeschrieben und dann wieder exklusiv für die Pariser Aufführungen ins Französische übersetzt. Das Theaterleben der Oper setzte sich danach in der italienischen Neufassung fort, die 1874 an der Mailänder Scala uraufgeführt wurde und bis heute am häufigsten an den Opernhäusern der Welt vertreten ist. Im Vergleich zur Fassung von 1847 verzichtet die neue Fassung auf die traurige Intimität von Macbeths letzter Szene – er stirbt nun hinter den Kulissen – und verstärkt den trüben Farbton, der Verdis Wunsch entsprach, Shakespeares Realitätsnähe und Geschmack für das Phantastische zu vermitteln, das gleich zu Beginn seine Möglichkeit widerspiegelte, sich mit ungewöhnlichen Opernfiguren im Vergleich zu den Standards der italienischen Oper auseinanderzusetzen und ausdrucksstarke Lösungen anzustreben, die seinen Ambitionen von Innovation und Realismus näher kamen.

Verdis „Macbeth“ 1865: Jean Vital Jammes war der erste Titelsänger/ Gallica/BFN

Daher Verdis Interesse an spektakulären Effekten und der Kraft von Worten und Gesten, auf die er sich auch 1865 konzentrierte und für die er kategorische Vorgaben machte. Neben der Inszenierung des Übernatürlichen war es Verdis Ziel, in Macbeth das obskure Durcheinander der menschlichen Seele zu vermitteln, indem er die Priorität bürgerlicher Werte und die Bedrohung durch die Zerbrechlichkeit der Psyche aufzeigte, ein Ziel, das nur durch eine brutale Wirkung zu erreichen war; dies kam im Jahre 1865 aufgrund der ästhetischen Parameter der Zeit unerwartet und wurde erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollständig gewürdigt.

Das Libretto: Die zwischen 1864 und Anfang Februar 1865 von Francesco Maria Piave vorgenommene Überarbeitung des Librettos von 1847, die teils sein eigenes Werk war, teils (die letzten beiden Akte) Andrea Maffei verfasst hatte, betraf vor allem die Neufassung von Lady Macbeths Arie im ersten Akt („Trionfai“, ersetzt durch „La luce langue“), das Rezitativ und die Erscheinungsszene, das Duett im dritten Akt („Ora di morte“ anstelle von „Vada in fiamme“) und das letzte Finale, in dem ein Siegeslied Macbeths „Mal per me che m’appressai“ ersetzt. Die Änderungen erschienen Verdi notwendig, nachdem er die Oper nach so vielen Jahren noch einmal studiert hatte, und erfolgten auch auf Wunsch des Impresarios Carvalho, der ausdrücklich um einen Chor anstelle von Macbeths Tod gebeten hatte.

Verdis „Macbeth“ 1865: Amélie Rey-Balla war die erste Lady, hier in reizvoller Pose auf einer Künstlerpostkarte/ Foto operamania ipernity.com

Piave arbeitete hauptsächlich in Venedig, aber im Jänner 1865 auch zweimal mit Verdi in Sant’Agata. In vielen Fällen waren Verdis Vorschläge sehr explizit, und für „La luce langue“ wurden die Verse sogar vollständig von ihm und Strepponi geschrieben. Die sprachlichen Grundlagen der Erstfassung jedenfalls blieben unangetastet: scharfe Verse, prägnante Worte, vielfältige Ausdruckslagen, hoch und tief, komisch und erhaben. Verdi hatte Piave gebeten, das Sprachregister für die Hexenchöre schon bei der ersten Fassung zu senken, deren Layout auf der Grundlage von Carlo Rusconis italienischer Übersetzung von Shakespeares Tragödie von 1838 erstellt worden war. Verdi arbeitete an dem neuen italienischen Libretto, als er seine musikalischen Stimmen neu schrieb und daraus die französische Übersetzung – die der Pariser Verlag Léon Escudier von Anfang an zugesagt hatte – angefertigt wurde. Eine italienische Oper ins Französische zu übersetzen war schon immer ein heikles Thema aufgrund der Klangfarben und der prosodischen Unterschiede zwischen den beiden Sprachen. Tatsächlich hatte Duprez‘ Übersetzung, die so sehr darauf bedacht war, wörtlich zu sein, einen anderen Rhythmus als die Musik; nachdem man dies erkannt und Verdis es missbilligt hatte, vertraute Escudier im Jänner die Arbeit Charles Nuittier und Alexandre Beaumont an, die bereits die Libretti der Zauberflöte und des Tannhäuser ins Französische übersetzt hatten; Mitte April war die Arbeit getan.

Verdis „Macbeth“ von 1865: der Tenor Juies Monjauze war der erste Macduff, hier mit Partnerin in Donizettis „Dom Sébastien“/ Iperniti operamania

Tatsächlich ist die französische Übersetzung von Macbeth nicht immer wortwörtlich (sie es ist in der Schlafwandler-Szene, aber deutlich weniger im Finale oder im Chor, der den vierten Akt eröffnet), da sie dem Rhythmus des italienischen Originaltextes folgt (nach dem Verdi seine Musik modelliert hatte), und greift manchmal sogar auf Shakespeares Text zurück (der Beginn der Hexenszene im dritten Akt). Giuseppe Martini/ mit freundlicher Genehmigung des Teatro Regio di Parma/ Übersetzung Daniel Hauser/ Abbildung oben: „Die drei Hexen“ zu „Macbeth“ von Shakespeare, Gemälde von Johann Heinrich Füssli/ 1785/ Wellcome Collection, CC BY/ Wikipedia

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Giuseppe Verdi: Macbeth (1865 French version) / Ludovic Tezier, bar (Macbeth); Silvia Dalla Benetta, sop (Lady Macbeth); Riccardo Zanellato, bs (Banquo); Giorgio Berrugi, ten (Macduff); David Astorga, ten (Malcolm); Francesco Leone, bs (Doctor); Natalia Gavrilan, mezzo (Countess); Jacobo Ochoa, bs (Assassin/Servant/1st Ghost); Pietro Bolognini, ctr-ten (2nd Ghost); Pilar Mezzardi Corona, mezzo (3rd Ghost); Teatro Regio di Parma Chorus; Arturo Toscanini Philharmonic Orch.; Roberto Abbado, cond / Dynamic CDS7915.02

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Memento

 

Drei Komponisten und eine Idee als da sind Arnold Schönberg mit seinen Gurreliedern, Gustav Mahler mit Das Lied von der Erde und schließlich Alexander Zemlinsky mit seiner Lyrischen Symphonie:  Alle drei verbanden literarische Texte mit sinfonischer Musik, ja Zemlinsky kündigte seinem Verleger 1922 direkt an, er habe etwas komponiert „in der Art des Lied von der Erde“. Missverständlich könnte die Vokabel „lyrisch“ sein, meint sie doch einerseits die Äußerung von Empfindungen in gebundener Form, andererseits in der romanischen Welt ist la lirica die Welt der Oper. Einerseits verwendet der Komponist Gedichte des damals hochberühmten indischen Dichters Rabindranath Tagore aus dessen Gedichtsammlung  Der Gärtner, verknüpfte also Lyrik mit Orchestermusik, andererseits ist diese zwei Personen, einem Mann und einer Frau, die zueinander in Beziehung stehen, zugeordnet, es scheint eine opernhafte Auseinandersetzung stattzufinden. Das sehr informationsreiche Booklet zur bei Orfeo herausgekommenen CD sieht das lyrische Element in der „Statik, Reihung, Intimität“, während das Substantiv „Symphonie  Dynamik, Entwicklung, Monumentalität“ erwarten lasse.

Michael Gielen, der das Werk 1989 mit dem ORF Vienna Radio Symphony Orchestra aufnahm, ist eher für kühle Analyse als für die Suche nach dem akustischen Rausch bekannt. Dieses Werk allerdings scheint er geliebt zu haben, denn es gibt mindestens zwei weitere Aufnahmen mit ihm, so von 1991 mit dem Rundfunksinfonieorchester Baden-Baden und 2007 mit dem RSO Berlin. Auf der Wiener CD ist durchaus der sinnlich berauschende Orchesterpart in all seinen raffinierten Nuancen zu vernehmen, dazu standen damals zwei mit der Musik der Zemlinsky-Zeit erfahrene Sänger zur Verfügung. Sie teilen sich die sieben Gesänge, der Bariton beginnt mit dem ersten und endet mit dem letzten, dem Sopran sind die auf die geraden Zahlen zugeordneten zugedacht.  Der Bariton Roland Hermann singt erfreulich textverständlich, was allerdings auch dem Komponisten selbst anzulasten ist, der die Stimmen nie zudeckt. Die Stimme ist fast die eines Bassbaritons, eine sehr erwachsen klingende Stimme, der man den Verzicht auf das Liebesglück am Schluss abnimmt. Der Sänger baut seine Beiträge klug auf, ein schönes Crescendo auf „in Fernen“ singend, Solist und Orchester scheinen sich gegenseitig anzufeuern. Für das dritte Lied hat die Stimme eine schöne Getragenheit bereit, kann aber auch emphatisch auf „in meinen unsterblichen Träumen wohnt“ auftrumpfen. Heldisch klingt das fünfte Lied, ein schöner Schwellton krönt im letzten „Vollendung“.

 

Der Sopran ist Karan Armstrong mit flirrend weicher Tongebung, die das Atmosphärische sehr schön trifft. Leider singt sie nicht sehr textverständlich, eher ist die schöne Stimme ein weiteres Instrument und hilfreich bei  der Ausformung eines raffinierten Klangbildes. Im „Vollende denn das letzte Lied“, dem Atonalen am nächsten, kann sie noch einmal unter Beweis stellen, dass sie als Diva der Moderne angesehen wurde. Anschließend ist noch, aus dem Jahr 1993 stammend, die erweiterte Konzertfassung der Ouvertüre zu Franz Schrekers Oper Die Gezeichneten zu hören (Orfeo C210241). Ingrid Wanja    

 

Hinter den Spiegeln

 

Es muss ein riesiges Vergnügen gewesen sein. In der Inszenierung von Antony McDonald feierte Covent Garden im Februar 2020 den Kinderbuchautor und viktorianischen Wortzauberer Lewis Carroll mit einer theatralischen Großtat. Den Anlass bot Gerald Barrys sechste Oper Alice’s Adventures Under Ground, die beide Alice-Romane Alice’s Adventures in Wonderland und Through the Looking-Glass in einer kurzweiligen Opern tour de force verbindet und alle Voraussetzungen hat, ebenso erfolgreich wie beispielsweise Barrys The Importance of Being Earnest nach Oscar Wilde zu werden. Die konzertante Uraufführung der 2013-15 entstandenen Oper hatte 2015 in Los Angeles stattgefunden, im Frühjahr 2020 dirigierte Barrys prominenter Kollege Thomas Adès die szenische Uraufführung an Covent Garden. Sie entstand in Koproduktion mit der Irish National Oper, wo im Mai 2021 der Mitschnitt mit der Besetzung der Londoner Uraufführung entstand (Signum SIGCD695). Das einzige Problem von Alice ist ihre Kürze. Mit einer Spielzeit von unter einer Stunde würde sie im Theateralltag normalerweise nach einem zweiten Stück verlangen. Trotz der Kürze scheint Barry in seinem selbst geschriebenen Text und seiner Musik nichts vergessen zu haben: sieben, am Ende vermutlich total erschöpfte Sänger sind im rasenden Wechsel damit beschäftigt, insgesamt 54 Partien, im Fall des Tenors Peter Tantsits sind es immerhin elf Rollen, auszufüllen.

Mit wahnwitzigem Tempo springt Barry in die Handlung und begleitet Alice von ihrem Sturz in den Bau des weißen Kaninchens bis zu ihrer Krönung: In Panik schreit der weiße Hase, „I shall be too late“ und schon fällt Alice (Claudia Boyle) mit dem hysterischem Koloratur-Kikeriki von zahllosen hohen Cs ins Bodenlose, „Down!, Down! Down! Will the fall never end?“, und damit in eine unendliche Geschichte bar jeden Sinns und jeder Logik. Mit überschäumendem Temperament springen die Figuren von Episode zu Episode, überschlagen sich Situationen und Erzählungen, Witze und Anspielungen, wobei sich die scharfkantige, skurril bizarre Musik Barrys ideal zu den Nonsens-Geschichten fügt. Barrys geschliffene, moderne Buffa schreit geradezu nach dem Theater. Das ist nicht nur brillant, funkenstiebend komisch, absolut virtuos in den Plappergesängen – das Textheft ist leider nur englisch –sondern etwa in Humpty Dumptys Gedicht (der Bassist Alan Ewing) mit dem Zitat der Ode an die Freude auch melancholisch und berührend. Ein hohes Maß an musikalischer Absurdität wird in dem auf Russisch, Französisch und schließlich Deutsch („Ein! Zwei! Und durch und durch und durch und durch. Sein vorpals Schwert zerschniferschnück“) gesungenen Jabberwocky-Gedicht erreicht. Mit ihrem orchestralen Anspruch ist Alice alles andere als eine Kinderoper für Nebenbei.  André de Ridder und das Irish Chamber Orchestra sind sich bewusst, ein vergnügliches kleines Meisterwerk zur Wirkung zu bringen. Neben den Genannten werden Clare Presland, Hilary Summers, Gavan Ring und Stephen Richardson den Anforderungen mit hoher Präzision gerecht (02.12.21).   Rolf Fath

Seelenwanderung

 

Anima Sacra hieß die letzte CD von Jakub Józef Orlinski bei ERATO. Nun veröffentlicht das Label mit dem polnischen Countertenor eine neue Platte mit dem Titel Anima Aeterna – quasi als Fortsetzung der ersten (0190295633745). Sie wurde Ende 2020 im italienischen Lonigo produziert. Wieder enthält sie geistliche Barockarien und erneut begleitet das Orchester Il Pomo d’Oro, diesmal unter Leitung von Francesco Corti. Das Ensemble sorgt mit Affekt betontem Musizieren für starke Eindrücke.

Wie in der ersten Ausgabe finden sich Weltersteinspielungen, beginnend mit der Arie des Titelhelden „Un giusto furore“ aus dem Oratorium Il David trionfante von Bartolomeo Nucci (1717 – 49). Von stürmischem Bläsergeschmetter eingeleitet, bietet sie in ihrem heroischen Charakter und mit vehementen Koloraturläufen dem Interpreten Gelegenheit für einen bravourös-virilen Auftritt. Die zweite Premiere ist die fünfteilige Motette Laudate pueri von Gennaro Manna (1715 – 79). Hier kommt der Chor von Il Pomo d’Oro zum Einsatz und wetteifert gemeinsam mit dem Counter um Bravour und Gefühl.

Mit einer dreiteiligen Motette (für Alt und Orchester) beginnt die Anthologie. Sie stammt von Jan Dismas Zelenka und trägt den Titel „Barbara, dira, effera“. In ihrem bewegten, dramatisch- zupackenden Duktus stellt sie Orlinskis Stimme ins beste Licht. Auch seine Virtuosität kommt gerade im Koloratur reichen ersten Teil sowie dem abschließenden jubelnden „Alleluja“ zu starker Wirkung. Später folgt noch eine zweite, sechsteilige Motette dieses Komponisten, „Laetatus sum“, gesetzt für Sopran, Alt und Orchester. Hier ist die israelische Sopranistin Fatma Said Partnerin des Counters und gefällt mit lieblicher und bestens harmonierender Stimme. Beide jubilieren im finalen „Sicut erat“ um die Wette.

Das Programm wird ergänzt von einigen Arien aus Oratorien. Da gibt es die des Peccator contrito, „Non t’amo per il ciel“ aus Il fronte della salute, aperto dalla grazia nel Calvario von Johann Joseph Fux. In diesem kontemplativen Stück kann der Sänger mit sanfter, inniger Stimmgebung aufwarten. Aus La Giuditta von Francisco António de Almeida erklingt die Arie des Ozia, „Giusto Dio“. Hier klingt Orlinskis Stimme geradezu keusch und jenseitig. Mit Händels Antiphon „Alleluja“ endet die Sammlung ähnlich introvertiert. Bernd Hoppe

Unveröffentlichtes

 

Die durch die Pandemie bedingte Auftrittspause hat Cecilia Bartoli genutzt, um in ihrem Tonarchiv nach unveröffentlichten Aufnahmen zu suchen. Das Ergebnis ist das Album „Unreleased“, das DECCA nun in ansprechender Aufmachung vorlegt (485 2093). Sämtliche darin enthaltene Titel stammen aus dem schweizerischen Landgasthof Riehen vom November 2013 und werden begleitet vom Kammerorchester Basel unter Leitung von Muhai Tang. Mit Maxim Vengerov ist ein prominenter Instrumentalist vertreten, der die Sängerin in zwei Nummern mit obligater Violinstimme begleitet. Erstere ist die Einlagearie „Non temer, amato bene“ aus Mozarts Idomeneo in der Version von 1786. Für eine private Aufführung der Oper hatte Mozart die Partie des Idamante (bei der Uraufführung in München ein Soprankastrat) für einen Tenor umgeschrieben. Heute ist die Arie wieder mehr von Sopranen und im Konzertsaal zu hören. In Rondò-Form verströmt die Kantilene reiches Gefühl, lieblich umspielt von der Violine. Im Schluss wird der Sängerin große Bravour abverlangt – für La Bartoli ein müheloser Akt. Die zweite Nummer ist die Arie des Aminta „L’amerò, sarò costante“ aus Mozarts Il re pastore. Sie markiert einen Höhepunkt der Programmfolge durch Vengerovs delikates Spiel und Bartolis berührenden Gesang.

Mit der dramatischen Scena und Aria „Ah! perfido“ beginnt die Anthologie, wo die Sängerin mit einer flammenden Interpretation aufwartet. Die Arie in italienischem Stil weist viele Bezüge zur  Fidelio-Leonore mit deren großer Arie „Abscheulicher!“ auf. Bartoli wirft sich mit Verve in das hochdramatische Rezitativ, um dann die Adagio-Aria „Per pietà“ mit inniger Empfindung vorzutragen. Das finale Allegro assaiAh! crudel“ ist mit den absteigenden Koloraturskalen der virtuose Kulminationspunkt der Konzertarie, dem die Sängerin souverän gerecht wird.

Interessant ist ein Ausschnitt aus La clemenza di Tito mit einer Arie des Sesto – aber nicht aus Mozarts Vertonung, sondern aus der des böhmischen Komponisten Josef Myslivecek. Das ist ein inniges Stück, welches nur im Mittelteil dramatische Erregung spüren lässt.

Es folgen zwei Konzertarien von Mozart – „Ah, lo previdi!… Deh, non varcar“ sowie „Bella mia fiamma… Resta, o cara“. Erstere beginnt mit einem erregten Rezitativ im Stil der opera seria, worauf eine dramatische Arie folgt. Schließlich leitet ein Oboen-Solo die melancholische Cavatina „Deh, non varcar“ ein, in der Bartoli mit purer Stimmschönheit betört. Die zweite und mit Schwierigkeiten gespickte Konzertarie schrieb Mozart für die berühmte Sängerin Josepha Duschek. Nach verhaltenem Beginn entwickelt sich das Rondò Resta, o cara“ mit seinen Sprüngen und Läufen zu einer vokalen Herausforderung. Die Sängerin nimmt sich auch dieser Nummer mit aller verfügbaren Leidenschaft an und beeindruckt gleichermaßen mit starkem Ausdrucksspektrum wie stupender Virtuosität.

Mit Haydns Scena di Berenice endet die Auswahl. Sie ist vierteilig, besteht aus einer Cavatina und einer Aria, die jeweils durch Recitativi miteinander verbunden sind. Das erste stellt einen vehementen Einstieg in die Nummer dar, dem die empfindungsreiche Kavatine „Non partir“ folgt. Nach einem weiteren (kurzen) Rezitativ endet die Komposition mit der virtuosen Arie “Perché, se tanti siete“. Einmal mehr wird die Interpretin hier vor Herausforderungen gestellt, das in seinem Aufbau und den Emotionen ständig wechselnde Stück zu bewältigen und dessen gesangliche Tücken zu meistern. Sie findet bei ihrer Gestaltung große Unterstützung und Inspiration in der Begleitung durch das Baseler Orchester, welches auch einen eigenen Beitrag verdient hätte. Bernd Hoppe