Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Schön auch ohne Mond

Buchstabengerechte Werktreue ist nicht die Zielsetzung von Christof Loys Inszenierungen und doch atmen sie oft im völlig werkfremden Ambiente den Geist von Musik und Libretto, so auch die Rusalka aus dem Madrider Teatro Real, in der es weder Mondlicht noch geheimnisvolle Gewässer gibt, sondern als Bühne von Johannes Leiacker den Eingangsbereich eines Theaters, in das inzwischen erstarrte Lava eingedrungen ist, an deren Kasse die Ježibaba sitzt und dessen Direktor der Wassermann sein könnte. Eine Ballettaufführung scheint die letzte Vorführung in diesem Haus gewesen zu sein, Tänzerinnen im entsprechenden Schuhwerk tummeln sich noch im verlassenen Gebäude, nur Rusalka kann sich nicht dazu gesellen, weil sie einen verletzten Fuß hat. In die Irre geführt allerdings wird der Zuschauer, wenn er in dem auf Krücken herum humpelnden Prinzen eine weitere Inszenierungsidee vermutet, denn die sind einem Unfall des Tenors Eric Cutler zu verdanken. Rusalka aber tauscht gesunde Beine gegen die Fähigkeit zu sprechen ein, und nach diesem Zauberakt zeigt die Sängerin Asmik Grigorian beeindruckende Fähigkeiten im Spitzentanz, der auch im zweiten Akt von der Hochzeitsgesellschaft praktiziert wird, allerdings nicht in kühl klassischem Stil, sondern als wilde Sexorgie, die die zarte Wassernymphe verstört. Verfremdet erscheinen die Figuren aus der realen Welt wie Jäger und Förster, realitätsnah die aus der Märchenwelt wie Wassermann und Hexe. Damit scheint die Oper, was ihr Personal betrifft, auf den Kopf gestellt zu sein, aber es bleibt die Spannung zwischen beiden Ambienti  erhalten. Die Natur ist bis auf ein totes Reh im letzten Akt ausgespart.

Höchstkarätig sind die Frauenrollen besetzt. Asmik Grigorian erfüllt schon einmal alle Anforderungen, was die optische Attraktivität betrifft, eine schöne, schlanke, überaus ausdrucksvolle Rusalka, die auch die andauernde Großaufnahme ihres Gesichts gut verträgt. Der kühle, keusch klingende Sopran ist von schönem Ebenmaß, die dramatischen Ausbrüche erscheinen fein kontrolliert, die Piani gut gestützt, deliziös klingt das berühmte Lied  an den Mond, und am Ende fließen sogar echte Tränen um den toten Prinzen. Was der Stimme an Frische fehlen mag, das gleicht Karita Dalayman als Hexe Ježibaba durch Intensität optischer wie vokaler Natur aus, trotz der modernen Gewandung, im dritten Akt sogar mit Pelz, was nun wieder gar nicht modern ist, vermag sie sich mit Geheimnisvollem zu umgeben. Karita Mattila, einst selbst eine gute Rusalka, ist die Fremde Fürstin und hat sich die tief liegende Partie vollkommen zu eigen gemacht. Natürlich mit zwei Krücken darstellerisch sehr gehemmt ist der Prinz von Eric Cutler, der Probleme in der Höhe hat und insgesamt wegen seines anonymen Timbres mit den Damen nicht mithalten kann. Ganz anders der Wassermann von Maxim Kuzmin-Karavaev, dessen sonore, weich und zärtlich klingende Stimme eine Wohltat ist. Charaktervoll klingt der Förster von Manel Esteve, einen schönen lyrischen Bariton hat der Jäger von Sebastià  Peris, frisch klingt der Küchenjunge von Juliette Mars. Wunderschön sind die drei Nymphen  Julietta  Aleksanyan, Rachel Kelly und Alyona Abramova  und singen dazu noch quellfrisch und kristallklar. Dieses Trio ist dazu angetan, weniger glamouröse Debütantinnen zu entmutigen. Ivor Bolton am Dirigentenpult wird sowohl dem naturnahen Märchenzauber der Musik wie der Dekadenz der Optik mit einfühlsamem Dirigat gerecht (C Major 2 DVD 759508). Ingrid Wanja      

Weltpremieren und andere Köstlichkeiten

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Auber und kein Ende. Naxos macht wirklich Ernst. Jetzt also Vol. 5 (Naxos 8.574335) der Gesamteinspielung sämtlicher Ouvertüren des französischen Komponisten Daniel-François-Esprit Auber. Es zeichnet abermals verantwortlich der in diesem Repertoire heutzutage fast konkurrenzlose Dario Salvi, unterstützt von der mährischen Janáček-Philharmonie Ostrava.

Und wieder sind es vor allen Dingen Weltersteinspielungen, die den geneigten Hörer erwarten. Nur ein einziges Stück der mit fast 78 Minuten randvollen Compact Disc, die Ouvertüre zu Zanetta von 1840, gab es bis dato bereits in einer Aufnahme (weiland unter Albert Wolff). Alles andere stellt insofern einen völlig unbekannten Höreindruck dar. Dies wären zunächst die beiden kurzen Entr’actes zur besagten Opéra comique Zanetta, aber auch die sogenannte Quadrille Nr. 2 auf Themen eben dieses Bühnenwerkes, komponiert von Philippe Musard, welche für die zeitgenössische Popularität Aubers gleichsam Pate steht. Das Gros der CD dominiert indes Instrumentalmusik aus Aubers Oper Zerline aus dem Jahre 1851, in einer Zeit, als die französische Staatsführung die politisch aufgeladene Grand opéra allmählich hinter sich lassen wollte. Entsprechend leichtgewichtiger klingt das Werk. Satte 56 Minuten veranschlagen die Ouvertüre, der Entr’acte zum zweiten Aufzug, die Einleitung zum dritten Aufzug und vor allem die Ballettmusik aus diesem dritten Akt, bestehend aus sieben Nummern, deren Dauer zwischen knapp drei und zehn Minuten liegt.

So viele Weltpremieren, das ist selbst für Naxos außergewöhnlich. Beide Opern sind durch das ihnen gemeine sizilianische Thema verknüpft, so dass die Auswahl wohldurchdacht erscheint. Zur Musik selbst sei gesagt, dass sie keine Vergleiche zu scheuen braucht. Typischer Auber, will heißen: keine wirkliche Sensation, doch neuerlicher Beleg für den hohen Stellenwert, den dieser Tonschöpfer im Paris der Julimonarchie und des zweiten Kaiserreiches einnahm. Für Auber-Anhänger sowieso unabdingbar, für alle anderen durchaus ebenfalls lohnenswert. Künstlerisch und klanglich auf dem gewohnt hohen Niveau der Serie (Aufnahme: November/Dezember 2020 in Ostrava), kann bedenkenlos eine Empfehlung ausgesprochen werden. Daniel Hauser

Daniel Auber/ Boston Public Library

Das großangelegte und ambitionierte Naxos-Projekt, erstmals sämtliche Ouvertüren des unermüdlichen französischen Komponisten Daniel-François-Esprit Auber einzuspielen, schreitet voran. Mittlerweile ist man bei Vol. 4 angelangt (Naxos 8.574143). Erfreulicherweise wird abermals auf den genialen schottisch-italienischen Dirigenten Dario Salvi gesetzt, der bereits die drei vorhergehenden CDs eingespielt hat. Wie schon in Vol. 3, kommt auch diesmal das Mährische Philharmonische Orchester zum Einsatz.

Die bekannteste Beigabe der mit gut 78 Minuten voll ausgereizten Compact Disc ist ohne Frage die auch künstlerisch herausragende Ouvertüre zu Fra Diavolo von 1830, neben La Muette de Portici die bis heute meistgespielte (auch wenn das leider nicht mehr viel heißt) Auber-Oper (und wie alle anderen enthaltenen mit Libretto von Eugène Scribe). Hier muss sich die Neueinspielung folglich auch der prominentesten Konkurrenz stellen. Es darf gleichwohl konstatiert werden, dass Salvi eine feurige Lesart abliefert, die keine Vergleiche zu scheuen braucht und ähnlich überzeugt wie die klassischen Schallplatteneinspielungen von Albert Wolff (Decca, 1954), George Szell (CBS, 1957) und Paul Paray (Mercury, 1959). Wirklich gelungen auch die im Folgejahr komponierte Ouvertüre zu Le Philtre. Aus der Ära der Julimonarchie stammen ebenso die Ouvertüren zu Actéon (1836) und Le Duc d’Olonne (1842), letzteres um teils sehr knappe Entr’actes bereichert, wie bereits bei Fra Diavolo und Le Philtre der Fall. Es tut sich der Eindruck einer gewissen Austauschbarkeit auf, doch zumindest die Introduction zum zweiten Akt von Le Duc d’Olonne mit ihrem militärisch-marschartigen Charakter hat hohen Wiedererkennungswert.

Die Weltersteinspielungen umfassen (abgesehen von zwei Entr’actes) vor allem die Orchesterstücke aus dem Spätwerk La Fiancée du Roi de Garbe von 1864. Es ist erstaunlich, aber der Stil Aubers hat sich auch mit über 80 Jahren nicht grundlegend verändert. Neben der fast neunminütigen Ouvertüre sind der Schlusstanz des ersten Aufzuges, der Beginn des zweiten Aktes sowie das Mélodrame des dritten enthalten. Dass Auber in den 1860er Jahren, obschon als kaiserlicher Hofkapellmeister Napoleons III. und Direktor des Pariser Konservatoriums der formal erste Komponist Frankreichs, nicht mehr den neuesten musikalischen Stil wiedergab, liegt auf der Hand. Es schwingt eben bis zuletzt der Geist der Zeit vor 1848 unverkennbar mit.

Die eigentliche Überraschung der Neuproduktion stellt mit La Fête de Versailles gar keine Ouvertüre dar, sondern eine Festmusik anlässlich der Einweihung des Museums im Schloss Versailles Anno 1837 unter dem Bürgerkönig Louis-Philippe I. Es handelt sich um einen musikalischen Streifzug durch die französische Geschichte vom Sonnenkönig Ludwig XIV. über das Rokoko, die Französische Revolution, das darauffolgende napoleonische Zeitalter, die Restauration und eben schließlich die als friedlich charakterisierte (und insofern etwas verklärte) Julimonarchie. Zahlreiche musikalische Zitate lassen sich finden, darunter die Marseillaise und seinerzeit populäre Werke von Auber selbst (La Muette de Portici, Fra Diavolo, Gustave III). Auch dieses sehr hörenswerte Stück erfährt hier seine allererste Einspielung überhaupt. Ein weiteres Mal also eine Bereicherung der Diskographie und für jeden Freund von Opera-comique und Grand opéra eigentlich ein Pflichtkauf. Klanglich ausgezeichnet, das Beiheft knapp aber gediegen (Englisch und Französisch). Daniel Hauser

Daniel-François-Esprit Auber war einer der wichtigen französischen Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts. Heute ist sein Ruhm allerdings etwas verblasst, aufgeführt werden seine Opern nur selten. Und doch erscheint eine großangelegte Ouvertüren-Edition beim Label Naxos. Auber als „Influencer“ der Oper Neudeutsch formuliert: man entdeckt Auber heute als wichtigen Influencer wieder. Man kann eigentlich sagen, er ist ein bisschen der Carl Philipp Emanuel Bach der Oper: Auber hat fast alle beeinflusst – Lortzing, Wagner und Rossini und er hat mit seiner Manon Lescaut eine Steilvorlage für Massenet und Puccini geschaffen. Aubers Musik klingt in der Instrumentierung eher schlank und auch immer ein bisschen wie Offenbach nach Orchestergraben; die Ouvertüren riechen noch nach Theaterluft und wirken nicht wie verhinderte Konzertpiecen.

Dirigent Dario Salvi bildet die Musik mit ihren Stärken und Schwächen so ab, wie sie ist, er versucht nichts zu flicken – auch hier erleben wir Auber mal als Routinier mit mageren Einfällen, als mittelmäßigen Orchestrierer, dann wieder als Genie, sprühend vor Esprit. Anders als die vorige CD mit Auber-Ouvertüren, vol. 2, , wo vor allem Frühwerke zu hören waren, findet man hier Opern der mittleren und späten Jahre, viele davon völlig unbekannt – insgesamt eine sehr schöne und abwechslungsreiche Mischung (8574007, mit Auber Ouvertrüren, vol. 3,  zu La Bacarolle, Lestocq, Les Chaperons blancs, La Muette de Portici, Le Serment, Rêve d´amour; Moravian Philharmonic Orchestra, Dirigent Dario Salvi). Matthias Käther

Die sehr durchwachsene Kritiken zu ersten Auber-Ouvertüren-CD mag Naxos veranlasst haben, nun doch auf andere Interpreten zu setzen. Mit dem Tschechischen Philharmonischen Kammerorchester Pardubice unter dem schottisch-italienischen Dirigenten Dario Salvi konnten bei dieser Neuerscheinung (Naxos 8.574005) nun andere Künstler gefunden werden, mit denen das Mammutvorhaben offenbar bestritten werden soll. Und soviel darf bereits vorausgeschickt werden: Es hat sich wirklich gelohnt. Wie im knappen, aber informativen Begleittext von Robert Ignatius Letellier betont wird, wurde diesmal besonderer Wert auf den richtigen französischen Spielstil gelegt und sich zudem akribisch an die originalen Metronomvorgaben Aubers gehalten. Letellier bietet eine kurze Einführung zu den insgesamt 16 eingespielten Stücken aus acht Opern. Von allen liegen nunmehr die Ouvertüren vor; teilweise wurde zudem Aktvorspiele berücksichtigt. Abgesehen von einem einzigen Fall handelt es sich sämtlich um Weltersteinspielungen, was diese Neuerscheinung umso kostbarer macht. Man verzichtete (vielleicht bewusst) auf die landläufig bekanntesten Auber’schen Ouvertüren und setzte gewissermaßen auf volles Risiko. Das Ergebnis gibt dem Unterfangen Recht. Im Mittelpunkt steht der frühe Auber vor seinem endgültigen Durchbruch mit La Muette de Portici (1828) und Fra Diavolo (1830). Bis auf die 1813 noch unter Napoleon entstandene Ouvertüre zur Oper Le Séjour militaire erhält man ein reizvolles musikalisches Portrait der Ära der Restauration (1815-1830), die mit den Opern Le Testament et les Billets doux (1819), Le Bergère châtelaine (1820), Emma, ou La Promesse imprudente (1821), Leicester, ou Le Château de Kenilworth (1823), La Neige, ou Le Nouvel Éginard (1823), Le Maçon (1825) sowie Le Timide, ou Le Nouveau Séducteur (1826) ausgezeichnet abgebildet wird. Spritzigkeit und Esprit – nomen est omen – sind all diesen Werken gemein. Die Ouvertüren dauern zwischen knapp sechs und knapp neun Minuten und zeigen einen gewissen italienischen Einfluss á la Rossini, ohne jedoch dafür ihr urfranzösisches Idiom zu opfern. Auber darf mit Fug und Recht zu den französischsten Compositeuren überhaupt gerechnet werden, das wird noch einmal ganz klar deutlich. Kein Wunder, dass sein wohlklingender, aber nie oberflächlicher Stil gerade in der Restaurationsära Ludwigs XVIII. und Karls X. sowie später in der Juli-Monarchie Louis-Philippes ankam. Wie das Booklet kundig weiß, entwickelte sich besonders Le Maçon zu einem Dauerbrenner, der bis 1896 nicht weniger als 525 Aufführungen in Paris erlebte und sich in Deutschland unter dem Titel Maurer und Schlosser bis in die 1930er Jahre im Repertoire halten konnte. Künstlerisch von besonderem Rang ist aber gerade auch Leicester, nicht nur die erste so folgenreiche Zusammenarbeit mit Eugène Scribe, sondern auch aufgrund des royalen Sujets bereits auf den gewichtigeren späteren Stil Aubers hinweisend, der sich in den fünfaktigen Grand opéras – eine Gattung, die Auber gewissermaßen „erfand“ – La Muette de Portici und Gustave III, ou Le Bal masqué (1833) voll entwickelt hatte. Es nimmt nicht wunder, dass die Leicester-Ouvertüre am ausgedehntesten gerät. Die orchestrale Darbietung ist sehr adäquat, schön detailliert, nie dick oder zähflüssig, auf der anderen Seite aber auch nicht Gefahr laufend, allzu kammermusikalisch zu erklingen. Salvis Dirigat lässt den Werken hörbar Gerechtigkeit widerfahren. Die sehr gute Klangqualität dieser zwischen 28. und 31. Oktober 2018 im Kulturhaus Dukla in Pardubice in Tschechien eingespielten Aufnahmen unterstreicht dies noch. Volle Punktzahl in allen Belangen (weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)Daniel Hauser

Charles Gounod: „La Reine de Saba“

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Kaum eine andere Oper verfügt im Titel über diesen mythischen Zauber wie Gounods Orient-„Schinken“ La Reine de Saba (1862).  Allein schon die Erwähnung evoziert wie die „Nuit d’ivresse“ der Berlioz’schen Troyens (1856, nicht soviel früher) den Duft von Mimosen in schwüler Nacht unter Palmen und Zedern, wie sie auch Goldmarks gleichnamige Oper (1875) mit ihrem deutschen Namen ungleich viel sinnlicher beschwört. Die alte BJR-LP-Aufnahme des Mitschnitts aus Toulouse 1970 bot jahrzehntelang einen (akustisch recht eingeschränkten) Eindruck von eben dieser schwülen, wabernden Musik neben dem tumultösen Massenszenen und der kanonengleichen Explosion am Schluss (wie sie eben auch Berlioz in seiner ersten Oper verwendet wie Saint-Saens dazu den Baal-Tempel einstürzen lässt). Man hat Victor Mature im  Hollywood-Film oder auch Yul Brunner neben der „Lollo“ vor Augen … Bauchtanz in Technicolor.

Die pieces de resistence wie Balkis‘ Arie („Me voilà seule enfin…“) und die Hymne des Adoniram (nicht unähnlich der Benvenuto Cellinis) gehörten zum eisernen Bestand jeder französischen Mezzosopranistin und ihres tenoralen Gegenparts und sind von Félia Litvinne  bis zu Roberto Alagna bis in unsere Tage gerettet worden. Die besten Balkis-Dokumente, ausgelöst im Recital, sind zweifellos die von der wunderbaren Francoise Pollet auf ihrer unersetzlichen Erato-CD mit Französischen Arien und natürlich auch die der Régine (Crespin) la Grande auf dem alten Accord/Vega-Album: Beide Damen haben die Üppigkeit der Stimme, das unerklärliche Know.How der Sinnlichkeit und eben jenes unverwechselbare französische Idiom, ohne das diese Opern nicht zu beleben sind. Das ist eine Prämisse, an der sich die Neufnahme bei Odyssey messen lassen muss, aber das gilt auch für  die andere CD-Dokumention aus Martina Franca bei Dynamic (mit Italienern) wie auch das Video aus St. Etienne (gleich mit zwei Chinesen) bei operapassion.

Oper als ganz großes Entertainment noch vor Aida, Palmen, Elefanten oder Pferde (wie im Fernand Cortez Spontinis), Treppen, jede Menge gutgebaute Statisten, Ballett, Eisläufer und eben alles, was die Grand Opéra Frankreichs spätestens seit Meyerbeer aufweisen konnte – Hollywood auf der Opernbühne, Startheater á la MGM (wie der gleichnamige Film mit der Lollo und Yul Brunner). Heute undenklich, als Kitsch belächelt, verkommen zu fragwürdigem Regietheater (wenn denn diese Stücke je aufgeführt werden wie jüngst der Don Carlos Verdis oder die Troyens an der Pariser Oper mit ihrer hässlichen Optik). Opulence passée eben.

Gounod: „La Reine de Saba“/ décor de MM. Nolau et Rubé Caillot/ BNF Gallica

So scheint es den Liebhabern der Großen französischen Oper unverständlich, dass es die renommierte Opéra de Marseille nicht schaffte, ihre viel beachtete und überregional bejubelte konzertante Reine de Saba von Charles Gounod im Oktober 2019 ins Radio zu bekommen und/oder für einen CD-Mitschnitt zu dokumentieren. Wo war der Palazetto in seinem Engagement für die romantische Oper Frankreichs? Wo die Sponsoren für eine Aufnahme? Immerhin sangen jubelumrauscht die Franco-Kanadierin Karine Deshayes in der Titelpartie, der erfahrene französische Tenor Jean-Pierre Furlane den Andoniram, die reizende Marie-Ange Todorovitch als Bénoni und Nicolas Courjal als machtvoller Soliman, alles unter der Leitung von Victorien Vanoosten – nachzuhören auf youtube in einem privaten Video-Mitschnitt. Superb, einfach superb!

Gounod: „La Reine de Saba“ Marseille 2019/ Foto Christian Dresse

Ein so seltener Operntitel des großen französischen Repertoires, zum davot in la douce France im mutigen St. Etienne 2003 unter der Ägide  des damaligen Intendanten Jean-Louis Pichon aufgeführt (ach, was denkt man doch mit Nostalgie an die wunderbaren Massenet-Abenden ebendort, mit den interessantesten Sängern des Landes, lors de Paris) mit zumindest einem Francophonen in der Besetzung (Marcel Vanaud/ als Video bei operapassion und auf anderen rabenschwarzen Kanäle). Die beiden anderen Tondokumentationen der Oper sind sehr unterschiedlich. Während um den Mitschnitt aus Martina Franca bei Dynamic von 2001 mit der tapferen Federica Scaini ein weiter Bogen zu machen ist (da bleibt vom originalen Idiom wirklich wenig übrig) erscheint der Mitschnitt aus Toulouse 1970 (zuletzt bei Gala, ehemals BJR-LP) immer noch als die einzige und magisteriale Wiedergabe mit der wunderbaren Suzanne Sarrocca neben dem stentoralen Guy Chauvet und einem hochidiomatischen Gérard Serkoyan unter Michel Plasson – trotz eines etwas dumpfen Mono absolut hörenswert (auf youtube zu erleben). Insofern hatte man sich auf eine Radio-Übernahme aus Marseille gefreut und muss sich nun mit eingeschränkten, aber hochverdienstvollen Hosentaschen-Mitschnitten zu Frieden geben. Pauvre Gounod und pauvre France.

Pauvre France und pauvres nous  einmal mehr, weil nun eine neue und im orchestralen Bereich wirklich gloriose Aufnahme aus New York bei der jungen Firma Odyssey erschienen ist (1004, 2 CDs, üppiges, nur englischsprachiges Booklet mit Libretto in Französisch/Englisch), das von Gil Rosen am Pult des Odyssey Opera Orchestra and Chorus zu Höchstleistungen angetrieben wird. Da donnern die Fanfaren, rauschen die Streicher, betören die Soloistrumente im orientalen Stil. Edelsteine im Bauchnabel glitzern verführerisch. Und es wäre das Opernparadies auf Erden, wenn nicht … Ja wenn diese Sänger der Oper eben nicht den nötigen Glanz verliehen. Es fängt nach einer stürmischen und evozierenden Ouvertüre mit einem zu kleinem, sehr ordentlichen Tenor an, Dominick Chenes, dem man einen Alfredo oder einen Rodolfo gewünscht hätte und nicht den herpoischen Andoniram. Die Stimme zerfasert unter Druck und klingt zu hell, zu leicht. Dies ist eine französische Heldenpartie eines Georges Thill oder zumindest Guy Chauvet (oder – Dieu puissant – Michael Spyres). Chenes schlägt sich tapferer als seine Mitstreiter(innen). Die Mezzosopranistin Michelle Trainor „quallt“ als Bénoni unangenehm und lässt Konturen ihrer zu dunkel-femininen Stimme vermissen. Madame la Reine selbst, Kara Shay Thomson, eifert ihrer Kollegin darin nach. Diese Art von unruhigen, zu heftig vibrotoschlagenden Stimmen sprechen meist für eine Überforderung des Fachs und sind nicht nur für die französische Oper ungeeignet, zumal man bei beiden Damen nicht sonderlich viel vom Text versteht (im Gegensatz zu hervorragenden Diktion des Tenors!). Der Rest bleibt Mittelschiene. Ein solider Soliman ohne Nachdruck ist Kevin Thompson als Soliman. Matthew DiBattista, David Kravitz, David Salsbery Fray und Katherine Maysek ergänzen mehr oder weniger kompetent die Besetzung, während sich der Chor mit Glanz schlägt. Der Star der Aufnahme ist also zweifellos das Orchester in Super-Akustik unter Gil Rosen, und das ist ja auch etwas. Auch die Edition ist nun sorgfältig und stellt manche Teile um an die richtige Stelle und liest die Noten neu. Das ist lobenswert. Aber nicht genug für eine gelungene Wierdergabe dieser Oper. Bemerkenswerter Weise wird diese Aufnahme (nur) als Streaming bei Amazon und Quobuz angeboten und steht bei z. B. jpc nicht im Katalog, aber Odyssey  selbst vertreibt sie natürlich (Achtung, horrende Portokosten und Zoll im Verkehr mit den USA)..G. H.

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Gounod: „La Reine de Saba“/ Szenenbild für die Uraufführtung/ Gallica BNF

Und nun der Artikel zum Werk von Sébastien Herbeq aus dem recht popeligen Programmheft der Aufführung in Marseille: „Die Rückkehr der Königin von Saba“.

Am 28. Februar 1862 empfängt die Pariser Oper (damals noch im Saal Le Peletier) eine neue Komposition von Charles Gounod mit dem Titel La Reine de Saba. Gounod hatte lange von seiner Rückkehr zur Opéra geträumt, nachdem er dort ohne Erfolg Sapho (1851) und La Nonne sanglante (1854) aufgeführt hatte. Vor allem nach diesen beiden Versuchen war seine Musik aus der Pariser Opernszene völlig verschwunden.

Natürlich kannte ganz Paris die Melodien des Faust, der 1859 am Théâtre Lyrique  das Licht der Welt erblickt hatte. Ganz Paris kannte ebenso die treuen Librettisten Gounods – Jules Barbier und Michel Carré –,  die den Erfolg des Faust gesichert hatten, als sie Goethe für die Oper adaptierten. Es war übrigens der Direktor des Théâtre Lyrique, Léon Carvalho, mit dem Gounod die Verhandlungen für ein neues Werk für diese Bühne begann. Unglücklicherweise war das Théâtre Lyrique in einer schlechten finanziellen Lage und musste das Projekt, das noch den Titel La Reine Balkis hat, aufgeben.
Logischerweise wannte sich Gounod an den Direktor der Opéra, Alphonse Royer, der das Projekt 1861 annahm. La Reine de Saba wurde also an der Opéra aufgeführt, was für den Komponisten  verbindliche Vorgaben mit sich brachte. Näheres dazu findet man nur in den  Zeugnissen, die Giuseppe Verdi anlässlich der Aufführungen seiner Werke in Paris lieferte, insbesondere der  Vêpres siciliennes im Jahr 1855.

Gounod: „La Reine de Saba“/ Représentation au Théâtre du Capitole de Toulouse, 1970/ TCT

Verdi gefiel es, die Opéra  „la grande Boite“ zu nennen, so überdimensional war das Personal der Institution, so lang und kompliziert der Prozess der Realisierung. Bei den Proben zu La
Reine de Saba
erreichte man die Zahl von 131 Proben, was nur ein paar Dutzend weniger als für Wagners Tannhäuser bedeutetete, der gewisse Rekorde geschlagen hatte.
Richard Wagner wird nicht zarter mit der Opéra umgehen, insbesondere 1861 bei der Aufführung seines Tannhäuser auf Französisch, der speziell für die Pariser Bühne adaptiert wurde. Die Komponisten, die ihre Werke an diesem Theater aufführen wollten, mussten in der Tat etliche Forderungen erfüllen, um dem Publikumsgeschmack zu entsprechen. So musste der Komponist, was es auch für eine Oper war, dem Publikum Massenszenen, Dekorationswechsel und eine Aufteilung des Werks in 5 Akte präsentieren, mindestens eine große Ballettszene, die unbedingt entweder im 2. oder 3. Akt stattfinden muss, damit die Abonnenten (und der berüchtigte Jockey Club) in Ruhe ihr Diner beenden konnten, bevor sie das Ballett und die Mädels bewundern konnten.

Gounod: „La Reine de Saba“/ Jialin-Marie Zhang in St Etienne 2003/ FMST

Dazu kamen zahlreiche zusätzliche Erwägungen: Man musste die Forderungen der Sänger erfüllen, deren Wünsche nach effektvollen Auftritten, in denen sie ihre stimmlichen Möglichkeiten vorstellen konnten, große Auftrittsszenen, meist durch den Chor begleitet,  Bravourarien mussten mit gefühlvollen Arien abwechseln. Schon für die Reine de Saba hat sich Gounod den Forderungen der Sänger widersetzt. Die Rolle der Königin zum Beispiel hat keine Auftrittsarie. Balkis muss auf den 3. Akt warten, um ihre große Szene zu haben mit dem Titel „Me voilà, seule enfin!“

Dann gab es noch die staatliche Zensur, aber auch die Zensur des Theaterdirektors, der nach Lust und Laune vom Komponisten verlangen konnte, gewisse Passagen zu streichen, die er unnötig oder zu lang fand.  La Reine de Saba  ist da keine Ausnahme, und das Werk wurde schließlich in einer Fassung gezeigt, in der etliche Passagen gestrichen waren, vor allem die – eigentlich – wichtige Szene der „Fonte“  im 2. Akt. Um diesen Strich zu rechtfertigen, bemüht man eine Sicherheitsnotwendigkeit… Die Startänzerin des Abends hatte verlangt, dass für ihre Szene ein Flötensolo komponiert wurde. Zum größten Unglück musste Gounod auch mit dem Dirigenten der Opéra, Louis Dietsch, zusammenarbeiten, der einen traurigen Ruf als mittelmäßiger Orchesterleiter  hatte. Um sich davon zu überzeugen, muss man nur an die Worte Wagners denken, der sich ein Jahr vor der Reine de Saba schon die mangelnde Professionalität des Orchesters der Opéra und seines Chefs beklagt hatte.

Nach diesen schrecklichen Proben tröstete die Premiere Gounod nicht mehr. Der Misserfolg war vollständig, und man warf dem Komponisten sogar Wagnerismus vor, was weit davon entfernt war, bei der Pariser Kritik dieser Zeit ein Kompliment zu sein. Obwohl Gounod eindringlich die Wichtigkeit seines Orchesters in der Führung der den präzisen Situationen oder Personen entsprechenden Motive entwickelt hat, bleibt das Werk deshalb nicht weniger typisch französisch und reiht sich in die Linie der „Grand opéra français“ ein, ein Genre, das 1862 bereits im Abklingen begriffen war.
Nachdem sie mit Meyerbeer und dessen Oper Robert le diable im Jahr 1831 seinen Höhepunkt erreicht hat, war die „grand opéra“ ein Genre, das Mühe hatte, sich zu erneuern. Indem sie das Grandiose anstrebten, mit Massenszenen das Publikum zu beeindrucken, vernachlässigten die Komponisten oft die Qualität ihrer Libretti, die Realitätsnähe der dargestellten Situationen und verliehen vor allem ihrem Personal wenig Substanz. La Reine de Saba ist da keine Ausnahme und es wäre verwegen, ein Libretto zu verteidigen, das keine wirklichen Themen hat das und nur Charaktere mit wenig Tiefe aufweist. Namentlich die Hauptrolle, die dem Werk den Titel gibt, die Königin Balkis selbst. Adoniram wird kaum charakterisiert, und König Soliman stellt niemals glaubwürdig das Störelement dieses Liebesdreiecks dar.


Gounod „La Reine de Saba“/ die erste Titelsängerin Pauline_Guéymard-Lauters als Balkis/ Ipernity: Pauline Lauters-Guellemard: Mezzo-soprano (Brussels, 01 December 1834)-. She sang at the Théâtre-Lyrique under the name of Ms. DELIGNE-LAUTERS. She debuted at the Opera on 12 January 1857 in IL TROVATORE (Azucena). She sang the sorceress in 1858. She created in 1859 HERCULANEUM (rie) of Félicien David; in 1859 ROMEO and Juliet (Juliet) by Bellini; in 1860 PIERRE DE MEDICI (Laura) of Prince Poniatowski. She then sang salle Le Peletier, where she sang for the first time on April 08, 1861 in LES HUGUENOTS (Valentine). She created in 1862 the Queen of Sheba (Balkis) of Gounod; in 1863 the MULE of PEDRO (Gilda) by Victor Massé; in 1864 ROLAND has RONCESVALLES (Alde) of Mermet; on March 11, 1867 DON CARLOS (Eboli) by Verdi; May 09, 1868 HAMLET (Queen) of Ambroise Thomas. January 10, 1873 the cup of the King of THULE (Myrrha) of Eugène Diaz of the Peña. It was the interpreter of IL TROVATORE (Leonora), ERCOLANO (Olympus) and ALCESTE (Alceste). At the Palais Garnier, it was displayed in LES HUGUENOTS (Valentine), LA FAVORITE (Leonor), DON JUAN (Elvire) and the Prophet (Fides).

Gounod verfolgt mit diesem Sujet jedoch die Linie der französischen Romantik, die durch Autoren wie Victor Hugo verkörpert wird, aber auch vor allem durch Gérard de Nerval. Die Romantiker hatten auch Sinn für das Ferne und erlauben dem Leser eine gewisse Öffnung für die Welt, indem sie das Ferne nahe bringen, und das in Erzählungen, die fernen Legenden entspringen. Der Orient steht zu dieser Zeit (in der Folge der napoleonischen Erkundigung des vorderen Orients)  im Zentrum ihres Interesses. Die Unterschiede der Kulturen und Lebensweisen werden sorgfältig beschrieben. Die Zeitungen publizierten auch gern Reiseberichte, und diese Veröffentlichungen  hatten bei den Lesern großen Erfolg. In einem dieser periodischen Zeitschriften – Le National – publiziert Gérard de Nerval um das Jahr 1840 die Fragmente seiner Reise in den Orient. Die Reise wurde an 1843 begonnen, und der Autor publizierte den gesamten Text 1851. Dieses Werk stellt die verschiedenen vom Autor besichtigten Gegenden vor, besonders Ägypten, den Libanon und Konstantinopel. Die Legende der Königin Balkis findet ihren Platz in seinem Werk in dem Teil mit dem Titel Les Nuits du Ramazan, unter dem Titel Histoire de la reine du Matin et de Soliman, prince des Génies.
Gérard de Nerval war bereits vor seiner Reise fasziniert von der Sängerin Jenny Colon, und er  schrieb ein Opernlibretto, dessen Hauptperson die Züge der Reine de Saba hatte. Nerval legt das Projekt einige Jahre nach dem Triumph von Robert le Diable (1831) Meyerbeer vor, aber das Schauspiel wird nie realisiert. Die Bibliothek der Opéra hatte jedoch ein Exemplar der Skizze des Librettos bewahrt (heute vollständig zerstört), und alles lässt darauf schließen, dass Michel Carré und Jules Barbier darin einen Stoff fanden.  Man muss sagen, dass diese geheimnisvolle Königin in diesen historischen Reiseberichten kaum Kontur besitzt. Sie eignet sich also perfekt für die Idee der Neuinterpretation und Adaption durch verschiedene Künstler. Man findet Spuren von dieser Königin in der Bibel, wo man erfährt, dass sie um das 10. Jahrhundert vor Christus ein Königreich im Südosten Arabiens besaß. Ihre Wege kreuzen denen von Salomon während eines Besuchs, bei dem sie von einer Karawane von Schmuck und Edelsteinen begleitet wurde. Die Königin ist vor allem dadurch bekannt, dass sie die Weisheit des Königs Salomon prüfte, indem sie ihm Rätsel zu lösen gab.

Sébastien Herbeq (Dank an die Pressestelle der Opéra de Marseille/ Übersetzungen Ingrid Englitsch/ Foto oben Yul Brunner und Gina Lollobrigida in The Queen of Sheba, MGM 1956, Regie King Vidor) 

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Gounod & Farnie: „Irene“ Grand Opera in 5 Acts. The English Libretto by Henry Farnie/ Wiki

Und noch ein  Wort zur umgearbeiteten Reine de Saba, die als Irene noch einmaL wiedergeboren wurde: Irene (Reine de Saba) Große Oper in 5 Akten. Das englische Libretto von Henry Farnie. Eine englische Überarbeitung des Librettos von Henry Farnie, „verwoben [mit] bestimmten Legenden und Traditionen der Freimaurerei“, trug den Titel Irene. Sie verlegte die Handlung nach Istanbul in die Zeit Süleymans des Prächtigen und des Baus der Großen Moschee und verwendete fast die gesamte Musik von Gounod. Es war kein Erfolg.“ (Wikipedia). „Das Werk wurde von fast der gesamten Pariser Presse scharf verurteilt. Trotz Gounods Bemühungen, die Motivationen der Figuren durch thematische Rückblicke zu verdeutlichen, waren die Kritiker von der rassischen Herkunft und den ideologischen Zwängen der Balkis-Adoniram-Vereinigung irritiert; die Oper wurde nach nur 15 Aufführungen zurückgezogen. Mit einigen Überarbeitungen wurde sie am Théâtre de la Monnaie besser aufgenommen und gehörte dort in den 1860er und 70er Jahren zum Repertoire. Aufführungen in England 1865, im Crystal Palace (wo die Titelrolle zu Irene wurde und der Schauplatz in die Türkei verlegt wurde) sowie eine Wiederaufnahme in Paris im Jahr 1900 blieben erfolglos.“/ übersetzt mit DeepL/ Steven Huebner in Grove Music Online.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Und noch eine aus Lissabon

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Braucht die Musikwelt eine und wenn ja diese Madama Butterfly, so fragt man sich, wenn man die erste Szene der Live-Aufnahme von 2019 aus Lissabon hört und Tenöre und Bariton über japanische Bräute, ebensolche Häuser und amerikanischen Whisky  parlieren. Zwar hat der Goro von Alexander Kaimbacher den angemessen krähenden, mitunter scharfen Charaktertenor, aber der Pinkerton von Stefano Secco nähert sich diesem manchmal bis zur Gefahr des Verwechseltwerdens an, zeigt zwar eine gute Registerverblendung, aber auch eine gepresst klingende Höhe, ist zu hell timbriert für die Partie und wird sich später im Liebesduett  im Dauerforte heiser schreien, auch im „Addio fiorito asil“ nur einen vokalen Kraftakt sehen und damit hören lassen. 

Der Sharpless von Lester Lynch punktet mit einem süffigen, Vertrauen erweckenden Bariton, missfällt aber mit dumpfer Höhe und klingt stellenweise recht nasal, die Stimmführung ist unausgeglichen, insgesamt beschwert er die Partie mit allzu tragischer Geste, macht aus der väterlich besorgten Figur eine überdramatische.

Bis zum „America forever“ also kein Grund zum Jubel, doch dann kommt sie: Melody Moore, die Cio-Cio-San mit üppig-sanftem Sopran, mit für die Partie so wichtiger klangvoller Mittellage (sie singt auch Amneris), farbiger Höhe auch in der mezza voce, zwar eine ausgesprochen erwachsen klingende Stimme, die aber auch wie bei der Ausbreitung der Schätze einen naiven Anstrich annehmen kann, mit wunderbaren Crescendi und Decrescendi in „Un bel di“, berührend dadurch, dass sie die Verletzbarkeit der Figur hörbar macht. Der Sopran weiß große Bögen zu spannen, so auf „il nome“ und gestaltet den Abschied vom Kind zum Herzen des Zuhörers gehend.

Elisabeth Kulman ist mit warm klingendem Mezzo die fürsorgliche Suzuki, singt ein schlankes Gebet und behält auch im Streit mit Goro die vokale Facon, im 3. Akt kehrt sie zu sehr die große Tragödin heraus.

Eher baritonale als tenorale Fülle breitet Amitai Pati als Yamadori aus, angemessen bedrohlich klingt Kevin Short als Zio Bonzo, dumpf der Commissario von Florian Köfler. Etwas mehr als gewohnt hat die Kate Pinkerton von Liesbeth Devos zu singen, denn bei ihrem Auftritt folgt die Aufnahme der ersten, an der Scala durchgefallenen zweiaktigen Fassung der Oper, während ansonsten die übliche, dreiaktige gesungen wird.

Coro &Orquestra Gulbenkian werden dirigiert vom langjährigen (2002 bis 2013) Generalmusikdirektor des Klangkörpers, Lawrence Foster, wobei das Orchester wunderbare Stimmungsbilder zwischen dem 2. Und 3. Akt zaubert, die einzelnen Instrumentengruppen plastisch hervortreten, immer wieder die Spannung neu aufgebaut und eine schöne Ausgewogenheit zwischen Orchester und Gesangssolisten erreicht wird (2CD Pentatone PTC 5186 783).  Ingrid Wanja   

Lohnende Ausgrabungen

Dass Hermann Levi in Bayreuth die Uraufführung des „Parsifal“ dirigiert hat und trotz Wagners antisemitischer Vorbehalte ein treuer Sachwalter seiner Werke war und blieb, ist unter Opernfreunden weitgehend bekannt. Dass er von Mozarts drei da-Ponte-Opern gute deutsche Übersetzungen geschaffen hat, wissen dagegen nur diejenigen, die noch die Zeit erlebt haben, als diese Werke bei uns in der Landessprache gespielt wurden. Und dass er auch komponiert hat, erfahre zumindest ich aus Anlass der vorliegenden Veröffentlichung seiner Lieder zum ersten Mal.

In Karlsruhe, wo er seit 1864 als Musikdirektor am Großherzoglichen Hoftheater tätig war, lernte er den von ihm hoch verehrten Johannes Brahms kennen, mit dem er sich bald anfreundete und dessen Werke er regelmäßig (und in einigen Fällen, etwa Alt-Rhapsodie, ur-) aufführte. Umso härter traf es ihn, dass ausgerechnet Brahms ihm den Rat gab, mit dem Komponieren aufzuhören. Er soll daraufhin alle seine Manuskripte vernichtet haben, nur die wenigen im Druck erschienenen Werke sind erhalten geblieben. Darunter die Sechs Lieder op. 2, die er 1861 mit 22 Jahren geschrieben hatte. Sie lassen ein außergewöhnliches Talent erkennen. Von einiger Erfindungsfrische im Melodischen, dringen sie tief in die vertonten Dichtungen Heines, Eichendorffs und Chamissos ein und verweisen in der Klavierbegleitung eindrucksvoll auf die ruhmvolle Vergangenheit Levis als pianistisches Wunderkind. Vor allem die Lieder Die Glocken läuten das Ostern ein (Text: Adolf Böttger) und Eichendorffs Der letzte Gruß, das dem Album den Titel gibt, prägen sich schon beim ersten Hören nachdrücklich ein und könnten auch im heutigen Repertoire heimisch werden.

Kaum weniger profiliert erscheinen Shakespeares Narrenlied Komm herbei, Tod (aus Was ihr wollt) und die drei Vertonungen von Goethe-Gedichten: Wanderers Nachtlied, das ungemein spritzige Frühling übers Jahr und Dämm’rung senkte sich von oben. Hier wird Levis Version die Bearbeitung desselben Textes von Johannes Brahms gegenübergestellt, was im Falle eines kritischen Vergleichs nach meiner Auffassung zu einem Unentschieden führen würde. Wie überhaupt die das Album ergänzenden Kompositionen von Brahms, Schumann und Heinrich von Herzogenberg verdeutlichen, welchen Rang Levi unter diesen hätte einnehmen können, wenn er weitergemacht hätte. Sozusagen als Bonus schließen die Kollektion vier Lieder des französischen Zeitgenossen Henri Duparc ab, der mit Levi das Schicksal teilt, einen großen Teil seiner Arbeiten vernichtet zu haben. Dass er, im Banne Wagners, auch Musikdramen schreiben wollte und dann resignierend aufgab, spürt man an den dramatisch aufgewühlten Stücken Phidylé und La vague et la cloche, die deutlich vom Charakter der „mélodies“ abrücken, der das französische Liedschaffen dieser Zeit prägte.

Der Sänger René Perler und der Pianist Edward Rushton sind nicht nur für die Initiative zu loben, Levis kleine Liedperlen wieder ans Licht gebracht zu haben, sondern auch für ihre ernsthafte und eindringliche Interpretation. Auf dem Cover ist Perler als Bassbariton ausgewiesen und er hat auf der Bühne Basspartien wie die Dr. Bartolos von Mozart und Rossini und Puccinis Colline gesungen. Die Stimme, die er hier hören lässt, ist allerdings ein schlanker Bariton von tenoralem Gepräge mit sicherer Höhe, mehr charaktervoll als lyrisch, nach meinem Geschmack eine ideale Beckmesser-Stimme. Seine Diktion ist sehr ausgestellt, mit offenen Vokalen und einer Tendenz, die Töne anschwellen zu lassen, die fast etwas Zeigestockartiges hat. Das ist gewöhnungsbedürftig, aber man muß anerkennen, dass Perlers Stimme und Vortrag unverwechselbar sind, und das kann man heutzutage nicht mehr von allzu vielen Sängern behaupten. Edward Rushtons Klavierbegleitung ist imaginativ und insbesondere bei Levi brillant.  In summa: eine warme Empfehlung für diese originelle Publikation. (Prospero PROSP 0018) Ekkehard Pluta

Moderne Klassik aus Chemnitz

 

Selbst Opernkenner mittleren Alters denken bei Zimmermann allenfalls an Bernd Alois. Jüngeren ist der Dresdner Zimmermann (1943-2021) völlig unbekannt, obwohl seine Oper für zwei Sänger Weiße Rose vermutlich nie von den Kammerbühnen verschwinden wird. Dabei wurde Udo Zimmermann, im Gegensatz zu den in etwa der gleichen Generation angehörenden Kollegen Hanell, Katzer und Kunad, im Osten wie im Westen aufgeführt und darin allenfalls Matthus vergleichbar. Darüber hinaus hatte Zimmermann ab Mitte der 1980er bedeutende Funktionen an der Oper Bonn, an der Leipziger Oper, beim Bayerischen Rundfunk und schließlich an der Deutschen Oper Berlin inne. Und das ist nur ein winziger Teil der Funktionen und Aufgaben, die er übernahm. Der Schuhu und die fliegende Prinzessin ist Zimmermanns vierte Oper nach dem Dresdner Musikhochschul-Auftragswerk Weiße Rose (1968), aus dem sich 20 Jahre später die gleichnamige Kammeroper entwickelte, der so elegant als Ring-Uraufführung bezeichneten Die zweite Entscheidung (1969) und Levins Mühle nach dem gleichnamigen Roman von Johannes Bobrowski (1973). Bereits Levins Mühle erlebte ein halbes Dutzend Inszenierungen in Westdeutschland. In noch stärkerem Maß verzauberte der im Dezember 1976 an der Dresdner Staatsoper uraufgeführte Schuhu das Publikum im Osten wie im Westen.

Bereits 1977 wurde Kurt Horres‘ Darmstädter Inszenierung des Schuhu auch bei den Schwetzinger Festspielen gezeigt, die sich zwei Jahre zuvor für ein anderes Märchen, nämlich Der gestiefelte Kater oder Wie man das Spiel spielt von Günter Bialas eingesetzt hatten. Ebenfalls bei den Schwetzinger Festspielen folgte 1982 als Aufführung der Hamburgischen Staatsoper Die wundersame Schustersfrau. Bis Mitte der 1990er Jahre hatten das Kunstmärchen mit dem Text von Peter Hacks sowie die García Lorca-Adaption anhaltenden Erfolg auf deutschsprachigen Bühnen. Zuletzt hatte Zimmermann 1995 für eine Leipzig-Salzburger Koproduktion eine gekürzte zweistündige Fassung des Schuhu hergestellt, die er im August 1995 im Mozarteum dirigierte. Im Juni 2021 plante die Oper Chemnitz den seltsamen Vogelmenschen nun endlich wieder auf seine Reise nach Coburg-Gotha, Mesopotamien, Tripolis und Holland zu schicken. Leider musste die sicherlich sehenswerte Inszenierung Lorenzo Fioronis auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Die im Mai 2021 in der Chemnitzer Stadthalle entstandene Einspielung – die zweite nach der von Peter Gülke 1978 dirigierten Kurzfassung mit den Uraufführungssängern Jürgen Freier und Helga Termer – ist sozusagen der Appetizer dazu (Rondeau 2 CD ROP622829).

Lange Vorrede. Die Aufnahme ist rundum gelungen. Klanglich prägnant und klar, dicht und oftmals suggestiv. Es drängt sich geradezu auf, das Stück häufiger zu spielen. Es beginnt mit der Leierkastenmusik des Blockflöten-Quartetts und dem Bänkelgesang des Erzählers, „Es war ein armer Schneider“, und den Geburtsschreien der Frau, die ein Ei zur Welt bringt, aus dem im kommenden Frühjahr der Schuhu schlüpft. Mit den Wanderungen des Schuh und seinem Aufbruch aus der Vaterstadt wird die Musik farbiger, aufgeregter und zwingender, auch solistisch anspruchsvoller, wie im schönen Hornkonzert, das in der Mitte der zweiten Abteilung während der Reise des Schuhu von Mesopotamien nach Tripolis erklingt. Diego Martin-Etxebarria bringt die auf zwei identisch besetzte Kammerorchester verteilte Komposition zum Schweben und Schwingen und lässt die munter plappernden Instrumentalisten der Robert-Schumann-Philharmonie quasi als Darsteller ins Spiel greifen. Das geistreiche Miteinander aus Märchendarstellung und Kommentar unterstützt die parabelhafte Aussage und die weitgefächerten, heute schon wieder etwas altbacken anmutenden Kompositionsmittel, die Klangverfärbungen- und Verfremdungen, Echo- und Simultaneffekten, barocken Ensemblesätze und Vokalisen, das Singparlando und Zischen und Flüstern des Ensembles illustrieren trefflich die fantastische, hurtig hüpfende Handlung.

Die in 38 Szenen und drei Abteilungen und 136 Minuten erzählte Handlung ist nicht kompliziert, aber ungemein aus- und weitschweifend. Märchenhaft eben. Dass in Chemnitz vier Szenen, die Udo Zimmermann selbst vorgeschlagen hatte, gestrichen wurden, stört nicht. Erzählt werden muss die Handlung nicht. Sie erzählt sich selbst. Denn neben den beiden Titelfiguren wirken zwölf Sänger mit, die in mehrere Rollen schlüpfen und das Märchen auf der Bühne erzählen und kommentieren. Gleichberechtigt neben Andreas Beinhauer als Schuhu und Marie Hänsel als Prinzessin agieren Tatiana Larina, Katharina Baumgarten, Maraike Schröter, Lena Kutzner, Antigone Papoulkas, Sophia Maeno, Philipp Kapeller, Florian Sievers, Reto Raphael Rosin, Magnus Piontek, Till von Orlowsky und André Eckert. Man muss das Ganze sicherlich sehen.  Rolf Fath

Antonio Smareglias „Vassallo di Szigeth“

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Seit Jahren interessieren wir uns bei operalounge.de für jene Komponisten im Spannungsfeld nationaler und politischer Veränderungen, namentlich des ehemaligen k. u. k. österreichisch-italienischen Staatenverbundes und folgenden Ostblocks, auf der Suche nach einer nationalen und musikalischen Identität. Oper ist ja immer auch ein Indikator eben solcher Veränderungen, immer auch ein Bestandteil eines sozialen Umfeldes. Meist mit einiger Verspätung und nachhinkend den politischen Umwälzungen hinterher, aber fast immer auch ein Anzeiger des Errungenen, Eigenen und auch Kommenden. Denn Musik wie Literatur existiert nicht im leeren Raum sondern ist Teil eines sich verändernden Ganzen.

Der Komponist Antonio Smareglia/ Wiki

Fans des Verismo abseits von Catalani, Cilea, Mascagni und in Maßen auch Puccini werden aufgehorcht haben, als erst in den Medien und dann bei youtube eine welterste (!!!) Aufnahme von Antonio Smareglias Oper Il vassallo di Szigeth auftauchte. Die tüchtige Sopranistin Denia Mazzola-Gavazzeni, Witwe und Schützling des Verstorbenen, hat sich ja in der Vergangenheit immer wieder der vergessenen Werke dieser Epoche angenommen, vor allem solche, wofür die Beschaffenheit ihrer Stimme ihr die richte erscheint.

Nun also der Vasallo di Szigeth von Antonio Smareglia, der vor kurzen dann auch bei der italienischen CD-Firma Bongiovanni herauskam, in nämlicher Besetzung wie das gefilmte Konzert bei youtube, bizarrerweise auf der CD ohne Ouvertüre, die man aber bei youtube nachhören kann (und zudem gibt es bei Bongiovanni eine sehr schöne Sammlung von Ouvertüren und Zwischenspielen aus Smareglias Opern unter Silvano Frontalini/ GB2142). Und über Smareglia haben wir ja bei operalounge.de reichlich berichtet, so über seine Falena und die Nozze istriana.

Auf youtube kann man Madame Mazzola-Gavazzeni und Kollegen live im Konzert erleben, wo sie betörend aussieht. Wenn sie nur so sänge. Damiano Cerutti leitet das Orchestra Filarmonica Italiana mit großem Schwung und einer geeigneten Hand, auch den schlagkräftigen Coro Ab Harmonico. Neben der couragiosen, gewöhnungsbedürftigen Sopranstimme der Diva als Nala singen sehr (!) unterschiedlich erfolgreich Giuseppe Veneziano/Andor, Fulvio Ottelli/Milos, Giorgio Valerio/Rolf/Konrad sowie Syuzanna Hakobyan als Canonichessa. Ut desint vires, tamen est ... pflegte mein Geschichtslehrer zu sagen. Harte Arbeit, aber dennoch ist es lohnend, das Werk selbst endlich zu kennen.

Substanziell zum Erscheinen der Oper haben sowohl Frau Mazzola wie auch der Musikwissenschaftler Paolo Petronio beigetragen  (letzterer hat die Edition erstellt und ist operalounnge.de-Lesern kein Unbekannter, haben wir ihn reichlich für den Viktor-Parma-Artikel über dessen Oper Zlatorog bei uns zitiert): wunderbares Sponsorentum also. Denn diese Oper ist seit Menschengedenken nicht auf den Theatern gesehen worden und ist eine der heißersehnten und absolut unbekannten im spannenden Kanon der sonst zumindest dokumentierten Opern Smareglias (so haben Sammler die Mitschnitte vom Abisso/ Triest 1979, La falena/ Braunschweig 2016 und Triest 1976 sowie die diskutable Aufnahme bei Bongiovanni 2019, die Nozze istriana/ Triest 1972 und 1999 sowie RAI 1961, Oceana/Zagreb 2003 und schließlich I pittori fiamminghi/ Triest 1991).

Antonio Smareglia: Paolo Petronio, der Autor unseres Artikels, hat das ultimative Buch über den Komponisten geschrieben

Sehr wenige Theater außerhalb Triests und weniger Städte an der istrischen Adria-Küste haben in der Vergangenheit Antonio Smareglias Opern aufgeführt (Braunschweig 2016 mit der Falena eine rühmliche Ausnahme), die jedoch für Aufmerksamkeit in Prag oder Wien gesorgt hatten. Im heute kroatischen, ehemals italienischen Pula am 5. Mai 1854 und im selben Jahr wie Catalani geboren, begann Antonio  Smareglia sehr früh  mit seiner musikalischen Ausbildung, zuerst in Wien als kulturellem Zentrum  Mitteleuropas jener Zeit (er war als Sohn einer kroatischen Mutter und eines österreichischen Vaters deutschsprachig aufgewachsen), später in Mailand, wo er die Freundschaften von wichtigen Persönlichkeiten des Musiklebens wie Arrigo Boito und Luigi lllica gewann. Ausgebildet wurde er bei dem Komponisten und Lehrer Antonio Faccio (dessen von Antonio Barrese wiederaufgefundener Amleto vor kurzem in der Musikwelt für Aufsehen). In jenen Jahren florierte besonders in Mailand die nonkonformistische  Kulturbewegung der scapigliatura,  deren antiromantische, antirhetorische Ideale auch auf Smaraglia abfärbten.

Der Komponist Smareglia und seine Librettisten: Luigi Illica, Antonio Smareglia & Francesco Pozza/ OBA

Diese „Junge Schule“ der Tempelstürmer wurde im musikalischen Bereich von der ebenfalls jungen Musikfirma Sanzogno gefördert, die es wagte, sich neben dem übermächtigen Musikverlag Ricordi zu etablieren, der auch den Verlag der Witwe Lucca (wo Catalani verlegt wurde) „schluckte“ – durchaus einer der Gründe, warum Smareglia in der späteren Folge kaum aufgeführt wurde. Ricordi war übermächtig.

In jenen Jahren war der Austro-Kroatische Konflikt mit Italien evident, und Smareglia erlebte in Mailand die Fremdheit einer Welt, mit der er sich weniger identifizieren konnte als in Wien. Vielleicht auch um diesem Konflikt zu entgehen, verließ er das dortige Konservatorium 1877 und vervollständigte sein Studium selbst – später äußerte er sich enttäuscht und desillusioniert über seine mangelnde Zugehörigkeit zu keiner der beiden Kulturen. Dennoch war Mailand der Aufführungsort seiner ersten Werke: Preziosa 1879 und Bianca da Cervia bereits an der Scala 1882, letztere deutlich in Anlehnung an das Modell der Grand Opéra, aber auch bereits Trägerin seiner Vorstellungen von Harmonik und Instrumentation.

Bei seinem zweiten Wien-Aufenthalt von 1888 bis 1894 experimentierte Smareglia mit neuen Ausdrucksformen und betonte damit einmal mehr seine Distanz zu den gängigen Opern der Jahrhundertwende in der Folge Verdis. Dabei zog er überzeugend die Aufmerksamkeit eines so eminenten Kritikers wie Eduard Hanslick und Komponisten wie Johannes Brahms auf sich. In diese Phase gehören seine Opern II vassallo di Szigeth in Wien 1889 (in der Übersetzung von Max Kahlbeck, einem renommierten Schriftsteller und Übersetzer, der Hunderte von fremdsprachigen Opern für die Wiener Bühne einrichtete) und Cornill Schutt 1893 in Dresden, dann in Prag (ab 1928 als Pittori fiamminghi vielfach in Italien aufgeführt (ein Hosentaschen-Mitschnitt von  1991 aus Triest liegt vor). Beide Opern wurden in deutscher Kahlbeck-Übersetzung der Libretti von lllica gegeben (Bote & Bock).

Antonio Smareglia: Deckblatt des Klavierauszuges zum „Vasall von Szigeth“/ Paolo Petronio

Der kroatisch-italienische Musikwissenschaftler und Journalist Paolo Petronio hat nicht nur das ultimative Buch über Smareglia und sein Schaffen geschrieben, sondern auch den Artikel im Booklet der Bongiovanni-CD-Ausgabe (GB 269495/2 gut ausgestattet mit zweisprachigem Libretto) den wir nachstehend und mit Dank in unserer eigenen Übersetzung von Daniel Hauser bringen und der uns in die Welt Smareglias und seiner Oper Il vassallo di Szigeth einführt. Dank an beide. G. H.

 

 Und nun Paolo Petronio: Il vassallo di Szigeth (Der Vasall von Szigeth). Der Wendepunkt für Antonio Smareglia. Nach seinem glänzend erfolgreichen Studium am Mailänder Konservatorium und dem Interesse der Verlegerin Giovannina Lucca an ihm komponierte Antonio Smareglia Preziosa und Bianca da Cervia. Diese beiden Opern fanden großen Anklang und ähneln in gewisser Hinsicht den frühen Werken seines Zeitgenossen Alfredo Catalani – tatsächlich suchten beide Komponisten einen neuen Stil in der Oper. Als sich Smareglia jedoch mit dem mächtigen Verleger Ricordi stritt, bewegte ihn das völlige Fiasko seiner dritten Oper Re Nala dazu, deren Partitur zu vernichten und so der Vergessenheit zu überlassen. Nach Rückkehr in seine Heimatstadt Pola, seinerzeit Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie, wurde Smareglia von dem damals angehenden Librettisten Luigi Illica und später von Giovanni Pozza kontaktiert und begann mit der Arbeit an Il vassallo di Szigeth, einer neuen Oper, die auf das Interesse des Erzherzogs Karl Stephan von Österreich mit Sitz in Pola stieß. Karl Stephan selbst dirigierte sie an der Wiener Oper – der damaligen Hofoper und heutigen Staatsoper – anlässlich der Eröffnung der Spielzeit am 4. Oktober 1889, dem Namenstag von Kaiser Franz Joseph, der der Aufführung beiwohnte und so begeistert war wie der Rest des Publikums.

Antonio Smareglia: Der Übersetzer der Oper Max Kahlbeck/ Wikipedia

Smareglia scheint etliches aus Re Nala wiederverwendet und viel neue Musik für sein Brahms-ähnliches Werk geschrieben zu haben (trotz Smareglias oft erklärter Bewunderung für Wagner), das selbst Johannes Brahms begeistert lobte. Und die überaus positive Reaktion des mächtigen Kritikers Eduard Hanslick, dessen Abneigung gegenüber einer Oper deren Chancen an jedem Ort zerstörte und der wie Brahms erbittert gegen Wagner eingestellt war, beweist, dass Smareglias Oper alles andere als wagnerisch war. Die Wiener Hofoper brachte ihre Inszenierung von Il vassallo di Szigeth auf Tournee nach New York, machte sie zur berühmtesten Oper des Repertoires und ermöglichte es Smareglia, an ihren Erfolg von 1893 mit Cornill Schutt anzuknüpfen. Abermals mit einem Libretto von Illica und weiteren Überarbeitungen der Musik von Re Nala, war diese dezidiert mitteleuropäisch inspirierte neue Oper ein Triumph in Dresden und Prag und machte Smareglia zu einem der vielversprechendsten Komponisten dieser Epoche – sie wurde 1927 mit dem neuen Titel Pittori fiamminghi überarbeitet. Dieser Erfolg zerbrach jedoch, als Smareglias Bewunderung für Wagner ihn dazu veranlasste, den antisemitischen Artikel des Komponisten Das Judenthum in der Musik zu loben, was ihm den Widerstand der Wiener jüdischen Kreise und auch des neuen Direktors der Wiener Hofoper, Gustav Mahler, einbrachte. Mahlers Vorgänger Richter war im Streit mit dem Chef des Opernhauses Jahn gefeuert worden, und Smareglia hatte sich unklug in die Affäre hineinziehen lassen und sich auf die Seite von Richter gestellt. Dies kostete ihn dort jede Unterstützung, die er später hätte genießen können.

Antonio Smareglia: die tüchtige Sopranistin Denia Mazzola arbeitet sich als Nala durch die Oper „Il vasallo di Szigeth“/ youtube

Wieder zurück in Pula, wurde der enttäuschte und ausgegrenzte Smareglia erneut von Luigi Illica aufgesucht, mit einem Vorschlag für das Libretto von Nozze istriane. In Triest ein Hit, ist dies bis heute die berühmteste Oper des Komponisten, wenn auch nicht seine beste, was auch Smareglias eigener Meinung entsprach. Der nun entschieden postwagnerische Komponist wurde dann von Silvio Benco kontaktiert, einem jungen aufstrebenden Dichter und begeisterten Wagner-Verehrer, der die italienische giovane scuola (junge Schule) des späten 19. Jahrhunderts für eine dekadente und falsche Richtung erachtete und glaubte, dass die italienische Musik nur im Namen Wagners zu ihrer Größe zurückgeführt werden konnte, was daher die Smareglia zugedachte Rolle sei. Dies führte zur Komposition von drei mächtigen nachwagnerischen Opern – La falena, Oceàna und Abisso – von denen insbesondere die ersten beiden bewiesen, dass Smareglia zu Meisterwerken imstande war. Aber einmal mehr arbeiteten seine Kunst und seine Ansichten gegen ihn selbst. Das Publikum wurde von den ebenso chaotischen wie unglaubwürdigen Intrigen von La falena, Oceàna und Abissso abgeschreckt; Bencos neigte politisch zum irredentismo, einem elitären Gedankengang, der Verdi verachtete, wenn er nicht den Umständen entsprach, und Wagner vorbehaltlos bewunderte, während Smareglia ein treuer Untertan Österreichs blieb. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte zu einem Streit zwischen dem Komponisten und den irredentisti, die ihn als Abtrünnigen und Verräter bezeichneten. Trotz Smareglias Entschuldigung blieben diese verleumderischen Bezichtigungen bestehen; der Zusammenbruch Österreich-Ungarns entzog ihm seine Rente und er verlor in der Folge sogar die Freundschaft mit Toscanini über die postume Fertigstellung der Oper Nerone von Arrigo Boito, einem ehemaligen Freund und Studienkollegen in Mailand.

Als Produkt deutscher, slawischer und italienischer Einflüsse ist Smareglia ein durch und durch mitteleuropäischer Komponist und doch ein sehr eigenständiger Mann, ein perfektes Beispiel für die Musik der Region Triest-Istrien. Es ist verlockend, ihn als einen der „nationalen Komponisten“ zu sehen, die im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine Blütezeit erlebten. Seine Heimat Julisch Venetien war jedoch nie eine Nation als solche und von denjenigen Mächten erbittert umkämpft, die Österreich-Ungarn mit ihrem Dogma des Entweder-oder nachfolgten. Und Smareglia stand sowieso immer auf beiden Seiten. Tatsächlich waren seine Opern das Fundament einer wahrhaft authentischen Triester Musikschule mit so hervorragenden Komponisten wie Eugenio Visnoviz, Gastone de Zuccoli, Michele Eulambio, Cesare Nordio, Antonio Illersberg, Victor de Sabata, Mario Bugamelli, Guilio Viozzi und Fabio Vidali. Alle sind sie zu Unrecht in Vergessenheit geraten, nur weil sie auf der falschen Seite der Geschichte standen.

Il vassallo di Szigeth ist eine Oper, welche die erste Phase von Smareglias Schaffen abschließt und gleichzeitig die Errungenschaft eines neuen Stils markiert, der sie für die Entwicklung des Komponisten grundlegend macht. Im Gegensatz zu Smareglias anderen großen Erfolgen wurde Il vassalo di Szigeth vor allem wegen des Anspruchs eines reinen Spektakels im zweiten Akt mit der langen Ballettsequenz ins Abseits gedrängt. Sie wurde 1930 in Italien zuerst in Pola, dann in Triest und 1931 in den Studios von EIAR in Rom (die heutige RAI – der nationale Rundfunk Italiens) aufgeführt. Das bedeutet, dass sie seit 90 Jahren nicht mehr auf einer Opernbühne aufgeführt wurde und seit 89 Jahren keine nicht-szenische Aufführung erfahren hat. Paolo Petronio/ Übersetzung Daniel Hauser

Die Handlung ist abgeleitet von der realen historischen Episode des Vasallen von Sziget, der in einer epischen Schlacht gegen die Türken heldenhaft starb. Der Komponist Ivan Zajc aus Fiume (heute Rijeka) hatte dies zum Thema seiner eigenen Oper Nikola Subic Zrinski (1876) gemacht, die als eine Art kroatisches Nabucco gilt und dort einen bleibenden Ruf genießt. In dieser Geschichte liegt Sziget in der Ebene des Banats, dem heutigen Serbien, obwohl es tatsächlich zwei Szigets gibt, das andere in den Karpaten Siebenbürgens gelegen, das heutige Sighetu Marmatiei in Rumänien. Und diesen Ort hat Illica gewählt und gab den drei Hauptfiguren trotz der Geographie ungarische, serbische und deutsche Namen – Andor, Milos und Rolf.

Die Oper hat drei Schauplätze: die Schlosskirche, das Tibisco-Tal (Theiß-Tal) und im zweiten Tableau des ersten Aktes und im dritten Akt Milos‘ Gemach im Schloss. Das erste Tableau des ersten Aktes beginnt mit den Feierlichkeiten anlässlich der Hochzeit von Andor, Baron von Szigeth, und Naja, einer Jungfrau aus Dalmatien, obwohl ihr ungewöhnlicher Name in diesem Land nicht existiert. Sie scheint keinen adeligen Rang zu haben und aus dem Nichts in die heimischen Berge gekommen zu sein (Illica war berühmt dafür, das Ungewöhnliche zu erfinden, weshalb Puccini ihn immer zusammen mit dem prosaischen Giacosa einsetzte). Naja bricht unvermittelt zusammen und scheint tot zu sein. Der verzweifelte Andor beschließt, sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen und übergibt die Macht an seinen Bruder Milos. In Wirklichkeit ist dies alles eine Verschwörung von Milos, um Naja mit Hilfe seines Vasallen Rolf, der ein Experte für Zaubertränke ist, an sich zu reißen, doch weiß Milos nicht, dass Rolf dies als Rache für die Ermordung seiner gesamten Familie durch Andors und Milos‘ Vater vor Jahren ansieht. Im zweiten Tableau liefert er Naja an Milos aus, der den Irrglauben des verwirrten Mädchens ausnutzt, die meint, mit Andor zusammen zu sein.

Der Autor, Smaregia-Experte und Musikwissenschaftler mit Schwerpunkt istrische Komponisten, Paolo Petronio/ timone

Der spektakuläre zweite Akt beginnt mit der Zeremonie zur Machtübergabe im Tal des Flusses Tibisco mit Gesang, Tanz und einem ungarischen Ballett. Dann offenbart Rolf Andor die Wahrheit, die Brüder geraten aneinander und Naja wird als Hexe und Hochstaplerin festgenommen.

Im dritten Akt bringt Rolf seine schreckliche Rache zu einem perfekten Abschluss. Er führt Naja in Milos‘ Zimmer, wo das Mädchen immer noch benommen ist und darum bittet zu sterben. Rolf gibt ihr ein Gift. Dann erscheint Andor – gemäß dem Plan mit Rolf –, um Naja mit sich zu nehmen und mit ihr über die Grenze zu fliehen, aber sie stirbt kurz darauf. Als Milos hereinkommt, tötet ihn sein wütender, hasserfüllter Bruder. Der teuflische Rolf kehrt triumphal zurück im Wissen, dass seine Rache erfolgreich war. Paolo Petronio/ Übersetzung Daniel Hauser

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Germaine Lubin

Kennt noch jemand die wunderbare Stimme der Germaine Lubin? Die schöne, blonde und skandalumwitterte Sopranistin der französischen und deutschen Vor/Kriegszeit? Die unvorsichtige, politikblinde Heroine, die 1939 noch in Bayreuth und während der Besatzung in Paris vor deutschen Offizieren sang? Die dem Vernehmen nach auch eine starke Liaison mit einem hohen Wehrmachtsrang hatte? Die nach dem Krieg Geächtete und in der Schweiz lebende Verarmte? Sie wurde zum weiblichen Sündenbock einer bigotten Nation, die in Teilen kollaboriert und die ihre faschistische Vergangenheit bis heute nicht bewältigt hat. Frauen, die deutschen Soldaten geliebt hatten, wurden die Köpfe geschoren und und mit Schlägen durch die Straßen getrieben. Das blieb Germaine Lubin wie der Arletty, Janine Micheau und anderen erspart, aber sie konnte nicht mehr auftreten und zog sich – enteignet und gebrochen – in die Schweiz zurück. Wie weit sie nur ignorant-naiv oder doch politisch dem Nazi-Regime zugetan war, lässt sich nach so langer Zeit nicht mehr klären. Dass sie keinen Instinkt für die politische Situation hatte ist eindeutig. Ich mag sie nicht verurteilen, weil ich damals nicht gelebt habe. Und sie hat sicher niemanden zu Tode gebracht. Für mich  ist sie eine der ganz großen Stimmen jener Zeit, eigentlich bis heute. Ihre Isolde, ihre Elisabeth, ihre Alceste zählen für mich zu den wirklichen Immortellen meiner Sammlung. Und vielleicht zählt es zu unseren Aufgaben bei operalounge.de an diese große Sängerin zu erinnern, sie erneut vorzustellen und ihr mit einem historischen Interview eine Hommage zuteil werden zu lassen.

Die betörende Germaine Lubin/ OCA

Germaine Lubin, die unvergleichliche Sopranistin der Vorkriegszeit in Frankreich, wurde am 1. 2. 1890 geboren und starb am 27. 10. 1979 in Paris. Nach einem Medizinstudium begann sie bei der bedeutenden älteren Kollegin Felia Litvinne und anderen mit dem Gesangsunterricht und debütierte 1912 als Offenbachs Antonia an der Pariser Opéra-Comique. Sie galt in ihrer Zeit als die große und herausragende Stimme und Darstellerin für die Rollen Glucks und Rameaus, auch der französischen Spätromantik, ebenso Mozarts (sie sang die Donna Anna unter Bruno Walter bei den Salzburger Festspielen), vor allem aber Wagners, dessen Isolde und Kundry sie nicht nur in Bayreuth, sondern auch in Wien, Prag, Brüssel und andernorts gab. Sie gilt noch heute als eine bedeutende Wagnersängerin des vergangenen Jahrhunderts, und es war die Liebe zu Wagner, die ihr wegen ihrer unglücklichen Entscheidung, noch unmittelbar vor Kriegsausbruch in Bayreuth 1938/Kundry und 1939/Isolde und dann auch 1941 in Paris die Isolde vor der deutschen Besatzung zu singen, Auftrittsverbot und Verfolgung nach dem Krieg durch ihr eigenes Land einbrachten. Denn nach zahlreichen Prozessen und Wiedergutmachungsbestrebungen war sie schließlich stimmlich nicht mehr in der Lage, den großen Partien von einst gerecht zu werden. Eines der letzten Interviews kurz vor ihrem Tode gab sie unserem inzwischen verstorbenen Kollegen Manfred Strauss, das wir hier  in Auszügen wiedergeben. G. H. 

Germaine Lubin chez elle/Foto Isoldes Liebestod

Sie waren eine der größten Opernsängerinnen dieses Jahrhunderts, eine Isolde und eine Kundry, die man heute noch für unerreicht hält. Sie haben lange Zeit geradezu über die Oper geherrscht. Sie haben als Frau vielleicht nach zu viel Glück gestrebt. Sie galten auch als anspruchsvoll,  launisch und arrogant. Würden Sie dieses Leben gern noch einmal leben wollen? Anspruchsvoll ja , launisch nein. Ich arbeitete viel, man beneidete mich sehr darum, man war auf mich neidisch, und man hat es mich spüren lassen. Sicher war ich arrogant, das ist wahr. Ich gebe zu, dass ich nie verstanden habe, mich für  meine Gaben entschuldigen zu müssen. Man hatte mich zu einer gewissen Zeit um Gefälligkeiten, um Auftritte gebeten, und ich habe  diese Wünsche erfüllt, auch wenn mich das später viel kostete. Mit meinen Kollegen war ich nicht immer sehr nett, das ist auch wahr. Aber dasselbe kann ich von ihnen sagen – sie waren oft boshaft mir gegenüber. Für die Welt der Oper war ich vielleicht ein Monument,  aber nicht für Frankreich und Paris, das alles habe ich anderswo und nicht in Frankreich verwirklicht, in Deutschland, in der Tschechoslowakei, in Ungarn, England, Spanien, Portugal. Aber ob ich das alles noch einmal erleben möchte? Nein. Nein, das möchte ich nicht. Ich habe alles erreicht, was ich wollte, habe die schönste Sache der Welt – nämlich Tristan und lsolde – gesungen, habe nur in dieser Musik gelebt, die wirklich die schönste der Welt ist. Ja, das kann man behaupten, es ist die wunderbarste Musik der Welt. Und Tristan war stets mein Ideal. Ich habe dieses Ideal hier in Paris und in Bayreuth verwirklichen können, und ich habe in meinem ganzen Leben nur einen einzigen Mann geliebt: Tristan, keinen anderen.

Herbert von Karajan und Germaine Lubin vor dem Bühneneingang der Pariser Oper, wo er die „Entführung aus dem Serail“ dirigierte.(17.5.1941)/Foto Bundesarchiv Bild No. 183/R2291

Haben Sie nicht den Eindruck, gerade wegen dieser Liebe zur Musik an vielen anderen Dingen vorbeigegangen zu sein? Ja, sicherlich. Aber man muss schließlich im Leben wählen. Ich war eben für die Musik geschaffen. Nach meiner Schulzeit verspürte ich den Drang zu singen. Meine Mutter liebte die Musik, den Gesang, und sie nahm mich von Zeit zu Zeit mit in die Opéra-Comique. Sie hatte übrigens eine sehr schöne Stimme, einen richtigen Kontra-Alt. So entstand auch in mir der Wunsch zu singen. Ich spielte schon vorher sehr viel Klavier und hatte eine deutsche Klavierlehrerin. Ich liebte die Musik über alles, was mich nicht daran gehindert hat, acht Jahre lang Latein zu studieren. Meine Eltern ließen mich mit 17 Jahren mit dem Gesangsstudium beginnen. Ich habe dann ein Jahr lang mit einem Gesangslehrer gearbeitet und bin einstimmig zum Konservatorium zugelassen worden. Dort folgte ein Studium von vier Jahren, was keine besondere Leistung ist. Ich hatte immer eine sehr schöne Stimme, was eher etwas ungewöhnlich auf Grund meiner Herkunft ist, denn ich bin zur Hälfte Elsässerin, zu einem Viertel Polin und zu einem Viertel Kabylin. Durch diese Mischung hatte meine Stimme einen ganz besonderen Klang, der keinem anderen ähnelte. Und ich war sehr fleißig – ich kannte kein Selbstmitleid, keine Schonung für mich. Meine Karriere hat 28 Jahre gedauert, und 28 Jahre lang ließ ich meine Stimme stets von einem Gesangslehrer kontrollieren .

Fasziniert von blonden Frauen: Adolf Hitler plaudert Germaine Lubin und Heinz Tietjen in Bayreuth 1939/ Foto Bundesarchiv Bild No. 195-R92567

Angeblich fragten Sie nach jeder Vorstellung: „Wie war ich heute?“ Nein, das hat man in einem Zeitungsartikel behauptet. Der Journalist war ein Idiot. Er schrieb, ich betriebe eine Art Ich-Kult. Das stimmt überhaupt nicht. Bewunderung empfand ich nur für meine Gesangslehrerin, die meiner Meinung nach die herrlichste Stimme der Welt besaß. Ich habe nie mehr später eine solche Stimme gehört. Allerdings gab es da noch Renata Tebaldi, die ebenfalls eine sehr schöne Stimme besaß, außer­ dem empfinde ich eine leidenschaftliche Bewunderung für Montserrat Caballé, die wie keine andere singt.

Nicht die Callas? Nein, sie hatte keine schöne Stimme. Sie verstand es, sie optimal einzusetzen, und sie war eine wunderbare Operntragödin, aber ihre Stimme selbst war nicht optimal. Das denke ich, und das sag‘ ich auch. Ich erinnere mich sehr gut an alles, weil ich ein sehr gutes Gedächtnis besitze. Das braucht man auch, um Gesangsunterricht geben zu können. Ich denke wenig an mich selbst. Ich bin nicht egoistisch. Ich denke an die anderen. Ich habe als Lehrerin heute die Verantwortung für einige sehr vielversprechende Stimmen, und ich kümmere mich um sie. Früher habe ich mehr auf mich konzentriert, denn nur so konnte ich so schwierige Rollen wie lsolde und Brünnhilde singen.

Germaine Lubin als Ariane von Dukas/HeiB

Ist es schmerzlich, vergessen zu werden? Nein. Warum? Ich selbst habe vergessen. Sicher, ich weiß  noch alles, was ich gesungen habe, aber ich denke nie daran.

Glauben Sie an Gott, an vorbestimmtes Schicksal? Ja, ich bin fest davon überzeugt. Ich glaube an Gott. Wenn ich an Sternzeichen glauben würde, würde  ich denken, dass ich unter dem Zeichen der Musik geboren bin, nämlich am 1. Februar wie auch Mozart, der mein Lieblingskomponist ist. Man hat von mir gesagt, ich sei eine der größten Wagner-Sängerinnen  des 20. Jahrhunderts.  Und dennoch bevorzuge ich Mozarts Musik. Ich habe die Ehre und die Freude gehabt, die Donna Anna in Salzburg unter der Leitung von Bruno Walter zu singen – wunderbar.

Sind Sie sich eigentlich dessen bewusst, dass Sie für viele als die größte Opernsängerin des zwanzigsten Jahrhunderts gelten? Man hat es so geschrieben. Aber das könnte ich niemals von mir behaupten. Vielleicht eine  der größten. Im Augenblick gibt es allerdings keine lsolde, keine! lsolde ist eine Welt für sich. Man braucht dafür eine gewaltige Stimme, die wirklich einen großen Umfang hat und in allen Registern gut klingt.

Sprechen wir über den Juli 1939, ihren Auftritt in Bayreuth und den Tristan in Paris 1941. Haben Sie das nicht als eine falsche Entscheidung erkannt? Damals, 1941, habe ich die Deutschen gehasst, als sie in den Norden einfielen und dort alles verwüsteten und massakrierten. Ich war erschüttert und habe sie wirklich gehasst. Natürlich hat es mich nicht daran gehindert, ihnen den einen oder anderen Gefallen zu tun, wenn sie mich darum baten, weil sie wussten, dass ich in Deutschland viel Erfolg gehabt hatte und dass die Deutschen vor mir in Ekstase gerieten.

Germaine Lubin als Isolde/Foto Isoldes Liebestod

Einschub: “I have suffered an enormous injustice. They curtailed my career by ten years – my own people! The fact is that I knew some of the Germans when they came to Paris during the occupation. This gave my enemies the chance to satisfy their envy…If I saw the Germans in Paris – and they had been more than kind to me – it was to save my compratriots. It was my way of serving my country at that particular moment. Nobody knows how many prisoners I had released… When I spent three years in prison, they confiscated my Château at Tours and my possessions. Did anyone bother to ask me why I did not accept Winifred Wagner’s invitations to sing in Germany during the occupation? But my trial was a complete vindication: I was completely cleared. Yes, they gave back most of what they had taken…” (aus: “Lubin Revisited” von Max de Schauensee, Opera News)

Lieben Sie eigentlich Ihre alten Aufnahmen? Ich höre meine Platten nie! Ich mag sie nicht. Es ist auch nicht meine wirkliche Stimme. Die 78er Platten sind nicht sehr tongetreu. Hätte man mich auf Bändern, wie es sie heute gibt, aufgenommen, klängen die Aufnahmen  besser. Heutzutage kann man auch mittelmäßige Stimmen auf Bändern schöner erklingen lassen, als sie eigentlich sind. Nun hat man diese 78er Platte auf Band bei Pathé Marconi übertragen. Das Ergebnis ist nicht besser, der Klang ist schlechter geworden. Nein. Ich mag meine Aufnahmen nicht. Ich habe sehr wenige gemacht, obwohl Pathé Marconi mich ständig bat, mich aufnehmen zu dürfen.

Es ist ein großes Glück, inmitten der Musik zu leben, inmitten  eines  Traumes zu leben, weit weg von den hässlichen Dingen der Erde. Ich mag die Menschen nicht. Ich liebe Tiere mehr. Vor  allem  Frauen sind  kleinlich, boshaft, neidisch. Ich habe ihretwegen sehr gelitten. Sie  waren fürchterlich eifersüchtig auf mich. Den  Beweis  haben wir bei der Befreiung von der deutschen Besatzung gehabt. Was hat man mit mir gemacht? Trotz der vielen Gefälligkeiten, die ich den Menschen erwiesen hatte, wurde ich eingesperrt, weil ich Kontakte zu den Deutschen hatte. Ich wurde sogar aus der Oper verbannt!!!  Übrigens schuldet die mir noch Geld, und nicht wenig. Ich werde wohl bis zu meinem Tod darauf warten müssen…

Bayreuther Geplauder derrière la scene: Germaine Lubin mit Winifred Wagner apropos ihrer Isolde 1939 ebendort, die Wehrmacht immer dabei/ Foto Wikiwand

Zu den Dokumenten der Lubin schreibt André Toubeuf, der große Musik-Kenner Frankreichs, in seinem Artikel im Beiheft der Lys-CD aus den Neunzigern: Mindestens drei der großen Lubin-Partien sind vom Rundfunk übertragen worden. Aus der Krönungs-Saison in Covent Garden kamen die vollständigen Versionen der Gluck-Alceste, Dukas-Ariane, aus Bayreuth die Isolde unter De Sabata (1939). Aber am Ende des Sommers 1939 klopfte das Schicksal dreimal an die Tür. Lubin sang während des Krieges ebendort (1938 Kundry, 1939 Isolde), sang 1941 Isolde im besetzten Paris mit ihrem geliebten Max Lorenz wieder und unter Herbert von Karajan. Natürlich sang sie. Und selbst mit Wilhelm Kempf am Klavier bei Fauré und und Cortot bei Wolf bei einem Liederabend in Gegenwart von Arno Breker sang sie. Sie schlug die Einladung Winifred Wagners für eine Isolde, Kundry und Brünnhilde 1940 aus und setzte nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden – auch nach dem Krieg nicht….

Und G. H. meint: Zum Hören und Staunen über die wunderbare, hervorragend durchgebildete und leuchtende Stimme der Lubin, der Frida Leiders in französischer Ausprägung nicht unähnlich, gibt’s eine Menge Schellacks, die von der französischen Firma Lys in den 90ern umgeschnitten wurden und die sich auch bei Andromeda (ANDRCD 9113 Lubin) frisch restauriert wiederfinden (wenn man sie denn noch findet, inzwischen sind diese Firmen so gut wie verschwunden/ G. H.). Das sind vor allem ihre Odeon-Aufnahmen (von 1928 – 1929) der Elsa, Elisabeth und natürlich der französische Liebestod/Tristan (wobei es dann auch einen deutsch gesungenen gibt vom Rundfunk!). Natürlich sind da auch ihre Ring-Auszüge, namentlich „Ewig war ich“ und die „Immolation de Brunnhilde“. Auch ihre Agathe ist bemerkenswert, die Thule-Ballade der Marguérite und natürlich – hors de prix – aus Sigurd Salut! Splendeur du jour!“ – da gibt´s einfach nichts Besseres. An Liedern hat sie auch reichlich viel eingesungen, von Schuberts gruseligem Erlkönig bis zu Lässlichem von Durante oder Bach (das ist sehr gewöhnungsbedürftig, weil sehr dem Zeitgeschmack verhaftet). In ihren besten Aufnahmen strahlt die Stimme wie eine Flamme, wie eine Leuchte in der Hand Isoldens. (Foto oben: Germaine Lubin als Isolde).

Der Musikkenner Carlos Solare schreibt: Und dann gibt es die Edition sämtlicher Lubin-Aufnahmen auf einer Doppel-CD von Marston Records. Wie es bei diesem Label de rigeur ist, sind darin alle erhaltenen Alternativ-Takes und unveröffentlichten Einspielungen enthalten, wiedergegeben in bestmöglicher Klangqualität. So gibt es etwa von Marguerites Ballade von König von Thule eine weitere Version gleichen Datums (22. Juni 1928), die wohl als Probe für die Aufstellung des Mikrophons gemacht wurde. Lubin lässt sich mehr Zeit als bei der eigentlichen Aufnahme und fängt dadurch die verträumte Stimmung der Szene noch überzeugender ein. Dass Sieglindes Erzählung vom Mai 1929 einige Monate später wiederholt wurde, erklärt sich durch die auffällig bessere Klangqualität, die in der Sitzung vom 4. Februar 1930 erreicht wurde. An diesem Tag wurde auch „Siegmund heiss‘ ich“ (bzw. „Siegmund suis-je“) von René Verdière mit jugendlich-heller Klanggebung eingespielt, wozu Lubin Sieglindes letzte Sätze beisteuert.

Die im Beiheft mitgegebene Dokumentation hält fest, dass die deutsch gesungene Version von Isoldes Liebestod am selben Tag – dem 1. Juni 1938 – aufgenommen wurde wie die französische Fassung („Doux et calme“). Lubins Mitstreiter waren in beiden Fällen Philippe Gaubert und das Orchester des Pariser Konservatoriums. Nach wiederholtem Hören scheint mir diese deutsche Fassung identisch mit der Aufnahme zu sein, die anderswo als Bayreuther Mitschnitt unter Victor De Sabata – folglich von 1939 – angegeben wird. Lubins fünf Mélodie- und Lied-Aufnahmen für Pathé-Marconi aus dem Jahr 1944, darunter zwei Duette mit dem jungen Gérard Souzay, sind ebenso dabei wie ein komplettes Rundfunkkonzert von 1954, das eine älter gewordene aber kerngesund gebliebene Stimme festhält.

Gleichsam als „Füller“ enthält die zweite CD die drei kommerziellen Aufnahmen, die Lucienne de Méo im Frühjahr 1928 gemacht hat. Die damals 24-Jährige war auf dem besten Weg, eine internationale Karriere auf höchster Ebene anzutreten. Leider litt sie unter Depressionen und nahm sich zwei Jahre später das Leben. Ihre Einspielung von Alcestes’ „Divinités du Styx“ stellt eine strahlend-sichere Höhe unter Beweis. In Agathes „Und ob die Wolke“ (bzw. „En vain au ciel“) schlägt de Méo zarteste Töne an, und sie gestaltet die Erzählung der Sieglinde – ihrer Glanzpartie während der wenigen Jahre ihrer Laufbahn – mit erregter Spannung.

Das bereits erwähnte Beiheft ist, wie immer bei Marston, eine Freude für sich. Neben der diskographischen Information enthält es zahlreiche Fotos von beiden Künstlerinnen – sowohl in Kostüm als auch privat – sowie umfangreiche biographisch-kritische Aufsätze von Vincent Giroud und eine persönliche Erinnerung an Lubin des kürzlich verstorbenen André Tubeuf. Für die eingeschworenen Fans von Germaine Lubin – und der so gut wie ausgestorbenen „vieille école“ des französischen Gesangs – ist diese Publikation also ein Muss. Carlos María Solare (Fotomontage oben:claudesdeplas.com)

Gwendolyn Killebrew

 

Gwendolyn Killebrew, eine der großen Künstlerinnen der Deutschen Oper am Rhein, ist am 24. Dezember 2021 im Alter von 80 Jahren in Düsseldorf verstorben. Die Altistin war von 1976 bis 2006 Ensemble­mitglied und blieb dem Haus auch anschließend als Gast verbunden. Im Jahr 1988 wurde sie von der Deutschen Oper am Rhein zur Kammersängerin und darüber hinaus 2011 zum Ehrenmitglied ernannt. „Wir haben mit Gwendolyn Killebrew eine bedeutende Sängerin, ein wunderbares Ensemblemitglied und eine bei allen beliebte Kollegin verloren, der wir ein ehrendes Andenken bewahren werden“, erklärt Christoph Meyer, der General­intendant der Deutschen Oper am Rhein.
Während ihrer langen Karriere war Gwendolyn Killebrew sowohl an der Deutschen Oper am Rhein als auch international an vielen Häusern erfolgreich. Sie gestaltete zahlreiche bedeutende Partien ihres Fachs vom Frühbarock bis zur Moderne. Dem Publikum in Düsseldorf und Duisburg wird sie insbesondere in ihrer Rolle als Carmen sowie in den Wagner-Partien Fricka, Erda und Waltraute, den Verdi-Rollen Ulrika, Maddalena und Azucena, ihren Monteverdi-Partien sowie als Rossinis Isabella in Erinnerung bleiben. Von der Düssel­dorfer Bühne verabschiedete sie sich am 5. Juli 2009 als Bacchis in der von Christof Loy inszenierten Offenbach-Operette „Die schöne Helena“.
Die amerikanische Altistin studierte zunächst Klavier, Gesang, Horn und Orgel. Nach Beendigung ihres Studiums an der Temple University in Philadelphia (B.S.Ed.) wurde sie Musiklehrerin und Musiktherapeutin. Ein weiterführendes Gesangsstudium an der Juilliard School of Music in New York (M.M.) legte den Grund­stein für ihre Karriere als Opern-, Lied- und Oratoriensängerin. 1967 debütierte Gwendolyn Killebrew – im Alter von erst 26 Jahren – als Waltraute („Die Walküre“) in dem von Herbert von Karajan inszenierten „Ring des Nibelungen“ an der Metropolitan Opera New York, wo sie 1979 auch als Carmen auftrat. Gast­spiele führten sie zu weltweit bedeutenden Opernhäusern und Festivals wie den Bayreuther Festspielen und den Salzburger Oster- und Sommerfestspielen und den Londoner „The Night of the Proms“.
Gwendolyn Killebrew war es ein besonderes Anliegen, ihr Wissen und ihre Erfahrungen an junge Sängerinnen und Sänger weiterzugeben. Sie gab Meisterkurse und hatte Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen inne. In Düsseldorf unterrichtete sie bis ins hohe Alter in ihrem eigenen Musikstudio Sologesang, Chorgesang und Klavier. (Quelle Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf/ Foto Michl)

Stürmisches

 

Mozarts Mitridate, re di Ponto zählt zu den Jugendwerken des Komponisten, die sich bei Theatern, Festivals und Plattenfirmen großer Beliebtheit erfreuen. Davon zeugen immer wieder Neuproduktionen und CD-Einspielungen. Jüngstes Beispiel ist eine Aufnahme von ERATO, die im November 2020 in der Philharmonie de Paris entstand (0190296617577, 3 CDs). Spiritus Rector des Unternehmens ist Marc Minkowski am Pult des Ensembles Les Musiciens du Louvre – also erneut ein renommierter Musiker der Alte-Musik-Szene, denn diese Opera seria Mozarts wird (wie auch Lucio Silla) bevorzugt von auf diese Gattung spezialisierten Dirigenten mit Orchestern auf historischen Instrumenten interpretiert. (So hatte Christophe Rousset das Werk für DECCA mit Les Talens Lyriques eingespielt.) Minkowski  setzt schon in der Ouverture starke Akzente mit harschen forte-Schlägen zu Beginn und einem graziösen Mittelteil. Für pompöse Klänge sorgt der Dirigent in der Marcia des 1. Aktes und er liefert den Sängern für deren zumeist dramatisch betonte Arien eine spannende und inspirierende Folie.

Die exquisite Besetzung wird angeführt von Michael Spyres in der Titelrolle. Der amerikanische Tenor hat in letzter Zeit mit sensationellen Aufnahmen bei ERATO für Aufsehen gesorgt. Auch hier kann er sich profilieren, besticht schon in seiner ersten Arie, „Se di lauri il crine adorno“, mit differenzierter Stimmführung und glanzvoller Bewältigung der unterschiedlichen Register. Mit dem stürmischen „Quel ribelle“ beendet er furios den 1. Akt. Im Kontrast dazu ist „Tu, che fedel“ im 2. Akt zunächst von nachsinnendem  Duktus, entfaltet aber im Mittelteil vehemente Wirkung. So auch „Già di pietà mi spoglio“ am Ende des 2. Aktes, das in seiner virulenten Art mit herausgeschleuderten Spitzentönen von effektvollem Zuschnitt ist und von Spyres imponierend umgesetzt wird. Ähnlich vehement ist die Arie „Vado incontro al fato estremo“ im 3. Akt, die dem Interpreten einmal mehr Bravour verlangt und in der sich der Sänger erneut bewähren kann.

Für die Primadonnenpartie der Aspasia wurde Julie Fuchs verpflichtet, die sogleich in ihrer Auftrittsarie „Al destin, che la minaccia“ ihr virtuoses Vermögen demonstrieren muss. Immerhin wurde die Rolle bei der Uraufführung in Mailand 1770 von der prominenten Sängerin Antonia Bernasconi gesungen, die sich zunächst weigerte, die Arien Mozarts zu singen und denen von Quirino Gasparini den Vorzug gab, welche drei Jahre zuvor am Teatro Regio in Turin zur Aufführung gelangt waren. Julie Fuchs wartet nach dem erregten Orchestervorspiel mit einem anonym klingenden Sopran auf, der über die nötige Flexibilität für die Koloraturketten verfügt, es auch nicht an Bravour fehlen lässt, aber insgesamt unpersönlich bleibt. In der lyrischen Arie des 2. Aktes „Nel grave tormento“ besticht sie mit kultivierter Stimmführung, im Mittelteil auch mit virtuosen Koloraturen. Mit Sifare hat sie am Ende des 2. Aktes das einzige Duett des Werkes zu singen: „Se viver non degg’io“, Beide Soprane vereinen sich hier zu schmeichelndem Wohllaut. Im 3. Akt hat Aspasia eine ausgedehnte Szene mit Recitativi accompagnati und der Cavatina „Pallid’ ombre“, in der man sich verschattetere Farben wünschte.

In der zweiten Sopranpartie des Werkes, Prinzessin Ismene,  ist ein neuer Star der französischen Musikszene zu hören: Sabine Devieilhe. Ihr Auftritt „In faccia all’oggetto“ ist von lieblicher Anmutung und kommt ihrer klaren, anmutigen Stimme sehr entgegen. Bei „ So quanto a te dispiace“ zu Beginn des 3. Aktes kann sie dagegen mit Gewinn ihre geläufige Gurgel einsetzen.

Bei der Mailänder Uraufführung wirkten drei Kastraten mit – als Mitridates Söhne Farnace und Sifare sowie als dessen  Statthalter Arbate. In der vorliegenden Aufnahme gibt es nur einen Countertenor: Paul-Antoine Bénos-Djian als Farnace, der mit der berühmten Arie „Venga pur, minacci e frema“ aufhorchen lässt. Fein getupft kommen die staccati, die Stimme ist reizvoll getönt und bewegt sich mühelos durch die Register. „Va’ l’error mio palesa“ zu Beginn des 2. Aktes überzeugt mit zupackendem Vortrag. Am Ende des 3. Aktes hat er noch ein Solo mit „Già dagli occhi“, wo er mit fein gesponnenen Linien überzeugen kann. Sifare wird von der Sopranistin Elsa Dreisig wahrgenommen, deren Stimme keine männliche Figur zu imaginieren vermag. Ihre dramatische Auftrittsarie „Soffre il mio cor“ bewältigt sie technisch souverän und im 2. Akt kann sie bei „Lungi da te“ ihr lyrisches Potential einbringen. Aber die Stimme ähnelt zu sehr der von Fuchs und kann sich nicht unverwechselbar profilieren. Eher kann Adriana Bignagni Lesca mit androgyn klingendem, dunkel glühendem  Sopran dem Arbate eine männliche Aura verleihen. Der Auftritt mit „L’odio nel cor frenate“ ist forsch und energisch zupackend. Die Besetzung ergänzt der bekannte Tenor Cyrille Dubois als römischer Tribun Marzio, der mit der bewegten Arie im 3. Akt „Se di regnar sei vago“ einen soliden Auftritt hat. Recht ungewöhnlich endet die Oper mit einem kurzen Quintett („Non si ceda al Campidoglio“), in dem alle Protagonisten geloben, sich gegen die römische Tyrannei zu widersetzen. Bernd Hoppe

 

Etienne Dupuis

 

Der kanadische Bartiton Etienne Dupuis ist Opernfreunden seit rund zehn Jahren ein Begriff. An seinem Stammhaus, der Deutschen Oper Berlin, begann seine Karriere. Dort hat er zahlreiche große Partien seines Fachs gesungen und ist schnell zum Publikumsliebling avanciert. Mittlerweile macht der Sänger eine Weltkarriere, die ihn regelmäßig an die Metropolitan Opera, die Pariser Opéra National, das Londoner Royal Opera House, das Teatro Real in Madrid oder die Bayerische Staatsoper führt. Der Deutschen Oper Berlin ist er immer treu geblieben und tritt dort als Posa im Don Carlo auf, der zur Zeit dieses Interviews gerade dort läuft, wo er unserem Kollegen Helmut Brinkmann über die Anfänge seiner Karriere, seine Verbindung zur Deutschen Oper Berlin, vor allem Posa, den er bald auch in einer Neuinszenierung an der Metropolitan Opera singen wird, Auskunft gab.

 

Etienne Dupuis: Backstage an der Deutschen Oper Berlin während Don Carlo 2021 (Foto O-PR Communications)

Sagen Sie doch etwas über Ihre musikalische Ausbildung und die Anfänge Ihrer Sängerlaufbahn.  Meine Mutter wollte unbedingt einen Musiker zum Sohn haben und trug daher während der Schwangerschaft ständig Köpfhörer um Musik zu hören. Nach meiner Geburt stand ein Klavier im Haus und ich spielte schon als Kind mit einem Finger die Lieder, die ich in Kinderfernsehsendungen hörte. Als ich vier Jahre alt war, begann ich mit Klavierunterricht. Mit 14 wechselte ich zum Jazzpiano. Ich habe immer gesungen, aber erst nur Popmusik. Bis ich mit 18 oder 19 zu einem klassischen Gesangslehrer ging, weil ich unbedingt singen lernen wollte. Als wir das erste Konzert gaben erinnere ich mich, dass ich das Gefühl toll fand eine Figur darzustellen, die Worte verschiedener Charaktere zu vermitteln und gleichzeitig zu singen. Ich hatte das Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, und habe von diesem Zeitpunkt an nie zurückgeschaut. Ich habe in meinem Leben alles gemacht, was ich für interessant hielt. Und doch hat mich alles immer wieder zum klassischen Gesang und zur Schauspielerei zurückgeführt.

Wann wurde Ihnen klar, dass Sie eine gute Stimme haben und dass Sie das Singen zum Beruf machen würden? Dass ich eine Stimme hatte wurde mir so wirklich klar als ich 18 oder 19 war. Und zwar als ich bei dem bereits erwähnten Gesangslehrer vorsang. Ich gab hier und da ein kleines Konzert, machte bei einer Oper von Poulenc mit: Les mamelles de Tyrésias. Es machte Spaß und ich fand es toll, etwas darstellen zu können. Aber erst in meinem dritten Jahr an der Universität wurde es ernster. In diesem Sommer ging ich nach Toronto, um an einem Programm namens Summer Opera Lyric Theatre teilzunehmen. Der Herr, der es leitete, war Guillermo Silva Marin, wir nannten ihn alle Bill Silva. Damals sang ich zum ersten Mal den Marcello (auf Englisch). Und da kam mir auch zum ersten Mal der Gedanke, dass ich vom Singen leben könnte. Bill saß an meinem Tisch und ich erinnere mich, dass ich zu ihm sagte: „Ich glaube, ich könnte ein professioneller Opernsänger werden“.

Etienne Dupuis: „Les Feluettes“ in Montreal 2016 (© Yves Renaud)

Erzählen Sie doch von Ihrem Debüt auf der Opernbühne und den wichtigsten Engagements Ihrer Anfänge. Ich war im Young Artists Program der Oper von Montreal und in meinem dritten Jahr dort sang ich viele Rollen, darunter etwa der Dancaire in der Carmen. Aber meine allererste Rolle außerhalb von Montreal war in Vancouver, wo ich den Mandarino in der Turandot gab. Und gleich darauf bekam ich eine Rolle an der New Israeli Opera in Tel Aviv, Zweitbesetzung Lescaut in Manon Lescaut. Das war meine erste große Rolle an einem großen Haus. Damals war ich 26 und das hat mich sicher darin bestärkt, dass ich das Richtige tue. Ich habe immer mit meiner Stimme gesungen, habe sie nie gepusht. Aber ich war natürlich ein bisschen jung für den Lescaut. Einige Schlüsselrollen in der Anfangsphase meiner Karriere waren Marcello, dann der Silvio in den Pagliacci, den ich sowohl in, als auch außerhalb von Kanada sang. Aber das Wichtigste geschah, als ich Anfang 30 war: Ich durfte Rossinis Figaro an der Deutschen Oper Berlin singen, und kurz davor suchte man dort einen Zurga für eine Konzertfassung von Les pêcheurs de perles mit Joseph Calleja und Patrizia Ciofi. Das lief sehr gut und erregte Aufmerksamkeit. Danach wurden meine Angebote immer wichtiger und ich wurde von größeren Opernhäusern eingeladen. Der Operndirektor der Deutschen Oper Berlin, Christoph Seuferle, startete meine Karriere im Alleingang, indem er mit jedem Casting Director und Dirigenten, den er traf, über mich sprach.

Nun sind in etwa 10 Jahre seit dem besagten Debüt an der Deutschen Oper Berlin vergangen und Sie sind daraufhin viele Male an die Bismarckstraße zurückgekehrt, haben dort in Rollen debütiert, die später fester Bestandteil Ihres Repertoires wurden. Das stimmt, an der Deutschen Oper Berlin habe ich viele größere Rollen zum ersten Mal gesungen. Dieses Opernhaus hat es mir ermöglicht, mich an europäischen Theatern zu etablieren. Wie ich bereits sagte war mein Debüt an der DOB als Zurga in einer Konzertfassung von „Les pêcheurs de perles“ und zwei oder drei Monate später sang ich den Barbiere, eine Rolle, die ich dort einige Male übernommen habe. Dann gab man mir Verdi, und ich sang dort zum Beispiel zwei oder drei Jahre später meinen ersten Germont, der ein ziemlicher Erfolg wurde. Dann wurde mir Posa und Onegin angeboten, die noch immer eine große Rolle in meiner Karriere spielen und die ich an großen Opernhäusern wie München, Paris oder Wien singe. Barbiere, Posa und Onegin sind definitiv drei meiner wichtigsten Rollen, und sie alle habe ich erstmals an der Deuschen Oper Berlin gesungen.

Etienne Dupuis: Germont in „La traviata“ mit Nicole Car/Violetta, Opéra de Marseille 2018 (Credit Christian Dresse)

Noch wichtiger ist wahrscheinlich, dass Sie in Berlin Ihre zukünftige Frau kennengelernt haben, Nicole Car. Und zwar während einer Vorstellungsserie von Eugen Onegin an der Deutschen Oper. Wie kam es dazu? Das ist eine lustige Geschichte. Ich habe nämlich meinen ersten Posa und meinen ersten Onegin quasi gleichzeitig gesungen. Die erste Vorstellung von „Don Carlo“ war zufällig am allerersten Probentag für Onegin und ich erinnere mich, dass wir uns, als ich Nicole zum ersten Mal sah, nur etwa eine Stunde lang trafen, da wir nur das Quartett aus dem ersten Akt von Onegin probten. Dann musste ich gehen, um mich auf die Vorstellung von Don Carlo vorzubereiten. Eigentlich habe ich diese Probe gerne gemacht, weil ich dadurch meine Stimme etwas aufwärmen konnte. Wir hatten an diesem Abend eine phänomenale Premiere, und als die Leute am nächsten Tag fragten: „Wie ist es gestern gelaufen?“, war ich nicht gerade bescheiden: „So eine Reaktion habe ich noch nie bekommen, es war unglaublich.“ Nicole erzählt bis heute die Geschichte, wie sie dachte, ich sei ein Angeber (lacht). Es hat vielleicht noch ein paar Tage gedauert, bis sie sah, dass unter dem prahlerischen, selbstbewussten Kerl ein Mensch war, ein guter Kerl, der glücklich war, sie kennenzulernen. Wir haben uns erst angefreundet, aber sehr schnell war klar, dass wir uns zueinander hingezogen fühlten. Es ging nur darum uns selbst zu erlauben, verletzlich zu sein und zu schauen, was passieren könnte, wenn wir, zwei Opernsänger eine Beziehung eingehen würden. Die Welt zu bereisen, sie als Australierin und und ich als Kanadier und somit von der jeweils anderen Seite der Welt. Wir haben den Schritt gewagt und es nie bereut, und wir leben seit geraumer Zeit in unseren Koffern. Bei Onegin begann alles und der Rest ist Geschichte.

Etienne Dupuis: Onegin mit Nicole Car als Tatjana, Deutsche Oper Berlin 2015 (Credit Bettina Stöß)

Wie ist das mit dem Posa, mit dem der Sie momentan an der Deutschen Oper Berlin auf der Bühne stehen? Eigentlich könnte Posa fast als die Hauptfigur der Oper bezeichnet werden. Allen anderen Personen im Stück geht es, vielleicht abgesehen von Elisabetta nur um sich selbst. Der König und Don Carlo wollen nur das, was gut für sie ist, und das gilt auch für Eboli. Posa ist der einzige, der selbstlos ist, der einzige, der sich schließlich opfert um ein ganzes Land, eine ganze Nation zu retten. Ich finde er ist der interessanteste Charakter im Stück. Jedes Mal, wenn er auf der Bühne steht, jedes Mal, wenn er mit jemandem spricht sieht man, wie es in ihm arbeitet. Weil er über verschiedene Möglichkeiten nachdenkt, wie er durch seinen und durch den Einfluss anderer Flandern retten kann. Das ist sein wichtigstes Ziel, und ein sehr edles. Viel edler als Don Carlos seltsame Verliebtheit in seine Mutter und die völlige Missachtung des Königs seinem Sohn gegenüber. Er hat ihm Elisabetta versprochen und sie ihm dann einfach weggeschnappt und geheiratet. Dann Ebolis Eifersucht und Zorn… All diese Figuren scheitern in dem was sie versuchen zu tun. Auch Rodrigo scheitert letztendlich natürlich, aber sein Ziel ist so viel edler. Der Schlüssel zur Oper „Don Carlo“ besteht darin, dem edlen Bogen von Posa zu folgen. Dann übernimmt Elisabetta diese edlen Eigenschaften, indem sie ins Kloster geht und damit die ganze Situation nicht noch mehr durcheinander bringt.

Etienne Dupuis/ Foto Yan Bleney

Im Februar werden Sie diese Rolle erstmals in der französischen Fassung in fünf Akten an der Metropolitan Opera singen. Welche Unterschiede sehen Sie persönlich zwischen diesen beiden Fassungen, besonders im Hinblick auf Ihre Rolle des Posa? Nun, es ist kein Geheimnis, dass die französische Fassung zuerst geschrieben und aufgeführt wurde und die Musik an vielen Stellen der Oper ganz anders war. Das betrifft insbesondere die Rolle Posas: Das erste Duett mit Don Carlos ist ganz anders, das Duett zwischen Posa und dem König ist auch musikalisch ziemlich anders, das Quartett im vierten Akt (ich rede natürlich von der Version in fünf Akten)…. Die französische Fassung in 5 Akten ist also schon recht anders. Nun hat die italienische Fassung typischerweise nur 4 Akte und viel Musik wurde komplett neu geschrieben. Interessanterweise ist die Version, die wir an der Metropolitan Opera machen werden, soweit ich es der Partitur entnehmen kann, eine Mischung aus der französischen und der italienischen Version. Wir machen also 5 Akte, aber die Musik, zum Beispiel im Duett zwischen Posa und dem König oder im Quartett in Akt 4 ist jene aus der italienischen Fassung, aber mit französischem Text. Unterm Strich bleibt die Geschichte in der Oper die gleiche und der Charakter bleibt genau so edel wie vorher, aber musikalisch wird es näher an der italienischen Version sein. Die französische Version ist recht anders: Die Charaktere singen öfter gleichzeitig und wir bekommen eher mit, was in ihren Köpfen vor sich geht. Die Charaktere sprechen nicht unbedingt miteinander, sondern nehmen direkter Kontakt mit dem Publikum auf. In der italienischen Version ist es eher ein Gespräch. Ich denke die Version, die wir machen, ist eine großartige Mischung aus der französischen und der italienischen Version.

Ein weiterer wichtiger Pfeiler Ihres Repertoires sind Partien aus der Feder französischer Komponisten. Letzte Spielzeit gaben Sie Ihr Debüt als Werther von Massenet konzertant in Lyon. Dürfen wir uns darauf freuen, Sie bald in dieser Rolle in einer szenischen Produktion zu sehen?  Das ist wohl meine Lieblingsfrage nach der, wie ich Nicole kennengelernt habe. Ich habe mich total in diese Oper und in diese Rolle verliebt: Eine „Tenor“-Rolle, ein Verliebter, der nach einer größeren, besseren Beziehung sucht… Ich würde fast sagen nach einer Beziehung, die übermenschlich ist, fast wie eine Beziehung mit dem Himmel… Es ist so selten für einen Bariton, eine solche Rolle singen zu dürfen. Das war für mich absolut phänomenal. Außerdem gefällt mir, dass die Baritonfassung nie von Massenet selbst geschrieben wurde, sondern von einem Bariton [Mattia Battistini], der versucht hat, die Rolle zu singen. Massenet hat die Fassung dann genehmigt. Ich wollte schon immer die Massenet-Stiftung kontaktieren, um eine offizielle Bariton-Version zu erstellen und die ein oder andere Szene vielleicht transponieren können. Als ich die Rolle gesungen habe, habe ich viel von der ursprünglichen Tenorlinie restauriert. So gut ich es eben konnte, um die musikalische Richtung, die Massenet vorschwebte nicht zu beschädigen. Manchmal war es unmöglich und in diesen Fällen wäre es interessant, ein wenig nach unten zu transponieren. Aber leider konnte ich es von niemandem genehmigen lassen. Die Rolle hat mich tief bewegt, und ich habe mit jedem Opernhaus gesprochen, um diese Version in einer szenischen Produktion zu machen. Ich bekam dann auch ein Angebot, aber leider änderten sie ihre Meinung und entschieden sich doch für einen Tenor. Aber ich hoffe sehr, dass bald ein anderes Opernhaus mir die Bariton-Version von „Werther“ anbieten wird.

Sie haben auch in zeitgenössischen Opern mitgesungen. Hier ist besonders der Joseph de Rocher in Dead Man Walking, Simon in Les Feluettes und Pink in Another Brick in the Wall zu nennen. Können Sie mehr über diese Stücke sagen und über die Herausforderungen zeitgenössische Musik zu singen? Die Herausforderungen zeitgenössische Musik zu singen reichen davon, dass diese Musik schwer zu erlernen ist bis dazu, dass sie oft genauso schwer für das Publikum zu verstehen ist. Nun sind diese drei Opern sehr unterschiedlich. Dead Man Walking mit Musik von Jake Heggie und einem Libretto von Terence McNally ist eine Oper, in der viel geredet wird. Die Charaktere reden eigentlich ständig miteinander. Es ist eine phänomenale Oper, sie ist so emotional. Eine Oper über die Todesstrafe, die nicht Partei ergreift. Wir hören von den Eltern der Opfer genauso viel wie von den Protagonisten, dem Mörder und der Nonne, die ihn in seinen letzten Tagen begleitet. Können uns also eine Meinung bilden, ohne dass die Oper vorschreiben will, wie diese Meinung sein soll. Ich finde das faszinierend und das Publikum reagiert sehr gut darauf. Deshalb wird die Oper auch 21 Jahre später immer noch aufgeführt.

Etienne Dupuis: „Dead Man Walking“ in Montreal (© Yves Renaud)

Les Feluettes mit dem Text von Michel Marc Bouchard und der Musik von Kevin March ist wahrscheinlich die schönste zeitgenössische Oper, die ich je gesungen habe. Sie enthält eine Art Naivität und Einfachheit, verbunden mit einer wirklich erstaunlichen Geschichte. Es ist eine Liebesgeschichte zwischen zwei Männern und für mich was die Beziehung der beiden angeht ähnlich wie La Bohème. Es geht nur darum, eine Liebesgeschichte zu erzählen. Dabei spielt es keine Rolle, dass diese zwischen zwei Typen besteht. Das ist für mich nicht der Hauptpunkt der Geschichte. Es geht um eine gescheiterte Liebesgeschichte. Um ein ungelüftetes Geheimnis darüber, was nach dem Tod einer der beiden Protagonisten geschah. Das ist eine der Opern, die das Publikum jedes Mal, wenn ich sie sang wirklich im Herzen traf. Ich erinnere mich, dass ich dachte, noch bevor die Oper überhaupt geschrieben war, dass das Publikum sich nicht die ganze Zeit fragen sollte was es gehört hat, sondern sich auf die emotionale Last konzentrieren soll, die die Geschichte vermittelt. Die Vorstellungen waren ein großer Erfolg.

In Another Brick in the Wall von Roger Waters war die Herausforderung das originale Pink Floyd Musical und der Film. Der Komponist hat einen tollen Job gemacht, denn er hat das Ganze umgeschrieben und etwas ganz anderes erschaffen. Ich finde es was auch notwendig, das worum es geht ganz anders erklingen zu lassen. Das war auch ein großer Erfolg und kam beim Publikum sehr gut an. Insbesondere bei den Opernfans, vielleicht weniger bei den Pink-Floyd-Fans. Diese drei Opern sollten auf jeden Fall möglichst überall auf der Welt wieder gespielt werden, denn sie haben alle etwas Wichtiges zu sagen und sind musikalisch wirklich interessant. Die große Herausforderung der zeitgenössischen Oper besteht darin, dass es wirklich schwer ist, sie woanders auf der Welt aufzuführen. Dead Man Walking wurde zwar öfter gespielt, aber fast immer in den USA. Ich glaube, das Stück ging nach Madrid und nach Brisbane, aber fast nirgendwo anders, obwohl es eigentlich um die ganze Welt reisen sollte. Gleiches gilt für Les Feluettes und Another Brick in the Wall, sie alle sind mögliche Hits für ein internationales Publikum. Ich möchte gerne noch „Starmania“ hinzufügen, was auch unglaublich gut ankam. Das ist ein französisches Musical, das zu einer Oper umgeschrieben wurde, die wirklich schön und zugänglich ist. Und ich bin sicher, sie würde überall auf der Welt großartig angenommen werden. Das Stück ist von Michel Berger, das neue Arrangement von Simon Lefebvre und der Text von Luc Plamondon.

Etienne Dupuis: „Another Brick in the Wall“ in Montreal (© Yves Renaud)

Gibt es bestimmte Rollen, die Sie gerne singen würden, dazu aber noch nicht die Gelegenheit hatten? Ja und nein. Es gibt einige Rollen auf die ich mich freue, wie etwa Rigoletto. Und im Grunde sagen mir alle Verdi-Opern zu. Oder auch Rollen wie Wolfram im Tannhäuser, die ich gerne singen würde, obwohl sie etwas tiefer liegen, weil ich auch einmal etwas anderes ausprobieren muss. Ich suche immer nach Herausforderungen. Es geht mir nicht darum, unbedingt eine bestimmte Rolle zu singen, vielmehr darum mit einer großartigen Besetzung an einem großartigen Opernhaus zu arbeiten. Mit engagierten Kollegen, die das Publikum berühren wollen. Es ist ein Segen diese Kombination zu finden. Da fühlt man sich dann, als ob man genau dafür geboren wurde. Das passiert nicht immer. Ich lehne eine tolle Rolle sogar ab, wenn ich das Gefühl habe, dass das Opernhaus oder die Besetzung nicht zu mir passt.

Und zuletzt: Was steht demnächst auf Ihrem Kalender? Don Carlos an der Met, worüber wir bereits gesprochen haben. Davor werde ich in Wien Marcello und  den Albert im Werther singen. Dann kommt im Sommer in San Francisco der Don Giovanni mit Bertrand de Billy, Luca Pisaroni und Michael Canavaugh. Allesamt nette Leute, mit denen man toll arbeiten kann. Ohne zu verraten wo genau: Ich werde meinen allerersten Luna im Trovatore machen. In den nächsten Jahren werde ich noch ein paar Onegins singen, mal mit Nicole, mal alleine, noch ein paar Rodrigos, und in den nächsten zwei Jahren als Rigoletto debütieren. Es kommt wahrscheinlich noch mehr, manches vielleicht in letzter Minute, aber so sieht die Zukunft aus. Ich hoffe, dass die Theater weiter offen bleiben, weil es noch so viel mehr gibt, was wir Sänger auf der Bühne erzählen können und so viele Emotionen, die wir mit dem Publikum durchleben können. Das ist meine Hoffnung für die Zukunft. (Foto oben: Dead Man Walking in Montreal © Yves Renaud)

Seltenes von Rameau

 

Erstaunlich und verdienstvoll ist die rege Aufnahmetätigkeit von ERATO, seien es Recitals, Oratorien oder Opern. Jetzt legt die französische Firma eine veritable Barockrarität vor – die Pastorale héroïque Achante et Céphise ou La Sympathie von Jean-Philippe Rameau. Die Aufnahme entstand im Dezember 2020 in Paris und liegt nun in einer gediegenen Ausgabe auf zwei CDs vor (0190296694946).

Das Werk auf ein Livret von Jean-François Marmontel kam am 18. November 1751 anlässlich der Geburt des Herzogs von Burgund am 13. September zur Premiere. Rameau hatte also nur zwei Monate Zeit für die Komposition seiner Oper. Dennoch zählt diese zu den originellsten Schöpfungen in seinem Werkkanon. Ein besonders kühner Wurf ist die Ouverture, die den Prolog ersetzt, der sonst eine französische Barockoper einleitet. Sie gehört zum Typus der Programmmusik, beinhaltet die „Wünsche der Nation“ anlässlich der Geburt des Prinzen. Kanonenschüsse, Fanfaren, Rathausglocken und imitiertes Feuerwerk sorgen für eine äußerst lebhafte Atmosphäre und ungemein farbige Klänge, bei denen auch Disharmonien nicht ausgespart sind. In den zahlreichen Balletten – Air gracieux, Première et deuxième Gavotte, Loure, Premier et deuxième Tambourin, Musette, Premier, deuxième et troisième Regaudon – bezaubert das Ensemble Les Ambassadeurs – La Grande Écurie unter Alexis Kossenko mit graziösem oder begeistert mit turbulentem Spiel.

Die dreiaktige Handlung erzählt von der Liebe des Titelpaares, die durch den Genius der Luft, Oroès, vereitelt wird, der seinerseits Céphise begehrt. Die Fee Zirphile gibt den Liebenden ein Armband als Talismann, das beide durch Sympathie verbindet (daher der Untertitel der Oper). Oroès lässt sie von den Nordwinden in eine öde Wüste entführen und erscheint ihnen als von bösen Geistern umgebener Drachen. Zirphile aber kann sie befreien und in einen glänzenden Palast bringen. Die Geburt eines Helden – eine Anspielung auf das historische Ereignis mit dem Herzog von Burgund – krönt das Fest.

Eine illustre Besetzung wird angeführt von Sabine Devieilhe in der weiblichen Titelrolle. Die französische Sopranistin erscheint in jüngster Zeit regelmäßig in den ERATO-Studios und adelt auch diese Aufnahme durch ihre exquisite Stimme und die stilistische Kompetenz.

Neben ihr nimmt der Tenor Cyrille Dubois die männliche Titelrolle wahr – auch er ein Sänger, der in den Besetzungslisten von ERATO-Produktionen immer wieder auftaucht. Seine Stimme ist von weicher Resonanz und verblendet sich ideal mit der seiner Partnerin. Beide Titelrollensänger sind am Ende des 3. Aktes mit je einer Ariette solistisch zu hören – er mit dem schwärmerischen „Aigle naissant“, sie mit dem jubelnden „Lance tes feux“.

Der Bariton David Witczak gibt Le Génie Oroès mit virilem Nachdruck. Am Ende des 2. Aktes vereinen die drei Protagonisten ihre Stimmen in dem Trio „Aquilons volez à ma voix“. Die Sopranistin Judith van Wanroij als Zirphile lässt in ihrem Auftritt, dem Rondeau „Tendres amants“, eine typisch französische Stimme von strengem Klang hören.

In den Nebenrollen stört der Tenor Artavazd Sargsyan als Premier Coryphée und Un Berger mit bohrendem Stimmklang, während der Bassbariton Arnaud Richard als Second Coryphée angenehm tönt. Les Chantres du Centre de musique baroque de Versailles (Leitung: Olivier Schneebeli) imponieren vor allem in den majestätischen Lobpreisungen, so „Triomphe! Victoire!“ im 3. Akt oder „Vive la race de nos rois“ im Finale. Bernd Hoppe

Koffertausch mit Folgen

 

Vom Festival ROSSINI in WILDBAD stammt die Aufzeichnung von Rossinis L’occasione fa il ladro, die NAXOS auf einer Blu-ray Disc  herausgebracht hat (NBD0137V). Sie wurde im Juli 2017 im Königlichen Kurtheater des Ortes gefilmt. Festivalleiter Jochen Schönleber hat die Burletta per musica in bekannt albernem Zuschnitt inszeniert und auch die Bühne mit sparsamem Mobiliar entworfen. Ausgesprochen hässlich sind die Kostüme von Claudia Möbius in ihrem Fetzen-Look, der die Figuren nicht selten zu Vogelscheuchen macht.

Die Besetzung weist einige prominente Rossini-Interpreten auf, so den Tenor Kenneth Tarver als Conte Alberto, der in einem Gasthof auf Don Parmenione trifft, der nach Neapel reist, um seine unbekannte Braut kennen zu lernen. Verwechselte Koffer führen zu allerlei Turbulenzen. So reist Parmenione als der Conte nach Neapel, nachdem er das Porträt der schönen Berenice im Gepäck entdeckt hat. Diese wiederum tauscht mit ihrer Gesellschafterin Ernestina die Rollen, um ihren zukünftigen Ehemann auf die Probe zu stellen.

Antonino Fogliani leitet die Virtuosi Brunensis und sorgt schon in der Sinfonia für kantables Melos und lebhaftes Brio (welches man auch aus der Temporale des Barbiere kennt) hören. Lorenzo Regazzo als Don tönt reif, verfügt aber noch immer über die gebotene Eloquenz für Rossinis Geplapper. Sein Diener Martino ist mit dem Bariton Roberto Maietta jugendlich und gesanglich ansprechend besetzt. Beider Szene nach dem Koffertausch ist von munterer Agilität und Regazzo kann darüber hinaus in seiner Aria „Che sorte“ auftrumpfen. Später hat auch Martino ein beschwingtes Solo („Il mio padrone“), in welchem Maietta mit Wohlklang und stimmlicher Gewandtheit aufwartet.

Tarver lässt schon im Auftritt des Conte („Il tuo rigore insano“) eine unverminderte stimmliche Qualität hören. Auch in seiner späteren kantablen  Aria „D’ogni più sacro impegno“ bietet er schwelgerischen Tenorklang und beachtliche acuti. Vera Talerko wartet in Berenices Auftrittskavatine „Vicino è il momento“ mit einem herben Sopran von greller Höhe auf. Die Mezzosopranistin Giada Frasconi ist Ernestina im Stubenmädchen-Outfit. Besonders scheußlich erscheint sie in der Verkleidung als ihre Herrin, kann aber in der Szene mit dem Don, der sich als der Conte ausgibt, mit hübscher Stimme punkten („Quel gentil“). In der Begegnung mit dem wahren Conte („Se non m’inganna il core“) rundet sich Talerkos Sopran. Zusammen mit Berenices Onkel Eusebio (der Tenor Patrick Kabongo) verbinden sich die beiden Paare zum sprudelnden Quintetto „Orsù, spiegatevi“, in welchem alle Protagonisten ihre Kompetenz in Sachen Rossini beweisen. Auch das Finale, wo nach Auflösung aller Verwicklungen eine Doppelhochzeit gefeiert werden kann, stellt ihnen das beste Zeugnis aus. Und Fogliani kann mit dem Orchester noch einmal musikalischen Wirbel aufbieten. Das Publikum folgt der Aufführung amüsiert und spendet am Ende reichen Beifall. Bernd Hoppe

Sternstunde

 

Man sollte beides genießen: die Live-Aufführung des Rosenkavaliers in der Berliner Staatsoper wie die Videoaufzeichnung davon, denn wenn die erstere den Zuschauer schier atemlos in der Bewunderung von  Formen und Farben des opulenten Bühnenbilds von Xenia Hausner , der phantasievollen Kostüme von Arthur Arbesser zurücklässt, bereichert ihn die letztere durch das Geschick des Video Directors Felix Breisach, die handelnden Personen aus der Überfülle der optischen Reize herauszudestillieren, das Stück zum bitter-süßen Kammerspiel werden zu lassen.

André Heller, selbst noch relativ unerfahren in der Opernregie, hatte  sich als Co-Regisseur  den auf der DVD unterschlagenen Wolfgang Schilly an die Seite geholt, und gemeinsam gelingt es ihnen durch eine einfühlsame Personenregie, japanisches Schlafgemach, neureiches Stadtpalais mit Klimt samt Entourage und orientalisches Palmenhaus aus dem letzten Jahr der Donaumonarchie zum Hintergrund  für menschliche Emotionen, Tragödien wie Komödien werden zu lassen. Ideal wie auch in der Live-Aufführung dank des einfühlsamen Dirigats von Zubin Mehta ist die Ausgewogenheit von Orchester- und Stimmklang, nie werden die Sänger zugedeckt, sie haben alle Zeit, kostbare Stücke wie den Monolog der Marschallin im 1. Akt zu entwickeln, Textverständlichkeit wird nicht der Opulenz des Orchesterklangs zum Opfer gebracht und Regisseurseitelkeit strebt nicht danach, das Vorspiel zum 3. Akt zu „inszenieren“. Bei diesem hat der Zuschauer auch die Gelegenheit, die sympathische, zurückhaltende Art des Dirigierens zu beobachten, zu sehen und zu  hören, wie elegante Duftigkeit und üppiger Glanz aus sparsamer Zeichengebung erwachsen.

Fast fünf Stunden dauert die Aufführung ohne Striche, also auch mit dem brutal-selbstverliebten Bericht des Ochs von Lerchenau über seine Art, sich die Mägde seines Guts gefügig zu machen. Da dürfte der Zuschauer hin- und hergerissen sein zwischen Abscheu angesichts der mitleidslosen Brutalität verbunden mit dem Charme, den Günther Groissböck der hier durchaus zwielichtigen Figur zu verleihen versteht, verbunden mit einer so schlank geführten wie bis in die tiefsten Tiefen hinunter höchst präsenten Bassstimme.

Eine nicht nur wegen ihrer phantastischen Kostüme höchst attraktive Marschallin ist Camilla Nylund mit schlankem, kühlem Sopran und unendlich vielen vokalen Facetten wie des feinen Tongespinsts „Rose“ am Schluss des 1. Akts, des akustischen  Schleiers über „vorbei“ im 3. Akt. Nicht zu soubrettig ist die hübsche Sophie von Nadine Sierra, eher ein lyrischer Sopran, der den Wandel der Klosterschülerin zur selbstbestimmten jungen Frau glaubwürdig machen kann. So androgyn der Mezzosopran von Michèle Losier klingen kann, wenn sie Männerhosen trägt, so herrlich süffig hört sich ihr Mariandl an, kann sie auch darstellerisch die doppelte Brechung von einer Frau, die einen Mann darstellt, der eine Frau spielt, vermitteln. Roman Trekel ist der neureiche Faninal im Goldanzug und mit kultiviertem Gesang. Anna Samuil ist mit der Leitmetzerin im Charakterfach angekommen. Karl-Michael Ebner und Katharina Kammerloher singen und spielen rollengerecht Valzacchi und Annina, das Intrigantenpaar. Atalla Ayan bemüht sich um Tenorglanz als Italienischer Sänger. Daneben gibt es viele, viele durchweg gut besetzte Rollen, die leider auf der Rückseite der Videokassette ohne Booklet nicht aufgeführt sind und die man doch dankbar für die wunderbare Aufführung lobend erwähnt hätte. Aber vielleicht ist das nur bei dem Besprechungsexemplar so. Festzustellen bleibt, dass man in den letzten Jahrzehnten selten so glücklich aus einem Opernhaus kam oder einen Videorecorder abschaltete wie nach dem Genuss dieser Aufführung (Arthaus 109445). Ingrid Wanja  

Und noch eine …

 

Einen Riesenpublikumserfolg garantiert immer noch, wenn so gut gemacht wie an Londons Opernhaus Covent Garden, Mozarts Zauberflöte, und selbst hundertmal belachte Scherze Papagenos finden immer wieder dankbare Zuhörer. Dabei ist auch dieses Werk nicht ohne Fallstricke und könnte den Zorn von Feministinnen und Cancel Culture Verfechtern erwecken mit Sarastros oder des Sprechers, von Tamino kritiklos aufgenommen und wiedergebenen, Aussagen. Obwohl von Schikaneders Weltoffenheit zeugend, der durch Papagenos Mund schwarzen Menschen wie schwarzen Vöglen ihre Daseinsberechtigung garantiert, wird in London aus dem Mohren Monostatos ein einem blassweißen Nosferatu ähnlicher Höfling und aus dem „weil ein Schwarzer hässlich ist“ wird ein  „weil ein Sklave hässlich ist“. Ansonsten hat im September 2017 Thomas Guthrie die Produktion von David MacVicar angenehm aufgefrischt, entfaltet die Bühne von John MacFarlane märchenhaften Zauber, sorgt die Lichtregie von Paule Constable für wohliges Erschauern bei den Proben, die Tamino und Papageno bestehen müssen.

Zufriedenstellen bis sehr gut ist die Besetzung. Von der Deutschen Oper Berlin kennt man die Australierin Siobhan Stagg, die eine bezaubernde Pamina ist, deren leuchtender lyrischer Sopran ein strahlendes „die Wahrheit“ verkündet, eine schöne Arie  mit feinen Piani und ein sehr zärtliches „Tamino“ singt. Dieser ist Mauro Peter, ein ansehnlicher  Märchenprinz mit angenehmem Tenor, empfindsam in der Bildnisarie, allerdings nicht immer ganz frei in der Tonproduktion. Auch ohne jede weanerische Attitüde kann Roderick Williams die Zuneigung des Publikums mit den üblichen Späßen gewinnen, verliert nicht einmal dessen Sympathie durch Vogelmord und darf sogar einmal das Wandern als des Müllers Lust intonieren. Seine Papagena Christina Gansch tritt gleich mit einer Schar im Libretto doch nur angedachter Kinder auf. Den größten Applaus heimst die Königin der Nacht von Sabine Devielhe ein, obwohl die Sopranstimme recht dünn klingt, aber die Koloraturgeläufigkeit, die Souveränität im Umgang mit den Extremhöhen sind  erstaunlich . Eine gewaltige Röhre setzt der Bass Mika Kares für den Sarastro ein, in der Tiefe brummelig, ansonsten hart und hölzern klingend, da hätte man sich mehr vokalen Balsam gewünscht. Auch sein Sprecher Darren Jeffery ertönt recht dumpf, während der Tenor von Peter Bronder eher dünn als prägnant erscheint. Gut aufeinander abgestimmt sind die drei Damen mit Rebecca Evans, Angela Simkin und Susan Platts, natürlich Publikumslieblinge die drei Knaben. Julia Jones steht am Dirigentenpult, und was man aus dem Orchestergraben hört, klingt so angenehm wie angemessen, sieht man die Dirigentin, so erscheint ihre Zeichengebung  als eine besonders fürsorgliche (Opus Arte OA1343D). Ingrid Wanja

 

Halb Flotows Martha, halb Monty Python’s Flying Circus ist die Produktion von Mozarts allzu dokumentierte Oper  Die Zauberflöte für die Glyndebourner Festspiele im Jahre 2019 in der Regie und mit dem Bühnenbild von Barbe & Doucet, wer immer das sein mag. Die Geschichte ist in einem viktorianischen Hotel angesiedelt, Sarastro ist der Chefkoch, und Taminos und Paminas Bestreben richtet sich auf die Aufnahme in die edle Gesellschaft der Sterneköche. So besteht die endgültige Entscheidung auch nicht aus dem Bestehen von Feuer-und Wasserprobe, sondern aus dem Kochen eines Gerichts mit anschließendem Abwasch. Die Verlegung in ein Hotel früherer Zeiten hilft auch aus der Verlegenheit, den Monostatos als Schwarzen auftreten zu lassen zu müssen, er ist nun Heizer und dadurch nur vom Ruß geschwärzt, so dass niemand Rassismus wittern kann. Die Königin der Nacht und ihre Damen kämpfen für das Frauenwahlrecht und dürfen zum Finale mitfeiern. Das ist alles sehr lustig und abwechslungsreich, vor allem weil neben den Sängern auch allerlei Pappfiguren und Marionetten auftreten (Patrick Martel), Groteskes und auch ab und zu Obszönes geboten wird und immer wieder überrachende Gags die Aufmerksamkeit wachhalten. Die humane Botschaft des Stücks allerdings ist nun, erdrückt von Jux und Tollerei, nicht mehr wahrnehmbar. Unterhaltsam ist die Aufführung ohne jeden Zweifel.

The Orchestra of the Age of Enlightenment unter Ryan Wigglesworth spielt einen frischen, espritreichen Mozart, der Glyndebourne Chorus unter Aidan Oliver hat sichtlich und hörbar am munteren Spiel wie am Singen Freude.

Der Tamino von David Portillo, zunächst im Schlafanzug, dann in karierten Knickerbockern, aber immer mit bravem Krägelchen, singt nicht ganz akzentlos, aber empfindsam die Bildnisarie, hat mehr Schmelz in seinem Tenor, als ein englischer Mozarttenor wohl aufzubieten hätte. In der Höhe wird die Stimme etwas eng. Eher ein Koloratursopran als ein lyrischer mit entsprechender Wärme in der Stimme ist Sofia Fomina, die Pamina, die so auch in ihrer Arie etwas gläsern-kühl wirkt. Auch Caroline Wettergreen ist nicht die ideale Königin der Nacht, dazu ist er Sopran zu soubrettig, man wünscht ihn sich einfach dramatischer. In ihrer ersten Arie will sie noch höher hinaus, als man es gewöhnt ist, und wird dann schrill, perfekt gelingt Der Hölle Rache. Gut aufeinander abgestimmt sind die drei Damen mit Esther Dierkes, Marta Fontanals-Simmons und Katharina Magiera. Brindley Sherrat hat trotz komischer Kochmütze die optische Autorität für den Sarastro, der Bass klingt mittlerweile etwas schütter. Verquollen hört sich die Stimme von Michael Kraus für den Sprecher an, sehr präsent ist auch vokal Jörg Schneider als Monostatos. Obwohl natürlich Weanerisches gegenüber einem englischen Publikums seine Wirkung verfehlen würde, kann sich Björn Bürger als Papageno auch mit Hochdeutsch und einer schönen Baritonstimme zum Zentrum des Geschehens und zum Publikumsliebling machen. Alison Rose ist ihm eine attraktive Partnerin als Papagena. So kann man Zauberflöte machen, muss man aber nicht unbedingt Opus arte (OABD 7268D). Ingrid Wanja     

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

 

Der Kini höchstpersönlich lässt sich von Zettler, dem Ersten Hofillluminator, und Klarei, dem Chef des Livrées, in die Geheimnisse der neuen Theatertechnik einführen und besteht auf einer Lichtprobe. Er ist entzückt von den neuen technischen Möglichkeiten. Dann erreichen bereits die  ersten Gäste die Herreninsel (Bühne: Volker Thiele). Gräfin Larisch-Wallersee, die Erbprinzessin von Thurn und Taxis und die Freifrau Truchsess von Wetzhausen gehen auf Position. Schon eilt Kaiser Franz Joseph II. in seiner Paradeuniform als Tamino durch den Park und lässt sich von den drei adeligen Damen, die sich nach ihrem kurzen Auftritt mit einer Maß stärken, aus seiner Ohnmacht wecken. Es ist mehr als nur eine hübsche Idee, die Enoch zu Guttenberg dieser bayrischen Zauberflöte zu Grunde legte, indem er ein Fest des Märchenkönigs im Spätsommer 1884 auf Herrenchiemsee mit der Tradition der in Adelskreisen beliebten Scharaden verband, bei der die Adeligen in die Theaterrollen schlüpften, zum Ausgangspunkt eines Spiels im Spiel und einer zumeist kurzweiligen Inszenierung der zu Des Königs Zauberflöte umfunktionierten Zauberflöte machte – erstmals 2010 in Herrenchiemsee sowie im November 2013 im Münchner Prinzregententheater. Ich gebe zu, ich hatte das zuerst für eine der üblichen Zauberflöten-Fassungen für Kinder gehalten.

Mit Jankerl und Alltagskleidung führt ein altersloser Papageno durch das Geschehen, was der mit allen komödiantischen Wassern gewaschene Gerd Anthoff mit der raumgreifenden Fabulierkunst des Volksschauspielers und geistreichen Seitenhieben auf Opern- und Weltgeschehen bewerkstelligt. Er dient als Scharnier zwischen den einzelnen Zeit- und Spielebenen. Sein singendes Alter Ego ist Max Emanuel Herzog in Bayern (Jochen Kupfer), der jüngste Bruder der Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn. Sie selbst, Sissi, spielt die Pamina, der Franzl, Kaiser Franz Joseph I., ist, wie gesagt, der Tamino, Cousin Ludwig II. übernimmt den Sarastro (Tareq Nazmi). Jörg Dürrmüller, der einen reifen Tamino und Franz Joseph gibt, und Susanne Bernhard, können nicht das Karlheinz Böhm- und Romy Schneider-Bild ersetzen; doch am meisten vermisst man als Erzherzogin Sophie von Österreich, die selbstredend die Königin der Nacht gibt, die spätere Doyenne des Josefstädter Theaters Vilma Degischer. Es fehlt auch eine Hand, wie die Ernst Marischkas, der zwischen Kitsch und Kunst, zwischen historischer Plausibilität und „so könnte es gewesen sein“ etwas mehr Ordnung in das brillant ausgetüftelte Geschehen und seine weltpolitische Dimension bringt.

Das Beiheft der DVD (FARAO Classics A 108095) nennt Enoch zu Guttenberg für die Musikalische Leitung und Inszenierung, es singt die Chorgemeinschaft Neubeuern, es spielt das von Guttenberg 1967 gegründete Orchester KlangVerwaltung. Anfangs witzelt der Dirigent mit Anthoffs Papageno, der die „wahre Geschichte der Zauberflöte“ erzählt und auf erfrischende Weise auf Distanz zu dem esoterischen Geschwätz der Eingeweihten und den freimaurerischen Ritualen geht. Den Text hat ihm Klaus Jörg Schönmetzler vorgeschrieben, die Dialoge wiederum stammen von zu Guttenberg und Schönmetzler.  Die feinsinnig erdache und bewusst amateurhaft angezettelte Aufführung bewegt sich trotz aller netten Ideen – Otto Fürst Bismarck, welchen Papageno als „gescheiter als wie hier alle zusammen“ vorstellt, spielt den Pickelhauben-Monostatos (Martin Petzold) – doch in den Bahnen einer braven Liebhaber-Aufführung aristokratischer Theater-Fans. Enoch zu Guttenberg dirigiert diese Zauberflöte als drastisch zupackenden, in der Szene der Geharnischten – mit dem preußischen Kronprinzen und dem später in Sarajewo ermordeten österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand – bedrohlich überdüsterten Theaterspaß, an dessen Gelingen Susanne Bernhard, Antje Bitterlich, der edle Tareq Nazmi, Jörg Dürrmüller, Jochen Kupfer als hoch besetzter, schuhplattelnder Papageno, Martin Petzold als Monostatos, die drei Damen Miriam Meyer, Olivia Vermeulen und Heike Andersen sowie Gudrun Sidonie Otto als Papagena, als deren mögliche historische Darstellerin die Macher die ungarische Schauspielerin Lila von Bulyovsky ausgemacht hatten, großen Anteil haben. Zu den „Strahlen der Sonne“ erscheint Sissi dann endlich im Sternenkleid (Kostüme: Claudia Krämer, Ingrid Bettega, Brigitte Huber).        Rolf Fath