Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Wiederentdeckt

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Zwischen Claudio Monteverdi (1567-1643) und Antonio Vivaldi (1678-1741) liegen nicht nur die berühmten Komponisten Arcangelo Corelli (1653-1713) und Alessandro Scarlatti (1660-1725) sondern auch der aus heutigen Sicht weniger bekannt Alessandro Stradella (1643-1682). Arcana – Outhere Music legt die Weltpremiere Aufnahme von Stradellas dreiaktigen Amare e fingere (1676) zu einem Libretto vermutlich geschrieben von Giovanni Filippo Apolloni vor. Da Angaben zu den Namen von Librettist und Komponist fehlen konnte dieses Werk nur durch stilistische Merkmale als eine Oper Stradellas identifiziert werden.

Amare e fingere enthält keine instrumentale Ouvertüre, die ersten zwei Akte beginnen schroff mit Rezitativen, die verwirrend sind wenn man die Inhaltsangabe nicht im Voraus gelesen hat. Der dritte Akt fängt direkt mit einem Duett für Sopran und Tenor an. Insgesamt gibt es zwei Quartetten (Coro a 4) neun Duetten (Aria a 2), kurze Arien für Solostimme mit spärlicher Instrumentierung und Rezitative. Deshalb klingt die Musik asketisch und eintönig, wofür der Komponist verantwortlich zu halten ist.

Dieses  wiederentdeckte Werk bereichert unser Verständnis von einer weitgehend vergessenen Zeit in der Operngeschichte, insbesondere in Rom, wo sie entstand, und in Siena, dem Ort der Uraufführung. Im Gegensatz zu der Mehrzahl seiner Zeitgenossen bleibt Stradella in Erinnerung dank den biographischen Berichten in Jacques Bonnets Histoire de la musique et de ses effets, depuis son origine jusqu’à présent, & en quoi consiste sa beauté (1715).

Andrea De Carlo leitet das Ensemble Mare Nostrum in einem Mitschnitt eines Konzerts vom November 2018 aus dem Kulturzentrum in Herne. Die italienischsprachige Besetzung bietet mehrere Vorteile, insbesondere die klare Textdeklamation sowie idiomatische Artikulation. Sie besteht aus dem raffinierten Bariton Mauro Borgioni (Artabano/Fileno), der samtigen Sopranistin Paola Valentina Molinari (Despina/Clori), der sanften Mezzosopranistin José Maria Lo Monaco (Oronta/Celia), dem charismatischen Tenor Luca Cervoni (Coraspe/Rosalbo), der entzückenden, leidenschaftlichen Altistin Chiara Brunello (Silvano) und der eleganten Sopranistin Silvia Frigato (Erinda).

Im Beiheft sind Einführungstexte sowie das Libretto in englischer, französischer und italienischer Sprache zu finden. Die Aufnahmequalität ist transparent, detailliert und frisch, mit einem Publikum, dass kaum zu bemerken ist. Alle Mitwirkenden haben eine gute Leistung erbracht in den Dienst eines Komponisten, dessen Musik meistens nur in musikwissenschaftlichen Kreisen bekannt ist. Diese Aufnahme (Nr. 7 in der Serie „The Stradella Project“) kann hoffentlich ein breiteres Publikum für seine Musik gewinnen (Alessandro Stradella: Amare e fingere mit  Mauro Borgioni, Paola Valentina Molinari, José Maria Lo Monaco, Luca Cervoni, Chiara Brunello, Silvia Frigato, Mare Nostrum, Andrea De Carlo; Arcana – Outhere Music 2 CDs A493/ 24. 01.2022). Daniel Floyd

Hinaus in die Nacht

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Der Bariton Benjamin Appel hat seine erste Winterreise auf CD vorgelegt. Sie wurde im Oktober 2021 in der Kirche des Heiligen Silas der Märtyrer in Kentish Town, London, aufgenommen und ist nun bei Alpha Classics erschienen (ALPHA 854). Im Juni wird der in Regensburg geborene Sänger vierzig. Das richtige Alter für den Liederzyklus, den er aber schon live gesungen hat. Ein Tonträger, den man kaufen und aufheben kann, ist im Vergleich zum flüchtigen Konzert beständig. Was darauf festgehalten ist, lässt sich nicht mehr korrigieren oder verändern wie die Darbietung beim nächsten Auftritt. Sie hängt einem Interpreten auch an, legt ihn auf eine gewissermaßen auf etwas fest. Bis zu einer neuen Einspielungen desselben Werkes. Dietrich Fischer-Dieskau, dessen letzter Schüler Appl gewesen ist, stand erst im dreiundzwanzigsten Lebensjahr, als er seine 1948 seine erste Winterreise beim Rundfunk in Berlin aufnahm. Und die war so schlecht nicht. Nie dürfte er freier und natürlicher gesungen haben. Es sollten noch viele Winterreisen-Aufnahmen folgen. Firmen und Rundfunkanstalten meinten es gut mit ihm. Sein Intellekt, seine Bildung und eigene Forschungen versetzten ihn in die Lage, nach immer neuen Ansätzen suchen zu können. Appel dürfte er noch einiges mit auf den Weg gegeben haben.

Auch er hat das Werk nicht nur musikalisch studiert. Er hat sich auch viele inhaltliche Gedanken darüber gemacht. Schließlich will er sein Publikum, das ein anderes ist als zu Fischer-Dieskaus Zeiten erreichen mit Liedern, die vor fast zweihundert Jahren entstanden. Ein eigenen Beitrag im Booklet wirft interessante Frage auf: Dass die Winterreise mit dem Leiermann kein wirkliches Ende hat, empfindet Appl als „großes Geschenk“. Der Wanderer erhalte keine Antwort auf seine letzte Frage („Wunderlicher Alter / Soll ich mit dir gehen? / Willst zu meinen Liedern / Deine Leier drehn?“). „So kann man sich ein Leben lang auf diese musikalische, intellektuelle und emotionale Reise des An-Sich-Selbst-Wachsens begeben, heute an dieser Wegmarke einen anderen Pfad einschlagen als beim letzten Mal. Andere Künstler werden vielleicht ganz andere Abzweigungen nehmen. Und keiner von uns wird jemals am Ziel ankommen.“ Dieses Werk behalte seine Faszination gerade durch diesen Irrgarten der Wege, so wie das Leben selbst.

Appl beginnt seinen Vortrag verhalten, fast verträumt. So, als wolle er, der Fremde, um keinen Preis der Welt schon wieder ausziehen, nachdem er gerade eingezogen ist. Er muss aber hinaus in die Nacht. Es bleib völlig unklar, wie die Geschichte ausgeht, wo die Reise endet, nachdem sich die Tür sacht geschlossen hat. Er singt nicht am Anfang schon das Ende mit. Die spruchwörtliche Hoffnung stirbt nicht einmal am Schluss, weil er ja auf den Leiermann trifft. Unmerklich stellt sich als stimmlicher Begleiter ein gewisser Sarkasmus ein, der nichts Gutes ahnen lässt. Die Grundstimmung aber versinkt nicht in Verbitterung und Ausweglosigkeit. Allgegenwärtig ist sogar Neugierde auf das zu spüren, was als nächstes kommt. Das Zusammenspiel mit dem Pianisten James Baillieu gelingt vorzüglich. Beide folgen einer feinsinnigen Dramaturgie. Baillieu ist nicht nur musikalischer Begleiter. Er ist selbst Interpret. Seine Akzente können einen gedanklichen Ausdruck vertiefen oder ihn sogar hinterfragen – und Stimmungen erzeugen, zu denen die menschliche Stimme nicht in der Lage ist. Benjamin Appl hat mit dieser Winterreise an Profil gewonnen. Er singt einheitlicher, nimmt sich alle Zeit, die es braucht, etwas erschöpfend auszuformen. Mitunter werden mutig Grenzen zum Sprechgesang gestreift. Jedes Wort ist zu verstehen. Dramatische Momente klingen nicht mehr ganz so angestrengt. Es bleibt immer noch Luft nach oben. Alles in allem ist diese Aufnahme eine willkommene Bereicherung der sehr umfangreichen Diskographie dieses Zyklus (30.01.22). Rüdiger Winter

Mit liebevoller Ironie

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Nicht abfinden mit dem Verlust der Musik zum Prolog zu Henry Purcells Oper Dido and Aeneas wollte man sich in der Opéra Comique in Paris und stellte 2008 dem Werk mit Ausschnitten aus Ted Hughes‘ Echo and Narcissus, Eliots The Waste Land und Yeats The Wind among the Reeds  ein eigenes Vorspiel voran, dargeboten von der Schauspielerin Fiona Shaw in kaum identifizierbarer Kostümierung, aber eindringlich in der Deklamation und umgeben von einer Schar frohgemuter kleiner Mädchen in Schuluniformen, die man bereits beim fröhlichen Treiben in ihren Umkleideräumen beobachten konnte. Die Vorstellung geht übergangslos weiter mit der eigentlichen Oper, deren Personal in Kostüme der Entstehungszeit prachtvoll gewandet ist, während der Chor, der seitwärts auf schmucklosen Bänken sitzt, unauffällig in Schwarz gekleidet ist. Im Hintergrund ist eine Renaissancefassade zu erblicken, durch Vorhänge entstehen immer wieder neue Räume, für die Jagdgesellschaft gibt es auch vom Bühnenhimmel hängendes Grün, geheimnisvoll und kaum erschlüsselbar bleibt das Treiben von drei männlichen Figuren hoch oben in der Luft, während auf dem Bühnenboden die Hexen ihre finsteren Pläne schmieden. Regie führte  Deborah Warner, Bühne und Kostüme stammen von Chloe Obolenski, und die Produktion wurde außer in Paris auch in Amsterdam und Wien gezeigt.

Der Stoff stammt aus Vergils Epos um den dem Trojanischen Krieg entkommenden Sohn der Venus, der von den Göttern den Auftrag zur Gründung eines neuen Reichs im heutigen Italien erhalten hat und Station in Karthago bei der Königin Dido macht. Typisch englisch ist die „Anreicherung“ der Geschichte durch das Auftreten von Hexen, so dass nicht Merkur den säumigen Aeneas zum Aufbruch mahnt, sondern ein als griechischer Gott verkleideter Bote der Hexen, was dem Werk auch inhaltlich den Hauch des ganz Besonderen unter der Vielzahl der Vertonungen des Stoffes verleiht.

William Christie und Les Arts Florissants sind die Garanten für eine schillernde, dabei straff-energische Orchesterleistung, die auch in den Zwischenspielen pures Hörvergnügen bereitet. Malena Ernman ist die von Anfang an tragisch umflorte Dido mit warmer Mezzostimme von schönstem Ebenmaß. Berührend ist ihr Leben und Werk beschließendes „When I am laid in earth“. Auch darstellerisch ist sie mit ausdrucksstarkem Mienenspiel ein Gewinn für die Produktion. Als Gefährtin Belinda kann Judith van Wanroij mit einem feinen Sopran aufwarten, als Second Woman ist Lina Markeby vokal noch eine Spur zarter. Vollmundig und mit viel akustischem wie mimischem Nachdruck gibt Hilary Summers die böse Hexe, quäkend äußert sich Marc Mauillon als Spirit, gewandt in Gesang und Darstellung zeigt sich Damian Whiteley als Sailor, während die beiden „Unterhexen“ eher durch grotesken Tanz als durch vokalen Einsatz beeindrucken können (Blu-Ray Naxos NBD0140V; weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de ). Ingrid Wanja      

Entführung aus dem Waschsalon

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Müssen unsere Kinder und Enkel in dem Glauben aufwachsen, Aida sei eine Putzfrau, Scarpia ein SS-Scherge, Otello der Leiter eines Asylantenheims? Und müssen sie die Opernhelden für rechte Deppen und armselige Abhängige halten, weil il Moro sich am fazzoletto festkrallt, statt das Handy Desdemonas nach Verdächtigem zu überprüfen, Susanna auf eine Teilnahme an der Me-too-Bewegung verzichtet, Tristan und Isolde sich einen Schuss setzen müssen, um im Liebesrausch zu versinken? Wird es nie mehr eine wunderbare Renaissanceorgie wie in Ponnelles  Rigoletto, einen Sonnenaufgang auf dem Castel San Angelo mit Kabaivanska, Domingo, Miles, nie mehr einen Lohengrin geben, dem weder das Image eines Demagogen noch das eines Impotenten anhaftet? Wenn selbst im traditionsverhafteten Italien „moderne“ Inszenierungen auftauchen wie nun der Rigoletto vom Maggio Musicale Fiorentino aus dem Jahre 2021, muss man wohl davon ausgehen und sich doppelt ärgern, weil es einen solchen im Milieu amerikanischer Gangster bereits vor Jahren gab.

Die Aufführung fand im Februar ohne Saalpublikum und mit Maskenträgern auf der Bühne und im Orchestergraben statt. Eine zweite Serie gab es im Oktober mit Publikum und Umbesetzungen in den drei Hauptpartien. „Follow your dreams“ lädt eine Inschrift auf grauem Mauerwerk ein, hinter dem Gangsterboss Duca seine Orgien feiert, im ersten Akt ein Maskenball, im Hintergrund ein Renaissancegemälde, immerhin. Gilda haust in einem Souterrain-Waschsalon mit acht riesigen Waschmaschinen, Bügelbrettern, Leute laufen vor den Fenstern auf und ab, so wie später Züge hinter der Luxus-Bar von Sparafucile hin- und herfahren. Es wird ein ungeheurer Aufwand mit einer so üppigen wie trostlosen Szene (Gianluca Falaschi) getrieben, und es wird reichlich mit Pistolen herumgefuchtelt, der Duca führt sich damit auch gleich einmal  bei Giovanna ein. Dem Übernaturalistischen steht dann am Schluss unverhofft und reichlich unpassend Metaphysisches entgegen, wenn sich die Seele Gildas aus dem sterbenden Körper löst und dem ewigen Licht entgegen schreitet. Damit ist Regisseur Davide Livermore, dem auch schon La Traviata anvertraut war und der Il Trovatore inszenieren wird, die Verbindung von Brutalorealismus, so reichlich Blut zwischen den Beinen der entjungferten Gilda,  mit Pseudoreligiösem nicht gelungen, hinterlässt er beim Zuschauer einen faden Geschmack.

Mit Luca Salsi wurde für die Produktion der Sänger gewonnen, der im Moment das Maß aller Dinge zu sein scheint, quasi der Ersatz von Nucci und Bruson, wenn nicht gar noch von Cappuccilli in einer Person, durchaus mit einem machtvollen, farbigen Bariton begabt, aber leider in dieser Aufnahme eher dem Verismo als kultiviertem Verdi-Gesang huldigend. Sowohl in „Pari siamo“ wie in „Cortigiani, vil razza“ geht er sogar in Sprechgesang über, erst im „Piangi“ staunt man über weitausgreifende, schöne Bögen und ein feines Legato. Bereits auch an der Scala hat die Albanerin Enkeleda Kamani die Gilda gesungen, kühl und ebenmäßig klingt „Caro nome“ mit sicherer Höhe, ein wunderschönes Pianissimo weiß der Sopran im „Tutte le feste“ anzubieten und insgesamt ist ihre Gilda eine durchaus berührende. Nie ohne Pulle oder Pistole tritt der Duca von Javier Camarena auf, dem rüden Gehabe steht ein kultivierter tenore di grazia leichter Emission, strahlender Höhe und generöser Phrasierung entgegen. Die Maddalena von Caterina Piva ist zweifellos bella, wenn nicht gar bellissima, die Stimme aber flach und im Quartett wenig präsent. Schlank geführt wird der schöne Bass von Alessio Cacciamani, der den Sparafucile gibt. Machtvoll setzt sich der Monterone von Roman Lyulkin in Szene und trägt erstaunlicherweise ein Kostüm aus der Verdi-Zeit. Riccardo Frizza ist der erfahrene Kapellmeister in bester Verdi-Tradition mit Brio und Generosità und damit ein Gewinn für eine Produktion, die optisch zu sehr in Richtung „modern sein ohne Rücksicht auf Verluste“ schielt (Dynamic  57921/ weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de). Ingrid Wanja         

William Cochran

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Die Bayerische Staatsoper trauert um William Cochran. Eine kluge und eindringliche Stimme ist verstummt: Der große Tenor William Cochran, 1943 in Columbus (Ohio) geboren, starb am 16. Januar 2022 im Alter von 78 Jahren. Er war nach seinen Anfängen in den USA vorwiegend in Europa tätig und hier an allen bedeutenden Opernhäusern zu Gast, nicht nur mit den großen romantischen Partien seines Fachs – von Max in Der Freischütz über die Heldentenorrollen in den Musikdramen von Richard Wagner und Richard Strauss bis zu den anspruchsvollsten Aufgaben im modernen Musiktheater (wieTom Rakewell in The Rake’s Progress oder Desportes in Die Soldaten, den er auch auf Schallplatte aufgezeichnet hat).

Während er an der Oper Frankfurt seine künstlerische Basis hatte, mit vielen wegweisenden Produktionen, war er auch an der Bayerischen Staatsoper über einen langen Zeitraum immer wieder zu Gast, beispielsweise als Laca (Jenůfa), Svatopluk Čech (Die Ausflüge des Herrn Brouček), Kurfürst (Der Prinz von Homburg) und in der Titelpartie von Siegfried. Zuletzt ist er als Aegisth in Elektra bei den Münchner Opernfestspielen 2001 im Nationaltheater aufgetreten. Wir trauern um einen Künstler, der die Opernwelt mit Stimme, Geist und Herz bereichert hat.

Geboren in Kansas City; studierte Theologie, Anthropologie, Geschichte, Musik, Sprachen an der Wesleyan University, danach Gesang am Curtis Institut of Music in Philadelphia und an der Music Academy of the West in Santa Barbara. Nach erfolgreicher Teilnahme an mehreren Wettbewerben Anfängerengagement an der Metropolitan Opera New York. In Deutschland war er mehrere Jahre an der Frankfurter Oper engagiert und gastierte u.a. in Berlin, Zürich, München, Genf, Wien, Brüssel, London, Paris. Sein Repertoire umfaßt sowohl die großen Heldentenor-Rollen von Wagner als auch Herodes (Salome), Palestrina, Max (Der Freischütz) sowie Charakterrollen in Werken zeitgenössischer Komponisten (Nono, Zimmermann, Strawinsky, Berg, Janácek, Henze, Schönberg). Partien an der Bayerischen Staatsoper: Laca (Jenufa, 1968), Svatopluk Cech (Die Ausflüge des Herrn Brouèek), Kurfürst (Der Prinz von Homburg), Siegfried, Aegisth (Elektra). (Quelle + Foto Bayerische Staatsoper)

Neapolitanisches

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Ihr neues Album mit zwei CDs bei ERATO hat Christina Pluhar Alla napoletana genannt (0190296603617). Die Hommage an die Stadt am Vesuv, die im 17. und 18. Jahrhundert eine europäische Hauptstadt der Musik war, enthält Tarantellas, Cantatas, Arias und canzone napoletane. Die Aufnahmen entstanden im März 2021 in Paris während der Pandemie und sind ein Zeugnis des unbedingten Willens aller Künstler, gemeinsam zu musizieren.

Natürlich ist das von Pluhar gegründete Ensemble L’ARPEGGIATA mit am Werk, dazu eine Reihe von Gesangssolisten, von denen man vor allem den Countertenor Valer Sabadus kennt und sein schmeichelndes Timbre sofort heraushört. Er singt von Pietro Andrea Ziani die Canzone „Dormite o pupille“ mit betörend schwebenden Tönen und ist auch in einigen Ensembles von Cristoforo Caresana zu hören: „La Tarantella“, „La Veglia“  und „La Pastorale“. Ein Kabinettstück bietet er gemeinsam mit der Sopranistin Céline Scheen in Pietro Antonio Giramos „Chi vidde più lieto“, in dem gekichert, gestöhnt, gehaucht und geseufzt wird. Später sind sie noch in Luigi Rossis „Che più far degg’io“ zu hören, das in seinem lamentierenden Duktus in eine ganz andere Welt führt. Auch der Sopranist Bruno de Sá hat sich längst in der Elite der Alte-Musik-Interpreten etabliert. Er stellt sich mit Giovanni Legrenzis Canzone „Con cent’occhi“ vor und meistert dabei die extreme Tessitura souverän. In Sigismondo d’Indias „Sfere fermate“ spielt er gekonnt mit den Tönen und klettert gleichfalls in denkbar höchste Regionen. Auch die Mezzosopranistin Luciana Mancini ist keine Unbekannte. Von Pietro Antonio Giramo interpretiert sie die kapriziöse Canzone „La Pazza“ mit reichem Farb- und Ausdrucksspektrum, von Cristoforo Caresana „Basti, sospenda il ballo“.  Dagegen sind der Altus Vincenzo Capezzuto, die Tenöre Alessandro Giangrande und Zachary Wilder sowie der Bassist Joao Fernandes hierzulande weniger prominent, können sich aber neben den etablierten Künstlern souverän behaupten.

Das Programm reißt die Grenzen zwischen Kunst- und Volksmusik, zwischen profanen und geistlichen Kompositionen auf. Viele Elemente der Musik stammen aus der commedia dell’arte, bemerkenswert ist die Vermischung von italienischem und neapolitanischem Dialekt. Zu erwähnen sind auch die humoristischen Lautmalereien, wie man sie in den Tarantellas „Lo Guarracino“ und „A la fiera de Mast’André“ findet. Erstere interpretiert der Altus Vincenzo Capezzuto mit androgyner Stimme und eröffnet damit das Programm. Die Komposition ist von ausgelassener Stimmung und ein lustvoller Einstieg. Später singt er noch das träumerische  „Dicitencelle vuje!“ von Rodolfo Falvo, wo die Individualität  zwischen männlicher und weiblicher Stimme noch mehr verschwimmt, wie es auch bei dem Volkslied „Raziella“ aus dem 18. Jahrhundert zu vernehmen ist. In der zweiten Tatarantella ist der Tenor Alessandro Giangrande zu hören. Sein Vortrag ist so plastisch, dass man sich beinahe auf einem Markt glaubt, wo der Verkäufer für seine Produkte wirbt. Von den insgesamt acht mitwirkenden Sängern sind sechs bei „La Tarantella“ von Cristoforo Caresana vertreten – eine übermütige Komposition aus dem Jahre 1675 in stampfendem, mitreißendem Rhythmus. Ähnlich überwältigend sind die Cantata a 6 voci „La Veglia“, mir der die zweite CD übermütig beginnt, und das siebenstimmige „Gioca al ombre“ . Sonore tiefe Töne als willkommenen Kontrast zu den hohen Stimmen bringt der Bassist Joao Fernandes mit „Dormi o ninno“ und „Il Pazzo“ ein. In letzterem werden die Grenzen des Gesangs aufgehoben zugunsten lautmalerischer Geräusche. Capezzuto setzt den Schlusspunkt mit dem populären Volkslied „Fenesta che lucive“, das in seiner Melancholie nichts daran ändern kann, dass dieses Album ein Stimmungsaufheller und Heilmittel gegen alle Depressionen ist. Bernd Hoppe

Eheliche Liebe zum Vierten

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Im selben Jahr als Giovanni Simone Mayrs L’amor conjugale (1805), eine dramma sentimentale in einem Akt, einen Erfolg in Padua (Teatro Nuovo) feierte, erlitt die Urfassung von Ludwig van Beethovens Leonore eine missglückte Uraufführung im Theater an der Wien. Mayr, der heute vor allem als Lehrer Gaetano Donizettis bekannt ist, vertonte ein Libretto von Gaetano Rossi nach dem Textbuch der Léonore, ou L’amour conjugal (1798) von Jean Nicolas Bouilly.

Mayr und Beethovens unterschiedliche Kompositionsstille und Handlungsstränge zeigen, wie das gleiche Thema ganz anders konzipiert und realisiert wurde. Deswegen lohnt es sich L’amor conjugale kennenzulernen, obwohl sie keineswegs mit Beethovens Oper gleichzusetzen ist.

Die Handlung von Mayrs Oper spielt in einem Gefängnis in Polen. Der Gefängniswärter Peters (Rocco in Beethovens Oper) hat einen Helfer namens Malvino (Fidelio bei Beethoven), in Wirklichkeit Zeliska (Leonore bei Beethoven), die ihren inhaftierten Ehemann, Amorveno (Florestan bei Beethoven), befreien will. Peters Tochter, Floreska (Marzelline bei Beethoven), hat sich in Malvino verliebt. Malvino/Zeliska begleitet Peters in dem unterirdischen Gewölbe, wo sie ihren Ehemann erkennt. Moroski (Don Pizarro bei Beethoven) kommt maskiert mit der Absicht, Amorveno zu morden, aber Malvino/Zeliska rettet ihn. Ardelao (Don Fernando bei Beethoven) befreit das wiedervereinte Ehepaar.

Nach dem Mitschnitt der Oper vom Rossini-Festival in Wildbad 2004 unter Christopher Franklin bei Naxos nun Opera Fuoco unter der Leitung von David Stern hat diese selten gespielte Oper im April 2021 im Opéra de Massy aufgenommen. Die Sängerbesetzung ist überzeugend, insbesondere Chantal Santon-Jeffery als Zeliska/Malvino; sie klingt zärtlich mit Amorveno, sympathisch mit Peters und kühn gegen Moroski. Natalie Pérez als Floreska wirkt liebevoll und verlockend in ihrer Sehnsucht nach einer Ehe mit Malvino, die nicht zustande kommt; am Ende ist sie überraschenderweise bereit, die Tatsache, dass ihr Verlobter eigentlich eine schon verheiratete Frau ist, zu akzeptieren. Andrés Agudelo hat eine Stimme, die das Gefühl von tiefen Schmerz aber auch von Entschlossenheit sich nie dem Schicksal zu ergeben. Olivier Gourdy ist versöhnlich und väterlich als Peters. Adrien Fournaison klingt böse und rachsüchtig als Moroski. Für Fidelio-Kenner klingt der Hochtenor Bastien Rimondi als Ardelao, im Vergleich zu Don Fernandos Bassstimme, irritierenderweise jünger als die anderen Protagonisten.

Diese Aufnahme wirft ein neues Licht auf den aufführungsreichen Fidelio, der immer noch stark beim Publikum beliebt ist. Neben Leonora ossia L’amor conjugale (1804) von Ferdinando Paër, der auch der gleiche Stoff zu Grunde wie Fidelio liegt, gilt L’amor conjugale als Teil eines Quartetts von fast gleichzeitig entstandenen Opern, die über das selbe Thema verbunden sind. Denn Jean-Pierre Gaxeaux´ Oper Léonor von 1798, die in der Videoaufzeichnung von Opéra Lafayette bei Naxos operalounge.de besprochen wurde, geht diesen dreien nur geringfügig voraus.

Das Beiheft enthält das vollständige Libretto in Italienisch mit Englisch und Französisch Übersetzungen sowie mit kurzen Kommentaren auf Englisch, Französisch und Deutsch. Leider ist die Verpackung eine Katastrophe: ein Pappschuber mit dem Textheft festgeklebt in der Mitte und zwei beidseitig offene Hüllen, die die CDs ausfallen lassen. Hochwertige Musik verdient eine bessere Präsentation (Giovanni Simone Mayr: L‘Amor conjugale mit Chantal Santon-Jeffery, Andrés Agudelo, Natalie Pérez, Olivier Gourdy, Adrien Fournaison, Bastien Rimondi, Opera Fuoco, David Stern; Aparté 2 CDs AP267). Daniel Floyd

 

Nichts für Kinder

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Keineswegs mit Kindern sollte man die Produktion der Bayerischen Staatsoper von Hans Abrahamsens Oper The Snow Queen besuchen, denn wenn das Stück selbst noch als Märchen durchgehen könnte, so ist die Inszenierung von Andreas Kriegenburg von 2020 eher einer Revolutionierung der Behandlung psychisch Kranker gewidmet, denn dem armen Kay, dem durch einen Splitter aus dem Spiegel des Teufels jegliche Beziehungsfähigkeit abhanden gekommen ist, wird zu Beginn eine abstoßende, sicherlich nicht förderliche Behandlung durch Massen von Krankenschwestern und Ärzten zuteil, während am Schluss fröhliches Treiben an der gleichen Stätte auch ihn mit einbezieht, ihn sogar als Erwachsenen wieder beziehungsfähig gemacht hat. Ein inniger Kuss, der Gerda auf den Mund gedrückt wird, beweist es. Das geschieht natürlich der erwachsenen Gerda, von der es wie von Kay gleich zwei gibt, eine Schauspielerin und eine Sängerin, dazu noch ein Kinderpaar, so dass zweitweise anstelle der vorgesehenen zwei gleich sechs Personen auf der Bühne versammelt sind. Den Mund öffnen dürfen nur die Sänger, die Schauspieler, insbesondere von dem des Kai muss das gesagt werden, stieren nur bedeutungsschwanger vor sich hin. So kalt wie das Ambiente (Bühne Harald B. Thor )auch durch ständigen Schneefall wirkt, so kühl erscheint die aus einer Art Zirpen erwachsende Musik, in der man Eis klirren, Schlittenglocken läuten, Schneestürme sich entwickeln hört, ein Zustand ständigen Schwebens erreicht wird, die mal atonal, mal tonal erscheint und die die Sänger nicht vor unzumutbare Aufgaben stellt. Winter und Kälte sind Themen, die den Komponisten stets besonders interessiert haben. An der guten Singbarkeit der Oper hat wohl auch die Initiatorin des Werks, die Sopranistin Barbara Hannigan, die die Gerda sowohl in der Uraufführung mit dänischem wie in der deutschen Erstaufführung mit englischem Libretto sang, ihren Anteil.

Liest man das Interview mit dem Regisseur im Booklet der Video-Aufnahme, wird man folgendermaßen belehrt: „Wir erleben Kay und Gerda in drei Lebensstufen, in drei Stufen des Zusammengehörens: als Kinder, als junge Liebende du als das reife Paar…..Anfang fünfzig. Kays weibliche Stimme ist quasi die Wesensgestalt, die Gerda jetzt, nach Eintreten des Traums, sieht und dank derer es für sie leichter geworden ist zu verstehen, dass dieses zarte Wesen, diese fragile Stimme, nicht stark genug war für die Tristesse des Alltags“. Da kommt man einmal mehr nicht um das Fazit herum, dass das Bühnengeschehen und seine Erläuterung im Programmheft weit auseinander klaffen, man eine Midlife-Crisis-Oper nicht vermutet hätte.  Immerhin ist das alles recht unterhaltsam, wenn auch über weite Strecken hinweg rätselhaft bleibend, warum sind Prinz und Prinzessin Glatzköpfe in Nachtwäsche (Kostüme Andrea Schraad) , warum dient der Schauspieler-Kay als Rentierkörper, und bereits der Schöpfer der Oper selbst muss sich fragen lassen, warum das Räubermädchen unterschlagen,  die Schneekönigin mit einem Bass besetzt wird.

Dirigent Cornelius Meister nimmt sich der Partitur mit liebevoller Sorgfalt an, arbeitet viele Einzelschönheiten heraus, sorgt für eine angenehme Ausgewogenheit zwischen Orchestergraben und Bühne. Barbara Hannigan ist überaus intensiv als Gerda, die Partie ist ihr auf die Stimmbänder komponiert, sie klingt durchweg angenehm und manch schöner Schwellton ist ihr vergönnt. Ihr Schauspieler-Ebenbild ist Anna Ressel mit viel Liebreiz, das Kind Sophie Veronik hat sogar ein Kleid aus dem gleichen Stoff wie die erwachsenen Gerdas. Leider viel weniger zu singen hat der Kay von Rachael Wilson, die eine sehr feine, kostbar klingende Mezzostimme hat. Schauspieler Thomas Gräßle guckt bedeutsam leer, muss sich auch oft seine Lagerstätte mit den beiden anderen Kays teilen (das Kind Kay ist Louis Veronik, also der Bruder der kleinen Gerda-Darstellerin). Der bewährte Peter Rose verleiht Statur und Stimme nicht nur der Schneekönigin, sondern auch dem Rentier. Katarina Dalayman ist Grandmother, Old Lady und Finn Woman, als welche sie auch zeigen kann, wie intakt die Stimme ist. Munter krähen Kevin Conners und Owen Willetts als eben diese Vögel. Caroline Wettergreen und Dean Power müssen sich hässlich machen und haben auch nicht viel zu singen. Ein zwielichtiges, Patienten beängstigendes Bild bietet der Chor als Klinikpersonal und anderes. Es wäre interessant, das Stück auch in einer anderen Inszenierung zu sehen, in Straßburg gab es bereits eine solche (Bluray disc BSOrec LC96744). Ingrid Wanja   

Aufregend, tiefgründig, exemplarisch

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Kent Nagano dürfte der Dirigent sein, der mit der Musik wie mit der Persönlichkeit des Komponisten Olivier Messiaen (1908-1992) am besten vertraut ist. Früh entdeckte er dessen Musik für sich. 1982 lebte er ein Jahr im Haushalt des Komponisten in Paris, an der Einstudierung der Oper Saint François d‘Assise in der Pariser Opéra Garnier 1983 hatte er einen wichtigen Anteil. Nagano hat sämtliche Orchesterwerke des Franzosen dirigiert und die Franziskus-Oper in Lyon und München zur Aufführung gebracht. Messiaen, so äußerte er selbst einmal, habe ihm „die Tür zu seiner Musik geöffnet“. So ist Nagano gleichsam prädestiniert, uns die Tür zur Musik Messiaens zu öffnen. Was hier mit der Aufführung dreier zentraler Werke geschieht.

In seinem sehr lesenswerten Beitrag „weist Kent Nagno auf die enge Verbindung von Religion und Musik bei Messiaen hin: „Fast alle von Messiaens Werken haben biblische Inhalte oder nehmen theologische Gedanken auf: die Bedeutung der Dreifaltigkeit, die Geburt und die Verklärung Jesu Christi, seine Unsterblichkeit. Aus dem Glauben nahm er die Energie und Kraft, eine schier unerschöpfliche Vielfalt von Werken zu komponieren. Während er komponierte oder improvisierte, reflektierte er nicht nur über die Schöpfung. Es war sein Weg, mit Gott in Verbindung zu treten. In der Musik kann man Gott erfahren. Musik hat eine unvergleichlich spirituelle Kraft, vielleicht die größte unter den Künsten. Sie baut die Brücke in die Transzendenz.“

Den Liederzyklus  Poèmes pour Mi komponierte Messiaen 1936 auf eigene Texte und zunächst in einer Fassung für Sopran und Klavier. 1937 kam er mit Marcelle Bunlet und dem Komponisten am Klavier zur Uraufführung. Im selben Jahr instrumentierte Messiaen den Klavierpart. Die Erstaufführung dieser Fassung fand ebenfalls mit Marcelle Bunlet und dem Conservatoire-Orchester unter Leitung von Roger Désormière in der Pariser Salle Gaveau statt. Gewidmet ist das Werk der ersten Frau des Komponisten, der Geigerin und Komponistin Claire Delbos (1906-1959), deren Kosename „Mi“ (auch die Bezeichnung für den Ton D) war.

Die neun Lieder haben beachtliche literarische Qualitäten. Außerdem beweist Messiaen hier sein Geschick, das individuelle Erleben der Liebe und irdischen Glücks mit einer Transzendierung und dem Jenseits in Verbindung zu bringen. Danksagung, Landschaft, Das Haus, Entsetzen, Die Gattin, Deine Stimme, Die beiden Krieger, Das Halsband, Erhörtes Gebet – diese Titel machen schon deutlich, dass Messiaen ganz unterschiedliche Themen behandelt und dafür den jeweils passenden Ausdruck findet. Und mal wird die Liebe, mal die Geliebte beschworen, mal ein Ort, mal ein Zustand. Immer freilich ist das religiöse Moment anwesend, explizit oder implizit.

Kent Nagano/ Foto Peter Meisel/BRSO

Die Poèmes pour Mi erfordern einen dramatischen Sopran, eine große, flexible Stimme, die freilich auch zu größter Zurückhaltung fähig sein muss. Und sie muss sich immer im Orchester behaupten können, selbst in den besonders leisen Passagen. Jenny Daviet bewältigt ihren Part sehr gut, sing immer nuanciert, ausdrucksvoll, interessant. Nur manchmal klingt ihre Stimme etwas forciert, ja scharf. Das Orchester begleitet und stützt sie hervorragend ein.

Die Chronochromie komponierte Olivier Messiaen 1959/60 für eine sehr große Orchesterbesetzung: Piccoloflöte, 3 Flöten, 2 Oboen, Englischhorn, Kleine Klarinette, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 3 Fagotte, 4 Hörner, Piccolotrompete, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Schlagwerk mit Glockenspiel, Xylophon, Marimba, Glocken, 3 Gongs, Hängendem Becken, Chinesisches Becken, Tamtam sowie Streicher. Der Titel leitet sich aus dem Griechischen her: Chronos (= Zeit) und Chroma (= Farbe) gehen eine Beziehung oder Verbindung ein. Die Farbe verändert sich im Lauf der Zeit. Messiaen führte den Begriff „Chronochromie“ in die Musik ein. In seinem gleichnamigen Werk ist das eine spezielle Form der Harmonie in Strophen, Antistrophen und Epoden, die aus dem griechischen Drama abgeleitet ist. In den sieben Teilen der Komposition, die mehr oder minder ineinander übergehen, findet sich ein wahres Hör-Kaleidoskop, vor greift Messiaen auf ungewöhnliches Material zurück, das er nach Art eines „objet trouvé“ außerhalb der Kunst, in der Alltagswelt gefunden hat. Das sind die Stimmen von verschiedenen Vogelarten, der Klang von Wasserfällen in den Alpen, windstoßartige Figuren, Gesten oder felsiges Gebirge in Form von grandiosen. Das 1960 bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführte Werk hat dank Kent Naganos Interpretation nichts von seiner vielleicht auch irritierenden Faszination verloren. Das BRSO stürzt sich gleichsam mit voller Verve auf diesen Klassiker, der viel zu selten im Konzertsaal zu hören ist. Der Hörgenuss läßt sich vielleicht noch steigern, wenn man (allerdings nach dem ersten Hören!) gute Erläuterungen liest und so erfährt, was es mit diesem komplexen Werk eigentlich auf sich hat.

Das Hauptwerk der Box bildet La Transfiguration de notre Seigneur Jésus-Christ, ein Auftrag der Gulbenkian-Stiftung in Lissabon aus dem Jahre 1965. Die bat Messiaen um ein großes Werk für Chor und Orchester. Der Komponist entschied sich für ein Oratorium über die „Verklärung unseres Herrn Jesus Christus“, an dem er dann länger als geplant arbeitete. In seiner endgültigen Form kam das Werk am 7. Juni 1969 in Paris zur Uraufführung – mit dem Orchestre de Paris unter Leitung von Serge Baudo. Solistisch prominente Rollen spielten die Pianistin Yvonne Loriod (die zweite Frau des Komponisten) und der Cellist Mstislaw Rostropowitsch. Die Komposition ist streng symmetrisch gebaut. Sie besteht aus zwei Teilen zu je sieben Sätzen. Zwischen Rezitationen aus den biblischen Evangelien (Teile I, IV, VIII, XI) finden sich meditierende Sätze (II, III, V, VI, IX, X, XII, XIII). Die Teile werden abgeschlossen durch Choräle (VII, XIV).

In der vorliegenden Aufnahme, einem Konzertmitschnitt vom Juni 2017, sind Pierre-Laurent Aimard (Klavier) und Lionel Cottet (Violoncello), weitere fünf Orchestersolisten, Moon Yung Oh (Tenor), Matthias Ettmayr (Bass) sowie Chor und Symphonieorchester Orchester des Bayerischen Rundfunks in Bestform zu erleben. Der Chor singt immer ausdrucksvoll, subtil, bewährt sich in den zum Teil gregorianischen Gesängen nachempfundenen Passagen. Alle Solisten sind sehr präsent, das Orchester bringt die klanglichen Facetten, die Eigenwilligkeiten und Valeurs dieses meditativen Werkes suggestiv zur Geltung. Das Oratorium ist zwar sehr groß besetzt, doch werden die instrumentalen und vokalen Kräfte sehr ökonomisch und oft sehr subtil eingesetzt. Man wird als Hörer nie überfahren, sondern staunt über den differenzierten Klang, die Farben und die Schönheit dieser Musik. Hier erfüllt sich, was Kent Nagano äußerte: dass die Musik eine Brücke zur Transzendenz bauen kann. Das tut sie oft mit Klängen wie aus dem Jenseits (Olivier Messiaen: La Transfiguration de Notre Seigneur; Pierre-Laurent Aimard, Jenny Daviet, Chor des Bayerischen Rundfunks, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Kent Nagano; BR-KLASSIK 900203)! Helge Grünewald

Niksa Bareza

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Die Oper Graz und die Grazer Philharmoniker trauern um ihren ehemaligen Chefdirigenten Nikša Bareza, der am 17. Jänner 2022 im Alter von 85 Jahren verstorben ist. Nikša Bareza kam am 31. März 1936 in Split zur Welt und hat seine Studien u. a. bei Milan Sachs und Hermann Scherchen in Zagreb und Salzburg absolviert. Er war von 1965 bis 1974 Chefdirigent am Kroatischen Nationaltheater Zagreb, und wirkte in den siebziger Jahren als Gastdirigent am Kirow-Theater in St. Petersburg, am Bolschoi-Theater in Moskau und am Opernhaus Zürich. Sein Debut an der Oper Graz gab er am 28. September 1975 mit einer Neuproduktion von Alexander Borodins „Fürst Igor“. In Graz folgten „Eugen Onegin“, „Turandot“ und Antonín Dvořáks „Der Jakobiner“, und von 1981 bis 1990 bekleidete er die Position des Chefdirigenten des Grazer Philharmonischen Orchesters und der Grazer Oper. Hier reichte die stilistische Bandbreite der von ihm einstudierten Neuproduktionen von Monteverdi („L’Orfeo“ im Landhaushof) und Johann Joseph Fux („Angelica vincitrice di Alcina“ im Jänner 1985 anlässlich der Wiederöffnung der Grazer Oper) über Mozart (u. a. „Die Hochzeit des Figaro“, „Idomeneo“) hin zu Donizettis „Viva la Mamma“, umfasst Verdi („I Lombardi alla prima crociata“, „Simon Boccanegra“, „Rigoletto“, „La forza del destino“, „Don Carlo“) und Puccini („Manon Lescaut“) ebenso wie Boitos „Mefistofele“, Brittens „Ein Sommernachtstraum“, Mussorgskis „Boris Godunow“, Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“, Strauss’ „Arabella“ und Tschaikowskis „Pique Dame“. Als Wagner-Dirigent hat er in Graz Christian Pöppelreiters Inszenierungen von „Das Liebesverbot“ und „Der Ring des Nibelungen“ geleitet; diese Aufführungen wurden auch vom ORF gesendet. Später hat er als Gast 1992 eine Neuproduktion von Leoš Janáčeks „Katja Kabanowa“ dirigiert. Nach seiner Grazer Tätigkeit wirkte er u. a. als Generalmusikdirektor der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz und der Oper Chemnitz (2001 bis 2007). Seine internationalen Verpflichtungen führten ihn mit rund achtzig Vorstellungen an die Wiener Staatsoper, nach Italien (u. a. Teatro Bellini in Catania, Teatro alla Scala in Mailand, Teatro Massimo in Palermo, Teatro Verdi in Triest), Deutschland (u. a. Bayerische Staatsoper München, Hamburgische Staatsoper, Deutsche Staatsoper Unter den Linden), nach Oslo, Mexiko und zuletzt mit „Nikola Subić-Zrinjski“ von Ivan Zajc ans Kroatische Nationaltheater Zagreb.

Il Teatro Lirico Giuseppe Verdi di Trieste apprende la triste notizia che il Maestro Nikša Baresa è mancato ieri lunedì 17 gennaio e si unisce al cordoglio di tutto il mondo della musica e della cultura per la perdita di un raffinato artista e un’instancabile ricercatore e studioso. Persona di sensibile gentilezza, poneva attenta cura a ogni dettaglio della partitura, indagandone in profondità le origini per ciascuno strumento e ogni voce. Aveva esordito a Trieste nel 1979 con Mazepa di Pëtr Il’ič Čajkovskij di cui aveva diretto anche Evgenij Onegin nel 1996. Al Teatro Verdi di Trieste ha diretto in particolare titoli del Novecento ed era considerato interprete di riferimento; fra questi ricordiamo Lady Macbeth del Distretto di Mcensk di Dmitrij Dmitrievič Šostakovič nel 1987, Il Campiello di Ermanno Wolf-Ferrari nel ’92, La Voix Humaine di Francis Poulenc e Cavalleria Rusticana di Pietro Mascagni nel 1993; importanti i suoi concerti con musiche di Luigi Pizzetti, Felix Mendelssohn, Jean Sibelius, Maurice Ravel. Grande successo di pubblico e di critica aveva riscosso la sua direzione di Tannhäuser di Richard Wagner nel 2010. Sul podio del Teatro Verdi era recentemente ritornato nel 2019 con i titoli pucciniani Madama Butterfly e Turandot a cui si era dedicato con particolare passione.

Die Wiener Staatsoper trauert um Niksa Bareza, der am Montag, 17. Jänner 2022 im Alter von 85 Jahren in Zagreb verstorben ist.Sein Debüt im Haus am Ring gab der langjährige Chefdirigent der Oper Graz 1973 mit Un ballo in maschera. Niksa Bareza war der Wiener Staatsoper über viele Jahre verbunden und dirigierte hier bis 1991 an insgesamt 71 Abenden Vorstellungen von L’elisir d’amore, La traviata, Cavalleria rusticana/Pagliacci, Il trovatore, Die verkaufte Braut, Tosca, Il barbiere di Siviglia, Madama Butterfly, Rigoletto, Aida und La bohème.

Die Theater Chemnitz trauern um ihren ehemaligen Generalmusikdirektor Niksa Bareza, der am 17. Januar 2022 im Alter von 85 Jahren in Zagreb verstorben ist. Niksa Bareza wurde am 31. März 1936 in Split geboren und absolvierte seine Studien u. a. bei Milan Sachs und Hermann Scherchen an der Musikakademie in Zagreb und am Mozarteum in Salzburg. Er war von 1965 bis 1974 Chefdirigent am Kroatischen Nationaltheater Zagreb, anschließend Gastdirigent am Mariinski-Theater St. Petersburg (1972 bis 1975), Dirigent am Opernhaus Zürich (1978 bis 1981) und Chefdirigent der Grazer Philharmoniker und der Grazer Oper (1981 bis 1990). Von 2001 bis 2007 war Niksa Bareza als Generalmusikdirektor der Robert-Schumann-Philharmonie und der Oper Chemnitz tätig. Hier dirigierte er vor allem Werke von Richard Wagner („Der fliegende Holländer“ 2002, „Tristan und Isolde“ 2004, „Lohengrin“ 2006) und Richard Strauss („Elektra“ 2002, „Der Rosenkavalier“ 2003, „Arabella“ 2005, „Ariadne auf Naxos“ 2006).
Seine internationalen Verpflichtungen führten ihn anschließend erneut an die Wiener Staatsoper, nach Italien, Deutschland, nach Oslo, Mexiko und zuletzt mit „Nikola Subić-Zrinjski“ von Ivan Zajc ans Kroatische Nationaltheater Zagreb. Die Theater Chemnitz werden ihrem früheren Generalmusikdirektor ein ehrendes Andenken bewahren.

Dazu auch ein Interview von Sebastian Strauss, das er mit dem verstorbenen Dirigenten Niksa Bereza für operalounge.de führte.l

Grosse künstlerische Tat

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Wahrlich nicht als Opernkomponist in die Musikgeschichte eingegangen ist der belgische Komponist César Franck, und doch hat er, nachdem zwei Jugendwerke keinen Erfolg hatten, in seinen letzten Lebensjahren noch einmal sein Interesse für die Gattung entdeckt und zwei Opern in Angriff genommen, Hulda, die fertiggestellt, aber zu Lebzeiten Francks nicht aufgeführt wurde, und Ghiselle, die unvollendet blieb.  Erst mehr als drei Jahre nach dem Tod Francks wurde 1894 in Monte Carlo eine arg verstümmelte Fassung aufgeführt, die wenig später wieder vom Spielplan abgesetzt wurde, nicht besser erging es den Aufführungen in Den Haag und Toulouse. Zuletzt gab das kleine Theater Freiberg die Oper, wie Rolf Fath in operalounge.de berichtete (Die vergessene Oper 131).

Das Libretto in französischer Sprache stammt von Charles Jean Grandmougin, der sich auf das Drama Halte-Hulda des Norwegers Björnsterne Björnson stützte, der wiederum sich von archaischen nordischen Sagen inspirieren ließ. Als Norweger, dessen Land bis 1814 unter dänischer Herrschaft stand, musste ihn die Geschichte von der Isländerin Hulda, die in die Fremde verschleppt wird, zwangsverheiratet werden soll, doch die Liebe im feindlichen Land findet, betrogen wird und furchtbare Rache nimmt, bevor sie sich ins Meer stürzt, besonders interessieren.  Aber auch César Franck, ansonsten für seine Friedfertigkeit und Menschenfreundlichkeit bekannt, erlebte als Pariser Hass und Gewalt in den Jahren 1870/71 mit deutscher Besetzung und Pariser Kommune und reagierte darauf offensichtlich mit einer Hinwendung von der friedfertigen Orgel zum blutrünstigen Schauerdrama. So verwundert es auch nicht, dass Franck und sein Librettist das Drama in eine besonders von Gewalt geprägte Zeit, nämlich in das 11. Jahrhundert, als die nordischen Länder und Stämme christianisiert wurden, verlegten. Huldas Mutter betet bereits zu einem Gott, Hulda, die gnadenlose Rächerin, zu den alten heidnischen Göttern.

Es ist wahrlich großartig, dass ein nicht allzu großes Haus wie das Freiburger Theater, dazu noch allen drei Sparten dienend, sich des anspruchsvollen Werks mit ebenso anspruchsvollen und vielen Rollen angenommen hat und dass das Label Naxos daraus eine Erstaufführung auf drei CDs gemacht hat. Weder Chor noch Orchester, denen die in der Nachfolge Wagners entstandene Musik in der Form der Grand Opera mit obligatorischer Balletteinlage unendlich viel abverlangt, lassen den Schluss zu, hier habe man die Bewältigungslatte zu hoch gelegt. Die Vorspiele, insbesondere das zum 5. Akt, sind so prachtvoll üppig wie tragikumflort und unheilsschwanger, und das Philharmonische Orchester Freiburg unter Fabrice Bollon wird der Musik aufs schönste gerecht, zeichnet filigranhaft die Detailschönheiten nach und deckt die Sänger nie zu. Ein Glücksfall ist es, dass man wegen der vielen Nebengeräusche während der Aufführungen auf der Bühne separat davon im Konzerthaus konzertante Aufführungen zur Grundlage der drei CDs machte. So fehlt zum vollkommenen Opernglück eigentlich nur ein Libretto anstelle der doch recht knappen Inhaltsangabe im ansonsten informationsreichen Booklet.

Lang ist die Liste der Gesangssolisten und damit eine weitere Herausforderung für das Theater Freiburg. Allein die fünf Brüder und der Vater des früh verblichenen Gudleik ( Juan Orozco), weil vom Nebenbuhler gemeuchelt, erfordern eine Besetzung mit je zwei Tenören ( Roberto Gionfriddo, Junbum Lee), zwei Baritonen (Seonghwan Koo und John Carpenter) und zwei Bässen  (sehr gewichtig Jin Seok Lee und Jongsoo Yang). Selbst die kurze Partie des Herolds ist mit einer sonoren Baritonstimme, der von Mateo Penaloza Cecconi, ansprechend besetzt. Die namenlose und zu frühem Tod verdammte Mutter Huldas wird von Anja Jung mit dunkel-schwerem Alt bedacht, der sechsfachen  Mutter Gudrun verleiht Katerina Hebelkova eine mütterlich klingende Mezzostimme. Einen zarten Mädchensopran setzt Katharina Ruckgaber für die Thordis ein. Irina Jae Eun Park ist die nur für kurze Zeit glücklichere Nebenbuhlerin Swanhilde, für die sie einen schönen lyrischen, leicht melancholisch angehauchten Sopran aufzuweisen hat, Joshua Kohl ist der heiß umworbene Eiolf, der sich in den Duetten mit seinen beiden Damen mit schwärmerischem Tenor-Wohllaut zu behaupten weiß. Die fast ausschließlich ihren Rachegelüsten, weniger der Liebe lebende Hulda wird schattierungsreich auch die Sehnsucht nach Liebe hörbar machend von Meagan Miller gesungen, warm und geschmeidig, eindrucksvoll das Rache-Septett anführend, auch in der großen Schlussszene dem Schöngesang verpflichtet bleibend und nachvollziehbar machend, dass sie auch die Isolde singt (2 CD Naxos 8.660480-82). Ingrid Wanja    

Erstfassung

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Für Polen mag es ein denkwürdiges Ereignis sein, die ursprüngliche, die Vilnius-Fassung von Moniuszkos Meisterwerk Halka aus dem Jahre 1848, der konkurrenzlosen polnischen Nationaloper, zu erleben, der Mittel- oder West-, gar Südeuropäer dürfte recht unbeeindruckt davon bleiben. Zwar gab es nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu eine Schwemme von Halka-Aufführungen in den „sozialistischen Bruderländern“, begünstigt auch durch die sozialkritische Handlung, inzwischen ist Halka zwischen Frankfurt Oder und Lissabon eine eher selten anzutreffende Oper. Wer aber die gängige spätere Warschauer Fassung von 1858 kennt, dem wird auffallen, wie viel kürzer (allein anstelle der vier nur zwei Akte), straffer und die Handlung konsequent vorantreibender die Urfassung ist, dass Folkloristisches, gar Tänze der Landbevölkerung, oder die Bravourarie des Tenors und sonstige lyrische Momente fehlen, und der Verfasser des sehr informationsreichen Booklets meint, es würden einfach alle den Polen so teuren Hits aus dem Werk nicht anzutreffen sein. Diese trugen natürlich dazu bei, dass die traurige Geschichte vom verführten Bauernmädchen, das von seinem adligen Liebhaber verlassen wird und den Tod in den Fluten sucht, nachdem sein Kind bereits verhungert ist, an tragischer Konsequenz durch visuelle und akustische Opulenz etwas verlor, während die stringente Urfassung im Revolutionsjahr  1848 von besonderer Brisanz war, das Stück auch nur in privatem Kreis im Hause Müller, der Schwiegereltern des Komponisten, konzertant aufgeführt werden konnte. Erst 1854 fand die erste szenische Aufführung der zweiaktigen Fassung im Wilnaer Theater statt. Dem polnischen Publikum, das seine opulente Warschauer Fassung liebt, wird man die karge Vilnius Version kaum schmackhaft machen können, aber der unvoreingenommene Neuhörer könnte durchaus Geschmack finden an der ohne Schnörkel und musikalischen Putz auskommenden tragischen Geschichte in ihr angemessener Vertonung, dazu noch mit einem vorzüglichen Orchester, der Capella Cracoviensis unter Jan Tomasz  Adamus, auf historischen Instrumenten.

Diese beginnen rasant und feurig, unterstreichen den harten, frischen Charakter der Urfassung voll musikalischen Elans und finden zu fast kammermusikalischem Klang in der Begleitung der Solisten. Ein Glücksfall ist auch die Halka von Natalia Rubiś, die einen klaren, reinen Sopran mit feinem Vibrato für die Titelpartie einsetzen kann. Der Sopran zeigt manchmal Anklänge an eine Naturstimme, klingt im 2. Akt wie entrückt und voller Melancholie, ehe in der Schlussszene Schärfe als Gestaltungsmittel eingesetzt , Wahnsinn hörbar gemacht wird. Auch der zweite Sopran, Michalina Bienkiewicz, mit dem sich die standesgemäße Braut des ungetreuen Liebhabers, Zofia, zu Wort meldet, besticht durch filigrane Zartheit, feine Koloraturen und Wärme. Recht dumpf und verhangen und im Duett weniger präsent als der Sopran zeigt sich der Bariton von Sebastian Szumski, der den Adelsspross Janusz singt. Den treuen Jontek, der Halka nicht vom Selbstmord zurückhalten kann, gibt Przemyslaw Borys mit dunkel getöntem, recht metallisch klingendem Tenor. Angemessen füllen die beiden Bässe PrzemysƗaw Józef BaƗka und Marek Opaska die Väterrollen aus. Der Chor weiß Mitleid und erzwungenen Jubel gleich ausdrucksstark zu Gehör zu bringen. Zum Nachdenken regt die Frage an, warum Halka, die nicht wie ledige Mütter der damaligen Zeit aus der Gesellschaft verstoßen, sondern von ihr bemitleidet wird, keinen Ausweg als den des Freitods sieht. Da dürfte eine der vermuteten Quellen für das Libretto, in dem Halka von Visionen heimgesucht wird, von vornherein als gefährdet erscheint, sich manifestieren (2CD DHM 19439900842). Ingrid Wanja   

 

      

Barockes aus Paris

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Zwei französische Barockopern, beide aufgenommen in der Pariser Opéra Comique, bringt NAXOS auf DVD heraus. In beiden Live-Aufführungen musiziert das renommierte Ensemble Les Arts Florissants unter Leitung von William Christie. Erstere Produktion – Jean-Baptiste Lullys fünfaktiger Atys – stammt bereits aus dem Jahre 2011 und markiert die Wiederaufnahme der Kreation von 1987 (2.110694-95, 2 DVDs).

Das Libretto von Philippe Quinault führt nach Phrygien in mythischer Zeit. Atys, Günstling des Königs Célénus, wird von dessen Verlobter Sangaride geliebt. Auch die Göttin Cybèle begehrt und ernennt ihn zum Oberpriester. Als sie von seiner Verbindung mit Sangaride erfährt, verwirrt sie ihm die Sinne, so dass er Sangaride für ein Monster hält und sie ersticht. Als er seinen Irrtum bemerkt, tötet er sich selbst.

Regisseur Jean-Marie Villégier hat die Tragédie en musique als barockes Spektakel inszeniert. Françine Lancelot und Béatrice Massin steuerten die Choreografie im höfischen Stil bei, welche die Compagnie Fêtes Galantes mit stilistischer Sachkenntnis umsetzt. Alles wird geadelt von der opulenten Ausstattung – Jean-Marie Villégiers Bühne mit ihren Prospektmalereien und prunkvollen Interieurs sowie Patrice Cauchetiers historischen Kostümen mit ihren kostbaren Stoffen und Dekors.

William Christie breitet mit dem Orchester die Ouverture in ihrem gravitätischen Duktus in aller Pracht aus, später differenziert er angemessen zwischen rhythmischer Verve, majestätischem Pomp und getragenen Passagen. Der Tenor Bernard Richter ist als Titelheld ein barocker Beau. Und schon in seinem Auftritt,  „Allons, allons“, lässt er eine wohllautende Stimme und idiomatische Diktion hören. Im 3. Akt hat er einige Soli („Nous pouvons nous flatter“), in denen er mit besonders schmeichelnden Tönen aufwartet. Die Sopranistin Emmanuelle de Negri verleiht der Sangardide stimmlichen und optischen Liebreiz. Mit „Venez tous dans mon Temple“ hat Stéphanie d’Oustrac am Ende des 1. Aktes einen autoritären Auftritt als Göttin Cybèle in schwarzer Robe und silbernem Strahlenkranz als Kopfputz. Der Mezzo der Sängerin tönt streng und herrscherlich, bewegt sich aber kompetent in barocken Bahnen. Nach Atys’ Selbstmord hat sie eine tragische Schluss-Szene („Venez, furieux Corybantes“) im deklamatorischen Stil, in der sie Atys in einen heiligen, immergrünen Pinienzweig verwandelt. Eine ausgedehnte Szene im 3. Akt hat der im barocken Repertoire erfahrene Tenor Paul Agnew als Dieu de Sommeil. Von Musikanten auf der Bühne begleitet, singt er sein „Dormons, dormons tous“ mit schwebenden Tönen und zärtlicher Empfindung. Der Solotänzer Gil Isoart von der Opéra national de Paris krönt die Szene mit seinem aristokratischen Tanz. Auch das Finale, die Première entrée des Corybantes, wird neben dem Chor dominiert von den Tänzern zu stürmischen Klängen der Musik.

Die zweite Veröffentlichung – von Jean-Joseph Cassanéa de Mondonville – entstand im Januar 2021 während der Pandemie in der Pariser Opéra Comique und wurde daher ohne Zuschauer gefilmt (2.110693). Diese Pastorale héroïque ist eine veritable Rarität auf dem Plattenmarkt. Basil Twist hat sie inszeniert und ausgestattet, darüber hinaus noch die Puppen gestaltet. Nach der opulenten Pracht des Atys nimmt sich das Bühnenbild hier aus wie aus dem Legobaustein-Setzkasten, garniert mit kunstgewerblichen Schleiern vom Schnürboden. Die Kostüme aber sind im historischen Stil, üppig verziert und aus glänzenden Stoffen.

Gezeigt wird die stürmische und unzerbrechliche Liaison zwischen der Göttin Aurora und ihrem Geliebten, dem Schäfer Titon. Eifersüchtige Götter und Göttinnen versuchen mit mörderischen Absichten und dramatischer Entführung die Verbindung zu stören – doch die wahre Liebe siegt. Traditionell beginnt die Aufführung mit einem Prologue, in welchem Prométhéé (der Bassbariton Renato Dolcini) mittels des Feuers leblose Statuen zum Leben erweckt. Er singt das AirEsprits soumis à mon empire“ mit vehementem Nachdruck und das Orchester untermalt den Vorgang mit dem wilden Air pour les Esprits du feu. Amour, personifiziert durch Julie Roset, die wie ein Octavian erscheint, gratuliert ihm zu seiner Tat. Ihr Sopran klingt im Ton etwas steif, die Ariette „Jeunes mortels“ jedoch munter.

Zu Beginn des 1. Aktes treten die beiden Titelrollenträger auf. Der Tenor Reinoud van Mechelen als Titon stellt sich mit dem Air „Que l’Aurore tarde à paraître“ vor, lässt neben lyrischem Wohllaut auch angespannte Töne hören. Die Sopranistin Gwendoline Blondeel als Aurore im golden glitzernden Kleid beginnt mit dem Air „Je n’aime, je ne vois“, in welchem sie auch keifenden Klang nicht scheut. Lieblicher ertönt ihre Ariette „Venez sous ce riant feuillage“. Putzig illustrieren kleine Wollschäfchen den Hymnus des Chores „Célébrons l’Amour et l’Aurore“. Von stampfender, lustvoller Freude erfüllt ist die Contredanse, die den Auftritt von Éole, dem Gott der Winde, der Aurore begehrt, einleitet. Der Bassbariton Marc Mauillon in einem spektakulären Gewand aus wehenden Flügeln singt ihn mit rabiater Tongebung und vehementem Einsatz. Furios ist sein rasendes Air mit Chor im 2. Akt („Vents furieux“), dem das Orchester das tobende Air pour les vents nachschickt. Palès, die Göttin der Hirten, erscheint mit einem Widdergespann wie Fricka und verweigert Éole ihre Mithilfe, seinen Rivalen Titon zu töten, will ihn aus Eigennutz stattdessen entführen. Mit Emmanuelle de Negri begegnet man der Sangaride aus dem Atys wieder, stimmlich nun strenger und deutlich gereift. In ihrem Air des 2. Aktes, „Berger, je connais vos malheurs“, kann sie aber noch immer mit zarten Klängen aufwarten. Schließlich verfällt sie wieder in rasende Wut, wenn Titon ihre Liebe zurückweist. Das Air „Tu vas sentir les effets de ma rage!“ ist ein großer tragischer Auftritt. Naiven Märchenzauber bietet optisch die Szene von Palès’ drei Nymphen (die Sopranistinnen Virginie Thomas, Maud Gnidzaz und Juliette Perret mit munterem Gesang), welche das Orchester mit graziösen Klängen ausmalt. Und zur Contredanse schweben und wirbeln die Schafe sogar in der Luft. Am Ende jubilieren Titan und Aurore in ihrem Duo „De deux parfaits amants“ über den glücklichen Ausgang. Und der Chor stimmt machtvoll ein mit „Chantons la gloire“.

Christie gelingt musikalisch ein wahres Fest für die Sinne. Der Dirigent kehrte nach sechsjähriger Abwesenheit an das Pariser Opernhaus zurück und bietet mit seinem Ensemble eine vitale Interpretation voller Energie und Esprit. So unterschiedlich die beiden Ausgaben sein mögen – William Christie ist in beiden der wahre maître. Bernd Hoppe

Havergal Brian: „Faust“

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Die Gretchenfrage für einen Komponisten, zumindest im 19. und frühen 20. Jahrhundert, könnte lauten: Wie hältst du’s denn mit Faust? Gemeint ist natürlich Goethes Tragödie, und vor allem deren 1808 in heutiger Form erschienener erster Teil. Vertonungen gibt es bereits seit Ignaz Walters Oper Doktor Faustus Anno 1797, noch auf dem 1790 veröffentlichten Faust-Fragment basierend. Die heute bekanntesten musikalischen Abhandlungen des Goethe’schen Faust-Stoffes sind gewiss die „dramatische Legende“ La Damnation de Faust von Hector Berlioz (1846), die Szenen aus Goethes Faust von Robert Schumann (1853), die Faust-Symphonie von Franz Liszt sowie die Opern Faust (1859; in Deutschland lange Margarete genannt) von Charles Gounod und Mefistofele von Arrigo Boito (1868). Hinzu treten u. a. Wagners selten aufgeführte Faust-Ouvertüre (1840) und Mahlers kantatenartige Sinfonie Nr. 8 (1910), die sogenannte Sinfonie der Tausend, deren zweiter Teil die Schlussszene von Faust II vertont. Und manche weitere Komponisten (wie Ludwig Spohr 1813/1852) mehr. Erstaunlich erscheint, dass eine genuine deutsche Oper, auf diesem Stoff basierend, fehlt (Faust von Spohr, uraufgeführt 1816, beruht auf Vorlagen von Friedrich Maximilian von Klinger und Heinrich von Kleist). Die bekanntesten Bühnenadaptionen kommen von „Ausländern“. In diesem Zusammenhang sollte es einen also gar nicht so wundernehmen, dass sich auch ein Engländer an den bedeutungsschweren Stoff herangewagt hat.

Havergal Brian (1876-1972) war ein reichlich kurioser Zeitgenosse und wurde die meiste Zeit seines langen Lebens nicht seinem Genie entsprechend gewürdigt. In Dresden (sic), einem Vorort des englischen Longton in Staffordshire geboren, erregte besonders seine gewaltige erste Sinfonie The Gothic, 1927 vollendet, Aufsehen, erfuhr aber bezeichnenderweise ihre eigentliche Uraufführung erst 1961. Es folgten nicht weniger als 31 weitere Sinfonien, aber Brian tummelte sich in praktisch jedem musikalischen Genre. Die meisten seiner fünf Opern entstanden in den 1950er Jahren, darunter auch Faust (1955/56), um den es hier gehen soll. Der damals bereits achtzigjährige Komponist bezeichnete das Werk als A Tragedy in a Prologue and Four Acts. Entsprechend ambitioniert ist es angelegt. Interessanterweise wird auf Deutsch gesungen und bedient sich Brian der Worte Goethes. Das auf solch exklusives Repertoire spezialisierte britische Label Dutton bringt nun in Zusammenarbeit mit der Havergal Brian Society die Weltersteinspielung auf den Markt.

Essentiell ist bei einer solchen Wiederentdeckung das Beiheft, welches labeltypisch exzellent ausfällt. In einer informativen Einführung beschreibt John Pickard die Hintergründe (bedauerlicherweise ohne deutsche Übersetzung). So zitiert er gleich eingangs Havergal Brian, der sich bei seiner Oper vom „Mischmasch“ von Gounod und Berlioz distanziert und betont, dass seine Goethe-Vertonung auch den Prolog im Himmel sowie den Dialog zwischen Schüler und Mephistopheles beinhalte. Überhaupt fällt die Komposition in die Phase des späten „Indian Summer“ Brians, der zwischen 1950 und 1957 vier seiner fünf Opern schrieb. 1954 wurde er auf Betreiben des Dirigenten Sir Adrian Boult endlich von der BBC gewürdigt, die eine Aufführung der achten Sinfonie im Rundfunk übertrug. Boult war es dann auch, der 1966 in Kooperation mit der BBC die professionelle Erstaufführung der Gotischen Sinfonie auf die Beine stellte (erschienen beim Label Testament). Brians gut zweistündige Faust-Oper kehrt zum menschlichen Drama der Originalvorlage von Goethe zurück und befleißigt sich einer Wiedergabetreue und Genauigkeit, die sämtliche anderen Vertonungen weit hinter sich lässt (welche freilich gar nicht erst diesen fast pedantischen Anspruch erhoben haben). Der Respekt des Komponisten vor dem Dichterfürsten geht soweit, dass der Text unverfälscht daherkommt. Gewiss gibt es unvermeidliche Kürzungen, jedoch keine eigenen Hinzufügungen. Was fehlt, sind Auerbachs Keller und die Walpurgisnacht, doch wird der von Brian gewollte Fokus auf die drei Hauptcharaktere Faust, Gretchen und Mephisto dadurch noch verstärkt. Faust und Gretchen erscheinen gleichsam als Kollateralschaden in einem Spiel unsichtbarer Mächte. Der so essentielle himmlische Prolog (17 Minuten), der die eigentlichen Handlungstreiber entlarvt, erhält beinahe die Dimensionen eines eigenen Aktes. Im ersten eigentlichen Aufzug (35 Minuten) geht es um die Beziehung Faustens zu Mephisto, im zweiten Akt (28 Minuten) sodann um Faust und Gretchen und den Verlust von deren Unschuld. Der dritte Aufzug (25 Minuten) setzt sich mit Gretchens Verderben auseinander, der vierte Akt (27 Minuten) behandelt schließlich ihre drohende Hinrichtung, Fausts Versuch, sie zu retten, Mephistos versuchte Vereitelung dessen und die unverhoffte plötzliche Deus ex machina-Erlösung Gretchens. Der hohe intellektuelle Anspruch, den der Autodidakt Brian an seine Oper stellt, wird auch durch die Inklusion der auf den ersten Blick aus dem Rahmen fallenden Szene zwischen Mephistopheles und dem Schüler deutlich, deren komischer Beigeschmack dem Komponisten wichtig war. Indem er die Hexenküche samt der Verabreichung des Zaubertrankes streicht, erhöht Brian auf der anderen Seite die moralische Verantwortung Dr. Faustens an Gretchens Schicksal.

Zur Hebung der Textverständlichkeit bedient sich Brian insgesamt einer recht deklamatorischen Gesangsführung. Sein Faust ist ein Musikdrama im wagnerischen Sinne, trotz des Fehlens eigentlicher Leitmotive, und insgesamt sinfonisch konnotiert. Die Dominanz der drei genannten Hauptfiguren sollte indes nicht verbergen, dass es nicht weniger als ein Dutzend Rollen im Werk gibt, nämlich den Herrgott, den Bösen Geist, den Erdgeist, die drei Erzengel Raphael, Gabriel und Michael, den schon genannten Schüler, Valentin sowie Marthe. Die gesanglichen Anforderungen gerade der Hauptcharaktere sind hoch, fordert Brian doch einen dramatischen Tenor für die Titelfigur und einen ebenso dramatischen Sopran für Gretchen. An Komplexität übertrifft diese allerdings noch Mephisto, der die volle Bandbreite vom aalglatten Charmeur bis zum teuflischen Ränkeschmied abdecken muss. Der Chor schließlich tritt einzig im dritten Akt, dafür aber ganz markerschütternd in Erscheinung, zunächst als Zeugen der Ermordung Valentins durch Faust und sodann in der Dom-Szene mit dem Dies irae bei der Heimsuchung Gretchens durch den Bösen Geist, unterstützt von der Orgel (Organist: Iain Farrington).

Die künstlerische Qualität dieser nunmehrigen Weltpremiere ist hoch zu würdigen und stellt eine überzeugende Wiedergabe des Brian’schen Opus dar. Der Tenor Peter Hoare in der Titelrolle gibt einen sehr jugendlich-stürmischen, geradezu heldischen, vielleicht etwas einfältigen Faust. Rein stimmlich ist er den erheblichen Anforderungen der Partei sehr wohl gewachsen. Darüber verschmerzt man auch den hie und da durchklingenden dezenten Akzent. Die Sopranistin Allison Cook ist mehr Margarete als Gretchen, stimmlich sehr reif, aber eben auch mit der erforderlichen Dramatik ausgestattet, bald himmelhoch jauchzend, bald zu Tode betrübt. David Soar, Bassbariton, drückt dem Erzbösewicht Mephistopheles nachhaltig seinen Stempel auf, verfällt dabei nicht in die Gefahr der Einseitigkeit und vermittelt alle Facetten dieses gewiss vielseitigsten Charakters. Der Mezzosopran von Katie Coventry in der Hosenrolle des Schülers interagiert mit ihm hervorragend. Auch die restliche Besetzung ist mehr als gediegen und unterstreicht den sehr guten Eindruck. Die drei Erzengel, besetzt mit den Tenören William Morgan (Raphael) und Elgan Llyr Thomas (Michael) sowie dem Bassisten Robert Hayward (Gabriel), absolvieren ihren kurzen Auftritt zu Beginn rollendeckend. Der Bassist Simon Bailey übernimmt nicht nur den Herrn im Prolog, sondern tritt später auch als Böser Geist in Erscheinung und ist dabei in der Lage, die Unterschiede herauszuarbeiten. Als imposanter Erdgeist tritt mit David Ireland ein weiterer Bass hinzu. Eine profunde Charakterstudie liefert vor allem der Bariton Nicholas Lester als nicht eben zimperlicher oder feinfühliger Soldat Valentin, Gretchens Bruder, im effektvollen dritten Aufzug. In der kleinen Rolle der Marthe schließlich Clare Presland mit adäquatem Mezzo. Ganz am Schluss in der Minirolle als Stimme von oben die Sopranistin Claire Mitcher. Überhaupt ist das Deutsch der Beteiligten, auch des Chores – der zudem auf Latein agiert –, zu würdigen. Es zeichnet verantwortlich der Chorus of English National Opera (Chorleiter: James Henshaw) sowie das Orchestra of English National Opera unter der mitreißenden Leitung des in Kennerkreisen zurecht hochgeschätzten Martyn Brabbins.

Das Orchester ist von zentraler Bedeutung, somit ganz in der Wagner-Nachfolge stehend. Hie und da ist eine gewisse Nähe zum von Brian geschätzten Mathis der Maler von Paul Hindemith nicht ganz abzustreiten, wie Pickard herausarbeitet, auch wenn Brians Musik ihre unverkennbaren Eigenheiten behält. Der Ritt Faustens und Mephistos auf den schwarzen Zauberpferden gerät zu einem orchestralen Höhepunkt im gesamten Schaffen Havergal Brians, der seinen Faust zudem für sein bestes Werk überhaupt hielt, auch wenn er seine Uraufführung nicht mehr erleben durfte. Klanglich darf die Dutton-Produktion zudem als Offenbarung gelten (Aufnahme: Abbey Road Studio I, London, August 2019; die Orgel und die Windmaschine wurden im April 2021 in St George’s Headstone, Harrow, aufgenommen). Bereits die reine CD-Spur stellt vollauf zufrieden. Zudem handelt es sich um eine hybride SACD, die neben der Stereo-Tonspur auch im Mehrkanal-Verfahren abgespielt werden kann.

Das komplette Libretto im deutschen Original und nebst englischer Übersetzung sowie Kurzbiographien aller beteiligten Solisten und des Dirigenten, alles auf wertigem Papier gedruckt, runden diesen neuen Gipfel in der an Höhepunkten reichen Diskographie von Dutton Epoch ab. Eine nachhaltige Empfehlung ist unabdingbar (Dutton Epoch 2CDLX 7385). Daniel Hauser

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Spätromantisches

 

Die britische Sopranistin Lucy Crowe ist vor allem auf dem Gebiet der Alten Musik eine international renommierte Interpretin. Jetzt legt sie beim Label LINN mit ihrer langjährigen Klavierpartnerin Anna Tilbrook beider erstes Solorecital vor (CKD 656). Es trägt den Titel Longing und präsentiert Lieder von Strauss, Berg und Schoenberg. Kompositionen von Strauss bilden den Schwerpunkt der Anthologie. Aus seinen Acht Gedichten aus Letzte Blätter sind fünf Titel zu hören, darunter so bekannte wie „Zueignung“, „Die Nacht“ und „Allerseelen“. Lucy Crowe führt ihre helle, klare Stimme sehr instrumental, was zu einer gewissen Einfarbigkeit führt. Doch der Klang ist stets gerundet und angenehm, auch in der exponierten Höhe leuchtend und nie grell.

Es folgen Sieben frühe Lieder von Alban Berg. Hier findet die  Interpretin zu flirrenden Tönen und träumerischem Ausdruck. Danach noch einmal Strauss mit vier Liedern unterschiedlicher Opus-Zahlen. Die bekanntesten sind „Ständchen“ op. 17, Nr. 2 und  „Morgen“ op. 27, Nr. 4. Hier kann sich auch die Pianistin mit feinsinnigem Spiel bewähren und Crowe mit schwebendem Klang betören. Weniger populär sind „Ich schwebe“ op. 48, Nr. 2 und „Nachtgang“ op. 29, Nr. 3. Hier wartet die Sopranistin mit besonders delikaten Nuancen auf.

Selten zu hören sind die Vier Lieder op. 2 von Schönberg, der Gedichte von Richard Dehmel und Johannes Schlaf vertonte. Sie wurden nicht als Zyklus uraufgeführt, sondern zwischen 1904 und 1910 in einzelnen Abteilungen. Zwischen sprödem Duktus und aufrauschendem Melos sind sie für die Sängerin eine große Herausforderung, welche sie beachtlich meistert.

Am Schluss kehrt die Sopranistin nochmals zu Strauss zurück und widmet sich seinen bekannten Vier letzten Liedern, womit sie sich einer großen Herausforderung stellt, sind diese doch auf dem Markt in unzähligen und singulären Interpretationen vertreten. Im „Frühling“ lässt sie gleißende, im „September“ melancholisch verschattete Töne hören. Von Schwermut erfüllt ist auch „Beim Schlafengehen“, wobei ihr die Melismen bei „Und die Seele unbewacht“ wunderbar gelingen. Das finale „Im Abendrot“ ist ein berührender Abgesang, mit dem Lucy Crowe ihre kompetente Interpretation bestätigt. Bernd Hoppe