Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Antonio Smareglias „Vassallo di Szigeth“

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Seit Jahren interessieren wir uns bei operalounge.de für jene Komponisten im Spannungsfeld nationaler und politischer Veränderungen, namentlich des ehemaligen k. u. k. österreichisch-italienischen Staatenverbundes und folgenden Ostblocks, auf der Suche nach einer nationalen und musikalischen Identität. Oper ist ja immer auch ein Indikator eben solcher Veränderungen, immer auch ein Bestandteil eines sozialen Umfeldes. Meist mit einiger Verspätung und nachhinkend den politischen Umwälzungen hinterher, aber fast immer auch ein Anzeiger des Errungenen, Eigenen und auch Kommenden. Denn Musik wie Literatur existiert nicht im leeren Raum sondern ist Teil eines sich verändernden Ganzen.

Der Komponist Antonio Smareglia/ Wiki

Fans des Verismo abseits von Catalani, Cilea, Mascagni und in Maßen auch Puccini werden aufgehorcht haben, als erst in den Medien und dann bei youtube eine welterste (!!!) Aufnahme von Antonio Smareglias Oper Il vassallo di Szigeth auftauchte. Die tüchtige Sopranistin Denia Mazzola-Gavazzeni, Witwe und Schützling des Verstorbenen, hat sich ja in der Vergangenheit immer wieder der vergessenen Werke dieser Epoche angenommen, vor allem solche, wofür die Beschaffenheit ihrer Stimme ihr die richte erscheint.

Nun also der Vasallo di Szigeth von Antonio Smareglia, der vor kurzen dann auch bei der italienischen CD-Firma Bongiovanni herauskam, in nämlicher Besetzung wie das gefilmte Konzert bei youtube, bizarrerweise auf der CD ohne Ouvertüre, die man aber bei youtube nachhören kann (und zudem gibt es bei Bongiovanni eine sehr schöne Sammlung von Ouvertüren und Zwischenspielen aus Smareglias Opern unter Silvano Frontalini/ GB2142). Und über Smareglia haben wir ja bei operalounge.de reichlich berichtet, so über seine Falena und die Nozze istriana.

Auf youtube kann man Madame Mazzola-Gavazzeni und Kollegen live im Konzert erleben, wo sie betörend aussieht. Wenn sie nur so sänge. Damiano Cerutti leitet das Orchestra Filarmonica Italiana mit großem Schwung und einer geeigneten Hand, auch den schlagkräftigen Coro Ab Harmonico. Neben der couragiosen, gewöhnungsbedürftigen Sopranstimme der Diva als Nala singen sehr (!) unterschiedlich erfolgreich Giuseppe Veneziano/Andor, Fulvio Ottelli/Milos, Giorgio Valerio/Rolf/Konrad sowie Syuzanna Hakobyan als Canonichessa. Ut desint vires, tamen est ... pflegte mein Geschichtslehrer zu sagen. Harte Arbeit, aber dennoch ist es lohnend, das Werk selbst endlich zu kennen.

Substanziell zum Erscheinen der Oper haben sowohl Frau Mazzola wie auch der Musikwissenschaftler Paolo Petronio beigetragen  (letzterer hat die Edition erstellt und ist operalounnge.de-Lesern kein Unbekannter, haben wir ihn reichlich für den Viktor-Parma-Artikel über dessen Oper Zlatorog bei uns zitiert): wunderbares Sponsorentum also. Denn diese Oper ist seit Menschengedenken nicht auf den Theatern gesehen worden und ist eine der heißersehnten und absolut unbekannten im spannenden Kanon der sonst zumindest dokumentierten Opern Smareglias (so haben Sammler die Mitschnitte vom Abisso/ Triest 1979, La falena/ Braunschweig 2016 und Triest 1976 sowie die diskutable Aufnahme bei Bongiovanni 2019, die Nozze istriana/ Triest 1972 und 1999 sowie RAI 1961, Oceana/Zagreb 2003 und schließlich I pittori fiamminghi/ Triest 1991).

Antonio Smareglia: Paolo Petronio, der Autor unseres Artikels, hat das ultimative Buch über den Komponisten geschrieben

Sehr wenige Theater außerhalb Triests und weniger Städte an der istrischen Adria-Küste haben in der Vergangenheit Antonio Smareglias Opern aufgeführt (Braunschweig 2016 mit der Falena eine rühmliche Ausnahme), die jedoch für Aufmerksamkeit in Prag oder Wien gesorgt hatten. Im heute kroatischen, ehemals italienischen Pula am 5. Mai 1854 und im selben Jahr wie Catalani geboren, begann Antonio  Smareglia sehr früh  mit seiner musikalischen Ausbildung, zuerst in Wien als kulturellem Zentrum  Mitteleuropas jener Zeit (er war als Sohn einer kroatischen Mutter und eines österreichischen Vaters deutschsprachig aufgewachsen), später in Mailand, wo er die Freundschaften von wichtigen Persönlichkeiten des Musiklebens wie Arrigo Boito und Luigi lllica gewann. Ausgebildet wurde er bei dem Komponisten und Lehrer Antonio Faccio (dessen von Antonio Barrese wiederaufgefundener Amleto vor kurzem in der Musikwelt für Aufsehen). In jenen Jahren florierte besonders in Mailand die nonkonformistische  Kulturbewegung der scapigliatura,  deren antiromantische, antirhetorische Ideale auch auf Smaraglia abfärbten.

Der Komponist Smareglia und seine Librettisten: Luigi Illica, Antonio Smareglia & Francesco Pozza/ OBA

Diese „Junge Schule“ der Tempelstürmer wurde im musikalischen Bereich von der ebenfalls jungen Musikfirma Sanzogno gefördert, die es wagte, sich neben dem übermächtigen Musikverlag Ricordi zu etablieren, der auch den Verlag der Witwe Lucca (wo Catalani verlegt wurde) „schluckte“ – durchaus einer der Gründe, warum Smareglia in der späteren Folge kaum aufgeführt wurde. Ricordi war übermächtig.

In jenen Jahren war der Austro-Kroatische Konflikt mit Italien evident, und Smareglia erlebte in Mailand die Fremdheit einer Welt, mit der er sich weniger identifizieren konnte als in Wien. Vielleicht auch um diesem Konflikt zu entgehen, verließ er das dortige Konservatorium 1877 und vervollständigte sein Studium selbst – später äußerte er sich enttäuscht und desillusioniert über seine mangelnde Zugehörigkeit zu keiner der beiden Kulturen. Dennoch war Mailand der Aufführungsort seiner ersten Werke: Preziosa 1879 und Bianca da Cervia bereits an der Scala 1882, letztere deutlich in Anlehnung an das Modell der Grand Opéra, aber auch bereits Trägerin seiner Vorstellungen von Harmonik und Instrumentation.

Bei seinem zweiten Wien-Aufenthalt von 1888 bis 1894 experimentierte Smareglia mit neuen Ausdrucksformen und betonte damit einmal mehr seine Distanz zu den gängigen Opern der Jahrhundertwende in der Folge Verdis. Dabei zog er überzeugend die Aufmerksamkeit eines so eminenten Kritikers wie Eduard Hanslick und Komponisten wie Johannes Brahms auf sich. In diese Phase gehören seine Opern II vassallo di Szigeth in Wien 1889 (in der Übersetzung von Max Kahlbeck, einem renommierten Schriftsteller und Übersetzer, der Hunderte von fremdsprachigen Opern für die Wiener Bühne einrichtete) und Cornill Schutt 1893 in Dresden, dann in Prag (ab 1928 als Pittori fiamminghi vielfach in Italien aufgeführt (ein Hosentaschen-Mitschnitt von  1991 aus Triest liegt vor). Beide Opern wurden in deutscher Kahlbeck-Übersetzung der Libretti von lllica gegeben (Bote & Bock).

Antonio Smareglia: Deckblatt des Klavierauszuges zum „Vasall von Szigeth“/ Paolo Petronio

Der kroatisch-italienische Musikwissenschaftler und Journalist Paolo Petronio hat nicht nur das ultimative Buch über Smareglia und sein Schaffen geschrieben, sondern auch den Artikel im Booklet der Bongiovanni-CD-Ausgabe (GB 269495/2 gut ausgestattet mit zweisprachigem Libretto) den wir nachstehend und mit Dank in unserer eigenen Übersetzung von Daniel Hauser bringen und der uns in die Welt Smareglias und seiner Oper Il vassallo di Szigeth einführt. Dank an beide. G. H.

 

 Und nun Paolo Petronio: Il vassallo di Szigeth (Der Vasall von Szigeth). Der Wendepunkt für Antonio Smareglia. Nach seinem glänzend erfolgreichen Studium am Mailänder Konservatorium und dem Interesse der Verlegerin Giovannina Lucca an ihm komponierte Antonio Smareglia Preziosa und Bianca da Cervia. Diese beiden Opern fanden großen Anklang und ähneln in gewisser Hinsicht den frühen Werken seines Zeitgenossen Alfredo Catalani – tatsächlich suchten beide Komponisten einen neuen Stil in der Oper. Als sich Smareglia jedoch mit dem mächtigen Verleger Ricordi stritt, bewegte ihn das völlige Fiasko seiner dritten Oper Re Nala dazu, deren Partitur zu vernichten und so der Vergessenheit zu überlassen. Nach Rückkehr in seine Heimatstadt Pola, seinerzeit Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie, wurde Smareglia von dem damals angehenden Librettisten Luigi Illica und später von Giovanni Pozza kontaktiert und begann mit der Arbeit an Il vassallo di Szigeth, einer neuen Oper, die auf das Interesse des Erzherzogs Karl Stephan von Österreich mit Sitz in Pola stieß. Karl Stephan selbst dirigierte sie an der Wiener Oper – der damaligen Hofoper und heutigen Staatsoper – anlässlich der Eröffnung der Spielzeit am 4. Oktober 1889, dem Namenstag von Kaiser Franz Joseph, der der Aufführung beiwohnte und so begeistert war wie der Rest des Publikums.

Antonio Smareglia: Der Übersetzer der Oper Max Kahlbeck/ Wikipedia

Smareglia scheint etliches aus Re Nala wiederverwendet und viel neue Musik für sein Brahms-ähnliches Werk geschrieben zu haben (trotz Smareglias oft erklärter Bewunderung für Wagner), das selbst Johannes Brahms begeistert lobte. Und die überaus positive Reaktion des mächtigen Kritikers Eduard Hanslick, dessen Abneigung gegenüber einer Oper deren Chancen an jedem Ort zerstörte und der wie Brahms erbittert gegen Wagner eingestellt war, beweist, dass Smareglias Oper alles andere als wagnerisch war. Die Wiener Hofoper brachte ihre Inszenierung von Il vassallo di Szigeth auf Tournee nach New York, machte sie zur berühmtesten Oper des Repertoires und ermöglichte es Smareglia, an ihren Erfolg von 1893 mit Cornill Schutt anzuknüpfen. Abermals mit einem Libretto von Illica und weiteren Überarbeitungen der Musik von Re Nala, war diese dezidiert mitteleuropäisch inspirierte neue Oper ein Triumph in Dresden und Prag und machte Smareglia zu einem der vielversprechendsten Komponisten dieser Epoche – sie wurde 1927 mit dem neuen Titel Pittori fiamminghi überarbeitet. Dieser Erfolg zerbrach jedoch, als Smareglias Bewunderung für Wagner ihn dazu veranlasste, den antisemitischen Artikel des Komponisten Das Judenthum in der Musik zu loben, was ihm den Widerstand der Wiener jüdischen Kreise und auch des neuen Direktors der Wiener Hofoper, Gustav Mahler, einbrachte. Mahlers Vorgänger Richter war im Streit mit dem Chef des Opernhauses Jahn gefeuert worden, und Smareglia hatte sich unklug in die Affäre hineinziehen lassen und sich auf die Seite von Richter gestellt. Dies kostete ihn dort jede Unterstützung, die er später hätte genießen können.

Antonio Smareglia: die tüchtige Sopranistin Denia Mazzola arbeitet sich als Nala durch die Oper „Il vasallo di Szigeth“/ youtube

Wieder zurück in Pula, wurde der enttäuschte und ausgegrenzte Smareglia erneut von Luigi Illica aufgesucht, mit einem Vorschlag für das Libretto von Nozze istriane. In Triest ein Hit, ist dies bis heute die berühmteste Oper des Komponisten, wenn auch nicht seine beste, was auch Smareglias eigener Meinung entsprach. Der nun entschieden postwagnerische Komponist wurde dann von Silvio Benco kontaktiert, einem jungen aufstrebenden Dichter und begeisterten Wagner-Verehrer, der die italienische giovane scuola (junge Schule) des späten 19. Jahrhunderts für eine dekadente und falsche Richtung erachtete und glaubte, dass die italienische Musik nur im Namen Wagners zu ihrer Größe zurückgeführt werden konnte, was daher die Smareglia zugedachte Rolle sei. Dies führte zur Komposition von drei mächtigen nachwagnerischen Opern – La falena, Oceàna und Abisso – von denen insbesondere die ersten beiden bewiesen, dass Smareglia zu Meisterwerken imstande war. Aber einmal mehr arbeiteten seine Kunst und seine Ansichten gegen ihn selbst. Das Publikum wurde von den ebenso chaotischen wie unglaubwürdigen Intrigen von La falena, Oceàna und Abissso abgeschreckt; Bencos neigte politisch zum irredentismo, einem elitären Gedankengang, der Verdi verachtete, wenn er nicht den Umständen entsprach, und Wagner vorbehaltlos bewunderte, während Smareglia ein treuer Untertan Österreichs blieb. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte zu einem Streit zwischen dem Komponisten und den irredentisti, die ihn als Abtrünnigen und Verräter bezeichneten. Trotz Smareglias Entschuldigung blieben diese verleumderischen Bezichtigungen bestehen; der Zusammenbruch Österreich-Ungarns entzog ihm seine Rente und er verlor in der Folge sogar die Freundschaft mit Toscanini über die postume Fertigstellung der Oper Nerone von Arrigo Boito, einem ehemaligen Freund und Studienkollegen in Mailand.

Als Produkt deutscher, slawischer und italienischer Einflüsse ist Smareglia ein durch und durch mitteleuropäischer Komponist und doch ein sehr eigenständiger Mann, ein perfektes Beispiel für die Musik der Region Triest-Istrien. Es ist verlockend, ihn als einen der „nationalen Komponisten“ zu sehen, die im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine Blütezeit erlebten. Seine Heimat Julisch Venetien war jedoch nie eine Nation als solche und von denjenigen Mächten erbittert umkämpft, die Österreich-Ungarn mit ihrem Dogma des Entweder-oder nachfolgten. Und Smareglia stand sowieso immer auf beiden Seiten. Tatsächlich waren seine Opern das Fundament einer wahrhaft authentischen Triester Musikschule mit so hervorragenden Komponisten wie Eugenio Visnoviz, Gastone de Zuccoli, Michele Eulambio, Cesare Nordio, Antonio Illersberg, Victor de Sabata, Mario Bugamelli, Guilio Viozzi und Fabio Vidali. Alle sind sie zu Unrecht in Vergessenheit geraten, nur weil sie auf der falschen Seite der Geschichte standen.

Il vassallo di Szigeth ist eine Oper, welche die erste Phase von Smareglias Schaffen abschließt und gleichzeitig die Errungenschaft eines neuen Stils markiert, der sie für die Entwicklung des Komponisten grundlegend macht. Im Gegensatz zu Smareglias anderen großen Erfolgen wurde Il vassalo di Szigeth vor allem wegen des Anspruchs eines reinen Spektakels im zweiten Akt mit der langen Ballettsequenz ins Abseits gedrängt. Sie wurde 1930 in Italien zuerst in Pola, dann in Triest und 1931 in den Studios von EIAR in Rom (die heutige RAI – der nationale Rundfunk Italiens) aufgeführt. Das bedeutet, dass sie seit 90 Jahren nicht mehr auf einer Opernbühne aufgeführt wurde und seit 89 Jahren keine nicht-szenische Aufführung erfahren hat. Paolo Petronio/ Übersetzung Daniel Hauser

Die Handlung ist abgeleitet von der realen historischen Episode des Vasallen von Sziget, der in einer epischen Schlacht gegen die Türken heldenhaft starb. Der Komponist Ivan Zajc aus Fiume (heute Rijeka) hatte dies zum Thema seiner eigenen Oper Nikola Subic Zrinski (1876) gemacht, die als eine Art kroatisches Nabucco gilt und dort einen bleibenden Ruf genießt. In dieser Geschichte liegt Sziget in der Ebene des Banats, dem heutigen Serbien, obwohl es tatsächlich zwei Szigets gibt, das andere in den Karpaten Siebenbürgens gelegen, das heutige Sighetu Marmatiei in Rumänien. Und diesen Ort hat Illica gewählt und gab den drei Hauptfiguren trotz der Geographie ungarische, serbische und deutsche Namen – Andor, Milos und Rolf.

Die Oper hat drei Schauplätze: die Schlosskirche, das Tibisco-Tal (Theiß-Tal) und im zweiten Tableau des ersten Aktes und im dritten Akt Milos‘ Gemach im Schloss. Das erste Tableau des ersten Aktes beginnt mit den Feierlichkeiten anlässlich der Hochzeit von Andor, Baron von Szigeth, und Naja, einer Jungfrau aus Dalmatien, obwohl ihr ungewöhnlicher Name in diesem Land nicht existiert. Sie scheint keinen adeligen Rang zu haben und aus dem Nichts in die heimischen Berge gekommen zu sein (Illica war berühmt dafür, das Ungewöhnliche zu erfinden, weshalb Puccini ihn immer zusammen mit dem prosaischen Giacosa einsetzte). Naja bricht unvermittelt zusammen und scheint tot zu sein. Der verzweifelte Andor beschließt, sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen und übergibt die Macht an seinen Bruder Milos. In Wirklichkeit ist dies alles eine Verschwörung von Milos, um Naja mit Hilfe seines Vasallen Rolf, der ein Experte für Zaubertränke ist, an sich zu reißen, doch weiß Milos nicht, dass Rolf dies als Rache für die Ermordung seiner gesamten Familie durch Andors und Milos‘ Vater vor Jahren ansieht. Im zweiten Tableau liefert er Naja an Milos aus, der den Irrglauben des verwirrten Mädchens ausnutzt, die meint, mit Andor zusammen zu sein.

Der Autor, Smaregia-Experte und Musikwissenschaftler mit Schwerpunkt istrische Komponisten, Paolo Petronio/ timone

Der spektakuläre zweite Akt beginnt mit der Zeremonie zur Machtübergabe im Tal des Flusses Tibisco mit Gesang, Tanz und einem ungarischen Ballett. Dann offenbart Rolf Andor die Wahrheit, die Brüder geraten aneinander und Naja wird als Hexe und Hochstaplerin festgenommen.

Im dritten Akt bringt Rolf seine schreckliche Rache zu einem perfekten Abschluss. Er führt Naja in Milos‘ Zimmer, wo das Mädchen immer noch benommen ist und darum bittet zu sterben. Rolf gibt ihr ein Gift. Dann erscheint Andor – gemäß dem Plan mit Rolf –, um Naja mit sich zu nehmen und mit ihr über die Grenze zu fliehen, aber sie stirbt kurz darauf. Als Milos hereinkommt, tötet ihn sein wütender, hasserfüllter Bruder. Der teuflische Rolf kehrt triumphal zurück im Wissen, dass seine Rache erfolgreich war. Paolo Petronio/ Übersetzung Daniel Hauser

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Germaine Lubin

Kennt noch jemand die wunderbare Stimme der Germaine Lubin? Die schöne, blonde und skandalumwitterte Sopranistin der französischen und deutschen Vor/Kriegszeit? Die unvorsichtige, politikblinde Heroine, die 1939 noch in Bayreuth und während der Besatzung in Paris vor deutschen Offizieren sang? Die dem Vernehmen nach auch eine starke Liaison mit einem hohen Wehrmachtsrang hatte? Die nach dem Krieg Geächtete und in der Schweiz lebende Verarmte? Sie wurde zum weiblichen Sündenbock einer bigotten Nation, die in Teilen kollaboriert und die ihre faschistische Vergangenheit bis heute nicht bewältigt hat. Frauen, die deutschen Soldaten geliebt hatten, wurden die Köpfe geschoren und und mit Schlägen durch die Straßen getrieben. Das blieb Germaine Lubin wie der Arletty, Janine Micheau und anderen erspart, aber sie konnte nicht mehr auftreten und zog sich – enteignet und gebrochen – in die Schweiz zurück. Wie weit sie nur ignorant-naiv oder doch politisch dem Nazi-Regime zugetan war, lässt sich nach so langer Zeit nicht mehr klären. Dass sie keinen Instinkt für die politische Situation hatte ist eindeutig. Ich mag sie nicht verurteilen, weil ich damals nicht gelebt habe. Und sie hat sicher niemanden zu Tode gebracht. Für mich  ist sie eine der ganz großen Stimmen jener Zeit, eigentlich bis heute. Ihre Isolde, ihre Elisabeth, ihre Alceste zählen für mich zu den wirklichen Immortellen meiner Sammlung. Und vielleicht zählt es zu unseren Aufgaben bei operalounge.de an diese große Sängerin zu erinnern, sie erneut vorzustellen und ihr mit einem historischen Interview eine Hommage zuteil werden zu lassen.

Die betörende Germaine Lubin/ OCA

Germaine Lubin, die unvergleichliche Sopranistin der Vorkriegszeit in Frankreich, wurde am 1. 2. 1890 geboren und starb am 27. 10. 1979 in Paris. Nach einem Medizinstudium begann sie bei der bedeutenden älteren Kollegin Felia Litvinne und anderen mit dem Gesangsunterricht und debütierte 1912 als Offenbachs Antonia an der Pariser Opéra-Comique. Sie galt in ihrer Zeit als die große und herausragende Stimme und Darstellerin für die Rollen Glucks und Rameaus, auch der französischen Spätromantik, ebenso Mozarts (sie sang die Donna Anna unter Bruno Walter bei den Salzburger Festspielen), vor allem aber Wagners, dessen Isolde und Kundry sie nicht nur in Bayreuth, sondern auch in Wien, Prag, Brüssel und andernorts gab. Sie gilt noch heute als eine bedeutende Wagnersängerin des vergangenen Jahrhunderts, und es war die Liebe zu Wagner, die ihr wegen ihrer unglücklichen Entscheidung, noch unmittelbar vor Kriegsausbruch in Bayreuth 1938/Kundry und 1939/Isolde und dann auch 1941 in Paris die Isolde vor der deutschen Besatzung zu singen, Auftrittsverbot und Verfolgung nach dem Krieg durch ihr eigenes Land einbrachten. Denn nach zahlreichen Prozessen und Wiedergutmachungsbestrebungen war sie schließlich stimmlich nicht mehr in der Lage, den großen Partien von einst gerecht zu werden. Eines der letzten Interviews kurz vor ihrem Tode gab sie unserem inzwischen verstorbenen Kollegen Manfred Strauss, das wir hier  in Auszügen wiedergeben. G. H. 

Germaine Lubin chez elle/Foto Isoldes Liebestod

Sie waren eine der größten Opernsängerinnen dieses Jahrhunderts, eine Isolde und eine Kundry, die man heute noch für unerreicht hält. Sie haben lange Zeit geradezu über die Oper geherrscht. Sie haben als Frau vielleicht nach zu viel Glück gestrebt. Sie galten auch als anspruchsvoll,  launisch und arrogant. Würden Sie dieses Leben gern noch einmal leben wollen? Anspruchsvoll ja , launisch nein. Ich arbeitete viel, man beneidete mich sehr darum, man war auf mich neidisch, und man hat es mich spüren lassen. Sicher war ich arrogant, das ist wahr. Ich gebe zu, dass ich nie verstanden habe, mich für  meine Gaben entschuldigen zu müssen. Man hatte mich zu einer gewissen Zeit um Gefälligkeiten, um Auftritte gebeten, und ich habe  diese Wünsche erfüllt, auch wenn mich das später viel kostete. Mit meinen Kollegen war ich nicht immer sehr nett, das ist auch wahr. Aber dasselbe kann ich von ihnen sagen – sie waren oft boshaft mir gegenüber. Für die Welt der Oper war ich vielleicht ein Monument,  aber nicht für Frankreich und Paris, das alles habe ich anderswo und nicht in Frankreich verwirklicht, in Deutschland, in der Tschechoslowakei, in Ungarn, England, Spanien, Portugal. Aber ob ich das alles noch einmal erleben möchte? Nein. Nein, das möchte ich nicht. Ich habe alles erreicht, was ich wollte, habe die schönste Sache der Welt – nämlich Tristan und lsolde – gesungen, habe nur in dieser Musik gelebt, die wirklich die schönste der Welt ist. Ja, das kann man behaupten, es ist die wunderbarste Musik der Welt. Und Tristan war stets mein Ideal. Ich habe dieses Ideal hier in Paris und in Bayreuth verwirklichen können, und ich habe in meinem ganzen Leben nur einen einzigen Mann geliebt: Tristan, keinen anderen.

Herbert von Karajan und Germaine Lubin vor dem Bühneneingang der Pariser Oper, wo er die „Entführung aus dem Serail“ dirigierte.(17.5.1941)/Foto Bundesarchiv Bild No. 183/R2291

Haben Sie nicht den Eindruck, gerade wegen dieser Liebe zur Musik an vielen anderen Dingen vorbeigegangen zu sein? Ja, sicherlich. Aber man muss schließlich im Leben wählen. Ich war eben für die Musik geschaffen. Nach meiner Schulzeit verspürte ich den Drang zu singen. Meine Mutter liebte die Musik, den Gesang, und sie nahm mich von Zeit zu Zeit mit in die Opéra-Comique. Sie hatte übrigens eine sehr schöne Stimme, einen richtigen Kontra-Alt. So entstand auch in mir der Wunsch zu singen. Ich spielte schon vorher sehr viel Klavier und hatte eine deutsche Klavierlehrerin. Ich liebte die Musik über alles, was mich nicht daran gehindert hat, acht Jahre lang Latein zu studieren. Meine Eltern ließen mich mit 17 Jahren mit dem Gesangsstudium beginnen. Ich habe dann ein Jahr lang mit einem Gesangslehrer gearbeitet und bin einstimmig zum Konservatorium zugelassen worden. Dort folgte ein Studium von vier Jahren, was keine besondere Leistung ist. Ich hatte immer eine sehr schöne Stimme, was eher etwas ungewöhnlich auf Grund meiner Herkunft ist, denn ich bin zur Hälfte Elsässerin, zu einem Viertel Polin und zu einem Viertel Kabylin. Durch diese Mischung hatte meine Stimme einen ganz besonderen Klang, der keinem anderen ähnelte. Und ich war sehr fleißig – ich kannte kein Selbstmitleid, keine Schonung für mich. Meine Karriere hat 28 Jahre gedauert, und 28 Jahre lang ließ ich meine Stimme stets von einem Gesangslehrer kontrollieren .

Fasziniert von blonden Frauen: Adolf Hitler plaudert Germaine Lubin und Heinz Tietjen in Bayreuth 1939/ Foto Bundesarchiv Bild No. 195-R92567

Angeblich fragten Sie nach jeder Vorstellung: „Wie war ich heute?“ Nein, das hat man in einem Zeitungsartikel behauptet. Der Journalist war ein Idiot. Er schrieb, ich betriebe eine Art Ich-Kult. Das stimmt überhaupt nicht. Bewunderung empfand ich nur für meine Gesangslehrerin, die meiner Meinung nach die herrlichste Stimme der Welt besaß. Ich habe nie mehr später eine solche Stimme gehört. Allerdings gab es da noch Renata Tebaldi, die ebenfalls eine sehr schöne Stimme besaß, außer­ dem empfinde ich eine leidenschaftliche Bewunderung für Montserrat Caballé, die wie keine andere singt.

Nicht die Callas? Nein, sie hatte keine schöne Stimme. Sie verstand es, sie optimal einzusetzen, und sie war eine wunderbare Operntragödin, aber ihre Stimme selbst war nicht optimal. Das denke ich, und das sag‘ ich auch. Ich erinnere mich sehr gut an alles, weil ich ein sehr gutes Gedächtnis besitze. Das braucht man auch, um Gesangsunterricht geben zu können. Ich denke wenig an mich selbst. Ich bin nicht egoistisch. Ich denke an die anderen. Ich habe als Lehrerin heute die Verantwortung für einige sehr vielversprechende Stimmen, und ich kümmere mich um sie. Früher habe ich mehr auf mich konzentriert, denn nur so konnte ich so schwierige Rollen wie lsolde und Brünnhilde singen.

Germaine Lubin als Ariane von Dukas/HeiB

Ist es schmerzlich, vergessen zu werden? Nein. Warum? Ich selbst habe vergessen. Sicher, ich weiß  noch alles, was ich gesungen habe, aber ich denke nie daran.

Glauben Sie an Gott, an vorbestimmtes Schicksal? Ja, ich bin fest davon überzeugt. Ich glaube an Gott. Wenn ich an Sternzeichen glauben würde, würde  ich denken, dass ich unter dem Zeichen der Musik geboren bin, nämlich am 1. Februar wie auch Mozart, der mein Lieblingskomponist ist. Man hat von mir gesagt, ich sei eine der größten Wagner-Sängerinnen  des 20. Jahrhunderts.  Und dennoch bevorzuge ich Mozarts Musik. Ich habe die Ehre und die Freude gehabt, die Donna Anna in Salzburg unter der Leitung von Bruno Walter zu singen – wunderbar.

Sind Sie sich eigentlich dessen bewusst, dass Sie für viele als die größte Opernsängerin des zwanzigsten Jahrhunderts gelten? Man hat es so geschrieben. Aber das könnte ich niemals von mir behaupten. Vielleicht eine  der größten. Im Augenblick gibt es allerdings keine lsolde, keine! lsolde ist eine Welt für sich. Man braucht dafür eine gewaltige Stimme, die wirklich einen großen Umfang hat und in allen Registern gut klingt.

Sprechen wir über den Juli 1939, ihren Auftritt in Bayreuth und den Tristan in Paris 1941. Haben Sie das nicht als eine falsche Entscheidung erkannt? Damals, 1941, habe ich die Deutschen gehasst, als sie in den Norden einfielen und dort alles verwüsteten und massakrierten. Ich war erschüttert und habe sie wirklich gehasst. Natürlich hat es mich nicht daran gehindert, ihnen den einen oder anderen Gefallen zu tun, wenn sie mich darum baten, weil sie wussten, dass ich in Deutschland viel Erfolg gehabt hatte und dass die Deutschen vor mir in Ekstase gerieten.

Germaine Lubin als Isolde/Foto Isoldes Liebestod

Einschub: “I have suffered an enormous injustice. They curtailed my career by ten years – my own people! The fact is that I knew some of the Germans when they came to Paris during the occupation. This gave my enemies the chance to satisfy their envy…If I saw the Germans in Paris – and they had been more than kind to me – it was to save my compratriots. It was my way of serving my country at that particular moment. Nobody knows how many prisoners I had released… When I spent three years in prison, they confiscated my Château at Tours and my possessions. Did anyone bother to ask me why I did not accept Winifred Wagner’s invitations to sing in Germany during the occupation? But my trial was a complete vindication: I was completely cleared. Yes, they gave back most of what they had taken…” (aus: “Lubin Revisited” von Max de Schauensee, Opera News)

Lieben Sie eigentlich Ihre alten Aufnahmen? Ich höre meine Platten nie! Ich mag sie nicht. Es ist auch nicht meine wirkliche Stimme. Die 78er Platten sind nicht sehr tongetreu. Hätte man mich auf Bändern, wie es sie heute gibt, aufgenommen, klängen die Aufnahmen  besser. Heutzutage kann man auch mittelmäßige Stimmen auf Bändern schöner erklingen lassen, als sie eigentlich sind. Nun hat man diese 78er Platte auf Band bei Pathé Marconi übertragen. Das Ergebnis ist nicht besser, der Klang ist schlechter geworden. Nein. Ich mag meine Aufnahmen nicht. Ich habe sehr wenige gemacht, obwohl Pathé Marconi mich ständig bat, mich aufnehmen zu dürfen.

Es ist ein großes Glück, inmitten der Musik zu leben, inmitten  eines  Traumes zu leben, weit weg von den hässlichen Dingen der Erde. Ich mag die Menschen nicht. Ich liebe Tiere mehr. Vor  allem  Frauen sind  kleinlich, boshaft, neidisch. Ich habe ihretwegen sehr gelitten. Sie  waren fürchterlich eifersüchtig auf mich. Den  Beweis  haben wir bei der Befreiung von der deutschen Besatzung gehabt. Was hat man mit mir gemacht? Trotz der vielen Gefälligkeiten, die ich den Menschen erwiesen hatte, wurde ich eingesperrt, weil ich Kontakte zu den Deutschen hatte. Ich wurde sogar aus der Oper verbannt!!!  Übrigens schuldet die mir noch Geld, und nicht wenig. Ich werde wohl bis zu meinem Tod darauf warten müssen…

Bayreuther Geplauder derrière la scene: Germaine Lubin mit Winifred Wagner apropos ihrer Isolde 1939 ebendort, die Wehrmacht immer dabei/ Foto Wikiwand

Zu den Dokumenten der Lubin schreibt André Toubeuf, der große Musik-Kenner Frankreichs, in seinem Artikel im Beiheft der Lys-CD aus den Neunzigern: Mindestens drei der großen Lubin-Partien sind vom Rundfunk übertragen worden. Aus der Krönungs-Saison in Covent Garden kamen die vollständigen Versionen der Gluck-Alceste, Dukas-Ariane, aus Bayreuth die Isolde unter De Sabata (1939). Aber am Ende des Sommers 1939 klopfte das Schicksal dreimal an die Tür. Lubin sang während des Krieges ebendort (1938 Kundry, 1939 Isolde), sang 1941 Isolde im besetzten Paris mit ihrem geliebten Max Lorenz wieder und unter Herbert von Karajan. Natürlich sang sie. Und selbst mit Wilhelm Kempf am Klavier bei Fauré und und Cortot bei Wolf bei einem Liederabend in Gegenwart von Arno Breker sang sie. Sie schlug die Einladung Winifred Wagners für eine Isolde, Kundry und Brünnhilde 1940 aus und setzte nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden – auch nach dem Krieg nicht….

Und G. H. meint: Zum Hören und Staunen über die wunderbare, hervorragend durchgebildete und leuchtende Stimme der Lubin, der Frida Leiders in französischer Ausprägung nicht unähnlich, gibt’s eine Menge Schellacks, die von der französischen Firma Lys in den 90ern umgeschnitten wurden und die sich auch bei Andromeda (ANDRCD 9113 Lubin) frisch restauriert wiederfinden (wenn man sie denn noch findet, inzwischen sind diese Firmen so gut wie verschwunden/ G. H.). Das sind vor allem ihre Odeon-Aufnahmen (von 1928 – 1929) der Elsa, Elisabeth und natürlich der französische Liebestod/Tristan (wobei es dann auch einen deutsch gesungenen gibt vom Rundfunk!). Natürlich sind da auch ihre Ring-Auszüge, namentlich „Ewig war ich“ und die „Immolation de Brunnhilde“. Auch ihre Agathe ist bemerkenswert, die Thule-Ballade der Marguérite und natürlich – hors de prix – aus Sigurd Salut! Splendeur du jour!“ – da gibt´s einfach nichts Besseres. An Liedern hat sie auch reichlich viel eingesungen, von Schuberts gruseligem Erlkönig bis zu Lässlichem von Durante oder Bach (das ist sehr gewöhnungsbedürftig, weil sehr dem Zeitgeschmack verhaftet). In ihren besten Aufnahmen strahlt die Stimme wie eine Flamme, wie eine Leuchte in der Hand Isoldens. (Foto oben: Germaine Lubin als Isolde).

Der Musikkenner Carlos Solare schreibt: Und dann gibt es die Edition sämtlicher Lubin-Aufnahmen auf einer Doppel-CD von Marston Records. Wie es bei diesem Label de rigeur ist, sind darin alle erhaltenen Alternativ-Takes und unveröffentlichten Einspielungen enthalten, wiedergegeben in bestmöglicher Klangqualität. So gibt es etwa von Marguerites Ballade von König von Thule eine weitere Version gleichen Datums (22. Juni 1928), die wohl als Probe für die Aufstellung des Mikrophons gemacht wurde. Lubin lässt sich mehr Zeit als bei der eigentlichen Aufnahme und fängt dadurch die verträumte Stimmung der Szene noch überzeugender ein. Dass Sieglindes Erzählung vom Mai 1929 einige Monate später wiederholt wurde, erklärt sich durch die auffällig bessere Klangqualität, die in der Sitzung vom 4. Februar 1930 erreicht wurde. An diesem Tag wurde auch „Siegmund heiss‘ ich“ (bzw. „Siegmund suis-je“) von René Verdière mit jugendlich-heller Klanggebung eingespielt, wozu Lubin Sieglindes letzte Sätze beisteuert.

Die im Beiheft mitgegebene Dokumentation hält fest, dass die deutsch gesungene Version von Isoldes Liebestod am selben Tag – dem 1. Juni 1938 – aufgenommen wurde wie die französische Fassung („Doux et calme“). Lubins Mitstreiter waren in beiden Fällen Philippe Gaubert und das Orchester des Pariser Konservatoriums. Nach wiederholtem Hören scheint mir diese deutsche Fassung identisch mit der Aufnahme zu sein, die anderswo als Bayreuther Mitschnitt unter Victor De Sabata – folglich von 1939 – angegeben wird. Lubins fünf Mélodie- und Lied-Aufnahmen für Pathé-Marconi aus dem Jahr 1944, darunter zwei Duette mit dem jungen Gérard Souzay, sind ebenso dabei wie ein komplettes Rundfunkkonzert von 1954, das eine älter gewordene aber kerngesund gebliebene Stimme festhält.

Gleichsam als „Füller“ enthält die zweite CD die drei kommerziellen Aufnahmen, die Lucienne de Méo im Frühjahr 1928 gemacht hat. Die damals 24-Jährige war auf dem besten Weg, eine internationale Karriere auf höchster Ebene anzutreten. Leider litt sie unter Depressionen und nahm sich zwei Jahre später das Leben. Ihre Einspielung von Alcestes’ „Divinités du Styx“ stellt eine strahlend-sichere Höhe unter Beweis. In Agathes „Und ob die Wolke“ (bzw. „En vain au ciel“) schlägt de Méo zarteste Töne an, und sie gestaltet die Erzählung der Sieglinde – ihrer Glanzpartie während der wenigen Jahre ihrer Laufbahn – mit erregter Spannung.

Das bereits erwähnte Beiheft ist, wie immer bei Marston, eine Freude für sich. Neben der diskographischen Information enthält es zahlreiche Fotos von beiden Künstlerinnen – sowohl in Kostüm als auch privat – sowie umfangreiche biographisch-kritische Aufsätze von Vincent Giroud und eine persönliche Erinnerung an Lubin des kürzlich verstorbenen André Tubeuf. Für die eingeschworenen Fans von Germaine Lubin – und der so gut wie ausgestorbenen „vieille école“ des französischen Gesangs – ist diese Publikation also ein Muss. Carlos María Solare (Fotomontage oben:claudesdeplas.com)

Gwendolyn Killebrew

 

Gwendolyn Killebrew, eine der großen Künstlerinnen der Deutschen Oper am Rhein, ist am 24. Dezember 2021 im Alter von 80 Jahren in Düsseldorf verstorben. Die Altistin war von 1976 bis 2006 Ensemble­mitglied und blieb dem Haus auch anschließend als Gast verbunden. Im Jahr 1988 wurde sie von der Deutschen Oper am Rhein zur Kammersängerin und darüber hinaus 2011 zum Ehrenmitglied ernannt. „Wir haben mit Gwendolyn Killebrew eine bedeutende Sängerin, ein wunderbares Ensemblemitglied und eine bei allen beliebte Kollegin verloren, der wir ein ehrendes Andenken bewahren werden“, erklärt Christoph Meyer, der General­intendant der Deutschen Oper am Rhein.
Während ihrer langen Karriere war Gwendolyn Killebrew sowohl an der Deutschen Oper am Rhein als auch international an vielen Häusern erfolgreich. Sie gestaltete zahlreiche bedeutende Partien ihres Fachs vom Frühbarock bis zur Moderne. Dem Publikum in Düsseldorf und Duisburg wird sie insbesondere in ihrer Rolle als Carmen sowie in den Wagner-Partien Fricka, Erda und Waltraute, den Verdi-Rollen Ulrika, Maddalena und Azucena, ihren Monteverdi-Partien sowie als Rossinis Isabella in Erinnerung bleiben. Von der Düssel­dorfer Bühne verabschiedete sie sich am 5. Juli 2009 als Bacchis in der von Christof Loy inszenierten Offenbach-Operette „Die schöne Helena“.
Die amerikanische Altistin studierte zunächst Klavier, Gesang, Horn und Orgel. Nach Beendigung ihres Studiums an der Temple University in Philadelphia (B.S.Ed.) wurde sie Musiklehrerin und Musiktherapeutin. Ein weiterführendes Gesangsstudium an der Juilliard School of Music in New York (M.M.) legte den Grund­stein für ihre Karriere als Opern-, Lied- und Oratoriensängerin. 1967 debütierte Gwendolyn Killebrew – im Alter von erst 26 Jahren – als Waltraute („Die Walküre“) in dem von Herbert von Karajan inszenierten „Ring des Nibelungen“ an der Metropolitan Opera New York, wo sie 1979 auch als Carmen auftrat. Gast­spiele führten sie zu weltweit bedeutenden Opernhäusern und Festivals wie den Bayreuther Festspielen und den Salzburger Oster- und Sommerfestspielen und den Londoner „The Night of the Proms“.
Gwendolyn Killebrew war es ein besonderes Anliegen, ihr Wissen und ihre Erfahrungen an junge Sängerinnen und Sänger weiterzugeben. Sie gab Meisterkurse und hatte Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen inne. In Düsseldorf unterrichtete sie bis ins hohe Alter in ihrem eigenen Musikstudio Sologesang, Chorgesang und Klavier. (Quelle Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf/ Foto Michl)

Stürmisches

 

Mozarts Mitridate, re di Ponto zählt zu den Jugendwerken des Komponisten, die sich bei Theatern, Festivals und Plattenfirmen großer Beliebtheit erfreuen. Davon zeugen immer wieder Neuproduktionen und CD-Einspielungen. Jüngstes Beispiel ist eine Aufnahme von ERATO, die im November 2020 in der Philharmonie de Paris entstand (0190296617577, 3 CDs). Spiritus Rector des Unternehmens ist Marc Minkowski am Pult des Ensembles Les Musiciens du Louvre – also erneut ein renommierter Musiker der Alte-Musik-Szene, denn diese Opera seria Mozarts wird (wie auch Lucio Silla) bevorzugt von auf diese Gattung spezialisierten Dirigenten mit Orchestern auf historischen Instrumenten interpretiert. (So hatte Christophe Rousset das Werk für DECCA mit Les Talens Lyriques eingespielt.) Minkowski  setzt schon in der Ouverture starke Akzente mit harschen forte-Schlägen zu Beginn und einem graziösen Mittelteil. Für pompöse Klänge sorgt der Dirigent in der Marcia des 1. Aktes und er liefert den Sängern für deren zumeist dramatisch betonte Arien eine spannende und inspirierende Folie.

Die exquisite Besetzung wird angeführt von Michael Spyres in der Titelrolle. Der amerikanische Tenor hat in letzter Zeit mit sensationellen Aufnahmen bei ERATO für Aufsehen gesorgt. Auch hier kann er sich profilieren, besticht schon in seiner ersten Arie, „Se di lauri il crine adorno“, mit differenzierter Stimmführung und glanzvoller Bewältigung der unterschiedlichen Register. Mit dem stürmischen „Quel ribelle“ beendet er furios den 1. Akt. Im Kontrast dazu ist „Tu, che fedel“ im 2. Akt zunächst von nachsinnendem  Duktus, entfaltet aber im Mittelteil vehemente Wirkung. So auch „Già di pietà mi spoglio“ am Ende des 2. Aktes, das in seiner virulenten Art mit herausgeschleuderten Spitzentönen von effektvollem Zuschnitt ist und von Spyres imponierend umgesetzt wird. Ähnlich vehement ist die Arie „Vado incontro al fato estremo“ im 3. Akt, die dem Interpreten einmal mehr Bravour verlangt und in der sich der Sänger erneut bewähren kann.

Für die Primadonnenpartie der Aspasia wurde Julie Fuchs verpflichtet, die sogleich in ihrer Auftrittsarie „Al destin, che la minaccia“ ihr virtuoses Vermögen demonstrieren muss. Immerhin wurde die Rolle bei der Uraufführung in Mailand 1770 von der prominenten Sängerin Antonia Bernasconi gesungen, die sich zunächst weigerte, die Arien Mozarts zu singen und denen von Quirino Gasparini den Vorzug gab, welche drei Jahre zuvor am Teatro Regio in Turin zur Aufführung gelangt waren. Julie Fuchs wartet nach dem erregten Orchestervorspiel mit einem anonym klingenden Sopran auf, der über die nötige Flexibilität für die Koloraturketten verfügt, es auch nicht an Bravour fehlen lässt, aber insgesamt unpersönlich bleibt. In der lyrischen Arie des 2. Aktes „Nel grave tormento“ besticht sie mit kultivierter Stimmführung, im Mittelteil auch mit virtuosen Koloraturen. Mit Sifare hat sie am Ende des 2. Aktes das einzige Duett des Werkes zu singen: „Se viver non degg’io“, Beide Soprane vereinen sich hier zu schmeichelndem Wohllaut. Im 3. Akt hat Aspasia eine ausgedehnte Szene mit Recitativi accompagnati und der Cavatina „Pallid’ ombre“, in der man sich verschattetere Farben wünschte.

In der zweiten Sopranpartie des Werkes, Prinzessin Ismene,  ist ein neuer Star der französischen Musikszene zu hören: Sabine Devieilhe. Ihr Auftritt „In faccia all’oggetto“ ist von lieblicher Anmutung und kommt ihrer klaren, anmutigen Stimme sehr entgegen. Bei „ So quanto a te dispiace“ zu Beginn des 3. Aktes kann sie dagegen mit Gewinn ihre geläufige Gurgel einsetzen.

Bei der Mailänder Uraufführung wirkten drei Kastraten mit – als Mitridates Söhne Farnace und Sifare sowie als dessen  Statthalter Arbate. In der vorliegenden Aufnahme gibt es nur einen Countertenor: Paul-Antoine Bénos-Djian als Farnace, der mit der berühmten Arie „Venga pur, minacci e frema“ aufhorchen lässt. Fein getupft kommen die staccati, die Stimme ist reizvoll getönt und bewegt sich mühelos durch die Register. „Va’ l’error mio palesa“ zu Beginn des 2. Aktes überzeugt mit zupackendem Vortrag. Am Ende des 3. Aktes hat er noch ein Solo mit „Già dagli occhi“, wo er mit fein gesponnenen Linien überzeugen kann. Sifare wird von der Sopranistin Elsa Dreisig wahrgenommen, deren Stimme keine männliche Figur zu imaginieren vermag. Ihre dramatische Auftrittsarie „Soffre il mio cor“ bewältigt sie technisch souverän und im 2. Akt kann sie bei „Lungi da te“ ihr lyrisches Potential einbringen. Aber die Stimme ähnelt zu sehr der von Fuchs und kann sich nicht unverwechselbar profilieren. Eher kann Adriana Bignagni Lesca mit androgyn klingendem, dunkel glühendem  Sopran dem Arbate eine männliche Aura verleihen. Der Auftritt mit „L’odio nel cor frenate“ ist forsch und energisch zupackend. Die Besetzung ergänzt der bekannte Tenor Cyrille Dubois als römischer Tribun Marzio, der mit der bewegten Arie im 3. Akt „Se di regnar sei vago“ einen soliden Auftritt hat. Recht ungewöhnlich endet die Oper mit einem kurzen Quintett („Non si ceda al Campidoglio“), in dem alle Protagonisten geloben, sich gegen die römische Tyrannei zu widersetzen. Bernd Hoppe

 

Etienne Dupuis

 

Der kanadische Bartiton Etienne Dupuis ist Opernfreunden seit rund zehn Jahren ein Begriff. An seinem Stammhaus, der Deutschen Oper Berlin, begann seine Karriere. Dort hat er zahlreiche große Partien seines Fachs gesungen und ist schnell zum Publikumsliebling avanciert. Mittlerweile macht der Sänger eine Weltkarriere, die ihn regelmäßig an die Metropolitan Opera, die Pariser Opéra National, das Londoner Royal Opera House, das Teatro Real in Madrid oder die Bayerische Staatsoper führt. Der Deutschen Oper Berlin ist er immer treu geblieben und tritt dort als Posa im Don Carlo auf, der zur Zeit dieses Interviews gerade dort läuft, wo er unserem Kollegen Helmut Brinkmann über die Anfänge seiner Karriere, seine Verbindung zur Deutschen Oper Berlin, vor allem Posa, den er bald auch in einer Neuinszenierung an der Metropolitan Opera singen wird, Auskunft gab.

 

Etienne Dupuis: Backstage an der Deutschen Oper Berlin während Don Carlo 2021 (Foto O-PR Communications)

Sagen Sie doch etwas über Ihre musikalische Ausbildung und die Anfänge Ihrer Sängerlaufbahn.  Meine Mutter wollte unbedingt einen Musiker zum Sohn haben und trug daher während der Schwangerschaft ständig Köpfhörer um Musik zu hören. Nach meiner Geburt stand ein Klavier im Haus und ich spielte schon als Kind mit einem Finger die Lieder, die ich in Kinderfernsehsendungen hörte. Als ich vier Jahre alt war, begann ich mit Klavierunterricht. Mit 14 wechselte ich zum Jazzpiano. Ich habe immer gesungen, aber erst nur Popmusik. Bis ich mit 18 oder 19 zu einem klassischen Gesangslehrer ging, weil ich unbedingt singen lernen wollte. Als wir das erste Konzert gaben erinnere ich mich, dass ich das Gefühl toll fand eine Figur darzustellen, die Worte verschiedener Charaktere zu vermitteln und gleichzeitig zu singen. Ich hatte das Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, und habe von diesem Zeitpunkt an nie zurückgeschaut. Ich habe in meinem Leben alles gemacht, was ich für interessant hielt. Und doch hat mich alles immer wieder zum klassischen Gesang und zur Schauspielerei zurückgeführt.

Wann wurde Ihnen klar, dass Sie eine gute Stimme haben und dass Sie das Singen zum Beruf machen würden? Dass ich eine Stimme hatte wurde mir so wirklich klar als ich 18 oder 19 war. Und zwar als ich bei dem bereits erwähnten Gesangslehrer vorsang. Ich gab hier und da ein kleines Konzert, machte bei einer Oper von Poulenc mit: Les mamelles de Tyrésias. Es machte Spaß und ich fand es toll, etwas darstellen zu können. Aber erst in meinem dritten Jahr an der Universität wurde es ernster. In diesem Sommer ging ich nach Toronto, um an einem Programm namens Summer Opera Lyric Theatre teilzunehmen. Der Herr, der es leitete, war Guillermo Silva Marin, wir nannten ihn alle Bill Silva. Damals sang ich zum ersten Mal den Marcello (auf Englisch). Und da kam mir auch zum ersten Mal der Gedanke, dass ich vom Singen leben könnte. Bill saß an meinem Tisch und ich erinnere mich, dass ich zu ihm sagte: „Ich glaube, ich könnte ein professioneller Opernsänger werden“.

Etienne Dupuis: „Les Feluettes“ in Montreal 2016 (© Yves Renaud)

Erzählen Sie doch von Ihrem Debüt auf der Opernbühne und den wichtigsten Engagements Ihrer Anfänge. Ich war im Young Artists Program der Oper von Montreal und in meinem dritten Jahr dort sang ich viele Rollen, darunter etwa der Dancaire in der Carmen. Aber meine allererste Rolle außerhalb von Montreal war in Vancouver, wo ich den Mandarino in der Turandot gab. Und gleich darauf bekam ich eine Rolle an der New Israeli Opera in Tel Aviv, Zweitbesetzung Lescaut in Manon Lescaut. Das war meine erste große Rolle an einem großen Haus. Damals war ich 26 und das hat mich sicher darin bestärkt, dass ich das Richtige tue. Ich habe immer mit meiner Stimme gesungen, habe sie nie gepusht. Aber ich war natürlich ein bisschen jung für den Lescaut. Einige Schlüsselrollen in der Anfangsphase meiner Karriere waren Marcello, dann der Silvio in den Pagliacci, den ich sowohl in, als auch außerhalb von Kanada sang. Aber das Wichtigste geschah, als ich Anfang 30 war: Ich durfte Rossinis Figaro an der Deutschen Oper Berlin singen, und kurz davor suchte man dort einen Zurga für eine Konzertfassung von Les pêcheurs de perles mit Joseph Calleja und Patrizia Ciofi. Das lief sehr gut und erregte Aufmerksamkeit. Danach wurden meine Angebote immer wichtiger und ich wurde von größeren Opernhäusern eingeladen. Der Operndirektor der Deutschen Oper Berlin, Christoph Seuferle, startete meine Karriere im Alleingang, indem er mit jedem Casting Director und Dirigenten, den er traf, über mich sprach.

Nun sind in etwa 10 Jahre seit dem besagten Debüt an der Deutschen Oper Berlin vergangen und Sie sind daraufhin viele Male an die Bismarckstraße zurückgekehrt, haben dort in Rollen debütiert, die später fester Bestandteil Ihres Repertoires wurden. Das stimmt, an der Deutschen Oper Berlin habe ich viele größere Rollen zum ersten Mal gesungen. Dieses Opernhaus hat es mir ermöglicht, mich an europäischen Theatern zu etablieren. Wie ich bereits sagte war mein Debüt an der DOB als Zurga in einer Konzertfassung von „Les pêcheurs de perles“ und zwei oder drei Monate später sang ich den Barbiere, eine Rolle, die ich dort einige Male übernommen habe. Dann gab man mir Verdi, und ich sang dort zum Beispiel zwei oder drei Jahre später meinen ersten Germont, der ein ziemlicher Erfolg wurde. Dann wurde mir Posa und Onegin angeboten, die noch immer eine große Rolle in meiner Karriere spielen und die ich an großen Opernhäusern wie München, Paris oder Wien singe. Barbiere, Posa und Onegin sind definitiv drei meiner wichtigsten Rollen, und sie alle habe ich erstmals an der Deuschen Oper Berlin gesungen.

Etienne Dupuis: Germont in „La traviata“ mit Nicole Car/Violetta, Opéra de Marseille 2018 (Credit Christian Dresse)

Noch wichtiger ist wahrscheinlich, dass Sie in Berlin Ihre zukünftige Frau kennengelernt haben, Nicole Car. Und zwar während einer Vorstellungsserie von Eugen Onegin an der Deutschen Oper. Wie kam es dazu? Das ist eine lustige Geschichte. Ich habe nämlich meinen ersten Posa und meinen ersten Onegin quasi gleichzeitig gesungen. Die erste Vorstellung von „Don Carlo“ war zufällig am allerersten Probentag für Onegin und ich erinnere mich, dass wir uns, als ich Nicole zum ersten Mal sah, nur etwa eine Stunde lang trafen, da wir nur das Quartett aus dem ersten Akt von Onegin probten. Dann musste ich gehen, um mich auf die Vorstellung von Don Carlo vorzubereiten. Eigentlich habe ich diese Probe gerne gemacht, weil ich dadurch meine Stimme etwas aufwärmen konnte. Wir hatten an diesem Abend eine phänomenale Premiere, und als die Leute am nächsten Tag fragten: „Wie ist es gestern gelaufen?“, war ich nicht gerade bescheiden: „So eine Reaktion habe ich noch nie bekommen, es war unglaublich.“ Nicole erzählt bis heute die Geschichte, wie sie dachte, ich sei ein Angeber (lacht). Es hat vielleicht noch ein paar Tage gedauert, bis sie sah, dass unter dem prahlerischen, selbstbewussten Kerl ein Mensch war, ein guter Kerl, der glücklich war, sie kennenzulernen. Wir haben uns erst angefreundet, aber sehr schnell war klar, dass wir uns zueinander hingezogen fühlten. Es ging nur darum uns selbst zu erlauben, verletzlich zu sein und zu schauen, was passieren könnte, wenn wir, zwei Opernsänger eine Beziehung eingehen würden. Die Welt zu bereisen, sie als Australierin und und ich als Kanadier und somit von der jeweils anderen Seite der Welt. Wir haben den Schritt gewagt und es nie bereut, und wir leben seit geraumer Zeit in unseren Koffern. Bei Onegin begann alles und der Rest ist Geschichte.

Etienne Dupuis: Onegin mit Nicole Car als Tatjana, Deutsche Oper Berlin 2015 (Credit Bettina Stöß)

Wie ist das mit dem Posa, mit dem der Sie momentan an der Deutschen Oper Berlin auf der Bühne stehen? Eigentlich könnte Posa fast als die Hauptfigur der Oper bezeichnet werden. Allen anderen Personen im Stück geht es, vielleicht abgesehen von Elisabetta nur um sich selbst. Der König und Don Carlo wollen nur das, was gut für sie ist, und das gilt auch für Eboli. Posa ist der einzige, der selbstlos ist, der einzige, der sich schließlich opfert um ein ganzes Land, eine ganze Nation zu retten. Ich finde er ist der interessanteste Charakter im Stück. Jedes Mal, wenn er auf der Bühne steht, jedes Mal, wenn er mit jemandem spricht sieht man, wie es in ihm arbeitet. Weil er über verschiedene Möglichkeiten nachdenkt, wie er durch seinen und durch den Einfluss anderer Flandern retten kann. Das ist sein wichtigstes Ziel, und ein sehr edles. Viel edler als Don Carlos seltsame Verliebtheit in seine Mutter und die völlige Missachtung des Königs seinem Sohn gegenüber. Er hat ihm Elisabetta versprochen und sie ihm dann einfach weggeschnappt und geheiratet. Dann Ebolis Eifersucht und Zorn… All diese Figuren scheitern in dem was sie versuchen zu tun. Auch Rodrigo scheitert letztendlich natürlich, aber sein Ziel ist so viel edler. Der Schlüssel zur Oper „Don Carlo“ besteht darin, dem edlen Bogen von Posa zu folgen. Dann übernimmt Elisabetta diese edlen Eigenschaften, indem sie ins Kloster geht und damit die ganze Situation nicht noch mehr durcheinander bringt.

Etienne Dupuis/ Foto Yan Bleney

Im Februar werden Sie diese Rolle erstmals in der französischen Fassung in fünf Akten an der Metropolitan Opera singen. Welche Unterschiede sehen Sie persönlich zwischen diesen beiden Fassungen, besonders im Hinblick auf Ihre Rolle des Posa? Nun, es ist kein Geheimnis, dass die französische Fassung zuerst geschrieben und aufgeführt wurde und die Musik an vielen Stellen der Oper ganz anders war. Das betrifft insbesondere die Rolle Posas: Das erste Duett mit Don Carlos ist ganz anders, das Duett zwischen Posa und dem König ist auch musikalisch ziemlich anders, das Quartett im vierten Akt (ich rede natürlich von der Version in fünf Akten)…. Die französische Fassung in 5 Akten ist also schon recht anders. Nun hat die italienische Fassung typischerweise nur 4 Akte und viel Musik wurde komplett neu geschrieben. Interessanterweise ist die Version, die wir an der Metropolitan Opera machen werden, soweit ich es der Partitur entnehmen kann, eine Mischung aus der französischen und der italienischen Version. Wir machen also 5 Akte, aber die Musik, zum Beispiel im Duett zwischen Posa und dem König oder im Quartett in Akt 4 ist jene aus der italienischen Fassung, aber mit französischem Text. Unterm Strich bleibt die Geschichte in der Oper die gleiche und der Charakter bleibt genau so edel wie vorher, aber musikalisch wird es näher an der italienischen Version sein. Die französische Version ist recht anders: Die Charaktere singen öfter gleichzeitig und wir bekommen eher mit, was in ihren Köpfen vor sich geht. Die Charaktere sprechen nicht unbedingt miteinander, sondern nehmen direkter Kontakt mit dem Publikum auf. In der italienischen Version ist es eher ein Gespräch. Ich denke die Version, die wir machen, ist eine großartige Mischung aus der französischen und der italienischen Version.

Ein weiterer wichtiger Pfeiler Ihres Repertoires sind Partien aus der Feder französischer Komponisten. Letzte Spielzeit gaben Sie Ihr Debüt als Werther von Massenet konzertant in Lyon. Dürfen wir uns darauf freuen, Sie bald in dieser Rolle in einer szenischen Produktion zu sehen?  Das ist wohl meine Lieblingsfrage nach der, wie ich Nicole kennengelernt habe. Ich habe mich total in diese Oper und in diese Rolle verliebt: Eine „Tenor“-Rolle, ein Verliebter, der nach einer größeren, besseren Beziehung sucht… Ich würde fast sagen nach einer Beziehung, die übermenschlich ist, fast wie eine Beziehung mit dem Himmel… Es ist so selten für einen Bariton, eine solche Rolle singen zu dürfen. Das war für mich absolut phänomenal. Außerdem gefällt mir, dass die Baritonfassung nie von Massenet selbst geschrieben wurde, sondern von einem Bariton [Mattia Battistini], der versucht hat, die Rolle zu singen. Massenet hat die Fassung dann genehmigt. Ich wollte schon immer die Massenet-Stiftung kontaktieren, um eine offizielle Bariton-Version zu erstellen und die ein oder andere Szene vielleicht transponieren können. Als ich die Rolle gesungen habe, habe ich viel von der ursprünglichen Tenorlinie restauriert. So gut ich es eben konnte, um die musikalische Richtung, die Massenet vorschwebte nicht zu beschädigen. Manchmal war es unmöglich und in diesen Fällen wäre es interessant, ein wenig nach unten zu transponieren. Aber leider konnte ich es von niemandem genehmigen lassen. Die Rolle hat mich tief bewegt, und ich habe mit jedem Opernhaus gesprochen, um diese Version in einer szenischen Produktion zu machen. Ich bekam dann auch ein Angebot, aber leider änderten sie ihre Meinung und entschieden sich doch für einen Tenor. Aber ich hoffe sehr, dass bald ein anderes Opernhaus mir die Bariton-Version von „Werther“ anbieten wird.

Sie haben auch in zeitgenössischen Opern mitgesungen. Hier ist besonders der Joseph de Rocher in Dead Man Walking, Simon in Les Feluettes und Pink in Another Brick in the Wall zu nennen. Können Sie mehr über diese Stücke sagen und über die Herausforderungen zeitgenössische Musik zu singen? Die Herausforderungen zeitgenössische Musik zu singen reichen davon, dass diese Musik schwer zu erlernen ist bis dazu, dass sie oft genauso schwer für das Publikum zu verstehen ist. Nun sind diese drei Opern sehr unterschiedlich. Dead Man Walking mit Musik von Jake Heggie und einem Libretto von Terence McNally ist eine Oper, in der viel geredet wird. Die Charaktere reden eigentlich ständig miteinander. Es ist eine phänomenale Oper, sie ist so emotional. Eine Oper über die Todesstrafe, die nicht Partei ergreift. Wir hören von den Eltern der Opfer genauso viel wie von den Protagonisten, dem Mörder und der Nonne, die ihn in seinen letzten Tagen begleitet. Können uns also eine Meinung bilden, ohne dass die Oper vorschreiben will, wie diese Meinung sein soll. Ich finde das faszinierend und das Publikum reagiert sehr gut darauf. Deshalb wird die Oper auch 21 Jahre später immer noch aufgeführt.

Etienne Dupuis: „Dead Man Walking“ in Montreal (© Yves Renaud)

Les Feluettes mit dem Text von Michel Marc Bouchard und der Musik von Kevin March ist wahrscheinlich die schönste zeitgenössische Oper, die ich je gesungen habe. Sie enthält eine Art Naivität und Einfachheit, verbunden mit einer wirklich erstaunlichen Geschichte. Es ist eine Liebesgeschichte zwischen zwei Männern und für mich was die Beziehung der beiden angeht ähnlich wie La Bohème. Es geht nur darum, eine Liebesgeschichte zu erzählen. Dabei spielt es keine Rolle, dass diese zwischen zwei Typen besteht. Das ist für mich nicht der Hauptpunkt der Geschichte. Es geht um eine gescheiterte Liebesgeschichte. Um ein ungelüftetes Geheimnis darüber, was nach dem Tod einer der beiden Protagonisten geschah. Das ist eine der Opern, die das Publikum jedes Mal, wenn ich sie sang wirklich im Herzen traf. Ich erinnere mich, dass ich dachte, noch bevor die Oper überhaupt geschrieben war, dass das Publikum sich nicht die ganze Zeit fragen sollte was es gehört hat, sondern sich auf die emotionale Last konzentrieren soll, die die Geschichte vermittelt. Die Vorstellungen waren ein großer Erfolg.

In Another Brick in the Wall von Roger Waters war die Herausforderung das originale Pink Floyd Musical und der Film. Der Komponist hat einen tollen Job gemacht, denn er hat das Ganze umgeschrieben und etwas ganz anderes erschaffen. Ich finde es was auch notwendig, das worum es geht ganz anders erklingen zu lassen. Das war auch ein großer Erfolg und kam beim Publikum sehr gut an. Insbesondere bei den Opernfans, vielleicht weniger bei den Pink-Floyd-Fans. Diese drei Opern sollten auf jeden Fall möglichst überall auf der Welt wieder gespielt werden, denn sie haben alle etwas Wichtiges zu sagen und sind musikalisch wirklich interessant. Die große Herausforderung der zeitgenössischen Oper besteht darin, dass es wirklich schwer ist, sie woanders auf der Welt aufzuführen. Dead Man Walking wurde zwar öfter gespielt, aber fast immer in den USA. Ich glaube, das Stück ging nach Madrid und nach Brisbane, aber fast nirgendwo anders, obwohl es eigentlich um die ganze Welt reisen sollte. Gleiches gilt für Les Feluettes und Another Brick in the Wall, sie alle sind mögliche Hits für ein internationales Publikum. Ich möchte gerne noch „Starmania“ hinzufügen, was auch unglaublich gut ankam. Das ist ein französisches Musical, das zu einer Oper umgeschrieben wurde, die wirklich schön und zugänglich ist. Und ich bin sicher, sie würde überall auf der Welt großartig angenommen werden. Das Stück ist von Michel Berger, das neue Arrangement von Simon Lefebvre und der Text von Luc Plamondon.

Etienne Dupuis: „Another Brick in the Wall“ in Montreal (© Yves Renaud)

Gibt es bestimmte Rollen, die Sie gerne singen würden, dazu aber noch nicht die Gelegenheit hatten? Ja und nein. Es gibt einige Rollen auf die ich mich freue, wie etwa Rigoletto. Und im Grunde sagen mir alle Verdi-Opern zu. Oder auch Rollen wie Wolfram im Tannhäuser, die ich gerne singen würde, obwohl sie etwas tiefer liegen, weil ich auch einmal etwas anderes ausprobieren muss. Ich suche immer nach Herausforderungen. Es geht mir nicht darum, unbedingt eine bestimmte Rolle zu singen, vielmehr darum mit einer großartigen Besetzung an einem großartigen Opernhaus zu arbeiten. Mit engagierten Kollegen, die das Publikum berühren wollen. Es ist ein Segen diese Kombination zu finden. Da fühlt man sich dann, als ob man genau dafür geboren wurde. Das passiert nicht immer. Ich lehne eine tolle Rolle sogar ab, wenn ich das Gefühl habe, dass das Opernhaus oder die Besetzung nicht zu mir passt.

Und zuletzt: Was steht demnächst auf Ihrem Kalender? Don Carlos an der Met, worüber wir bereits gesprochen haben. Davor werde ich in Wien Marcello und  den Albert im Werther singen. Dann kommt im Sommer in San Francisco der Don Giovanni mit Bertrand de Billy, Luca Pisaroni und Michael Canavaugh. Allesamt nette Leute, mit denen man toll arbeiten kann. Ohne zu verraten wo genau: Ich werde meinen allerersten Luna im Trovatore machen. In den nächsten Jahren werde ich noch ein paar Onegins singen, mal mit Nicole, mal alleine, noch ein paar Rodrigos, und in den nächsten zwei Jahren als Rigoletto debütieren. Es kommt wahrscheinlich noch mehr, manches vielleicht in letzter Minute, aber so sieht die Zukunft aus. Ich hoffe, dass die Theater weiter offen bleiben, weil es noch so viel mehr gibt, was wir Sänger auf der Bühne erzählen können und so viele Emotionen, die wir mit dem Publikum durchleben können. Das ist meine Hoffnung für die Zukunft. (Foto oben: Dead Man Walking in Montreal © Yves Renaud)

Seltenes von Rameau

 

Erstaunlich und verdienstvoll ist die rege Aufnahmetätigkeit von ERATO, seien es Recitals, Oratorien oder Opern. Jetzt legt die französische Firma eine veritable Barockrarität vor – die Pastorale héroïque Achante et Céphise ou La Sympathie von Jean-Philippe Rameau. Die Aufnahme entstand im Dezember 2020 in Paris und liegt nun in einer gediegenen Ausgabe auf zwei CDs vor (0190296694946).

Das Werk auf ein Livret von Jean-François Marmontel kam am 18. November 1751 anlässlich der Geburt des Herzogs von Burgund am 13. September zur Premiere. Rameau hatte also nur zwei Monate Zeit für die Komposition seiner Oper. Dennoch zählt diese zu den originellsten Schöpfungen in seinem Werkkanon. Ein besonders kühner Wurf ist die Ouverture, die den Prolog ersetzt, der sonst eine französische Barockoper einleitet. Sie gehört zum Typus der Programmmusik, beinhaltet die „Wünsche der Nation“ anlässlich der Geburt des Prinzen. Kanonenschüsse, Fanfaren, Rathausglocken und imitiertes Feuerwerk sorgen für eine äußerst lebhafte Atmosphäre und ungemein farbige Klänge, bei denen auch Disharmonien nicht ausgespart sind. In den zahlreichen Balletten – Air gracieux, Première et deuxième Gavotte, Loure, Premier et deuxième Tambourin, Musette, Premier, deuxième et troisième Regaudon – bezaubert das Ensemble Les Ambassadeurs – La Grande Écurie unter Alexis Kossenko mit graziösem oder begeistert mit turbulentem Spiel.

Die dreiaktige Handlung erzählt von der Liebe des Titelpaares, die durch den Genius der Luft, Oroès, vereitelt wird, der seinerseits Céphise begehrt. Die Fee Zirphile gibt den Liebenden ein Armband als Talismann, das beide durch Sympathie verbindet (daher der Untertitel der Oper). Oroès lässt sie von den Nordwinden in eine öde Wüste entführen und erscheint ihnen als von bösen Geistern umgebener Drachen. Zirphile aber kann sie befreien und in einen glänzenden Palast bringen. Die Geburt eines Helden – eine Anspielung auf das historische Ereignis mit dem Herzog von Burgund – krönt das Fest.

Eine illustre Besetzung wird angeführt von Sabine Devieilhe in der weiblichen Titelrolle. Die französische Sopranistin erscheint in jüngster Zeit regelmäßig in den ERATO-Studios und adelt auch diese Aufnahme durch ihre exquisite Stimme und die stilistische Kompetenz.

Neben ihr nimmt der Tenor Cyrille Dubois die männliche Titelrolle wahr – auch er ein Sänger, der in den Besetzungslisten von ERATO-Produktionen immer wieder auftaucht. Seine Stimme ist von weicher Resonanz und verblendet sich ideal mit der seiner Partnerin. Beide Titelrollensänger sind am Ende des 3. Aktes mit je einer Ariette solistisch zu hören – er mit dem schwärmerischen „Aigle naissant“, sie mit dem jubelnden „Lance tes feux“.

Der Bariton David Witczak gibt Le Génie Oroès mit virilem Nachdruck. Am Ende des 2. Aktes vereinen die drei Protagonisten ihre Stimmen in dem Trio „Aquilons volez à ma voix“. Die Sopranistin Judith van Wanroij als Zirphile lässt in ihrem Auftritt, dem Rondeau „Tendres amants“, eine typisch französische Stimme von strengem Klang hören.

In den Nebenrollen stört der Tenor Artavazd Sargsyan als Premier Coryphée und Un Berger mit bohrendem Stimmklang, während der Bassbariton Arnaud Richard als Second Coryphée angenehm tönt. Les Chantres du Centre de musique baroque de Versailles (Leitung: Olivier Schneebeli) imponieren vor allem in den majestätischen Lobpreisungen, so „Triomphe! Victoire!“ im 3. Akt oder „Vive la race de nos rois“ im Finale. Bernd Hoppe

Koffertausch mit Folgen

 

Vom Festival ROSSINI in WILDBAD stammt die Aufzeichnung von Rossinis L’occasione fa il ladro, die NAXOS auf einer Blu-ray Disc  herausgebracht hat (NBD0137V). Sie wurde im Juli 2017 im Königlichen Kurtheater des Ortes gefilmt. Festivalleiter Jochen Schönleber hat die Burletta per musica in bekannt albernem Zuschnitt inszeniert und auch die Bühne mit sparsamem Mobiliar entworfen. Ausgesprochen hässlich sind die Kostüme von Claudia Möbius in ihrem Fetzen-Look, der die Figuren nicht selten zu Vogelscheuchen macht.

Die Besetzung weist einige prominente Rossini-Interpreten auf, so den Tenor Kenneth Tarver als Conte Alberto, der in einem Gasthof auf Don Parmenione trifft, der nach Neapel reist, um seine unbekannte Braut kennen zu lernen. Verwechselte Koffer führen zu allerlei Turbulenzen. So reist Parmenione als der Conte nach Neapel, nachdem er das Porträt der schönen Berenice im Gepäck entdeckt hat. Diese wiederum tauscht mit ihrer Gesellschafterin Ernestina die Rollen, um ihren zukünftigen Ehemann auf die Probe zu stellen.

Antonino Fogliani leitet die Virtuosi Brunensis und sorgt schon in der Sinfonia für kantables Melos und lebhaftes Brio (welches man auch aus der Temporale des Barbiere kennt) hören. Lorenzo Regazzo als Don tönt reif, verfügt aber noch immer über die gebotene Eloquenz für Rossinis Geplapper. Sein Diener Martino ist mit dem Bariton Roberto Maietta jugendlich und gesanglich ansprechend besetzt. Beider Szene nach dem Koffertausch ist von munterer Agilität und Regazzo kann darüber hinaus in seiner Aria „Che sorte“ auftrumpfen. Später hat auch Martino ein beschwingtes Solo („Il mio padrone“), in welchem Maietta mit Wohlklang und stimmlicher Gewandtheit aufwartet.

Tarver lässt schon im Auftritt des Conte („Il tuo rigore insano“) eine unverminderte stimmliche Qualität hören. Auch in seiner späteren kantablen  Aria „D’ogni più sacro impegno“ bietet er schwelgerischen Tenorklang und beachtliche acuti. Vera Talerko wartet in Berenices Auftrittskavatine „Vicino è il momento“ mit einem herben Sopran von greller Höhe auf. Die Mezzosopranistin Giada Frasconi ist Ernestina im Stubenmädchen-Outfit. Besonders scheußlich erscheint sie in der Verkleidung als ihre Herrin, kann aber in der Szene mit dem Don, der sich als der Conte ausgibt, mit hübscher Stimme punkten („Quel gentil“). In der Begegnung mit dem wahren Conte („Se non m’inganna il core“) rundet sich Talerkos Sopran. Zusammen mit Berenices Onkel Eusebio (der Tenor Patrick Kabongo) verbinden sich die beiden Paare zum sprudelnden Quintetto „Orsù, spiegatevi“, in welchem alle Protagonisten ihre Kompetenz in Sachen Rossini beweisen. Auch das Finale, wo nach Auflösung aller Verwicklungen eine Doppelhochzeit gefeiert werden kann, stellt ihnen das beste Zeugnis aus. Und Fogliani kann mit dem Orchester noch einmal musikalischen Wirbel aufbieten. Das Publikum folgt der Aufführung amüsiert und spendet am Ende reichen Beifall. Bernd Hoppe

Sternstunde

 

Man sollte beides genießen: die Live-Aufführung des Rosenkavaliers in der Berliner Staatsoper wie die Videoaufzeichnung davon, denn wenn die erstere den Zuschauer schier atemlos in der Bewunderung von  Formen und Farben des opulenten Bühnenbilds von Xenia Hausner , der phantasievollen Kostüme von Arthur Arbesser zurücklässt, bereichert ihn die letztere durch das Geschick des Video Directors Felix Breisach, die handelnden Personen aus der Überfülle der optischen Reize herauszudestillieren, das Stück zum bitter-süßen Kammerspiel werden zu lassen.

André Heller, selbst noch relativ unerfahren in der Opernregie, hatte  sich als Co-Regisseur  den auf der DVD unterschlagenen Wolfgang Schilly an die Seite geholt, und gemeinsam gelingt es ihnen durch eine einfühlsame Personenregie, japanisches Schlafgemach, neureiches Stadtpalais mit Klimt samt Entourage und orientalisches Palmenhaus aus dem letzten Jahr der Donaumonarchie zum Hintergrund  für menschliche Emotionen, Tragödien wie Komödien werden zu lassen. Ideal wie auch in der Live-Aufführung dank des einfühlsamen Dirigats von Zubin Mehta ist die Ausgewogenheit von Orchester- und Stimmklang, nie werden die Sänger zugedeckt, sie haben alle Zeit, kostbare Stücke wie den Monolog der Marschallin im 1. Akt zu entwickeln, Textverständlichkeit wird nicht der Opulenz des Orchesterklangs zum Opfer gebracht und Regisseurseitelkeit strebt nicht danach, das Vorspiel zum 3. Akt zu „inszenieren“. Bei diesem hat der Zuschauer auch die Gelegenheit, die sympathische, zurückhaltende Art des Dirigierens zu beobachten, zu sehen und zu  hören, wie elegante Duftigkeit und üppiger Glanz aus sparsamer Zeichengebung erwachsen.

Fast fünf Stunden dauert die Aufführung ohne Striche, also auch mit dem brutal-selbstverliebten Bericht des Ochs von Lerchenau über seine Art, sich die Mägde seines Guts gefügig zu machen. Da dürfte der Zuschauer hin- und hergerissen sein zwischen Abscheu angesichts der mitleidslosen Brutalität verbunden mit dem Charme, den Günther Groissböck der hier durchaus zwielichtigen Figur zu verleihen versteht, verbunden mit einer so schlank geführten wie bis in die tiefsten Tiefen hinunter höchst präsenten Bassstimme.

Eine nicht nur wegen ihrer phantastischen Kostüme höchst attraktive Marschallin ist Camilla Nylund mit schlankem, kühlem Sopran und unendlich vielen vokalen Facetten wie des feinen Tongespinsts „Rose“ am Schluss des 1. Akts, des akustischen  Schleiers über „vorbei“ im 3. Akt. Nicht zu soubrettig ist die hübsche Sophie von Nadine Sierra, eher ein lyrischer Sopran, der den Wandel der Klosterschülerin zur selbstbestimmten jungen Frau glaubwürdig machen kann. So androgyn der Mezzosopran von Michèle Losier klingen kann, wenn sie Männerhosen trägt, so herrlich süffig hört sich ihr Mariandl an, kann sie auch darstellerisch die doppelte Brechung von einer Frau, die einen Mann darstellt, der eine Frau spielt, vermitteln. Roman Trekel ist der neureiche Faninal im Goldanzug und mit kultiviertem Gesang. Anna Samuil ist mit der Leitmetzerin im Charakterfach angekommen. Karl-Michael Ebner und Katharina Kammerloher singen und spielen rollengerecht Valzacchi und Annina, das Intrigantenpaar. Atalla Ayan bemüht sich um Tenorglanz als Italienischer Sänger. Daneben gibt es viele, viele durchweg gut besetzte Rollen, die leider auf der Rückseite der Videokassette ohne Booklet nicht aufgeführt sind und die man doch dankbar für die wunderbare Aufführung lobend erwähnt hätte. Aber vielleicht ist das nur bei dem Besprechungsexemplar so. Festzustellen bleibt, dass man in den letzten Jahrzehnten selten so glücklich aus einem Opernhaus kam oder einen Videorecorder abschaltete wie nach dem Genuss dieser Aufführung (Arthaus 109445). Ingrid Wanja  

Und noch eine …

 

Einen Riesenpublikumserfolg garantiert immer noch, wenn so gut gemacht wie an Londons Opernhaus Covent Garden, Mozarts Zauberflöte, und selbst hundertmal belachte Scherze Papagenos finden immer wieder dankbare Zuhörer. Dabei ist auch dieses Werk nicht ohne Fallstricke und könnte den Zorn von Feministinnen und Cancel Culture Verfechtern erwecken mit Sarastros oder des Sprechers, von Tamino kritiklos aufgenommen und wiedergebenen, Aussagen. Obwohl von Schikaneders Weltoffenheit zeugend, der durch Papagenos Mund schwarzen Menschen wie schwarzen Vöglen ihre Daseinsberechtigung garantiert, wird in London aus dem Mohren Monostatos ein einem blassweißen Nosferatu ähnlicher Höfling und aus dem „weil ein Schwarzer hässlich ist“ wird ein  „weil ein Sklave hässlich ist“. Ansonsten hat im September 2017 Thomas Guthrie die Produktion von David MacVicar angenehm aufgefrischt, entfaltet die Bühne von John MacFarlane märchenhaften Zauber, sorgt die Lichtregie von Paule Constable für wohliges Erschauern bei den Proben, die Tamino und Papageno bestehen müssen.

Zufriedenstellen bis sehr gut ist die Besetzung. Von der Deutschen Oper Berlin kennt man die Australierin Siobhan Stagg, die eine bezaubernde Pamina ist, deren leuchtender lyrischer Sopran ein strahlendes „die Wahrheit“ verkündet, eine schöne Arie  mit feinen Piani und ein sehr zärtliches „Tamino“ singt. Dieser ist Mauro Peter, ein ansehnlicher  Märchenprinz mit angenehmem Tenor, empfindsam in der Bildnisarie, allerdings nicht immer ganz frei in der Tonproduktion. Auch ohne jede weanerische Attitüde kann Roderick Williams die Zuneigung des Publikums mit den üblichen Späßen gewinnen, verliert nicht einmal dessen Sympathie durch Vogelmord und darf sogar einmal das Wandern als des Müllers Lust intonieren. Seine Papagena Christina Gansch tritt gleich mit einer Schar im Libretto doch nur angedachter Kinder auf. Den größten Applaus heimst die Königin der Nacht von Sabine Devielhe ein, obwohl die Sopranstimme recht dünn klingt, aber die Koloraturgeläufigkeit, die Souveränität im Umgang mit den Extremhöhen sind  erstaunlich . Eine gewaltige Röhre setzt der Bass Mika Kares für den Sarastro ein, in der Tiefe brummelig, ansonsten hart und hölzern klingend, da hätte man sich mehr vokalen Balsam gewünscht. Auch sein Sprecher Darren Jeffery ertönt recht dumpf, während der Tenor von Peter Bronder eher dünn als prägnant erscheint. Gut aufeinander abgestimmt sind die drei Damen mit Rebecca Evans, Angela Simkin und Susan Platts, natürlich Publikumslieblinge die drei Knaben. Julia Jones steht am Dirigentenpult, und was man aus dem Orchestergraben hört, klingt so angenehm wie angemessen, sieht man die Dirigentin, so erscheint ihre Zeichengebung  als eine besonders fürsorgliche (Opus Arte OA1343D). Ingrid Wanja

 

Halb Flotows Martha, halb Monty Python’s Flying Circus ist die Produktion von Mozarts allzu dokumentierte Oper  Die Zauberflöte für die Glyndebourner Festspiele im Jahre 2019 in der Regie und mit dem Bühnenbild von Barbe & Doucet, wer immer das sein mag. Die Geschichte ist in einem viktorianischen Hotel angesiedelt, Sarastro ist der Chefkoch, und Taminos und Paminas Bestreben richtet sich auf die Aufnahme in die edle Gesellschaft der Sterneköche. So besteht die endgültige Entscheidung auch nicht aus dem Bestehen von Feuer-und Wasserprobe, sondern aus dem Kochen eines Gerichts mit anschließendem Abwasch. Die Verlegung in ein Hotel früherer Zeiten hilft auch aus der Verlegenheit, den Monostatos als Schwarzen auftreten zu lassen zu müssen, er ist nun Heizer und dadurch nur vom Ruß geschwärzt, so dass niemand Rassismus wittern kann. Die Königin der Nacht und ihre Damen kämpfen für das Frauenwahlrecht und dürfen zum Finale mitfeiern. Das ist alles sehr lustig und abwechslungsreich, vor allem weil neben den Sängern auch allerlei Pappfiguren und Marionetten auftreten (Patrick Martel), Groteskes und auch ab und zu Obszönes geboten wird und immer wieder überrachende Gags die Aufmerksamkeit wachhalten. Die humane Botschaft des Stücks allerdings ist nun, erdrückt von Jux und Tollerei, nicht mehr wahrnehmbar. Unterhaltsam ist die Aufführung ohne jeden Zweifel.

The Orchestra of the Age of Enlightenment unter Ryan Wigglesworth spielt einen frischen, espritreichen Mozart, der Glyndebourne Chorus unter Aidan Oliver hat sichtlich und hörbar am munteren Spiel wie am Singen Freude.

Der Tamino von David Portillo, zunächst im Schlafanzug, dann in karierten Knickerbockern, aber immer mit bravem Krägelchen, singt nicht ganz akzentlos, aber empfindsam die Bildnisarie, hat mehr Schmelz in seinem Tenor, als ein englischer Mozarttenor wohl aufzubieten hätte. In der Höhe wird die Stimme etwas eng. Eher ein Koloratursopran als ein lyrischer mit entsprechender Wärme in der Stimme ist Sofia Fomina, die Pamina, die so auch in ihrer Arie etwas gläsern-kühl wirkt. Auch Caroline Wettergreen ist nicht die ideale Königin der Nacht, dazu ist er Sopran zu soubrettig, man wünscht ihn sich einfach dramatischer. In ihrer ersten Arie will sie noch höher hinaus, als man es gewöhnt ist, und wird dann schrill, perfekt gelingt Der Hölle Rache. Gut aufeinander abgestimmt sind die drei Damen mit Esther Dierkes, Marta Fontanals-Simmons und Katharina Magiera. Brindley Sherrat hat trotz komischer Kochmütze die optische Autorität für den Sarastro, der Bass klingt mittlerweile etwas schütter. Verquollen hört sich die Stimme von Michael Kraus für den Sprecher an, sehr präsent ist auch vokal Jörg Schneider als Monostatos. Obwohl natürlich Weanerisches gegenüber einem englischen Publikums seine Wirkung verfehlen würde, kann sich Björn Bürger als Papageno auch mit Hochdeutsch und einer schönen Baritonstimme zum Zentrum des Geschehens und zum Publikumsliebling machen. Alison Rose ist ihm eine attraktive Partnerin als Papagena. So kann man Zauberflöte machen, muss man aber nicht unbedingt Opus arte (OABD 7268D). Ingrid Wanja     

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

 

Der Kini höchstpersönlich lässt sich von Zettler, dem Ersten Hofillluminator, und Klarei, dem Chef des Livrées, in die Geheimnisse der neuen Theatertechnik einführen und besteht auf einer Lichtprobe. Er ist entzückt von den neuen technischen Möglichkeiten. Dann erreichen bereits die  ersten Gäste die Herreninsel (Bühne: Volker Thiele). Gräfin Larisch-Wallersee, die Erbprinzessin von Thurn und Taxis und die Freifrau Truchsess von Wetzhausen gehen auf Position. Schon eilt Kaiser Franz Joseph II. in seiner Paradeuniform als Tamino durch den Park und lässt sich von den drei adeligen Damen, die sich nach ihrem kurzen Auftritt mit einer Maß stärken, aus seiner Ohnmacht wecken. Es ist mehr als nur eine hübsche Idee, die Enoch zu Guttenberg dieser bayrischen Zauberflöte zu Grunde legte, indem er ein Fest des Märchenkönigs im Spätsommer 1884 auf Herrenchiemsee mit der Tradition der in Adelskreisen beliebten Scharaden verband, bei der die Adeligen in die Theaterrollen schlüpften, zum Ausgangspunkt eines Spiels im Spiel und einer zumeist kurzweiligen Inszenierung der zu Des Königs Zauberflöte umfunktionierten Zauberflöte machte – erstmals 2010 in Herrenchiemsee sowie im November 2013 im Münchner Prinzregententheater. Ich gebe zu, ich hatte das zuerst für eine der üblichen Zauberflöten-Fassungen für Kinder gehalten.

Mit Jankerl und Alltagskleidung führt ein altersloser Papageno durch das Geschehen, was der mit allen komödiantischen Wassern gewaschene Gerd Anthoff mit der raumgreifenden Fabulierkunst des Volksschauspielers und geistreichen Seitenhieben auf Opern- und Weltgeschehen bewerkstelligt. Er dient als Scharnier zwischen den einzelnen Zeit- und Spielebenen. Sein singendes Alter Ego ist Max Emanuel Herzog in Bayern (Jochen Kupfer), der jüngste Bruder der Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn. Sie selbst, Sissi, spielt die Pamina, der Franzl, Kaiser Franz Joseph I., ist, wie gesagt, der Tamino, Cousin Ludwig II. übernimmt den Sarastro (Tareq Nazmi). Jörg Dürrmüller, der einen reifen Tamino und Franz Joseph gibt, und Susanne Bernhard, können nicht das Karlheinz Böhm- und Romy Schneider-Bild ersetzen; doch am meisten vermisst man als Erzherzogin Sophie von Österreich, die selbstredend die Königin der Nacht gibt, die spätere Doyenne des Josefstädter Theaters Vilma Degischer. Es fehlt auch eine Hand, wie die Ernst Marischkas, der zwischen Kitsch und Kunst, zwischen historischer Plausibilität und „so könnte es gewesen sein“ etwas mehr Ordnung in das brillant ausgetüftelte Geschehen und seine weltpolitische Dimension bringt.

Das Beiheft der DVD (FARAO Classics A 108095) nennt Enoch zu Guttenberg für die Musikalische Leitung und Inszenierung, es singt die Chorgemeinschaft Neubeuern, es spielt das von Guttenberg 1967 gegründete Orchester KlangVerwaltung. Anfangs witzelt der Dirigent mit Anthoffs Papageno, der die „wahre Geschichte der Zauberflöte“ erzählt und auf erfrischende Weise auf Distanz zu dem esoterischen Geschwätz der Eingeweihten und den freimaurerischen Ritualen geht. Den Text hat ihm Klaus Jörg Schönmetzler vorgeschrieben, die Dialoge wiederum stammen von zu Guttenberg und Schönmetzler.  Die feinsinnig erdache und bewusst amateurhaft angezettelte Aufführung bewegt sich trotz aller netten Ideen – Otto Fürst Bismarck, welchen Papageno als „gescheiter als wie hier alle zusammen“ vorstellt, spielt den Pickelhauben-Monostatos (Martin Petzold) – doch in den Bahnen einer braven Liebhaber-Aufführung aristokratischer Theater-Fans. Enoch zu Guttenberg dirigiert diese Zauberflöte als drastisch zupackenden, in der Szene der Geharnischten – mit dem preußischen Kronprinzen und dem später in Sarajewo ermordeten österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand – bedrohlich überdüsterten Theaterspaß, an dessen Gelingen Susanne Bernhard, Antje Bitterlich, der edle Tareq Nazmi, Jörg Dürrmüller, Jochen Kupfer als hoch besetzter, schuhplattelnder Papageno, Martin Petzold als Monostatos, die drei Damen Miriam Meyer, Olivia Vermeulen und Heike Andersen sowie Gudrun Sidonie Otto als Papagena, als deren mögliche historische Darstellerin die Macher die ungarische Schauspielerin Lila von Bulyovsky ausgemacht hatten, großen Anteil haben. Zu den „Strahlen der Sonne“ erscheint Sissi dann endlich im Sternenkleid (Kostüme: Claudia Krämer, Ingrid Bettega, Brigitte Huber).        Rolf Fath

„Schön, dass es viel zu tun gibt!“

 

Der in Berlin ansässige Komponist Max Doehlemann ist in vielen Genres tätig, hat aber eine besondere Vorliebe für Vokalkompositionen. Neben dem Musiktheater bespielt er vor allem auch Genres wie das Kunstlied, das heute in einer Krise zu sein scheint. Über die Frage, was das Lied im 21. Jahrhundert noch erhaltenswert erscheinen lässt, und warum jüdische Inhalte in der zeitgenössischen Musik so selten thematisiert werden, hat sich René Brinkmann mit dem Berliner Musiker unterhalten.

 

Sie sind einer der wenigen zeitgenössischen Komponisten, die sich immer wieder dem Thema „Lied“ in verschiedensten Besetzungen angenommen haben. Ist das Kunstlied heute lediglich etwas aus der Mode oder was hindert Komponistinnen und Komponisten daran, das Genre zu bespielen? Ich finde, dass es schon sehr interessante Lied-Kompositionen von „Zeitgenossen-Kollegen“ gibt. Ich arbeite ja viel mit Sängern, manchmal auch als deren Klavierbegleiter – da kam mir schon manches großartige, aktuelle Lied-Werk unter die Finger. Aber generell haben Sie recht, das Genre scheint irgendwie aus der Zeit gefallen…Vielleicht fehlen im Musikleben heute dazu ja Räume und Konzert-Formate. Auch Attitüden der Zeit könnten eine Rolle spielen: Neben einem Singer-Songwriter, der scheinbar „befreit“ über sich und seine Probleme singt, wirken klassische Liedabende auf viele heute vielleicht steif und künstlich. Ich halte das für einen Irrtum.

Oder auch: Viele Komponisten heute suchen sehr spezielle Herausforderungen. Sie begründen, mal böse gesagt, ihre Ästhetik oft eher mit Vermeidung von Tradiertem, als mit dem Wunsch, selbst eine originäre, eigene musikalische Sprache zu sprechen. Es fragt sich nur, ob man so -allein durch Vermeidung – zu echtem, persönlichem Ausdruck findet. Ich glaube: nein. Lied-Komposition verlangt Formung und man muss wie in einem Musik-Labor quasi eine musikalische Essenz entwickeln. In unserer Zeit-Ästhetik wollen sich viele aber nicht festlegen, sie trauen dem eigenen musikalischen Ausdruck im Grunde nicht so recht und bevorzugen deshalb wabernde, offenere Formen. Vielleicht auch ein Grund?

Was sind denn aus Ihrer Sicht die besonderen Herausforderungen für Komponisten im 21. Jahrhundert in Bezug auf Vokalkompositionen, abseits der Oper? Mir fällt dazu ganz praktisch ein, dass es doch ganz verschiedene Arten des Singens gibt, die praktiziert werden. Neben klassischem Gesang gibt es Musical-Gesang, Jazz, Rock oder auch Rap – ganz zu schweigen von den Gesangs-Arten anderer Kulturen. Es gibt in Europa schon lang keine klare Formung mehr in die Richtung, dass man die klassische Art zu singen (wie in Oper oder Oratorium) als Leitbild oder besonders zentrale Kunstform ansieht. Singen ist natürlich per se eine menschliche Grund-Äußerung und ein Grundbedürfnis jeder Kultur, aber wenn eine Kunstform daraus wird, kann sich das sehr unterschiedlich anhören. Die damit verbundenen musikalischen Horizonte sind total verschieden.

Ich selber habe zum Beispiel auch schon Musical-Songs komponiert, habe jahrelang mit singenden Schauspielern gearbeitet (besonders am Berliner Ensemble). Jazz ist mir auch nicht fremd und ich habe in Projekten gespielt mit orientalischen oder nordafrikanischen Sängern. Wenn ich als Komponist dann immer wieder „zeitgenössisches Kunstlied“ entwickelt habe, geschah das aus einer Erfahrung von Vielfalt heraus. Ich denke, viele Musiker heute gehen solche verschlungenen Wege durch verschiedene Stilwelten. Es gibt eine große Freiheit, Musik kann so vieles ausdrücken – und natürlich auch Schönheit. Eine Gefahr liegt vielleicht darin, dass man im künstlerischen Weg durch die große Welt der Möglichkeiten Abkürzungen nimmt, ohne die Welten wirklich durchdrungen zu haben – da kommt als schlechter Mix so eine Verflachung oder „Verpoppung“ dabei heraus. Letzteres bitte nicht falsch verstehen: Ich habe grundsätzlich nichts gegen Pop, wohl aber gegen eine anbiedernde Verpoppung, die ich zutiefst ablehne – ein wichtiger Unterschied ist das für mich!

Ich könnte mir vorstellen, dass auch die Wahl des Textes eine Rolle spielt, denn ähnlich wie das Lied in der Musik ist in der Literatur auch die Lyrik schon seit Jahren in einer Krise: Die großen Verlage veröffentlichen nicht mehr sehr viel moderne Lyrik, die anscheinend auch vom Publikum nicht mehr viel nachgefragt wird. Da hatten es die romantischen Komponisten zur Hoch-Zeit des Liedgenres schon besser, oder? Nachdem Bob Dylan für seine Songtexte den Literatur-Nobelpreis bekommen hat, könnte man vielleicht auch der Meinung sein, dass sich die Idee „Lyrik“ eben auch eher in den Bereich des Pop verlagert haben könnte. Viele Singer-Songwriter machen doch auf ihre Weise moderne, vertonte Lyrik. Das klassische Kunstlied-Genre ist sicherlich eine Musik mit viel größerer harmonischer und melodischer Komplexität – diese Art, Musik zu denken, war im 19. Jahrhundert konkurrenzlos anerkannt. Dann hat sich die klassische Musik des 20. Jahrhunderts vielfach in sehr spezielle Richtungen entwickelt – Richtungen, die nur selten das ins Zentrum gerückt haben, was die menschliche Stimme ausmacht. So gesehen hatten es die Romantischen Komponisten wohl wirklich besser. Es gab damals einen viel klareren, vorgegebenen Stilrahmen, den das Publikum auch verstand. Auch Stilbrüche oder sogar Umbrüche waren da leichter. Aber jede Zeit hat ihre interessanten Seiten, und genauso die heutige!

Inwiefern muss es denn überhaupt Lyrik von heute sein? Ist es nicht auch interessant sich einen, sagen wir, Heine-, Goethe- oder Schiller-Text herzunehmen und diesen mit moderner Musik neu zu interpretieren? In meinem Zyklus „Orte“ (davon ist gerade eine Studioaufnahme entstanden) habe ich unter anderem tatsächlich einen Goethe-Text vertont. Außerdem Trakl. Ich habe auch schon Paul Valéry, Shakespeare oder Eugenio Montale zur Grundlage genommen, meist in der Originalsprache. Oder Robert Gilbert, oder auch Jahrtausende alte Psalmen. Natürlich geht das alles. Aber es zählt bei jeder Komposition die Einzel-Lösung. Die Musik muss immer wieder individuell auf die Welten des Textes eingehen, was hätte es sonst für einen Sinn?

Auf Ihrem neuen Album „Ruach“, einem Doppelalbum, dass Sie sich mit dem Schweizer Komponisten Bo Wiget sozusagen teilen, gehen Sie ausgehend von diesem Wort aus dem hebräischen Bibel-Text auf eine recht komplexe und zum Teil ziemlich ironische Spurensuche nach der Bedeutung dieses Worts, das – wenn ich das richtig verstanden habe – einerseits in einer gewissermaßen metaphysischen Sicht als „Geist Gottes“ gedeutet werden kann oder aber auch ganz schlicht und einfach als „Wind über dem Wasser“. Ist das so in etwa richtig erfasst? In der traditionellen jüdischen Haltung ist es absolut üblich, hebräische Traditions-Worte auf ihren Bedeutungsgehalt abzuklopfen. „Ruach“ ist so ein Wort, es kann heißen „Geist“ (so verstanden es aber eher die Christen), hat aber auch andere Bedeutungen. Maimonides oder Spinoza begründeten den Rationalismus, indem sie so Schlüsselworte der hebräischen Bibel auf ihre Bedeutung hin diskutierten – eine Tradition, die das Christentum meines Wissens nicht kennt. Ich selbst bin ja Mitglied der Jüdischen Gemeinde. Ich toure viel als Klavierbegleiter eines Rabbiners mit Kabarett-Programm, Ironie gehört schon deshalb zum Tagesgeschäft. Natürlich reflektiere ich auch viel ernsthaft über jüdische Inhalte. Ironisch bei meinen Stücken auf der CD ist wohl vor allem das erste enthaltene Stück, meine Kantate „Der Bär antwortet“ (nach einem Text von Sören Heim). Das ist eine feierliche, pantheistische Hymne an das Sternbild des Großen Bären – für Sopran, Orgel und Trompete. Bo Wiget hat natürlich auch einen feinen Sinn für Humor, auch er ist ja bisweilen im kabarettistischen Bereich tätig. Nur wichtig: Nur, weil manchmal etwas ironisch klingt, heißt das lange noch nicht, dass es nicht auch ernst gemeint sein kann.

Wie kamen Sie denn auf die Idee, von diesem Bibelbegriff aus der Genesis ausgehend, Instrumentalmusik und Lieder zu kombinieren? „Ruach“ hat viele Bedeutungen:  Geräusch, Lärm, Wind, Atmosphäre, Stimmung. Nicht unbedingt nur „Geist“. In anderen Kontexten (zum Beispiel im von mir hebräisch vertonten jüdisch-liturgischen Text „Uwa Lezion“) heißt es eher „großer, donnernder Krach“. Ich finde, gerade in diesem Spannungsfeld Geist (christliche Interpretation) versus Wind (jüdisch-rationalistische Interpretation) hat das Wort eine besondere Aura, mal frei nach Walter Benjamin gesagt. Bo und ich haben länger nach dem passenden Titel gesucht, wir waren zwischendurch schon, weil wir beide so gern Tee trinken, bei „TeeOLogische Reflektionen“ (da sollte man uns beide auf dem Cover mit Teetasse sehen, ich hatte sogar schon einen Fototermin dafür klargemacht). Aber Ruach drückt dann doch besser aus, was diese Zusammenstellung ausmacht..!

Was ich interessant finde, ist, dass die jüdische Kultur in der Musik des 21. Jahrhunderts bis dato deutlich seltener öffentlich wahrgenommen wird als beispielsweise in der Literatur, wo es nach meinem Eindruck eine lebhafte Beschäftigung mit jüdischen Themen gibt, die immer wieder auch für Diskurse in den Feuilletons sorgt – wie beispielsweise erst kürzlich beim Konflikt zwischen den Publizisten Max Czollek und Maxim Biller, auch, wenn dieses Beispiel nun ein eher unerfreuliches ist. Im Prinzip kann man sich aber ob solch breiter Aufmerksamkeit aus Sicht eines Musikschaffenden doch nur wundern: Wo sind denn die Feuilletonisten in Bezug auf die neueste Musik mit jüdischen Themen? Gibt es denn da gar nichts zu diskutieren oder wenigstens zu entdecken? Zum Thema Czollek/Biller möchte ich mich nicht äußern, obwohl ich eine Meinung dazu habe. Sie sprechen von Musik „mit jüdischen Inhalten“ – das finde ich gut formuliert, denn es ist ja durchaus fraglich, was jüdische Musik per se überhaupt sein soll. Jüdische Inhalte kommen in der öffentlichen Debatte, in Zeitungsartikeln und so weiter ja durchaus vor, aber selten dabei geht es darum, was jüdische Kultur, was jüdische Perspektiven tatsächlich aus sich selbst heraus auszeichnet. Diese Perspektiven fehlen im Bildungskanon, ganz besonders im Bereich der Musik – vielleicht hat hier insgeheim immer noch Richard Wagner die Lufthoheit? Im 19. Jahrhundert wurde Jüdisches von Musikschriftstellern wie Hugo Wolf und anderen verächtlich gemacht – das könnte fortwirken. Ein Mendelssohn- Bartholdy konnte zwar genau wie ein Gustav Mahler oder Heinrich Heine den Platz im allgemeinen Bildungskanon einnehmen, aber nur, weil sie alle zum Christentum konvertierten und nichts oder wenig explizit Jüdisches produzierten (sie wurden trotzdem weiterhin als Juden angesehen). Die Leute heute wissen überhaupt nicht, was „jüdisch“ alles bedeutet oder bedeuten kann. Vor der NS-Zeit gab es deutsch-jüdische Denker mit Weltgeltung, die über explizit jüdische Inhalte schrieben – etwa Gershom Scholem oder Franz Rosenzweig. Wir wissen, wie die Geschichte weiterging. Auch heute werden natürlich fantastische Bücher geschrieben, so hat etwa der Philosoph und Judaist Christoph Schulte, (mit dem ich auch befreundet bin) ein tolles Buch über den kabbalistischen Begriff des Zim Zum geschrieben. Das Thema kommt auch auf der CD vor! Doch all das hat in der Musikwelt erstmal keine Relevanz. Man billigt dem Judentum musikalisch jenseits von Klezmer nicht allzu viel zu. Auch nicht, dass es völlig andere Sichtweisen beinhalten kann, dass ganz eigene geistige, kulturelle oder auch spirituelle Welten inbegriffen sein können. Vielleicht kann ich in meiner kleinen Welt ja dazu beitragen, dass sich das ändert. Es gibt die kabbalistische Idee von verstreuten Funken, die es aufzusammeln gilt – diese Vorstellung mag ich sehr.

Inwieweit ist überhaupt Ihr Selbstbild mit dem Begriff „Neue Musik“ vereinbar? Sie selbst entstammen ja nicht einer „typischen“ Komponisten-Laufbahn… Ich finde den Begriff „Neue Musik“ abgenutzt. Sicher mag es Zeiten gegeben haben, wo der Aufbruch in unbekannte Gefilde aufregend und interessant war. Auch ich habe eine Menge ausprobiert, merkte aber eigentlich schon zu Studienzeiten in den frühen 90ern, dass ich mit der intellektualistischen, vor allem zur Klangcollage neigenden Haltung vieler Kollegen nichts anfangen konnte. Ich fand diese Musik kalt und sie erzählte für mich nichts. Ich war dann über Jahre eher mit Buchautoren befreundet als mit Komponisten-Kollegen. Ich habe Filmmusik gemacht und langjährig an Sprechtheatern gearbeitet (an Opernhäusern übrigens auch, aber weniger). Herausgekommen ist dabei eine kompositorische Haltung, dass ich mit Musik unbedingt etwas ERZÄHLEN will. Ich habe nichts gegen eine experimentelle Haltung, ich mache das selber ja auch – suche aber Anlass und Inspirationen dazu mehr im Theatralischen und Performativen als in der Montage von Klängen.

Max Doehlemann und Rabbi Walter Rothschild/doehlemann.berlin

Wie entgegnen sie der häufig vertretenen kritischen Position, die moderne Literatur hätte es geschafft, ein Publikum bei der Stange zu halten, die moderne Musik jedoch nicht? Ich finde, dass diese Position leider nicht völlig von der Hand zu weisen ist. Was mich übrigens an der Haltung mancher Neue-Musik-Kollegen immer besonders gestört hat, ist dieser insgeheime Erziehungs-Anspruch, also diese Behauptung, ihre Musik sei perfekt so, aber das Publikum noch nicht so weit und müsse irgendwo „hingeführt“ werden. Ich dagegen möchte mit meiner Kunst niemanden erziehen. Sollte jemand sie nicht mögen, ist das O.K. und es ist nicht nötig, dann am Hörer nachzubessern. Voraussetzung ist natürlich schon, dass man solcher aktueller, nicht-kommerzieller Musik überhaupt eine Chance gibt – also dass man sie ernsthaft und mit offenen Sinnen anhört. Vielleicht auch zweimal. Dafür, dass das passieren kann, muss man Gelegenheiten schaffen. Und vorhandene Gelegenheiten unbedingt pflegen und erhalten.

 Sie haben in diesem Interview ja nun die Gelegenheit für Ihre und die Musik Bo Wigets zu sprechen: Wen geht Ihre Musik an, wer sollte sich Ihre Musik anhören? Grundsätzlich jede oder jeder mit Interesse an Musik jenseits von Hintergrund-Berieselung. Wer für gute Party-Stimmung sorgen will, sollte vielleicht lieber eine chillige Jazz-CD einlegen (habe ich auch schon gemacht). Hier, bei „Ruach“, muss man richtig zuhören. Vielleicht bei längeren Fahrten im Auto oder in der Bahn? Gern auch zu Hause. Es besteht die Chance, gut unterhalten zu werden, vielleicht Anregungen zu erfahren oder neue Perspektiven zu gewinnen. Es gibt auch eine philosophisch-religiöse Perspektive, angesprochen fühlen dürfen sich gleichermaßen Religiöse, „Aber“-Gläubige, Atheisten oder Spötter. Ich denke, es gibt nicht nur wegen Corona ein Bedürfnis nach tieferer Reflektion, Sinnfragen und dergleichen. Vielleicht kann man sich mit unserer Musik so beschäftigen, wie man es mit einem Buch kann. Die Frage, wie man das jetzt alles in Marketing-üblichen Begriffen taggen kann, war für uns offen gestanden zweitrangig.

Sie sind, wenn ich richtig informiert bin, als Komponist ausgehend von Berlin aktiv. In meiner Wahrnehmung gibt es in Berlin eine sehr vitale Szene zeitgenössischer Musik, die aber weniger wahrgenommen wird, als die klassischen „Leuchttürme“ der Neuen Musik in Donaueschingen, Darmstadt, usw. Woran liegt das? Ist die klassische Musik in Berlin so omnipräsent, dass sich die Feuilleton-Redaktionen ein leichtes Leben machen können, indem sie immer nur über die Konzerte der Weltstars berichten? Berlin ist überhaupt sehr voll mit Kultur. Hier finden (sehen wir mal von der Corona-Zeit ab) täglich so viele Veranstaltungen statt, dass man einzelne oft kaum noch mitkriegt. Dann ist Berlin ja vieles: Hauptstadt, Flickenteppich, zerrissen durch die Geschichte, es gibt überall viel Fluktuation – wenig Ruhe und Konstanz. In etwas ruhigeren, kleineren Orten ist neue Musik vielleicht besser wahrnehmbar. Was die Feuilletons angeht: ich habe den Eindruck, dass die heute auch mehr in Richtung „Star“-Vermarktung tendieren, als dass sie lebendigem Kulturleben oder wichtigen Gegenwartsdebatten der Kultur (jenseits einiger Reizthemen) einen größeren Raum einräumen. Gleichzeitig scheint es im Musikbereich ungeheuer fest gefügt zu sein, wer oder was als wichtig und relevant angesehen wird. Während im Literaturmarkt andauernd interessante, neue Talente in den Medien auftauchen, geht es in zumindest der Klassischen Musik ziemlich altväterlich zu: Da ist nur das gut und bewährt, was man kennt und was schon mindestens 75-mal besprochen wurde.

 Ist es abseits der großen Metropolen einfacher für zeitgenössische Komponisten, sich zu etablieren? Es fällt ja doch auf, dass viele der Zentren für zeitgenössische Kultur eben nicht in den klassischen Kulturmetropolen entstanden sind, sondern eben in Städten wie Darmstadt, Kassel, Donaueschingen usw. Das ist schon möglich. Aber dass ich zum Beispiel in Berlin wohne, heißt ja nicht, dass deswegen jetzt alle Stücke nur in Berlin gespielt werden oder werden sollten. Sie haben natürlich recht, dass es in Deutschland kleinteilige regionale Netze gibt, mit Hilfe derer entsprechende Komponisten oft langjährig promotet werden und dann irgendwann als „etabliert“ gelten. Ich habe leider über solche Netze nie verfügt.

 Anschließend: Was sind Ihre Pläne für die nähere Zukunft? Ich bereite mehrere Musiktheater-Projekte vor. Ich bin involviert in das neu gegründete Jüdische Theaterschiff MS Goldberg, das im Mai seinen Betrieb aufnehmen wird. Mit dem Brandenburgischen Staatsorchester steht eine Jazz-Kooperation mit mir als Solisten und Komponisten bevor. Ich werde konzertieren, unter anderem mit der Geigerin Liv Migdal oder dem Cellisten Ramón Jaffé. Verschiedene Kompositionen sind in Arbeit und neue Veröffentlichungen wird es auch geben- als Tonträger und als Noten bei der Universal Edition. Schön, dass es viel zu tun gibt!

Keusch und innig

 

Ihrem neuen Star Sabine Devieilhe öffnet ERATO regelmäßig die Aufnahmestudios. Jüngstes Zeugnis ist die CD Bach – Handel, welche im Dezember 2020 im Temple du St-Esprit von Paris entstand (0190296677861). Die Sängerin wird begleitet vom Ensemble Pygmalion unter Leitung von Raphaël Pichon. Das Programm umfasst weltliche und geistliche Werke von Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel. Es beginnt mit dem Gesang „Mein Jesu! was für Seelenweh“ von Bach, dem die Sinfonia aus der Kantate „Wir müssen durch viel Trübsal“ folgt. Die Sopranistin singt mit klarer, reiner Stimme von keuschem Klang und innigem Ausdruck. In der Sinfonia hat der Organist Matthieu Boutineau ein virtuoses Solo, das Orchester imponiert mit forschem Zugriff. Danach erklingt das erste Hauptwerk der Anthologie, die Kantate „Mein Herze schwimmt in Blut“ BWV 199. Sie ist achtteilig, besteht aus vier Rezitativen, drei Arien und einem Choral. Das erste Rezitativ gab der Komposition den Titel, Devieilhe gestaltet es voller Inbrunst, wie auch die folgende Arie „Stumme Seufzer“. Von Reue erfüllt ist „Tief gebückt“, die abschließende Arie „Wie freudig ist mein Herz“ von jubilierenden Koloraturen.

Die Beiträge von Händel stammen aus Oratorien des Komponisten und seiner Oper Giulio Cesare in Egitto. Letztere wurden sicherlich  ausgewählt, um die Virtuosität der Interpretin auszustellen. Zu hören sind „Se pietà di me“ aus dem 2. und „Piangerò“ aus dem 3. Akt. Ist Devieilhes Stimme in ihrer Keuschheit für die sakralen Werke geradezu ideal, kann sie auch in diesen beiden Soli mit deren lamento-Duktus überzeugen. Im Mittelteil der zweiten Arie („Ma poi morta“) ist zudem ihre Koloraturbravour gefragt und sie erfüllt diesen Anspruch meisterlich. Aus der Brockes Passion erklingen das Duett Maria/Jesus „Ja, ich sterbe dir zu gut“, wo der renommierte Bariton Stéphane Degout Partner der Sopranistin ist und sich mit empfindsamem Gesang bemerkenswert einbringt, sowie die Arie der Gläubigen Seele„Hier erstarrt mein Herz“.Die Solistin kann hier mit dramatischem Gestaltungswillen aufwarten. Schließlich gibt es noch einen Ausschnitt aus Händels Oratorium Il trionfo del Tempo e del Disinganno – die Arie der Bellezza „Tu del Ciel“, in der die Sopranistin mit überirdischem Gesang betört. Mit Bachs berühmter Kantate „Jauchzet Gott in allen Landen“ BWV 51 endet das Programm. Hier kann die Sängerin nochmals mit ihrem virtuosen Vermögen punkten, das vor allem im ersten und letzten Teil gefragt ist. Der Trompeter Hannes Rux liefert sich mit der Solistin einen virtuosen Wettstreit, der im finalen „Alleluja!“ zu zweistimmigem  Jubel führt.

Fehlerhaft ins Deutsche übersetzt ist Devieilhes Statement im Booklet, dass „ in der Kantate BWV 199 Figuren von Cleopatra bis hin zum Sünder tränenreich nach ihrem inneren Frieden streben“. Natürlich existiert in Bachs Komposition keine Cleopatra. Die Aussage der Sängerin war, dass „von der Cleopatra bis zur Figur des Sünders in der Kantate BWV 199 Tränen fließen und die Seele ewigen Frieden sucht“. Bernd Hoppe

Festivalecho

Nicht unterkriegen lassen von Covid-19 wollte sich die Donizetti-Stadt Bergamo, die zu Beginn der Pandemie als abschreckendes Beispiel für eine verfehlte Krisenpolitik bekannt wurde, und so führte sie trotz allem ihr alljährliches Festival im Herbst auch im Jahr 2020 durch. Anders verhielt man sich in Wien, wo für Aufführungen von Donizettis Belisario am Theater der Stadt Wien sogar teilweise, mit Roberto Frontali und Carmela Remigio, dieselben Sänger für die Titelpartie und die Antonina verpflichtet waren, wo die Aufführungen jedoch ersatzloch gestrichen wurden.

Natürlich gab es nicht wie vorgesehen eine szenische, sondern eine konzertante Aufführung, vom Label Dynamic dankenswerterweise aufgezeichnet. Das Parkett war dafür leergeräumt worden, sodass die Sänger viel Platz für beachtliche Abstände voneinander hatten, zwischen den ebenfalls über einen gewaltigen Raum verteilten, dazu noch mit Masken versehenen Chor, den Bläsern ohne und den Streichern mit Masken waren Plexiglaswände aufgestellt, auch Dirigent Riccardo Frizza trug eine Maske, die ihm allerdings regelmäßig unter die Nase rutschte. Eine eigenartig beklemmende Atmosphäre also, und umso größer die Bewunderung dafür, dass eine überaus mitreißende Aufführung von hohem künstlerischem Rang gelingen konnte.

Noch während Donizetti an seiner Lucia di Lammermoor für Neapel feilte, hatte er die Arbeit am Belisario begonnen, an der Vertonung des Schicksals eines oströmischen Feldherrn, der von Vandalen bis Persern alles besiegte, was dem oströmischen Kaiserreich als Bedrohung erschien, der sich schließlich eines ruhigen Lebensabends erfreute, was natürlich wenig operntauglich ist, so dass das Libretto lieber der Legende folgte, die von Blendung  und frühem Tod nach einer ungerechten Anschuldigung wissen will.

Ursprünglich war Placido Domingo, der immer bestrebt ist, sein Bariton-Repertoire zu erweitern, für die Titelpartie vorgesehen, sagte jedoch ab, so dass Roberto Frontali die Rolle übernahm und sich als wahrer Glücksfall erwies. Übrigens hatte bereits 1970 das Stück mit Leyla Gencer als Antonina eine promintente Besetzung erfahren. Der italienische Bariton nun gleicht von Mal zu Mal stärker Renato Bruson, was Legato und Phrasierung betrifft, die Stimme ist mit den Jahren etwas dunkler geworden, trägt auch in der mezza voce sehr gut und ist purer vokaler Balsam im Duett mit seiner Bühnentochter Irene „Ah se potessi piangere“. Letztere wird vom Mezzosopran Annalisa Stroppa gesungen, mit einer Stimme bis in die höchsten Höhen wie aus einem Guss, die die Töne raffiniert modelliert, feinste Tongespinste für  „Amici, è forza separarci“ hat und die das Terzett im letzten Akt nicht nur mit leuchtender Stimme anführt, sondern auch noch mit einem schönen Schlusston krönt.  Die aus gutem Grund intrigante Gattin Belisarios mit Namen Antonina wird von Carmela Remigio angemessen exaltiert, doch nie Belcantogrenzen überschreitend  gesungen, mit tollem Pianissimo in „Sin la tomba“, ebenmäßig bis in die Tiefe bei „é a me negata“, geschickt Belcanto an die Grenzen des Möglichen, was Expression betrifft, treibend. Ein echter tenore di grazia ist Celso Albelo, der als Alamiro seine Stärken in der leider nicht oft geforderten Höhe hat, während die Mittellage recht flach klingt, in „A si tremendo annunzio“ bewegt er sich leider nicht in seiner Komfortzone, erst in der folgenden Cabaletta geht es endlich in die bemerkenswerte Höhe. Es gibt noch einen zweiten Tenor, Klodjan Kacani als Eutropio, optisch wesentlich attraktiver als die Nummer 1 und vokal durchaus markant. Den Kaiser Giustiniano singt mit machtvoller Röhre Simon Lim.

Riccado Frizza ist ein erfahrener Kapellmeister, der bereits in der Sinfonia sowohl die tiefe Tragik wie das befremdend fröhlich Beschwingte auszuloten weiß mit einem Orchester, das natürlich seinen Donizetti im Schlaf spielen könnte. Die Oper Belisario verdient, da sie hinter der gleichzeitig entstandenen Lucia musikalisch in nichts zurücksteht, unbedingt einen Platz im Repertoire (Dynamic 57907 +7907.02 2 CDs/Audio)Ingrid Wanja     

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Ungekürztes aus Innsbruck

 

Il matrimonio segreto von Domenico Cimarosa ist ein melodramma giocoso in zwei Akten nach einem Libretto von Giovanni Bertati, das am 7. Februar 1792 unter der Leitung des Komponisten im k.k. Theater nächst der Burg (Burgtheater) in Wien uraufgeführt wurde. Obwohl Cimarosas bekannteste Oper relativ selten auf der heutigen Bühne und Tonträger zu finden ist (wenngleich doch einige ältere, wenngleich gekürzte  Aufnahmen wie z. B. die von der DG, Decca oder die alte verdienstvolle RAI-Einspieling in Erinneriung bleiben), seine Zeitgenossen, unter anderen Kaiser Leopold II., jedoch so begeistertwaren, dass das ganze Stück am Abend der zweiten Aufführung wiederholt werden musste.

Die vorliegende Aufnahme (CPO 555 295-2), ein Live-Mitschnitt von der Innsbrucker Festwochen den Alten Musik (August 2016), bietet, insofern ich weiß, die einzige ungekürzte Fassung der Oper.  Alessandro De Marchi dirigiert das Orchester der Academia Montis Regalis auf historischen Instrumenten mit Präzision, Scharfsinnigkeit und Detailgenauigkeit sowie emotionale Ausdruck in eine durchaus fesselnde und überzeugende Einspielung. Das Publikum ist meistens nur zwischen den musikalischen Nummern hörbar: ihr Applaus sowie Gelächter vermitteln den Eindruck einer echten Theateraufführung.

Il matrimonio segreto enthält keine Chöre, die Oper besteht aus Arien und Ensembles. Die hervorragende Sängerbesetzung umfasst Renato Girolami (Conte Robinson), Donato Di Stefano (Geronimo), Loriana Castellano (Fidalma), Klara Ek (Elisetta), Giulia Semenzato (Carolina) und Jesús Álvarez (Paolino). Da etwa 80 Prozent von ihnen Muttersprachler sind, merkt man, dass sie verstehen was sie singen und den komplexen Text idiomatisch ausdrücken können.

Semenzato und Álvarez wirken sympathisch als ein junges Liebespaar, das heimlich geheiratet hat; Girolami verkörpert einen lustigen Grafen der sein Versprechen, Elisetta zu heiraten erfüllt, obwohl er Carolina eigentlich liebt; Castellano schildert mitfühlend die Enttäuschung von einer reichen Witwe, die in Liebe zu Paolino entbrannt ist, ohne ihr Wissen, dass er bereits mit Carolina verheiratet ist; Ek porträtiert eine eifersüchtige, wütende ältere Schwester, die möglicherweise um eine Ehe mit einem adligen Mann betrogen werden könnte; Di Stefano gibt das Gefühl von einen liebevollen, aber verwirrten Vater, der das Beste für seine beiden Töchter will.

Diese Aufnahme gehört zu der Sammlung von jeden Kenner und Liebhaber der Wiener Klassik, nicht nur weil es eine Lücke in unserer Auffassung dem musikalischen Zeitgeist in Wien während der 1790er Jahre füllt, sondern als auch eine große Vergnügung. Die Präsentation von CPO ist insgesamt gut, ein Beiheft mit vollständigem Libretto in italienischer, deutscher und englischer Sprachen ist dabei. Leider gibt es weder Seitenzahlen für einzelne Titel noch Kommentar auf Italienisch, der Sprache des Werkes.

Es wäre eine große Freude, mehr von Maestro De Marchi und seiner Academia zu hören. Wünschenswert wären Aufnahmen von Nicolò Jomellis Armida abbandonata, was Mozart und sein Vater im Teatro die San Carlo in Neapel am 30. Mai 1770 erlebt haben, sowie Martin y Solers Una cosa rara und Giovanni Paisiellos Il Barbiere di Siviglia. Daniel Floyd

Domenico Cimarosa: Il matrimonio segreto, mit Renato Girolami, Donato Di Stefano, Loriana Castellano, Klara Ek, Giulia Semenzato, Jesús Álvarez, Academia Montis Regalis, Alessandro De Marchi; CPO 3 CD 555 295-2

Achtungserfolg aus Wien

 

Platée, eine lyrische Komödie („ballet bouffon“) von Jean-Philippe Rameau mit einem Libretto von Adrien-Joseph Le Valois d’Orville, besteht aus einen Prolog und drei Akten und wurde am 31. März 1745 in Versailles uraufgeführt. Das Werk fand erstmals wenig Erfolg, erst neun Jahre später mit einer Wiederaufnahme des Werkes erlebte es einen Triumph. Dann verschwand die Komposition aus dem Repertoire bis zu einer Wiederentdeckung im Mitte des 20. Jahrhunderts, dank einer Produktion des Aix-en-Provence Festspiels im 1956.

Es gibt nur eine kleine Auswahl von Aufnahmen auf dem Markt: u.a. eine aus der obengenannten Aufführung von Aix-en-Provence unter der Leitung von Hans Rosbaud, sowie eine von Marc Minkowski, die 1990 veröffentlicht wurde. Eine kürzlich erschienene Aufnahme von Les Arts Florissants mit dem Arnold Schoenberg Chor unter der Leitung von William Christie wurde im Theater an der Wien in Dezember 2020 aufgenommen (Harmonia Mundi,  HAF890534950). Es handelt sich um eine Live-Aufführung ohne Publikum, die sehr klar, frisch, lebendig, detailliert und warm klingt.

Bedauerlicherweise kann Christies Aufnahme der Platée nur eingeschränkt empfohlen werden, obwohl es viele positive Eigenschaften, insbesondere das ausgezeichnete Barockorchester, hat. Die Verpackung scheint eher ein Souvenir der Bühnenproduktion als eine ernsthafte Audioaufnahme von Rameaus Werk. Als Beispiel könnten die vielen Fotos von der Inszenierung, die nicht für eine Audioaufnahme relevant sind (für eine DVD-Video hätten sie mehr Sinn), mit ausführlichen Kommentar und ein paar Bildern der ursprünglichen Interpreten und Veranstaltungsorte, in denen Rameau dieses Werk aufführte, ersetzt werden.

Ein vollständiges Libretto im französischen Original mit Übersetzungen ins Englische und Deutsche ist erfreulicherweise im Textheft zu finden. Der Aufsatz von Lionel Esparza bietet Hintergrundinformationen zur Oper an, aber das Interview mit Christie gibt mehr Auskunft über seine persönlichen Erfahrungen als über die Komposition selbst (es beginnt mit der Frage, ob ihm das Stück wirklich gefällt). Als renommierter Rameau-Experte, hätte Christie einen eigenen wissenschaftlichen Aufsatz über das Werk verfassen können. Er deutet an, dass eine Mischung von Ausgaben (der Uraufführung und der Wiederaufnahme) verwendet wurde, aber weitere Einzelheiten zu den getroffenen Entscheidungen wären wünschenswert. Weiterhin wäre es hilfreich, die Schlussszene, die Rameau für die Wiederaufnahme komponierte, in einem Anhang zu haben, um die beiden Fassungen vergleichen zu können.

Die Sängerbesetzung ist für dieses Repertoire gut, allerdings gibt es den Eindruck, dass sie durch Konzentration auf die Inszenierung von der Musik abgelenkt werden. Die namensgebende Rolle ist mehr als ein lächerlicher, eitler Charakter, sie hat Gefühle und wird manipuliert, um zu glauben, dass Jupiter sie wirklich liebt. Am Ende wird sie gefühllos zurückgewiesen, verhöhnt und erniedrigt, ohne dass sie dafür entschädigt oder ihr erklärt wird, warum sie missbraucht wurde. Daher würde eine komplexere Darstellung von Platée besser zum wiederholten Hören passen als die eindimensionale Charakterisierung auf dieser Aufnahme (vielleicht könnte Marcel Beekman auf der Bühne als Schauspieler überzeugen, aber seine stimmlichen Manierismen sind nervig).

Insgesamt ist dies ein lohnender Beitrag zur winzigen Diskographie der Platée-Aufnahmen, aber es lässt mehrere Wünsche offen und gilt als eine Fallstudie, die veranschaulicht, warum eine Audioaufnahme anders als eine Bühnenproduktion konzipiert werden muss. Die Kenntnis von Rameaus Musik ist wichtig, um einen umfassenden Überblick über die Entwicklung des Musikdramas im 18. Jahrhundert zu gewinnen. Mit einigen Verbesserungen könnte diese Aufnahme als Referenz für dieses Schlüsselwerk gelten und, hoffentlich, könnte Harmonia Mundi sie wiederveröffentlichen mit einem Ansatz, den ich oben angedeutet habe. Daniel Floyd

 

Jean-Philippe Rameau: Platée, mit Marcel Beekman, Jeanine de Bique, Cyril Auvity, Marc Mauillon, Edwin Crossley-Mercer, Emmanuelle de Negri, Emilie Renard, Arnold Schoenberg Chor, Les Arts Florissants, William Christi; harmonia mundi 2 CD  HAF890534950

Hommage und Visitenkarte

 

Nach und neben Karl Böhm war der gebürtige Salzburger Leopold Hager lange Zeit der herausragende Zeuge für einen authentischen Mozart-Stil, bevor „Revoluzzer“ von Nikolaus Harnoncourt bis Teodor Currentzis mit ihren alternativen Klangvorstellungen auch bei den Salzburger Festspielen für einen grundlegenden Paradigmen-Wechsel sorgten. In gewisser Weise ist dieses von dem Bariton Rafael Fingerlos im zurückliegenden Frühjahr in Salzburg produzierte und sängerisch bestrittene Recital Mozart made in Salzburg eine nostalgische Zeitreise, bei der sich Hörer, die noch mit Böhm und Hager aufgewachsen sind, entspannt zurücklehnen können. Der zum Zeitpunkt der Aufnahme 85jährige Hager zeigt mit dem Salzburger Mozarteum-Orchester, dessen Chefdirigent er von 1969-81 war, keine Spur von Altersmüdigkeit und lässt Mozarts Musik mit weitgehend beschwingten Tempi in üppiger Klangpracht erblühen. Die generationenübergreifende Zusammenarbeit im Dienste Mozarts war dem jungen Bariton ein Herzensanliegen und sollte zugleich eine Hommage an die Stadt werden, von der seine rasche Karriere ihren Ausgang genommen hatte.

Das Recital enthält alle Mozart-Opern, in denen Fingerlos aufgetreten ist, dazu eine bravouröse Arie aus der unvollendet gebliebenen „Zaide“, vier Konzertarien und das von Hager am Klavier begleitete Kunstlied „An Chloë“. Dazu das kurze Lamento „Wie unglücklich bin ich nit“ von 1772. Dass diese große Huldigung an Mozart zugleich eine tönende Visitenkarte des Sängers ist, steht außer Zweifel und er ist sich auch wohl bewusst, dass er sich bei dieser Gelegenheit mutig einer langen und großen Tradition stellen muß.

So locker und verschmitzt, wie er sich auf dem Cover präsentiert, mit Hosenträgern über dem T-Shirt, ist Fingerlos als Sänger nicht. Da ist schon etwas eine spätere Kammersängerwürde zu ahnen. Die Stimme ist kernig und der Vortrag zeigt Energie und Autorität. Die dargestellten Charaktere aber teilen sich nur verschwommen mit, vor allem fehlt es durchweg an komödiantischer Nuancierung. Und wenn wir schon in Salzburg sind: In den beiden Papageno-Arien vermisst man den Volkstheaterton, wie ihn Erich Kunz und Walter Berry so unvergeßlich trafen. In Guglielmos Arie „Donne mie“ drängen sich Vergleiche mit dem ungleich witzigeren und charmanteren Hermann Prey auf und für das Ständchen des Don Giovanni fehlt es an dem verführerischem Schmelz eines Cesare Siepi. Mag sein, dass Fingerlos in allen drei Rollen auf der Bühne und ohne die Last bedeutender Vorbilder auf dem Rücken stärkere Wirkungen erzielt.

Auf Hagers Vorschlag hin hat er in diesem Recital auch die Arien des Leporello und des Figaro aufgenommen. An sich eine reizvolle Idee, viele Sänger haben ja abwechselnd den Herrn und den Diener gesungen – man denke an Samuel Ramey, Ferruccio Furlanetto und Bryn Terfel – und ihre jeweiligen Rollenprofile haben von diesem Wechsel profitiert. Auf der Klangbühne aber sind im Falle von Fingerlos die farblichen Kontraste zwischen den Gegenspielern nicht scharf genug. Leporello ist stimmlich imposant, auch Figaro weniger aufmüpfig als herrisch. Das überraschende Prunkstück der Sammlung, auch in sängerischer Hinsicht, ist die veränderte Cabaletta der Grafen-Arie, die Mozart für den Sänger der Wiener Premiere geschrieben hatte und die selbst der Mozart-Experte Hager vorher nicht kannte. Sie erfordert eine ungeheure stimmliche Flexibilität und ist mit 14 hohen G’s eine Herausforderung für jeden Bariton. Für Fingerlos, der kein Bassbariton ist, wie er in vielen Mozartrollen angelegt ist, sondern mehr in die tenorale Richtung neigt, ist das ein gefundenes Fressen. (Solo Musica SM 377Ekkehard Pluta