Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Voi che sapete

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Noch ein Mozart-Album, stellte Elsa Dreisig wohl mit einigem Zweifel an der Berechtigung ihres Vorhabens noch im Booklet fest. Und zu Recht konnte sie festellen: „Aber sicher“, und es damit begründen, dass für eine Sängerin „meines Temperaments …Mozart ein absolutes Muss“ ist.

So klar diese Aussage ist, so rätselhaft zumindest auf den ersten Blick ist die Covergestaltung ihrer Mozart-CD mit einem durchkreuztem O im Namen des Komponisten und einer 3 anstelle des Z. Auf den zweiten Blick versteht der überraschte Opernfreund, dass es um dreimal drei Arien aus den Da-Ponte-Opern geht und zusätzlich um jeweils eine Arie aus drei Opere Serie.

Es beginnt mit den drei Damen aus CosÌ fan tutte, von denen natürlich Fiordiligi die dem klaren, leuchtenden Sopran  angemessenste ist, der mit einem energischen Rezitativ und gewagtem Intervallsprung beginnt, in der Extremtiefe etwas rauchig klingt und in „Come scoglio“ an Reinheit, Rundung und Wärme kaum zu übertreffen ist. Da gibt es nichts in der Eile Verwaschenes, sondern durchgehend klare Konturen. Auch in Dorabellas „Smanie implacabili“ lässt sich das Sopranleuchten nicht verleugnen, für Despinas „In uomini“ gibt sich die Stimme so spitzig wie spritzig und durchweg maliziös.

Nicht dem Kummer um die verlorene Nadel ist die dritte Arie aus Le Nozze di Figaro gewidmet, sondern Cherubinos „Voi che sapete“, denn Mozart schrieb die Partie für einen Sopran. Die Stimme von Elsa Dreisig nimmt dafür einen wärmeren Klang an und erfreut den Hörer mit hübschen Verzierungen. Ihre eigentliche Berufung dürfte im Moment zwischen Contessa und Susanna liegen, denn für die Erstere legt sie einen zarten Schleier der Wehmut über das Timbre, klingt noch mädchenhaft, singt ein sehr schlankes Rezitativ vor „Dove sono“ und beweist, wie gut ihr Piano trägt, wie perfekt das Legato ist. Susannas Rosenarie kann in ihrer Interpretation mehr gefallen als  die noch zu sehr in der Knospe Verharrenden, sie spinnt feine Tongirlanden, und über allem steht das Attribut „duftig“.

Es folgen die drei Frauenpartien aus Don Giovanni, beginnend mit Donna Anna, in deren Stimme kein Betrug nach Art moderner Regie auszumachen ist, die in „Non mi dir“ durch den leichten Tonansatz, den Klang, der zu schweben scheint, ausgezeichnet ist. Noch näher dürfte der Sängerin Donna Elvira stehen, die behände und klar artikulierend nichts Verschwommenes aufkommen lässt, während Zerlina einen fein tröstenden Ton annimmt.

Aus den Opere Serie widmet sich der Sopran nicht den feinen Figuren Ilia und Servilia, sondern den interessanteren Elettra und Vitellia, wobei das Orchester wütender klingt als die Erstere, für die Vitellia die Verbindung von Furor und Klangschönheit gelingt, und für den Cecilio aus Lucio Silla wird noch einmal ein schönes, sanftes Ebenmaß eingesetzt.  Durchweg als einfühlsamer Begleiter erweist sich das Kammerorchester Basel unter Louis Langrée, und insgesamt kann der Hörer bekennen: Ja, diese Mozart-CD musste sein (Erato 0190296412257). Ingrid Wanja

Ingrid Wanja

Zartes aus der Schweiz

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Mit dem doppelten Titel Zauberluft und Air Magique trägt das Cover der Lied-CD aus der Schweiz wenigstens zwei derer Landessprachen Rechnung, das Foto von Sängerin Stephanie Bühlmann und Pianist Benjamin Engeli ist in zarten Beige-Tönen gehalten, und so lassen Titel und Farbgestaltung schon einmal nichts Abrupt-Modernes, die Sinne Aufwühlendes, gar Abstoßendes, vermuten. Auch im Booklet ist vom Streben nach Harmonie die Rede, vom Zurückkehren zum Dreiklang und von der Schweiz als „Zwischenland“.  Zwischen 1917 und 2016, also innerhalb eines Jahrhunderts sind die Stücke entstanden, Vater und Sohn, Deutschsprachige und Französischsprachige vertreten, wobei auch zwei Kompositionen auftauchen, die ins Französische übersetzte deutsche Gedichte von Heine und Chamisso zur Grundlage haben.

Originalgedichte von Heinrich Heine aus dessen Buch der Lieder hat Richard Flury (der Ältere) vertont, es beginnt aber mit „Sommerwolke“ auf einen Text von Otto Zinniker, für die der Sopran eine frische, mädchenhafte Stimme einsetzt, bei deren Einsatz  aber auch das Hauptmanko, eine recht verwaschene Diktion zu beanstanden ist, die kaum damit zu entschuldigen ist, dass sich sowohl im Textlichen wie im Musikalischen vieles im Ungefähren abspielt. Besonders die Zeilenanfänge sind davon betroffen. Der Sopran trägt sehr gut im Piano, wie „Augenzauber“ beweist, Intervallsprünge wie in „Im wunderschönen Monat Mai“ werden sicher gemeistert, das Vibrato ist auch in der Höhe sehr fein. Angemessen viel Zeit nimmt sich die Sängerin für bedeutungsschwere Begriffe wie „klingen“ oder wird angemessen dringlich wie für „Verlangen“, bedeutungsschwanger auf „ewig“ im Mörike-Lied Nimmersatte Liebe. Eine besondere Qualität der Sopranstimme ist der zarte Schimmer, der auf ihr zu liegen scheint, was insbesondere im Lied Libelle auszumachen ist.

Auch Goethe wurde vom altpersischen Dichter Hafis inspiriert, auf dessen Gedichte der Tenor und Komponist Daniel Behle drei auf der CD vertretene Lieder komponierte. Hier erwartet man von der Stimme mehr Sinnlichkeit, wird sie erst in Am Anfang in Treuen so expressiv, wie Text und Musik es verlangen. Ringelnatz liegt der Sängerin mehr, ihre Interpretation von Tiefe Stunden ist angemessen kontrastreich, während Nachtschwärmen noch recht verhuscht klang. Interessant ist die knappe Klavierbegleitung.

Urs Joseph Flury, der Sohn von Richard, lässt das Klavier ironische Akzente setzen, das gemeinsam mit der Stimme den Kontrast zwischen „kleiner Melodie“ und „Sommer-Sinfonie“ erfahrbar macht, in Die schöne Farbe werden die Konsonanten sehr weichgespült, gibt sich die Stimme ein geheimnisvolles Flair.

Auch bei den Liedern auf französische Texte lassen sich dieselben Qualitäten bewundern und Einwände machen wie bei den deutschen Liedern. hat Gedichte des Litauers Algimantas Narakas vertont, in Après le bal umspielt das Klavier liebevoll die Stimme, in Carriole au matin schwingen Melancholie und Nostalgie mit, wird es energisch wie in Automne, wird einiges in der Eile verschluckt, in Valse des années  Hingetupftes zur Manier.

Sechs Lieder von Paul Miche beschließen die Aufnahme, auch sie zu zurückhaltender Klavierbegleitung spätromantisch bis impressionistisch. In Instant kann die Sängerin noch einmal mit feinen Tongespinsten glänzen, bitter-süß in Romance italienne klingen und in schöner Schlichtheit Terre Jurassienne feiern und mit zum Beweis dafür beitragen, dass auch heute noch tonales Komponieren möglich und erfolgreich sein kann (SM 384). Ingrid Wanja    

Nullte und Achte

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Hätte Johann Sebastian Bach eine romantische Sinfonie geschrieben, wie hätte sie wohl geklungen? Sicherlich eine rein hypothetische Frage, die spekulativ bleiben muss. Und doch gibt es bei Anton Bruckner stellenweise eine erstaunliche Rückbesinnung, die auch an Bach gemahnt. Tatsächlich sah sich Bruckner selbst als einen „Unzeitgemäßen“, so dass Reminiszenzen nicht allzu sehr verwundern sollten. Dass man sie gerade in einem Werk findet, das gemeinhin nicht im Fokus steht, ist von daher hochspannend. Die vom Komponisten später als „ungiltig“, „ganz nichtig“ und „annulirt“ bezeichnete Sinfonie d-Moll WAB 100, wohl auch deswegen inoffiziell Die Nullte genannt, stammt aus dem Jahre 1868, steht also zwischen der regulären ersten und der zweiten Sinfonie, was man bis 1983 gar nicht wusste und sie deutlich früher verortete. Zu seinen Lebzeiten wurde sie nicht aufgeführt. Der Wiener Hofopernkapellmeister Felix Otto Dessoff meinte nach Durchsicht der Partitur konsterniert: „Ja, wo ist denn das Thema?“ Dass Bruckner es trotz allem nicht übers Herz brachte, die Partitur zu vernichten, darf als Glücksfall bezeichnet werden, denn so konnte sehr viel später – im Jahre 1924, im Gedenkjahr anlässlich der 100. Wiederkehr seiner Geburt – doch noch ihre Uraufführung begangen werden

Und nun, fast wiederum ein Jahrhundert später, legt Capriccio sie im Rahmen seiner geplanten Gesamtaufnahme mit dem Bruckner Orchester Linz unter Markus Poschner vor (Capriccio C8082). Die Nullte hat sich langsam aber doch merklich einen festen Platz in der Bruckner-Diskographie erkämpft und wird immer häufiger bei Zyklen der Bruckner’schen Sinfonien mitberücksichtigt – anders als die ganz frühe Studiensinfonie f-Moll, teils scherzhaft Doppelnullte genannt, die noch wenig von einem eigenen Personalstil Bruckners erahnen lässt. Dies kann man der Nullten indes nicht unterstellen. Speziell im Kopfsatz und zu Beginn des Schlusssatzes wähnt man einen bald bachisch, bald mediäval anmutenden Tonfall, nicht ganz unähnlich jenem in Mendelssohns Reformations-Sinfonie. Der langsame Satz erreicht zwar noch nicht die Ausmaße späterer Bruckner-Sinfonien, doch hat er trotz seines etwas provisorischen Charakters seinen Reiz. Dies gilt in Sonderheit für das sehr trotzig daherkommende Scherzo, das einen frühen Höhepunkt im Schaffen Bruckners darstellt. Poschners Ansatz ist eher kammermusikalisch und insofern die gar nicht so kleine Diskographie durchaus bereichernd. Er vermeidet Klangmischmasch und zielt auf sehr gute Durchhörbarkeit, unterstützt von der wirklich exzellenten Tontechnik (Aufnahme: Musiktheater, Linz, 22.-24. Februar 2021). Mit Poschners eigenen Worten gesagt, sei das Schaffen Bruckners „bis heute provokativ, unfertig, streitbar, unangepasst radikal und damit zeitlos modern“. Die beschreibt letztlich auch treffend seine Interpretation. Das Bruckner Orchester Linz ist selbstredend in seinem Element. Es ist auch nicht dessen Erstbeschäftigung mit dem Werk.

2008 spielte Dennis Russell Davies die Sinfonie „Nr. 0“ für Arte Nova ein. Und schon von 1981 gibt es eine ORF-Produktion mit Theodor Guschlbauer. Selbstredend bedient man sich auch diesmal der 1968 vorgelegten Edition von Leopold Nowak, welche die bis dahin genutzte 1924er Edition von Josef Venantius von Wöss als überholt erscheinen ließ. Alles in allem also eine sehr gelungene Alternative zu den „romantischeren“ und ähnlich genialen Einspielungen von Stanislaw Skrowaczewski (mit dem RSO Saarbrücken bei Oehms, besonders aber mit dem japanischen Yomiuri Nippon Symphony Orchestra bei Denon) und Paavo Järvi (mit dem hr-Sinfonieorchester in der neuen Komplettbox bei RCA). Das beiliegende zweisprachige Booklet (Deutsch und Englisch) mit informativem Einführungstext von Paul Hawkshaw ist tadellos. Daniel Hauser

Bereits im Februar 2018 wurde die vom Umfang her gewaltigste Bruckner-Sinfonie, nämlich die Achte, durch das Bruckner Orchester Linz unter Markus Poschner im Rahmen der geplanten Gesamtaufnahme eingespielt (Capriccio C8081). Man entschied sich für die bewährte Leopold-Nowak-Edition von 1994, welche die Hinzufügungen von Robert Haas eliminierte und Bruckners 1890 vollendete Zweitfassung der Sinfonie darstellt (die Erstfassung von 1887 soll durch Poschner und die Linzer ebenfalls noch vorgelegt werden). Wie Paul Hawkshaw in seinem sehr lesenswerten Essay darlegt, erkannte der notorische Wiener Kritiker Eduard Hanslick den Stellenwert des Werkes mitnichten und stürmte bei der Uraufführung theatralisch noch vor dem Finalsatz aus dem Saal. Er lag aus heutiger Sicht, wie so häufig, daneben. Schon Johannes Brahms soll hingegen gemeint haben, Bruckner sei eben doch ein großes Genie.

Trotz vergleichsweise lebendiger Tempowahl (15:12 – 13:52 – 24:32 – 22:36), die eine einzige CD ausreichend macht, verfällt Poschner glücklicherweise nicht einem unangemessenen Geschwindigkeitsrausch. Selten gehörte Nebenstimmen werden durch den transparenten und doch vollen Orchesterklang beleuchtet, ohne das dem Werk darüber die Majestät genommen würde, die es gleichsam naturgemäß ausstrahlt. Die orchestralen Höhepunkte wie die Beckenschläge im himmlischen Adagio und gerade auch die fulminante Schlusscoda mit fanfarenartigen Blechbläsern werden herzhaft ausgespielt. Die Flexibilität des Dirigats Poschners gemahnt stellenweise fast an den in Sachen Bruckner für nicht wenige unerreichten Eugen Jochum. Poschners Interpretation steht in der katholisch-süddeutschen Tradition, was beim in München geborenen Dirigenten und dem in der Bruckner-Exegese überaus erfahrenen oberösterreichischen Klangkörper nicht wundernimmt. Überhaupt muss wiederum die spieltechnische Qualität des Orchesters betont werden, das zumindest in diesem Repertoire mit berühmteren Orchestern problemlos mithalten kann.

Klanglich darf dem Wiener Label Capriccio abermals eine ungemeine Brillanz bescheinigt werden, die diese Serie schon jetzt zum audiophilen Glanzpunkt in jeder Bruckner-Sammlung macht. Als kleinen Wermutstropfen mag der HiFi-Anhänger empfinden, dass die „Bruckner 2024“-Reihe nicht auch im SACD-Format erscheint. Aber das sind Marginalien. Auch bezüglich Sinfonie Nr. 8 darf gelten: Geglückt in jeder Beziehung. Daniel Hauser

Paradiesisches

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Eden heißt das neue Album von Joyce DiDonato bei ihrer Stammfirma ERATO, das im Sommer 2021 im italienischen Teatro Comunale di Lonigo aufgenommen wurde (0190296465154). Es offeriert eine Sammlung von 16 Titeln in der für die Sängerin typisch kontrastreichen Vielfalt. Das unter Maxim Emelyanychev begleitende Ensemble Il Pomo d’oro ist der Künstlerin ein erprobter Partner und erweist sich auch bei dieser Einspielung als versierter Klangkörper, muss hier sogar unterschiedlichste musikalische Stile beherrschen. Denn das Programm beginnt mit Charles Ives’ „The Unanswered Question“, das nach sphärischem Rauschen die Stimme in außerirdisch anmutenden Vokalisen ertönen lässt, gefolgt vom ersten Vokalbeitrag, Rachel Portmans „The First Morning of the World“, der hier als Weltersteinspielung erklingt. Die Komposition beginnt träumerisch, erinnert klanglich an Elgars Sea Pictures und gibt dem Mezzo reiche Möglichkeiten zur Entfaltung. Danach führt die Musikreise in die Romantik mit „Ich atmet’ einen linden Duft“ aus Gustav Mahlers Rückert-Liedern, aus denen später noch „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ ertönt. DiDonato gestaltet sie mit großer Kultur und feinen Valeurs. Danach hat die Sängerin noch „Schmerzen“ aus Richard Wagners Wesendonck-Liedern ausgewählt, singt es mit stimmlicher Fülle und emphatischem Gefühl.

Mit dem munteren, rhythmisch betonten„Con le stelle in Ciel che mai“ aus Biagio Marinis Scherzi e canzone beginnen die Kompositionen aus dem Bereich der Alten Musik. Es folgt die bewegte Aria des Angelo di giustizia, „Taglierò le sponde al mare“ aus Josef Mysliveceks Oratorium Adamo ed Eva. Souverän bewältigt die Sängerin die ausgedehnten Koloraturläufe, die Aufschwünge in die exponierte Lage und die dramatischen Akzente. Anschließend führt der Weg mit dem launischen „Nature, the gentlest mother“ aus Aaron Coplands 8 Poems of Emily Dickinson wieder zum  zeitgenössischen Genre. Nach einem instrumentalen Intermezzo mit Giovanni Valentinis Sonata enharmonica geht es weiter mit Titeln aus der Alten Musik – der so schmerzlichen wie aufbegehrenden Arie des Calisto „Piante ombrose“ aus dem gleichnamigen Werk von Francesco Cavalli und der furiosen Aria der Fulvia, „Ah, non son io che parlo“ aus Georg Friedrich Händels Ezio. Mit höchster Spannung ist schon das Rezitativ geformt, die Aria gleichfalls geprägt von einem dramatischen Erregungszustand und glänzendes Zeugnis für DiDonatos hohe Gestaltungskraft. Dazwischen hat das Orchester einen grandiosen Auftritt mit der Danza degli spiriti e delle furie aus Glucks Orfeo ed Euridice  – wahrlich ein Sturm der Geister in rasendem Tempo und atmosphärischem Spuk. Vom Hallenser Komponisten gibt es anschließend noch die Arie der Irene, „As with rosy steps the morn“, aus Theodora in weltentrückter Stimmung, was auf Mahlers Rückert­-Lied einstimmt, sowie einen Bonus mit dem berühmten Largo des Serse „Ombra mai fu“. Der sattsam bekannte und unzählige Male interpretierte Titel erklingt hier in so schlichter wie feierlicher Weise mit delikat geformten Trillern und schwebenden hohen Tönen – ein wunderbarer Ausklang dieser sehr besonderen Platte. Bernd Hoppe

Wien, Wien nur Du allein

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„Wien, Wien nur Du allein sollst stets die Stadt meiner Träume sein.“ So lautet die erste Zeile des Evergreens von Rudolf Sieczynski. Wien gilt als die Stadt des Wiener Walzers. Wien ist bis heute eine Musikstadt, ist die „Stadt der Geiger und Tänzer“ (Fritz Lange). Als Säulenheilige der Wiener Musikgeschichte gelten Mozart, Haydn, Beethoven, Schubert und Johann Strauss. Sie gehören zum nostalgischen Topos Wien bis heute, ebenso wie der Prater, der Zentralfriedhof oder die Hofburg.

Doch schon 1906 schrieb der Schriftsteller Hermann Bahr in seiner Wien-Monographie: „Was wird nun aus Wien? … Täuschen wir uns nicht, wir haben ausgespielt, wir sind vorbei, wir sind Geschichte, wir sind eine schöne Erinnerung!“  Ferdinand von Saar hingegen mahnte schon in seinen Wiener Elegien 1893: „Scheltet mir nimmer Altwien.“

Zurecht stellt Michael Meyer,  der Autor des 243 Seiten starken Buches, fest: „Bahr und Saar kontrastieren unter Einbeziehung der Musik das neue Wien mit seiner Vergangenheit. Bei ersterem ist von einer modernen Großstadt die Rede, die ein Problem hat mit dem ‚alten Schein‘, der auf ihr ‚lastet‘. Saar entwirft dem gegenüber mit ‚Altwien‘ eine verehrungswürdige Gegenwelt, die Zeit der ‚Wiener Klassik‘ wird als heile Welt beschrieben, vor der die „Neuern“ Respekt haben sollen.“

Thema des Buches ist die Diagnose einer „verklärenden Rückschau auf die Vergangenheit, vor dem Hintergrund einer Skepsis gegenüber der Gegenwart, einer „Aneignung des Vergangenen“, ja des Umgangs mit „musikalischer Vergangenheit“ in Wien um 1900.  Es ist die Wiener Moderne. Der Versuch einer solchen Zusammenschau wurde bisher noch nicht unternommen. Er ist Frucht eines an der Universität Graz von 1995 bis 2005 betriebenen Spezialforschungsbereichs “Moderne- Wien und Zentraleuropa um 1900.“ Ein großes Thema, das eine Unmenge von Quellenmaterial aufweist. Beschränkung und Auswahl verstehen sich daher von selbst.

Wie der Musikwissenschaftler Michael Meyer zurecht schreibt: „Im Grunde lässt sich praktisch alle damals komponierte Musik als Auseiendersetzung mit Vergangenheit lesen.“

Bestes Beispiel: Gustav Mahler. Seine „Sinfonien mit ihrem Einbezug von Märschen, Ländlern und Walzern im Rahmen eines Weiterdenkens der von Beethoven herkommenden Sinfonietradition genauso wie die der Tradition Johann Strauß‘ und Josef Lanners erwachsenen Walzerkompositionen Carl Michael Ziehrers.“

Es geht um paradigmatisch erkannte „Formen des Umgangs mit Geschichts- und Erinnerungskultur“ Wiens in historiographischen Arbeiten, die Michael Meyer interessieren: Festanlässe, Wiener Musikgeschichtsschreibung, Feuilletons und Programmschriften. Wer glaubt, man lese in diesem Buch nur affirmativ-identitätsstiftende Zeugnisse der Musikstadt Wien, irrt. Gerade die von der Gründerzeit bis zum Zusammenbruch der Habsburgermonarchie reichende Identitätskrise steht im Mittelpunkt der 6 Kapitel, die in drei Abteilungen gegliedert sind: Urbanität und Fortschritt, Geschichte und Erneuerung, Distanz und Auflösung.

Das Buch ist eine Lektion in Stadt- und Musikgeschichte der Kaiserstadt, man liest „wie alles Gegenwärtige auf der Vergangenheit beruht“ (Eugen Guglia), aber auch über Legitimierung durch Geschichtsvergewisserung, „Umschwung“ und „Reform“ (E. Hanslick) und über die Geschichte des griechisch renaissancistischen Musikvereinsgebäudes, aber auch das empirisierend biedermeierliche Wiener Konzerthaus. Ein besonderes ausführliches wie detailliertes Kapitel ist dem Wiener Walzer gewidmet, er gilt bei Fritz Lange als „universell-gesellschaftsstiftende und entsprechend leicht popularisierbare Kunstform zum Vehikel der Erzeugung von Identität durch Geschichtsvergewisserung“. Die große ‚Ausstellung für Musik- und Theaterwesen‘ im Jahre 1892 im Wiener Prater, so erfährt man, habe nach Hanslick den Besuchern sowohl „Belehrung“ als auch „Vergnügen“ geboten. Der Heroenkult der Jubiläumsfeiern für Schubert 1897 und Haydn 109 wird eingehend dargestellt, aber auch „linke Lesarten“ der Musikgeschichtspopu­larisierung, etwa im Satireblatt ‚Die Glühlichter‘.

Es wird nicht vergessen, dass „Geschichtsvergewisserung in Wien um 1900 auch eine radikale Erweiterung des Kanons der ‚Wiener Klassik‘ bis hin zu Anton Webern und den Kreis um Arnold Schönberg“ zur Folge hatte. Lebende Komponisten galten plötzlich als Alternative. In diesem Sinne gab es, wie David Josef Bach meinte „Trutzkonzerte“ gegen die affirmative Wiener Musikfestwoche 1912 mit Musik von Komponisten wie Schönberg, Schreker, Novàk, Suk, Berg und Webern. Sie galten als Leitfiguren der musikalischen Moderne um 1900.

Besonderes Augenmerk kommt in diesem Zusammenhang natürlich dem „Rosenkavalier“ von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal zu, dessen Walzer (-Sentimentalität) als ironische Brechung des maria-theresianischen Zeitalters verstanden werden darf. Paul Marsops schrieb schon 1911 zurecht, dass der Walzer Strauss nur dazu dient, „seine musikalisch-dramatischen Hexenkünste zu betreiben.“ Aber Julius Korngold konstatierte „für das maria-theresianische Wien trifft aber …der Walzer .. von modernem Gepräge … nicht zu.“ Insofern kam dem Wiener Walzer in diesem Stück gerade keine „nostalgische und legitimatorische Funktion“ zu. Im Gegensatz zu Operetten wie „Das Dreimädlerhaus“ oder „Die Försterchristel“ (als Beispiele vom Operettentyp der „Wiener Gemütlichkeit“ dürfe der „Rosenkavalier“ geradezu als „Spiegel des Problems ‚Wien um 1900‘ aufgefasst werden. Das eben macht das Moderne am „Rosenkavalier“ aus, diese „Verwendung des Wiener Walzers in der Oper“ und die „Distanznahme von dessen legitimatorischen Funktionen.“

Hermann Bahrs „Eipeldauer Elektra“ wird geradezu als Meta-Spott auf die Wiener Erinnerungs- und Geschichtskultur gedeutet, so wie „Ariadne auf Naxos“ (zumal in der Wiener Fassung) als ein Beispiel für „die Auflösung historischer „Eigentlichkeit‘“.

Michael Meyer hat ein außerordentlich gelehrtes wie lehrreiches Buch über Wien, Wiener Befindlichkeit und Wiener Musikgeschichte um 1900 geschrieben, brilliant im Zugriff, profund im Wissen und gut lesbar. Eine hervorragende Bibliografie und ein gutes Register vervollständigen dieses äußerst empfehlenswerte Buch, in dem man viel lernt, viel begreift und ein Stück weit alle Wien-Nostalgie hinter sich lässt (Michael Meyer: „Moderne als Geschichtsvergewisserung – Musik und Vergangenheit in Wien um 1900„; Inga Mai GrooteLaurenz Lütteken / Herausgeber;243 Seiten/  Bärenreiter Verlag/ 978-3-7618-2603-4 ISBN). Dieter-David Scholz

Kichendrama

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Vor allem ist Leonardo Leo (Lionardo Oronzo Salvatore de Leo, 1694-1744) als neapolitanischer Opernkomponist und Musiklehrer bekannt. Zu seinen Schülern zählten unter anderem Giovanni Battista Pergolesi, Niccolò Jommelli und Niccolò Piccinni. Dalla morte alla vita di Santa Maria Maddalena eremita, ein Dramma sacro in tre atti nach einem Libretto von Carlo de Petris, wurde im Juli 1722 in Atrani, in der Nähe von der Stadt Amalfi, uraufgeführt. Zwischen der Erstaufführung und der vorliegenden Weltersteinspielung, einen Mitschnitt aus der Chiesa di San Paolo eremita di Brindisi von 22. Dezember 2019, fanden keine weiteren Vorstellungen dieses Werkes statt. Die Manuskriptpartitur galt als verschollen, bis sie 2009 in einer Pariser Buchhandlung wiederentdeckt wurde.

Da das „heilige Drama“ neapolitanischer Art nicht eine allgemein bekannte Gattung der Barockmusik ist,  lohnt es sich mit diesem Werk vertraut zu machen. Leo, wie diese Aufnahme zeigt, verdient es, nicht nur als Einfluss auf nachfolgende Generationen in Erinnerung zu bleiben.

In der Aufnahme dirigiert Cosimo Prontera das Barockorchester La Confraternita de‘ Musici. Agata Bienkowska (Mezzosopranistin) singt die Titelrolle Maria Maddalena; Gianluca Pasolini (Tenor) singt Livia; Giuseppe Naviglio (Bass) ist Antuono; Enrico Torre (Countertenor) ist Materno; Aurelio Schiavoni (Countertenor) ist Angiolo; Carlo Torriani (Bass) ist Demonio; und Paolo Lopez (sopranista) ist Lico.

Durchaus spielen die Mitwerkenden dieses Dramas mit Leib und Seele sowie Klarheit und Präzision. Die Mischung der Singstimmen, für die Leo schrieb, bietet nicht ausreichende Differenzierung zwischen den Charakteren, so dass es nicht immer erkennbar ist, ohne das Libretto zu lesen, wer gerade singt. Die Countertenöre und der männlicher Sopran (sopranista) klingen einander ähnlich; gleiches gilt für die beiden Bässe. Nur Agata Bienkowska hebt sich wirklich von den anderen ab und porträtiert Maria Maddalena sympathisch.

Die hallige Akustik dieser Aufnahme zerstört die Intimität der kleinen Besetzung; die Atmosphäre des Kirchenkonzertes lässt sich nicht gut auf einen Tonträger übertragen. Das Beiheft enthält einen informativen Aufsatz und das vollständige Libretto in italienischer Sprache mit englischer Übersetzung. Daniel Floyd

Leonardo Leo Dalla morte alla vita di Santa Maria Maddalena eremita mit Agata Bienkowska,  Gianluca Pasolini, Giuseppe Naviglio, Enrico Torre, Aurelio Schiavoni, Carlo Torriani, Paolo Lopez, La Confraternita de‘ Musici, Cosimo Prontera; Bongiovanni 2 CDs GB2579/80-2.

Weder noch

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Stürzte sich Zazà am Ende der Oper Ruggero Leoncavallos todessüchtig in die Loire, dann würde das Werk vielleicht  noch heute die Spielpläne der Opernhäuser füllen, denn die Musik hat durchgehend Mattinata-Qualitäten. Stellte sich aber am Schluss heraus, die Gattin ihres Geliebten habe längst ein Verhältnis mit ihrem Agenten Cascart und lasse den Gatten ziehen, eine Doppelhochzeit stehe ins Haus, dann wäre Zazà eine tolle Operette mit vielen Schlagern zum Mitsingen. So aber teilt sie das Schicksal von Puccinis La Rondine, nicht Fisch, nicht Fleisch, Oper oder Operette, sondern commedia lirica mit erfolgreicher Uraufführung und erfolglosem Weiterleben, eher Dahinsiechen.

Das Theater an der Wien hat sich einmal mehr das Verdienst erworben, ein fast vergessenes Werk auf die Bühne zu stellen, das Publikum auf der DVD scheint begeistert und der Betrachter in den eigenen häuslichen vier Wänden kann es auch sein.

Es geht um die Varietésägerin Zazà, die ein gut bezahltes Engagement in Marseille ausschlägt, lieber im provinziellen Saint Etienne bleibt, weil sie sich in den Geschäftsmann Milio Dufresne verliebt hat und diesen verführt. Beide leben mehrere Monate in Saint Etienne zusammen, bis Dufresne angeblich zu einer Geschäftereise aufbrechen muss. Von ihrem Ex und Noch-Manager Cascart erfährt Zazà, dass ihr Geliebter eine Familie in Paris hat, wovon sie sich  überzeugt. Weil die kleine Tochter des Geliebten sie in ihrer Liebe zum Vater berührt, verzichtet Zazà auf Dufresne, stößt ihn mit der Behauptung, sie habe alles seiner Gattin offenbart, von sich. Sie kehrt in ihr Leben als Varietésängerin zurück.

Das Stück wurde 1900 am Teatro Lirico  in Mailand mit Arturo Toscanini am Dirigentenpult uraufgeführt. In dieser Zeit spielt es wahrscheinlich ursprünglich auch, doch Christof Loy verlegte es in eine modisch eher undankbare nicht Jetzt-, aber Neuzeit, ließ sich von Raimund Orfeo Voigt hohe, kühle, atmosphärelose Räume auf die Bühne bauen und verzichtete so auf jede Möglichkeit, eine erotische Stimmung zu schaffen, was noch so viel Sichineinanderverschlingen der Leiber nicht schafft, wenn das Liebesnest im zweiten Akt aus einer Matratze in einem kalkweißen Riesenraum besteht. Fin-de-siecle und die Siebziger liegen halt zu weit auseinander. So wirkt auch die russische Sängerin Svetlana Aksenova als Zaza im ersten Akt mit biederer Frisur und einem Kleid, dessen Farben der Berliner als „Braunbier mit Spucke“ bezeichnen würde, überaus unscheinbar (Kostüme Herbert Barz-Murauer). Die Kahlheit der Optik zwingt zu besonders intensivem Spiel, und dafür ist der Regisseur natürlich ein Garant.

Die Titelpartie wird von dem russischen Sopran mit klarer, reiner und geschmeidiger Stimme, die im Verlauf des Geschehens zuhörens aufblüht, gesungen, besonders die Arie im dritten Akt, in der Zazà über ihre Kindheit berichtet, wird sehr berührend und mit feinen Akzenten gesungen. Die Mittellage ist noch nicht sehr präsent, aber ein ergreifendes „Tutto è finito“ ist trotzdem eindrucksvoll. Die unangefochten knallige Höhe und den operettenhaften Ton hat der Tenor Nikolai Schukoff, der zudem der geborene Verismo-Sänger zu sein scheint. Einen vollmundigen Bariton setzt Christopher Maltman für den Cascart ein, dessen Diktion beispielhaft ist, der so empfindsam singt, wie es die Arie im zweiten Akt erfordert, und so eindringlich, wie die mit „Resta libera“ beginnende es verlangt.

Es gibt eine Reihe mittlerer und durchaus dankbarer Partien wie die der Mutter der Zaza, die Enkelejda Shkosa vollmundig und schön vulgär verkörpert, die treue Natalia, aus der Juliette Mars eine so bescheidene, wie viel Wärme ausstrahlende Figur macht, den Theaterdirektor Courtois von Paul Schweinester , der einen durchdringenden Charaktertenor sein Eigen nennt. Ihnen allen und weiteren wird eine sehr differenzierte Personenregie zuteil.

Einen Anwalt, wie er kompetenter, einfühlsamer und geschmackssicherer nicht sein könnte, hat das Werk im Dirigenten Stefan Soltész gefunden, der tragikumflorten Verismo genau so wirkungsvoll zum Klingen bringt wie das Süffig-Operettenhafte, ohne je den Kitsch zu streifen (Unitel 805308). Ingrid Wanja   

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Vater & Sohn Traetta

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Wenn man an sinfonische Musik Mitte des 18. Jahrhunderts denkt, ist vor allem von Namen wie Carl Philipp Emanuel Bach (1714-1788), Franz Joseph Haydn (1732-1809) und Wolfgang Amadé Mozart (1756-1791) die Rede. In seiner Zeit wurde Tommaso Michele Francesco Saverio Traetta (1727-1779) als Opernkomponist, der die Da-capo-Arienform reformiert hat, berühmt. Das Interesse an Traetta ist wieder gestiegen, wie die prominente 2019 erschienene Aufnahme (Mozart+ auf Sony Classical, 190759190524) von drei Arien aus seiner Oper Antigona mit Olga Peretyatko belegt.

Die im Januar 2021 von Orchestra Sinfonica Metropolitana di Bari unter der Leitung von Vito Clemente aufgenommene Platte enthält fünf Sinfonien aus seinen Opern Il Cavaliere Errante (1778), Buovo d’Antona (1759), Armida (1767), Didone abbandonata (1763) und L’olimpiade (1769), sowie eine Ciaccona aus der Oper Antigona (1772). Traettas lebendig orchestrierte Sinfonien liegen stilistisch etwa zwischen CPE Bach und Christoph Willibald Gluck (1714-1787).

Obwohl Traetta nicht zu den sogenannten Kanon der klassischen Komponisten gehört, bildete seine Musik einen Teil der musikalischen Landschaft nicht nur in Italien, sondern auch in Russland, wo er bei Zarin Katharina II beschäftigt wurde, und in ganz Europa, denn er erhielt Kompositionsverträge in u.a. Wien und Mannheim. In seinen letzten Jahren übersiedelte der Komponist nach Venedig, wo er 1779 starb. Sein Ruhm wurde nach seinem Tod durch andere zeitgenössische Komponisten überschattet.

Sein Sohn Filippo Traetta (1777 – 1854), der antimonarchische Hymne im Rahmen eines gescheiterten Putschversuchs gegen König Ferdinand IV. von Neapel komponierte, musste 1799 nach Amerika fliehen. Fortan bekannt als Philip Trajetta gründete er Musikkonservatorien in Boston, New York und Philadelphia. 1825 traf er Lorenzo Da Ponte und versuchte vergeblich eine „amerikanische“ Oper mit Maria Malibran in der Hauptrolle zu verfassen.

Vier Werke befinden sich auf dieser CD: zwei Ouvertüren zu den Oratorien Jerusalem in affliction (1828) und The Daughter of Zion (1829) sowie eine Sinfonia Concertata (1803) und ein Andante sostenuto dal Quartetto n 2 in Fa (1803). Traettas Musik klingt leichter und heller als die seines Zeitgenossen Beethoven; stattdessen erinnert sein Stil vage an Louis Spohr (1784-1859).

Das Orchestra Sinfonica Metropolitana di Bari spielt diese Raritäten durchaus prägnant, kraftvoll und leidenschaftlich. Insgesamt ist diese Ausgabe ein wertvoller Beitrag zum Repertoire der Klassik und Frühromantik, da es vollständigere Bilder dieser Epochen liefert: von Haydns frühen Sinfonien, die zwischen etwa 1759-1761 entstanden, bis zum Gioachino Rossinis Abschied von der Bühne mit Guillaume Tell in 1829 (Tommaso und Filippo Traetta: Sinfonie e Ouvertures mit Orchestra Sinfonica Metropolitana di Bari, Vito Clemente; Digressione Music DCTT113). Daniel Floyd

Saint-Saens´ Oper „Phryné“

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Das Gedenkjahr für Camille Saint-Sains, zu dessen 100. Todestag auch Arte einen spannenden Beitrag sendete (inklusive des Hinweises auf seine häufigen Reisen nach Algier und den Jungs dort), zieht sich in das neue Jahr 2022 hinein. Die verdienstvolle Firma Palazzetto Bru Zane legt mit einer zweiten, nun modernen Studio-Einspielung der Oper Phryné nochmal nach, auch wenn man sich als Opernfan doch fragt, ob es nun mit Saint-Saens nicht langsam genug ist. Merkwürdiger Weise beharrt der Künstlerische Direktor des Palazzetto, Alexandre Dratwicki, auf der mehr als ausgiebigen Pflege eben dieser Epoche der gewissen Schwerblütigkeit (um nicht zu sagen Soßigkeit) der französischen Oper. Wäre es mit Les BarbaresLa Princesse Jaune, Le timbre d´argent und der Proserpine (alle besprochen bei operalounge.de) sowie der „Le Prix de Rome“-Buch-CD-Edition nicht genug der „unbekannten Werke“ dieses Komponisten gewesen? Zumal gerade nun Samson et Dalila sehr häufig gegeben wurde. Und bereits vor dem 32-CD-Kasten bei Warner mit Ascanio aus Genf (Buch-CD-Edition bei der Firma B Records (LBM 013/ 3) eine ebenfalls absolut nie gespielte Oper des Komponisten vorliegt. Und eine mehr als zweifelhafte Version der Fredegonde aus Dortmund vom letzten Jahr wird hoffentlich nicht folgen. Aber man wird der französischen Wagner-inspirierten Schwerblütigkeit doch etwas müde … Zumal die leichtgeschlagene Unterhaltung Reinaldo Hahns oder Hervés beim Palazetto mehr die Operettenfreunde interessiert und eine andere Hörerschaft bedient.

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Der Komponist Camille Saint-Saens/ Wiki

Zunächst also die „neue“ Phryné, die ja Sammlern wie La Princesse jaune nicht unbekannt ist, haben sie doch die alte Aufnahme des französischen Rundfunks in der historischen Aufnahme von 1960 zu Hause (Duval,Sautereau,  Gressier; meist gekoppelt mit La Princesse jaune – und beide wirklich authentisch gesungen; MRF und andere). Aber natürlich nicht mit den Rezitativen von Jules Massenet, wie hier beim Palazetto, was den Export in nicht-französisch-sprachige Länder vereinfacht und sicher den Sängern entgegenkommt, die meist nicht gerne auf der Bühne sprechen.

Die Sänger der Uraufführung waren namhafte Größen des damaligen französischen Musiktheaters, darunter die Sopranistin Sibyl Sanderson (1865-1903), die auch wegen ihrer Schönheit gerühmt wurde und für die Saint-Saëns diese Partie eigens komponiert hatte. Lampito, der Sklave der Phrynè wurde von der Sopranistin Buhl gesungen, Archont Dicéphile vom Bass Lucien Fugére (1848-1935), Nicias, der Neffe des Dicéphile von Tenor Edmond Clément (1867-1928), die Demarchen Cynalopex und Agoragine von den Tenören Barnolt, eigentlich Paul Fleuret (1839-1900) und Bass Jean Périer (1869-1954) sowie der Herold von Bariton Lonati. Hinzu kam der Chor als Volk, Sklaven, fahrende Sänger*innen, Tänzer*innen, Flöten- und Tamburinspieler sowie Soldaten. Die Uraufführung dirigierte der Komponist, Dirigent und Geiger Jules Danbé (1840-1905), die Kostüme stammten von Th. Thomas und das Bühnenbild von Rung et Chaperon. (zitiert aus: Claudia Behn, 2021, Repertoire & Opera Explorer)

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Die ebenso berühmte wie „riskante“ amerikanische Starsängerin Sibyl Sanderson als Phryné (1893)/ Wikipedia

Nachdem 2021 die erste Gesamtaufnahme von Saint-Saens´ Opéra Comique Phryné im Studio mit den gesungenen Rezitativen von Messager statt der gesprochenen Dialoge der Uraufführung (Salle Favart, 24. Mai 1893) aufgenommen wurde, beschloss also der Palazzetto Bu Zane, dieses Werk der Reifezeit des Komponisten im Auditorium des Louvre am 24. Juni 2021 wieder aufleben zu lassen. Das Pariser Konzert wurde jedoch wegen der Pandemie abgesagt, aber Phryné fand dennoch ein Publikum am 3. Juli 2021 in der Oper von Rouen in der Normandie, mit dem Team der Plattenaufnahme, geleitet von Hervé Niquet. Die Pariser Aufnahme bietet nun eine Gelegenheit, dies kurze Werk wiederzuentdecken, das voll von Leben, teils süffisant teils poetisch wirkt und das sowohl seinen Autor wie auch das zeitgenössische Publikum amüsierte.

Die Palazzetto-Einspielung von 2021 liegt als CD im gewohnten vor. Florie ist Phryné, der Palazetto-gewohnte Cyril Dubois dann Nicias, Thomas Dolié singt Dicéphile, Anais Constants den Lampito, Francois Roger ist Cynalopex und schließlioch Patrick Bolleire als Aogoragine und Un Heraut; Hervé Niquet leitet das Orchestre de l´Opéra de Rouen Normandie und den Choeur du Concert Spirituel; ausgestattet ist die Ausgabe wie stets zweisprachig mit einer Einleitung von  Alexandre Dratwicki(den wir mit Dank nachstehend in unserer eigenen Übersetzung von Daniel, Hauser wiedergeben) sowie weiteren Beiträgen, diesmal im elganten rosé, tres chic! G. H.

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Scéne de „Phryné“/ Saint-Saens au Théatre Trianon Lyrique acte I/Gallica/BNF

Nun also Alexandre Dratwicki: Phryné war bis zum Ersten Weltkrieg eine der meistgespielten und angesehensten Opern von Saint-Saëns und konkurrierte sogar mit Samson et Dalila. Die im März 1893 fertiggestellte Partitur wurde am 24. Mai desselben Jahres an der Opéra-Comique uraufgeführt. Die Oper erzählt die Liebesaffäre zwischen Nicias und Phryné, die den alten Archon Dicéphile hinters Licht führt, um seine Grausamkeit zu rächen. Saint-Saëns – von dem niemand erwartet hatte, dass er humorvoll schreiben würde – überraschte die Zuhörer mit seinen witzigen Melodien und seiner pikanten Orchestrierung. Zwei Komponisten drückten ihre Bewunderung aus, als sie das kleine Juwel entdeckten: André Messager („Mein Gott, wie köstlich Ihre Darbietung ist!“) und Charles Gounod („Danke für Ihre entzückende Phryné. Ich werde sie durch die Augen hören [jene beiden zweiten Ohren des Musikers] jetzt, da meine Ohren, diese Augen der Musik, davon berauscht sind.‘) Der sofortige Erfolg der Arbeit in Paris verbreitete sich schnell in ganz Frankreich. Um es an Opernhäusern im Ausland bekannt zu machen, veröffentlichte Durand das Werk im Juni 1896 mit von Messager komponierten Rezitativen. Palazzetto Bru Zane bietet nun die Möglichkeit, diese äußerst seltene Fassung zu entdecken.

Die Nachkommenschaft musikalischer Werke ist ein mysteriöses Thema: Nichts erklärt sie wirklich, und selbst die überzeugendsten künstlerischen, wirtschaftlichen oder sozialen Argumente können nur so viel dazu beitragen, ein Gewirr von Reaktionen auf die Vergessenheit zu entwirren, in welche bestimmte Kompositionen geraten sind. Während viele schlechte Partituren, die bei ihren Uraufführungen verhöhnt wurden, sofort scheitern, gibt es andere Opern, die ausgebuht wurden, bevor sie bewundert wurden (Carmen), oder die ein außergewöhnlicher Künstler transzendiert und wieder in das Repertoire aufgenommen hat (Maria Callas in Cherubinis Médée oder Spontinis La Vestale), oder denen die musikwissenschaftliche Beharrlichkeit einen Glanz verliehen hat, den sie bei der Uraufführung nicht erreichen konnten (u. a. Gounods Cinq-Mars, Godards Dante, Hahns L’Île du rêve). Aber der merkwürdigste Fall sind Werke, die, nachdem sie auf der internationalen Bühne einen deutlichen und anhaltenden Erfolg hatten, später in Vergessenheit geraten. Nun, in dieser Kategorie – zu der Saint-Saëns‘ Phryné gehört – sollte beachtet werden, dass die Opéra-comique die Liste der von der Geschichte im Stich gelassenen Werke anführt. Das liegt sicherlich vor allem daran, dass dieses Genre mit seinen schwer darzubietenden gesprochenen Dialogen unter seiner Mischform aus Theater und Oper leidet. Den Operndilettanten langweilen die gesprochenen Passagen und den Theaterliebhaber verunsichert die dramatische Zeitskala der gesungenen Nummern, deren Text ihm allzu oft entgeht.

Mlle Margyl des Folies-Bergères als Phryné/ Atelier_Nadar/ Gallica/BNF

Natürlich haben die Autoren von Phryné eine Lösung gewählt, die sich bereits bewährt hatte, um den Export des falsch eingeschätzten zweiköpfigen Gebildes außerhalb Frankreichs zu erleichtern: Sie verwandelten den Dialog in ein Rezitativ, wie es bei Carmen, Mignon und Lakmé geschehen war. Und es ist diese Fassung, die von André Messager (auf Wunsch von Saint-Saëns) vervollständigt wurde und welche Palazzetto Bru Zane für unser sechstes CD-Buch, das diesem Komponisten gewidmet ist, einspielen wollte. Doch muss man zugeben, dass die überarbeitete Phryné auch im neuen Glanze ihre für die Opéra-comique so typische Entstehungsgeschichte verrät: ein lebhaftes, aber nie melodramatisches Libretto, pikanter, aber nie übermütiger Humor, ein juste milieu – um es mit einem Begriff zu sagen, der in frühromantischen Diskussionen um die bildenden Künste geläufig ist –, das keine herausragenden Bravour-Arien oder Orchestersätze hervorbringt, die für eine konzertante Aufführung exzerpiert werden und leicht den Status von „Hits“ erreichen könnten, was dem Werk Bekanntheit garantierte und es ins Bewusstsein der breiteren Öffentlichkeit einbrächte. Und es ist eine Tatsache, dass niemand eine der Nummern aus Phryné kennt, da sie in eine einzige Form gegossen ist, seine Teile untrennbar mit dem kontinuierlichen Ganzen verbunden sind.

Saint-Saens: „Phryné“ an der Opéra Comique 1893/ Originalfoto/ Gallica/BNF

Und doch, wie die folgenden Texte erläutern, welchen Triumph diese zweiaktige Oper bei ihrer Uraufführung 1893 in Paris doch erlebte, wie schnell sie sich in der Provinz verbreitete und wie wirkungsvoll ihre italienischen und deutschen Übersetzungen doch waren! Saint-Saëns selbst schrieb am Ende seines Lebens, dass dies eine seiner besten Partituren sei, insbesondere der zweite Akt, den er sowohl von der Form als auch vom Inhalt her als perfekt ansah. Aber der Erste Weltkrieg bedeutete den Abschluss eines Kapitels der Opernkunst, das einige Beobachter für überholt hielten, einen Schlag sowohl für das „historische“ Repertoire von Herold, Boieldieu und Auber als auch für neuere Produktionen wie Phryné.

Saint-Saens: „Phryné“/ Bühnenbild von Chaperon/ Uraufführung/ Gallica/ BNF

Um diese Partitur heutzutage wiederzubeleben und sicherzustellen, dass ihre Qualitäten voll zur Geltung kommen, war es wie immer notwendig, Sänger mit Erfahrung im entsprechenden Stil zu rekrutieren: idiomatisches Französisch (mit seinem berühmten gerollten r, das immer noch Gegenstand von Debatten ist), lebendige Tempi, wirkliche Beherrschung des Vibratos, Verzicht auf italienisch anmutende Effekte (insbesondere Portamento), Bewusstsein für die Tücken des Diphthongs und übermäßige Verdunklung der hellen Vokalklänge (i, é, u). Es erforderte auch einen zielstrebigen Dirigenten, einen Stimmenliebhaber, der den theatralischen Elan der orchestralen Prahlerei vorzieht und darauf achtet, die Darbietungen von Solisten und Chor zu homogenisieren. Bei der Wahl der Besetzung galt es auch, dieses nicht immer berücksichtigte Element zu berücksichtigen: Eine „Aufnahme“-Stimme – die rein bleibt, ohne jede Spur von Unebenheiten, wenn die Präzision des Mikrophons ihre kleinsten Flexionen offenbart – ist oft das Gegenteil einer „Opernhaus“-Stimme, deren Hauptanliegen es ist, Stimmvolumen zu projizieren, manchmal auf Kosten der Textverständlichkeit, und technische Effekte zu multiplizieren, um einen schönen Klangfluss zu gewährleisten. Schließlich brauchten wir ein flexibles, neugieriges und engagiertes Orchester und eine qualitativ einwandfreie Partnerschaft, die wir an der Opéra de Rouen Normandie fanden. Unser Dank gilt ihnen allen, jetzt, wo die entzückende Phryné wieder auf die Bühne gelangt, um Schönheiten zu enthüllen, von denen gesagt wird, dass sie verführerischer sind als diejenigen von Venus selbst.  Alexandre Dratwicki, Künstlerischer Leiter, Palazzetto Bru Zane / Übersetzung Daniel Hauser

 

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Mlle Daffetye von der Opéra-Comique als Phryné/ Atelier Nadar/ Gallica/BNF

Dazu auch Claudia Behr in Repertoire and Opera:  Die musikalische Ausführung des Libretto, das aus zehn Nummern besteht, beginnt mit einer schwungvollen, spritzigen Ouvertüre. Kennzeichen sind eine große Leichtigkeit und Durchsichtigkeit der Orchestrierung durch sparsame Instrumentation, zumeist in aufsteigenden Linien aus vielen Achtel- und Sechzehntelketten, Arpeggien und Staccati sowie auf- und absteigenden Achtelbewegungen in überwiegend hohem Register. Hinzu kommt ein großangelegter Chorpart in ständiger Wechselwirkung mit den Solisten. Das durchweg melodisch und harmonisch wohlklingende Werk besticht durch die virtuosen Koloraturen der Titelpartie Phryné, die für einen lyrischen Koloratursopran angelegt ist, sowie die Gegenüberstellung von stimmlichen Gegensätzen wie Tenor (Nicias) und Bass (Dicephilos) als Gegenspieler, aber auch von Koloratursopran (Phryné) und Bass (Dicephilos). Dieser Kontrast äußert sich auch in der Behandlung der Tempi, für Phryné schnell und lebenslustig, für Dicéphilos langsam und getragen und macht beide als Antipoden in Emotionalität/Liebe und Eigennutz/Egoismus kenntlich. Bestechend der lyrisch, durchscheinende Orchesterklang, wodurch die Singstimmen unweigerlich in den Vordergrund treten, und die stimmungsvoll operettenhafte Einlage für den Chor als lustige Musiker*innen und Tänzer*innen und Nicias mit Tamburin und Harfenklängen. Es entsteht ein „intimer Stimmungszauber“ voller Melodienreichtum, „die Musik ist flüssig und gefällig; von Archaismen […] abgesehen“. Auch die Signale für die musikalische Welt empfinden die Oper als „eine melodiös ansprechende, gefällig und belustigend wirkende Musik.“ (in: Opera and Repertoire; …. vgl. Deutsches Libretto: vgl. Phryné. Komische Oper in zwei Akten, Berlin / Köln / Leipzig etwa 1897, (1)Zeitschrift „Signale für die musikalische Welt, hrsg. von Barthold Senff, 51. Jhg., Leipzig 1893, S. 535. sowie Palazzetto Bru Zane, Bru Zane Mediabase. Phryné (Augé de Lassus / Saint-Saens, 13.04.2021 sowie Palazzetto Bru Zane, 8° Festival Palazzetto Bru Zane Paris, Phryné 13.04.2021./ Abbildung oben: Jean-Léon Gérôme, Phryné revealed before the Areopagus, 1861/Wikipedia).

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Hans Neuenfels

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Die Deutsche Oper Berlin trauert um Hans Neuenfels (1941 – 2022). Es gibt wohl keinen Regisseur, der die Kunst des Verbeugens so souverän beherrscht hat wie Hans Neuenfels. Egal, wie lautstark die Wellen der Empörung auch sein mochten, die ihm bei den Premieren seiner Operninszenierungen entgegenbrandeten, Hans Neuenfels blieb stets der souveräne Grandseigneur, der sich dem Publikum lächelnd, aber ohne jede Spur von Trotz oder Beleidigtsein präsentierte. Ein wenig mochte seine Gelassenheit in diesen Momenten auch in der Gewissheit liegen, dass das Publikum sein Urteil früher oder später schon ändern würde – so, wie es schon etliche Male passiert war, seitdem er 1974 zum ersten Mal Oper inszeniert hatte.
Mit Verdis IL TROVATORE hatte er damals als 33-Jähriger in Nürnberg debütiert, und mit Verdi sollten auch weiterhin viele der aufwühlendsten Neuenfels-Produktionen verbunden sein: seine legendäre Frankfurter Putzfrauen-AIDA, die seinen Namen 1981 zum Synonym für die radikale Neubefragung werden ließ, der sich das Musiktheater damals stellen musste, aber auch die Arbeiten, mit denen er sein Verständnis von Oper in Berlin etablierte. Schon die erste Neuenfels-Produktion an der Deutschen Oper Berlin, LA FORZA DEL DESTINO, sorgte 1982 für einen Theateraufruhr, der noch Jahre nachhallte und sich später, bei IL TROVATORE 1996 und NABUCCO 2000, mit gleicher Vehemenz wiederholen sollte.
Tatsächlich waren diese Reaktionen aber auch ein Beleg dafür, dass Neuenfels das Publikum immer wieder aufs Neue überraschen konnte. Die fantastischen Bildwelten, in denen er scheinbar vertraute Stoffe erzählte, waren schier unerschöpflich und jedes Stück konnte bei ihm einen anderen Assoziationsraum freisetzen. Der größte Aufruhr, den seine Arbeit an der Deutschen Oper Berlin auslöste, war freilich von gänzlich anderer Art: Als die Wiederaufnahme seiner letzten Arbeit am Haus, des 2003 herausgebrachten IDOMENEO, drei Jahre später aus Sorge vor islamistisch motivierten Anfeindungen vom Spielplan genommen wurde, löste das eine gesellschaftliche Debatte aus, an der die gesamte westliche Welt Anteil nahm.
Mit den sechs Produktionen, die er zwischen 1982 und 2003 an der Deutschen Oper Berlin realisierte, hat Hans Neuenfels ein Kapitel Inszenierungsgeschichte geschrieben und unseren Begriff von dem, was Musiktheater leisten kann, verändert.  Die Deutsche Oper trauert um einen Künstler, dem sie viel zu verdanken hat. Quelle/ Foto Pressebüro  Deutsche Oper Berlin

Robert Steiner-Isenmann

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Im Dezember erreichte uns die traurige Nachricht, dass der Autor des ersten deutschsprachigen Donizetti-Buches, der Schweizer Robert Steiner-Isenmann, am 10.12. 2021 verstorben ist. Geboren 1955 in Zürich, wurde er im Alter von 15 Jahren, nach der ersten Begegnung mit Donizettimusik durch Lucrezia Borgia, zu einem „Donizetti-Süchtigen“ (Eigendefinition). Nach seiner Matura, einigen Semestern Theologiestudium und mehrjähriger Arbeit als Kulturkorrespondent folgte er seinem inneren Ruf und machte sich an die Arbeit an der Donizetti-Monographie.

Robert war Mitglied der ersten Stunde in unserem Verein und viele seiner Beiträge wurden in unseren Aussendungen publiziert. Sein 1982 erschienenes Buch über „Donizetti, sein Leben und seine Opern“ war wie erwähnt das erste Buch in deutscher Sprache, welches sich diesem Komponisten widmete. Die 1963 erschienene Donizetti-Biographie des amerikanischen Musikhistorikers Herbert Weinstock war nämlich erst ab 1983 in deutscher Sprache verfügbar.

An seinem Buch hat Robert Steiner zwei Jahre lang gearbeitet und dabei etwa eintausend Briefe von, an und über Donizetti als Grundlage verwendet. Es umfasst 564 Seiten in kleinem Druck und enthält u.a. einen etwa 400 Seiten umfassenden, biographischen Teil, ein chronologisches Werkregister und einen Opernführer mit detaillierten Inhaltsangaben und mit Hinweisen auf effektvolle Musiknummern von 46 Donizettiopern.

Kurz nach Erscheinen des Buches fand in Wien eine Diskussionsrunde statt, an welcher neben zahleichen Mitgliedern auch der Autor selbst und seine Gattin Veronique teilgenommen haben. Robert erläuterte uns damals seine Grundgedanken bei der Entstehung des Buches, es war ihm wichtig, als Schriftsteller und nicht als Musikwissenschafter wahrgenommen zu werden. Sein ursprünglich angedachter Buchtitel lautete „Gaetano Donizetti oder Die prosaischen Leiden eines Romantikers“ und sollte in erster Linie als eine wirkungsvolle, aber immer faktengetreue Darstellung eines romantischen Lebens gesehen werden. Der Verleger änderte jedoch den Titel auf „Donizetti, sein Leben und seine Opern“.

Hat unser Kontakt mit Robert in den letzten Jahren auch nur mehr sporadisch stattgefunden, so wird uns immer seine grenzenlose Begeisterung für Donizetti

bei den vielen Treffen in Bergamo oder Wien und auch bei den oft langen Telefonaten mit ihm in Erinnerung bleiben. Alfred Gänsthaler (Alfred Gänsthaler ist Vereinsvorstand der Freunde der Musik Gaetano Donizetti, Wien, mit denen wir sehr freundschaftlich verbungen sind/ G. H.)

Nur musikalisch empfehlenswert

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Harten Prüfungen ausgesetzt sieht sich, wer sich kurz nacheinander einen Rigoletto aus Florenz und eine Halka aus Wien betrachtet, denn kaum hat er den Blutfluss auf den Schenkeln der entjungferten Gilda verkraftet, muss er die Fehlgeburt Halkas mit entsprechenden Ausscheidungen ertragen, fließt auch hier das Blut reichlich. Ganz neu ist der appetitliche Einfall nicht, konnte man doch in Berlin auch Gretchen in Schumanns Faust-Szenen in dieser Verfassung erleben, allerdings mit einiger Berechtigung, während in Moniuszkos Halka das Kind laut Libretto erst einmal lebt und erst später durch ausbleibende Nahrung zu Tode kommt. Eine Fehlgeburt allerdings ist spektakulärer als ein Tod durch Nahrungsentzug, vor allem, wenn von diesem nur berichtet wird, während man in der Inszenierung von Mariusz Trelinski sogar noch der anschließenden Bestattung in einem Erdhaufen im Festsaal des Hotels, in dem der treulose Janusz seine Hochzeit feiert, beiwohnen kann.

Eine Halka-Schwemm gab es zum zweihundertsten Geburtstag des polnischen Komponisten, und die prominentest besetzte kam nicht aus Warschau, wo die Produktion erst später gezeigt wurde, sondern vom in der Spielplangestaltung oft interessanten Theater an der Wien, das aber auch gerade vor wenigen Tagen seinen Skandal mit einer „modern“ inszenierten Tosca einfahren konnte.

Die Regie hat die Handlung aus dem 18.Jahrhundert in die siebziger Jahre des verflossenen verlegt, also in das Polen unter kommunistischer Herrschaft. Ein Hoteldirektor heiratet die Tochter des Hotelbesitzers (gab es solche überhaupt?), die beiden Väter sind guter Dinge, nur das vom Bräutigam verführte und schwanger verlassene Mädchen Halka aus dem Personal funkt dauernd dazwischen, mit traurigen Gesängen vom Falken, der sein Täubchen verlassen hat,  wird sogar handgreiflich, indem sie das Brautkleid entwendet und die hochzeitliche Tafel ruiniert. Aber auch sonst geht es rau zu, besteht die Feierlichkeit vor allem aus Saufen, Kotzen, sich der Liebe oder was man dafür hält in derber Form hingebend. Tatsächliche Handlung und Erinnerungen gehen ineinander über, bei letzteren kommt es manchmal zu heftigen Regengüssen, was sich an den hohen Fensterfronten der Drehbühne mit drei Schauplätzen  (Szene Boris Kudlička) sehr schön macht. Ein hartnäckiger Verehrer Halkas, der ihr bis zum bitteren Ende treu zur Seite steht, darf zwei sehr schöne Tenorarien singen, die allerdings Tribute an den damaligen Publikumsgeschmack sind und in der ersten Fassung der Oper noch fehlten. Irgendwann wird das alles der Hotelbelegschaft zu bunt, sie muckt kurz auf und will nicht mehr jubeln, und von Halka heißt es, sie sei ertrunken.

Das vorwiegend polnische Publikum soll seine Stars bei der Premiere bejubelt, die Regie aber ausbuht haben. Recht hatte es.

Aus der zwar grässlichen, aber konsequenten Aufführung ragt der Jontek von Piotr BeczaƗa mit zwei Bravourarien heraus, die er in Starmanier wirkungsvoll und mit strahlenden Spitzentönen zur Geltung bringt. Der zweite Star ist Tomasz Konieczny, an den man beim Anhören seines machtvollen Bassbaritons eher an Wotan als an den liederlichen Janusz denkt, den er aber mit Hingabe spielt und so sehr zum Kotzbrocken macht, dass man sich die Verliebtheit Halkas schwer erklären kann. Diese wird von der hübschen brünetten Amerikanerin Corinne Winters anrührend gespielt, ihr etwas anonymer Sopran ist klar und wird schlank geführt, in der Schlussszene weiß sie den zunehmenden Wahnsinn fein entrückt auch vokal darzustellen. Das in der Inszenierung dumme Blondchen Zofia findet in Natalia Kawalek und ihrem angenehm ebenmäßigen Sopran eine angemessene Verkörperung. Vokal hochpräsent ist der Brautvater Stolnik in der Verkörperung von Alexey Tikhomirov, weniger gelingt dies dem Dziemba von Lukasz Jakobski. In die Vollen geht Lukasz Borowicz mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien und lässt die volkstümliche Musik ganz besonders in den Tänzen auf die erbärmliche Szene prallen. Tadellos erfüllt der Arnold Schoenberg Chor unter Erwin Ortner seine Aufgabe (Unitel 805708). Ingrid Wanja       

Unsinnliches zum Thema Sinnlichkeit

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Vorab: Forschungen zu ‚Musik und Gender‘ umfassen auch die Frage nach der Relevanz von Homosexualität für das Leben, Denken und Schaffen komponierender, musizierender und rezipierender Menschen. In der musikhistorischen Biographik hat dieser Aspekt seinen Raum bereits gefunden; in musikzentrierten Betrachtungen steht er jedoch oft im Schatten des Themas ‚Frau und Musik‘ oder der Suche nach queeren Perspektiven. Der vorliegende Sammelband setzt die Pole Musik und Homosexualität wechselweise zueinander in Beziehung und bringt Methoden benachbarter Disziplinen erkenntnisfördernd mit ein. Auf diese Weise entstehen neue Wahrnehmungsmöglichkeiten für die Themenfelder ‚Mensch und Werk‘ (Ethel Smyth, Karol Szymanowski, Peter Tschaikowsky, Richard Wagner), Gattungen (Kabarettchanson, Gay Musical, Filmmusik) oder Theoriebildungen. Anhand von ausgewählten Einzeldarstellungen kommen unterschiedliche Betrachtungsweisen des Wechselspiels von Musik und Homosexualität zur Geltung und regen zu weiterer Forschung an. Im bereits 2010 erschienenen dicken Lexikon „Musik und Gender“ von Annette Kreutziger Herr und Melanie Unseld wird „Homosexualität“ als bereits 1869 geprägter Begriff definiert, der das „Innenleben homosexueller Männer und Frauen biologisch und psychisch zu erklären“ versuchte. (Quelle Textem Verlag)

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1990 hatten erstmals die Queer Studies den Begriff auf die Musikwissenschaft angewendet, um die „die Gleichgeschlechtlichkeit einzuschreiben in die Musikforschung“.  1994 kam in den USA das Buch „Queering the Pitch: The New Gay and Lesbian Musicology“ heraus, mit Essays zu schwul-lesbischen Perspektiven der Musikgeschichte.

In Deutschland wurde dieser Impuls aus den USA weitgehend ignoriert. Bis Michael Zywietz 2007 ordentlicher Professor für Musikwissenschaft an der Hochschule für Künste in Bremen wurde und damit Homosexualität zum Thema von Lehrveranstaltungen und Konferenzen machte.

Gemeinsam mit seiner Kollegin Kadja Grönke von der Universität Oldenburg hat er nun ein Buch vorgelegt, das die Arbeit fortsetzt, die sie mit dem 2018 erschienenen Buch »Musik und Homosexualität – Homosexualität und Musik« begonnen haben.

Der Tagungs-Band »Musik und Homosexualitäten« (gemeint mit diesem Plural sind wohl männliche und weibliche Homosexualität) vereint die Ergebnisse zweier Bremer Tagungen zu »Stand und Perspektiven musikwissen­schaftlicher Homosexualitätenforschung« (2017) und »Homosexualitäten und Manierismen« (2018).

Die Herausgeber sind der Meinung, dass „Homosexualität nicht als Seitenzweig, der in queeren Forschungen stillschweigend mitgemeint ist, sondern als „For­schungsschwerpunkt eigenen Rechts“ Berechtigung hat, zumal „Begriff­lichkeiten (noch) fehlen und Zweigeschlechtlichkeit die Gesellschaft prägt.“ Sie beklagen, dass „unser historisches Wissen über Sexualitäten in der Vergangenheit der Musikgeschichte“ gering ist und wollen „über Fachgrenzen hinaus“ einen sprudelnden Quell der Anregungen“ des Überdenkens traditioneller Positionen initiieren. Es geht um das „schwierige Ringen um eine wissenschaftliche, systematische und lexikalische Erfassung des Themas und um Korrekturen von „Vorurteilen und Klischees zum Thema Homosexualität“ inklusive einer „Genderisierung von Sprache“, was auch immer damit gemeint sein soll. (Beim Begriff „Gender“ stellen sich selbst eingefleischten Feministinnen zuweilen die Harre auf.)

Die „Mannigfaltigkeit der Untersuchungsansätze“ machen deutlich, wie heikel, disparat und vielschichtig das Thema ist. Ein erster Teil widmet sich der musikwissenschaftlichen „Homosexualitätenforschung“ also Methodenfragen und Fachgeschichte, der zweite Fallbeispielen und im dritten geht es um „Manierismus-Konzepte“, also jene „Schnittstelle von Künstlichkeit …und Homosexualität“.

Die Serie der 25 sehr unterschiedlichen Beiträge werden von Eva Rieger eröffnet, einer umstrittenen Autorin, die ihrer penetrant feministischen Positionen wegen zuweilen recht erfinderisch ist und mit Quellen und Fakten sehr frei umzugehen pflegt, wie von Ihren Kritikern immer wieder festgestellt wird.

Sie ist denn auch der Meinung, „dass Mann- oder Frausein … in starkem Masse kulturell konstruiert ist“ und beklagt, was wahrlich keine neue Einsicht ist, die Defizite des Umgangs mit Homosexuellen.  Die „Musikwissenschaft hat sich bis heute schwergetan mit dem Thema Homosexualität“. Wie wahr. Gleichgeschlechtliche Begehren müsse mit den „sozialen, kulturellen und theoretischen Aspekten des Themenkomplexes“ behandelt werden. Das versteht sich doch von selbst. Sie mahnt die „Entschlüsselung des Codes sexueller Subkulturen“ durch Überdenken traditioneller erkenntnistheoretischer Paradigmen an.  Was sie damit konkret meint, verrät sie allerdings nicht.

Dass sie ausgerechnet den Textilfetischisten und Männerfreund Richard Wagner, der ein Paradebeispiel von unbestechlichem Womanizer war, zum Kronzeugen für Genderfragen abstempelt, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Wer Wagner genau kennt, weiß es besser! (Eine differenzierte Arbeit über „Richard Wagner und die Homosexualität“, seinen erstaunlich fortschritt-lichen Umgang mit ihr trotz eigener Heterosexualität, an der nicht zu zweifeln ist, erscheint demnächst auf dem Büchermarkt.)

Eine umfassende Beschäftigung mit dem Thema Homosexualität und Musik stehe in Deutschland noch aus. Aber das wissen wir doch nun schon seit Jahren. Und dann kommt Eva Rieger auf ihre immer wieder suadahaft vorgetragene Lieblingsthese zu sprechen: Wir leben „immer noch in einer Gesellschaft, die Frauen im Vergleich zu Männern politisch, symbolisch und ökonomisch benachteiligt und damit hegemoniale Strukturen aufrechterhält.“ Sie wettert einmal mehr gegen die „herrschenden Geschlechtarrangements in Westeuropa“ und fordert eine Sensibilisierung für „die Forschung zu lesbischen Strukturen“. „Doing gender“ ist auch ihr Losungswort, sie spricht über Queer-Theorie, erwähnt Michel Foucault und manche schwulen Komponist: innen, wettert gegen Vorurteile und das „Verwischen von Geschlechtergrenzen“, ja plädiert dafür,  „dass mehr Menschen, die sich bisher ausgegrenzt fühlen, von einer Musikkultur profitieren können, die anstelle des bisherigen Lächerlichmachens und der Ausgrenzung von gleichgeschlechtlich Liebenden von einer selbstverständlichen Zugehörigkeit aller Minderheiten in der Gesellschaft ausgehen.“ Gut gemeinte Worte sind das, aber doch Platitüden, die letztlich auf Schwarzweißmalerei gründen (der doch der Kampf angesagt werden soll) und im Vagen bleiben.

Wesentlich konkreter wird Martina Bick in ihrem Beitrag über Homosexualitäten in der Musiklexikographie und Musikbiographik mit ihren genauen Untersuchungen zu Franz Schubert, Peter Tschaikowski, Benjamin Britten, Hans Werner Henze und Aribert Reimann, aber auch Ethel Smythe, Wanda Landowska und Lina Ramann, um nur einige zu nennen, deren Homosexualität in den gängigen Nachschlagwerken bis in jüngste Vergangenheit oft verschleiert oder gar tabuisiert werden. Es geht ihr um heikle „persönliche und intime biografische Informationen“, die geeignet sind, „Hierarchisierungen, Diskriminierungen, Ausschlüsse und sogar Verfolgung von Individuen vorzunehmen.“

Kevin Clarke plädiert in seinem Vortrag – und das ist sein Dauerthema – für „Homosexualität als Thema in der Operettenforschung,“ beklagt das existierende Defizit in der Forschung und macht sich wie immer stark für homosexuelle Operettenkomponisten und -Librettisten, ja für die gewagte – nicht unumstrittene – These, dass Homosexualität ein zentrales Thema des Genres sei.

Dass Franz Schubert, seine Sexualität und seine Musik geradezu ein „lehrreiches wissenschaftsgeschichtliches Fallbeispiel“ darstellen, erläutert Hans-Joachim Hinrichsen lang und breit mit besonders detaillierten (mit vielen Notenbeispielen aufwartenden Ausführungen zum Lied, zu biographischen Verrückungen, fragwürdigen Schubert-Bildern und Schubert-Debatten.

Mit Hans Werner Henze und Aribert Reimann beschäftigt sich Kadja Grönke, die – den französischen „Philosophen, Theoretikers, Essayisten und Homosexuellen Roland Barthes“ mitbedenkend, auf „der Suche nach der zerbrechlichen Schönheit des Körpers“. Ihr Fazit. „bei allen Menschen, die bereit sind, eine gewisse Rauheit des Klanges als körperhaft zu rezipieren, kann Musik von Reimann, von Henze, aber eben auch von Ligeti eine sehr eigene Form der Ästhetik begründen.“ Ob diese in Verbindung „mit Eros oder gar mit Homosexualität gebracht wird, steht auf einem anderen Blatt,“ so die Autorin und sie zitiert aus Fontanes Effi Briest, dies zu untersuchen sei „ein weites Feld“. Ja was denn nun?

Einen besonders pikanten Fall von Homosexualität im europäischen Spätmittelalter, ein Fall von „Frömmigkeit und Sodomie“ rollt Michael Zywietz auf am Beispiel des Kapellmeisters am Hofe Karls V., Nicolas Gombert. Ein Exkurs zur drakonischen Gleichsetzung und Bestrafung von Sodomie (männlicher Homosexualität), Ehebruch, Blutschande und Bigamie, unter Berufung aufs Alte Testament (Genesis 19,5). Der Beitrag darf als ein Beispiel historischer Genderforschung betrachtet werden.

Jürgen Schaarwächter wendet sich einem weithin vergessenen, ja totgeschwiegenen Schweizer Homosexuellen zu, dem Komponisten Robert Oboussier, seinem Leben und Schaffen in bemühter Unauffälligkeit. Immerhin erfährt man in dem wortreichen Text: „Die Homosexualität hat in den 1940er- und 50er Jahren geblüht in Zürich.“ Wie interessant!

Der „Wahrnehmung der homosexuellen Musikerin Smaragda Eger-Berg“ widmet sich Anna Ricke. Ihr Beitrag ist überschrieben „Zwischen „geistig höchst stehende Lesbierin“ und „verelendeter Geschwitz“. Eine Studie über die „homophilen Kreise in Berlin und Wien,“ über „Erinnern und Vergessen, Gedächtnis und Gender“ mit dem Ziel, einen neuen „Blick auf diese Fragen nach weiblicher musikkultureller Teilhabe, nach homophilen Netzwerken in Wien und nach den diskursiven Zusammenhängen zischen Homosexualität und Künstlerinnenschaft“ zu werfen.

Natürlich darf auch die schon zu ihrer Zeit als Lesbe (sie selbst bezeichnete ihre sexuelle Identität als „sapphism“, so erfährt man) berühmte Ethel Smyth (Brahms nannte sie verächtlich die Schmeißfliege und wies zudem damit auf die Aussprache des Namens außerhalb des UK hin) nicht fehlen in diesem Zusammenhang. Angelika Silberbauer untersucht „strategische Entsexualisierung homoerotischer Narrative,“ um die Komponistin, die sich „gegen die Stereotype und das geläufige Weiblichkeitsideal ihrer Zeit“ gestellt habe. Den Opern der Ethel Smyth geht Cornelia Bartsch auf den homoerotischen Grund. „Homosexuelle Spuren im Oeuvre Hans-Werner Henzes“ ist das Thema Michael Kerstas. Seine These: auch in diesem Falle sei „die Forschung hin- und hergerissen zwischen Legitimierung und Pathologisierung“. Soso. Dabei hat doch Henze aus seiner Homosexualität kein Geheimnis gemacht, wie der Autor weiss, und wer die Opern Henzes kennt, weiss auch Bescheid. Übrigens habe die Musik Bachs Henze und seinen Lebensgefährten Fausto Moroni (der angeblich auch gut kochen konnte) verbunden, so erfährt man. Am Beispiel von Henzes Bassariden untersucht Antje Tumar den Zusammenhang von „Biographie und Werk“. Klaus Oehl widmet seine Ausführungen Henzes Klarinettenkonzert nach Genets Le Miracle de la Rose als „homosexuelles Schlüsselwerk“. Für schwule Henzefans dürfte dieser Band ein Fest sein.

Leonard Bernstein, der wohl renommierteste amerikanische Komponist, der immer wieder das Thema Homosexualität verarbeitete und sich auch selbst geoutet hat, darf natürlich auch nicht vergessen werden: „I have this pain“ ist der Beitrag von Markus Schneider überschrieben: „Beschädigte Identität in Leonard Bernsteins Oper A quiet Place“ ist sein Thema.

Noch weiter geht Jürgen Scharwächter. Er sprich von „Selbstinszenierung und exotistischen Prototypen“ am Beispiel des Komponisten (britischer Herkunft und parsischer Abstammung) Kaikhosru Srabji, den nur wenige Leser kennen dürften.

„Über das Künstlerpaar Benjamin Britten und Peter Pears“ schreibt Juana Zimmermann und referiert doch nur altbekannte Fakten, Tatsachen und Zusammenhänge zwischen erotischer Beziehung und Werk, wie sie zahlreichen Abhandlungen und Büchern, nicht zuletzt den hervorragenden Publikationen von Norbert Abels bekannt sind.  kommt dem Spohr-Schüler Hugo Staehle auf die Schlichte und glaubt, in dessen erster Sinfonie das „Manifest einer homoerotischen Beziehung“ zu erkennen, das dem Kasseler Dichter Jakob Hoffmeister gewidmet war. Die Freundschaft von Clement Harris und Siegfried Wager steht im Fokus eines Aufsatzes von Katharina Hottmann. Bernd Feuchtner schreibt anlässlich der Fehde des Frankfurter Säulenheiligen Th. W. Adornos mit Golo Mann brilliant und aufschlussreich über die Frage: „War Adorno homophob?“.  Golo Mann wird bescheinigt, er habe „ein verlorenes Leben gelebt.“ Grund sei die oft zu beobachtende „psychologische Fesselung“ der Produktivität „geistig begabter Homosexueller“ so Feuchtner. Das Fazit seiner 34-seitigen Ausführungen: „Die Homosexualität … spielt in Adornos Texten nur eine kleine Nebenrolle.“ Wieso dann diese langstieseligen Ausführungen, fragt sich wohl mancher Leser.

Der „ambivalenten Musik des Begehrens“ widmet sich Ulrich Wilker am Beispiel von Ravels L´heur espagnole. In ihre erkennt er “Heterosexualität als ‚comédie musicale‘. Ein Beispiel dafür, „wie manieristisch das Konzept Homosexualität“ sei.

(Anmerkung am Rande, In einem Interview in der taz meinte Michael Zywietz: „Als Merkmal der homosexuellen Musik wird vermutet, dass die Manieriertheit, also die Übersteigerung der Komposition, auf die Homosexualität der Komponist: innen hindeutet.“)

Dem pflichtet Kevin Clark auch in seinem zweiten Beitrag bei, in dem er anhand der Musicals den Manierismus als Maske der Homosexualität zu erkennen glaubt. Manierismus in Ken Russels Musikerfilmen geht Kadja Gröne nach, Dieter Ingenday widmet sich Manierismus (und Neo-Barock) in der lateinamerikanischen Literatur. Axel Duncker beleuchtet Arno Schmidts manieristische Schreibweise als Umgang mit Homosexualität in seinen Erzählungen. Und Gregor Schuhen rückt im Schlusskapitel schließlich dem „Dandy zwischen Hegemonieanspruch und Homosexualitätsverdacht“ zu Leib, insbesondere dem schwulen Dandy „als marginalisierte Figur „degenerierter Männlichkeit“.  Ein Beispiel, „wie Kunst und Männlichkeit spätestens seit dem ausgehenden 19 Jahrhundert unter ständiger Beobachtung stehen“, der Oscar Wilde-Prozess und die Eulenburg-Affäre seien beste Beispiele dafür.

Ein weites Feld also, das der 457-seitige Band beackert. Dröge Kost. Reichlich eitle, oftmals reichlich gespreizte akademische Schreibe und zur Schau gestellte Gelehrtheit herrschen vor. Sehr interessant, gewiss. Aber nicht alles, was da geschrieben wird, ist unbedingt wichtig und lesenswert. Leicht zu lesen ist das Buch jedenfalls nicht. Keine Bettlektüre für Jedermann bzw. jede Frau. Nur eingefleischte, um nicht zu sagen besessene Interessierte des besagten Zusammenhangs dürfte die geduldige Lektüre des Bandes wirklich Gewinn und Erkenntniszuwachs bescheren (Kadja Grönke und Michael Zywietz (Hg.): Musik und Homosexualitäten. Tagungsberichte Bremen 2017n und 2018; Textem Verlag, 457 S. ISBN 978-3-86485-259-6). Dieter David Scholz    

Gesänge aus der neuen Heimat

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Lieder im Exil ist der Untertitel dieses an Fundstücken reichen Recitals. Konkret handelt es sich dabei um Lieder aus dem Exil von (überwiegend nach Palästina) geflüchteten jüdischen Komponisten. Sie sind zum größten Teil in hebräischer Sprache geschrieben und werden hier erstmals in deutscher Übersetzung präsentiert. Die stammt von der heute 95jährigen Dichterin Dagmar Nick (Tochter von Edmund Nick), die vier Jahre in Israel gelebt hat und im ausführlichen Booklet-Text auch wichtige historische Hintergrund-Informationen zu den Liedern gibt.

Als feste Bezugsgrößen sind Paul Dessau mit drei und Kurt Weill mit einem Titel in der Sammlung vertreten, doch in den anderen Fällen betritt der Hörer wohl Neuland. Weder Paul Ben-Haim noch Alexander Boskovich sind im Bewusstsein der Musikfreunde gespeichert, und Stefan Wolpe war jedenfalls mir auch nur namentlich ein Begriff. Und wenn man nach dem Hören mit dem Eindruck zurückbleibt, da bislang durchaus etwas verpasst zu haben, dann ist das auch das Verdienst der künstlerisch sehr eloquenten Interpreten, der Mezzosopranistin Constance Heller und des Pianisten Gerold Huber. Bei ihnen hat man in keinem Moment den Eindruck, dass sie lediglich eine Nische entdeckt haben oder einer Wiedergutmachungs-Pflicht nachkommen wollten, sie sind offenbar von der Qualität der Kompositionen überzeugt und überzeugen damit auch den Hörer.

Paul Ben-Haim (1897-1984), als Paul Frankenburger in München geboren, wo er an der Akademie der Tonkunst Komposition studierte, wanderte nach Verlust seiner Kapellmeisterstelle am Augsburger Stadttheater und anhaltenden antisemitischen Anfeindungen 1933 nach Palästina aus. Dort tauchte er in eine andere Kultur ein, lernte eine neue Sprache und erhielt einen neuen Namen: Ben-Haim (=Sohn des Lebens). Erst 1937 begann er wieder mit dem Komponieren, wobei er nach einer Synthese westlicher und östlicher Musikstile suchte. Sephardische, jemenitische, bucharische und persische Volksweisen liegen den 5 Melodien aus dem Nahen Osten (1941-45) zugrunde. Der Zyklus A Star fell down (1969/70) basiert auf drei Gedichten des mit 20 Jahren gefallenen israelischen Dichters Matti Katz. Den 23. Psalm Der gute Hirte („Der Herr ist mein Hirte“), den wir in Vertonungen von Schütz, Bach und Schubert kennen, vertonte er 1939 als Dank für das gerettete Leben „im Angesicht meiner Feinde“.

Wir begegnen ihm gleich noch einmal in der Version von Alexander Uriah Boskovich (1907-1964), der ihn aus demselben Grund zum Sujet wählte. Der aus Siebenbürgen stammende, in Wien und später in Paris bei Paul Dukas, Alfred Cortot und Nadia Boulanger ausgebildete Komponist leitete in seiner Heimatstadt Klausenburg (heute Cluj) das Opernhaus, gründete mit dem Goldmark-Orchester ein jüdisches Instrumental-Ensemble und kam 1938 nach Palästina, wo er als Lehrer am Konservatorium von Tel-Aviv unterrichtete. Sein Stil zeigt französische Einflüsse, aber speist sich wie bei Ben-Haim auch aus der jüdischen Volksmusik, die sich hier mit einem heimatlichen siebenbürgischen Idiom verbindet.

Dagmar Nick gibt in ihrem Textbeitrag einen kleinen historischen Leitfaden für die Lieder der ersten Pioniere, die vor allem aus den Ländern Osteuropas nach Palästina kamen und von zuhause die Volksweisen mitbrachten, die sie als Kinder gehört hatten. Diese Weisen waren Inspirationsquellen für viele Komponisten im Exil, auch wenn sie sich nicht in Palästina niederließen wie Dessau und Weill. Der Berliner Stefan Wolpe (1902-1972) hingegen, der auf Umwegen 1933 nach Palästina kam, hat das Leben der Pioniere noch selbst erlebt. Er zeigt sich in den zehn hier aufgenommenen Liedern als eine sehr komplexe Musikerpersönlichkeit, der einerseits seine Wurzeln in der Volksmusik suchte, andererseits schon seit den 20er Jahren an der Avantgarde teilhatte und sich – als zeitweiliger Schüler von Anton Webern – auch in der Zwölftonmusik versuchte.

Darüber hinaus war er ein politisch sehr engagierter und wacher Mensch, von seiner Gedankenwelt her Sozialist und Pazifist. Ein antikapitalistischer Furor zeigt sich in Auf ein Wandbild von Diego Rivera (aus: Sechs Lieder aus dem Hebräischen) und Wehe den Mächtigen auf einen Text des alttestamentarischen Propheten Micha. In Isaiah folgt er Jesajas Vision einer besseren Welt, eines neu geschaffenen Himmels, in dem Wolf und Lamm einträchtig miteinander leben und es kein Unheil und keine Zerstörung mehr geben wird. Seine Vertonung von Erich Kästners satirischer Fantasie von übermorgen, die dem Album den Titel gibt, entstand schon vor der Emigration kurz nach der Veröffentlichung des Gedichts im Jahre 1929. Das Thema Frieden wird in Albert Einsteins Rede Zum Frieden im Atomzeitalter in aktualisierter Form wieder aufgegriffen. Es gelingt Wolpe dabei, die Intensität des Textes durch die musikalische Ausgestaltung noch zu steigern.

Das Klavier spielt in Wolpes Liedern eine bedeutendere Rolle als in den übrigen Beiträgen des Albums, der Komponist hatte auch als Pianist einen guten Namen, der Kritiker Stuckenschmidt rühmte ihm gar „zyklopische Kraft“ nach. Daran dürfte sich auch Gerold Huber orientiert haben, der hier in mitreißender Weise in die Vollen geht. Und Constance Heller, deren klangvoller und geschmeidiger Mezzo schon vorher zu schöner Wirkung kam, gewinnt hier noch einiges an Ausdruckskraft und Farben hinzu (Solo musica SM 356). Ekkehard Pluta

Beeindruckende Rückschau

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Diese Edition ist in mehrfacher Hinsicht gewichtig. Sie dokumentiert die sehr erfolgreiche und (auch international) viel beachtete Zusammenarbeit des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks (BRSO) mit Mariss Jansons, seinem Chefdirigenten von 2003 bis 2019. Es war charakteristisch für diesen Dirigenten, dass er mit einigen, wenigen bedeutenden Orchestern zusammenarbeitete und diesen die Treue hielt. 2003 gab er, um sich ganz auf die Arbeit mit dem BRSO zu konzentrieren, die Leitung des Concertgebouw-Orchesters ab. Trotz fragiler Gesundheit schonte sich Jansons nur wenig. Sein Einsatz für die Musik war total und für ihn buchstäblich erschöpfend.

Die äußerlich an Schallplattenkassetten früherer Jahre erinnernde Box hat schon rein physisch Gewicht mit ihren 2,6 KG. Die Discs sind in vier Kunststoff-Fächern untergebracht. Das zweisprachige 72-seitige Begleitheft mit vielen Fotos enthält ein Interview mit Jansons, Informationen, Textbeiträge, Würdigungen von Thomas Hampson und Simon Rattle sowie ausführliche Angaben zu den einzelnen Discs (Aufnahmedaten, Tracklisting etc.), die man sich leider auf den einzelnen Discs gespart hat. Die Box ist etwas unhandlich, der Zugriff zu ihrem Inhalt mindestens umständlich. Sie passt in keinen der üblichen Aufbewahrungsorte für moderne Tonträger, sondern am ehesten in ein Platten- oder Bücherregal. Das und die doch etwas altmodische Gestaltung schmälern indes nicht die Bedeutung des Inhalts. Denn in einer Zeit oft lieblos zusammen­geschusterter Sammlun­gen ist diese Edition ein Ausnahmefall.

Neben bereits erschienenen Aufnahmen enthält die Box neun Erstveröffentlichungen: Bruckners Messe Nr. 3, die Symphonien Nr. 3, 4, 6 und 8 von Mahler, Mozarts Requiem, Arvo Pärts Berliner Messe, Poulencs Stabat mater sowie das Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester und die Symphonie Nr. 9 von Schostakowitsch. Erstmalig auf CD erschienen Jansons Interpretationen von Tschai­kowskys Ouvertüre Romeo und Julia und Strawinskys Feuervogel. Drei Probenmitschnitte von Mariss Jansons mit dem BRSO machen deutlich, wie genau und bis ins kleinste Detail Jansons probte, wie er mit den Musikerinnen und Musikern am Klang feilte – und nicht zuletzt, wie sehr diese Zusammenarbeit von Respekt, Verständnis und partner­schaftlichem Geist geprägt war.

Jansons kam 2003 mit 60 Jahren zu dem nur wenige Jahre jüngeren, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. 1949 gegründet, von seinen ersten Dirigenten Eugen Jochum und vor allem Rafael Kubelik entscheidend geprägt, spielte es da längst in der Spitzenliga der deutschen und europäischen Orchester. Gegenüber traditionellen Symphonieorchestern hat es – auch aufgrund seiner Funktion als „Klangkörper“ des Bayerischen Rundfunks – den Vorteil, stilistisch sehr vielseitig und erfahren zu sein. So gehörte die zeitgenössische Musik schon immer zu seinem festen Repertoirebestand.

Die vorliegende Edition lässt neben dem breiten Repertoire die Spezifität und die Besonderheiten des BRSO erfahren. Sie gibt zugleich Auskunft über die Schwerpunkte und Vorlieben von Mariss Jansons. Da sind zunächst die Werke, die gleichsam zum „eisernen“ Bestand eines jeden Orchesters gehören. Jedes Orchester will seinen Beethoven, Brahms, Bruckner und Mahler aufführen. Beethovens Symphonien sind in spannenden, klanglich sehr fein ausbalancierten Interpretationen zu erleben. Der volle, ja „luxuriöse“ Klang wurde nicht nur gelobt, Jansons Klangästhetik sogar als „angestaubt“ bezeichnet. Sicher folgt Jansons hier nicht dem Weg der historischen Aufführungspraxis eines Hogwood, Gardiner oder Norrington, sondern wandelt eher auf den Spuren der Traditionalisten. Warum auch nicht? Und das ist keinesfalls angestaubt. Man höre nur einmal exemplarisch die Erste Symphonie: Wie lebendig, ausdrucksvoll, spannend wird hier doch musiziert? Man versteht, wieso zeitgenössische Kritiker diese Musik als „ergreifend modern“ empfanden.

Jansons‘ Brahms ist zunächst einmal streng und diszipliniert – kein Wunder, wenn man bedenkt, wie schwer sich der Komponist mit der symphonischen Form tat –, oft herb und introvertiert. Immer deutlich ist die Faktur und Struktur des Ganzen. Allerdings kommen Leidenschaft und Sinnlichkeit, die man doch auch in den Brahms-Symphonien findet, ein wenig zu kurz.

Von den neun Symphonien, die Anton Bruckner komponierte, liegen hier sechs vor; es fehlen nur die ersten beiden und die fünfte. Bruckner hatte Jansons zwar auch schon bei seinen Orchestern in Oslo und Pittsburgh dirigiert, doch die intensivsten Erfahrungen mit dieser Musik machte er erst beim Concert­gebouw Orkest in Amsterdam und dem BRSO. Noch 2014, als er mit den Münchnern die Neunte Symphonie einstudierte, meinte er, eine neue Stufe erreicht und das Gefühl gewonnen zu haben, sein Geist sei mit dieser Musik völlig eins. Tatsächlich wirken die Interpretationen der Symphonien Nr. 3, 4, 6 und 7 noch wie Vorstufen zum späteren Bruckner. Am Ziel ist Jansons mit der Achten und noch mehr der Neunten. Dieses unvollendete Werk wird getragen, feierlich, aber eben auch drängend musiziert, jedoch nie zelebriert oder quasi sakral erhöht.

Bei Mahler neigte Jansons weder zu über-gefühlsmäßigen, sentimentalen, gar extrovertierten Darstellungen, noch zum peniblen, satztechnisch präzisen Ausführen der Partituren. Mahlers Symphonien waren für ihn keine Seelendramen oder Exzesse, bei allen Novitäten und Eigentümlichkeiten eher noch klassische Symphonien mit einer extrem breiten Palette an Klängen und Stimmungen, zart und aufrauschend, innehaltend und dreinfahrend, wo nötig hymnisch. Das ist fast immer klanglich sehr ausbalanciert, ungemein detailliert ohne sich im Detail zu verlieren, aber auch ergreifend. Als exemplarisch kann die Interpretation der Dritten gelten: Anhand einer Symphonie ist zu erfahren, was die Welt Mahler erzählte und was er wiederum der Welt mit seiner Musik erzählte. Das ist immer spannend, dramaturgisch raffiniert und mit großem Atem erzählt bis zum ungewöhnlich lange ausgehaltenen Schluss. Sehr beeindruckend auch die Vierte Symphonie mit Wunderhorn-Ton und Atmosphäre, faszinierend die Sechste, ohne jede (vordergründige) Tragik, spannend vom ersten bis zum letzten Takt, mit einem buchstäblich atemberaubend-drängenden und furiosen Finale.

Die Symphonien von Dmitri Schostakowitsch konnte Jansons so unvergleichlich und suggestiv wie kaum ein anderer interpretieren. Sicher kamen da die Erfahrungen mit Unfreiheit und Diktatur in der Sowjetunion zum Tragen, die der Komponist und auch Jansons in unterschiedlicher Weise machen mussten. Doch verstand Jansons die Symphonien nicht als agitatorisch-programmatische Werke, sondern immer als klassische Kompositionen. Seine Interpretationen zeigen verschiedene Facetten, auch Seelenzustände ihres Verfassers und wie raffiniert Schostakowitsch komponieren konnte. Jansons bringt das mit dem BRSO meisterhaft zur Geltung: in der vielleicht am meisten unterschätzten, teils irritierende Sechste Symphonie mit ihrer disparaten Struktur und dem grotesken Finale; in der Neunten, die als intelligente und witzige Parodie auf die meisten bedeutungsschweren Neunten Symphonien von Beethoven bis Mahler präsentiert wird; in der Fünften, die im Gegensatz zu den sowjetischen Zuschreibungen oder Deutungen so gar nichts von Jubel und Affirmation hat. Selbst die Siebte, „Leningrad“, kann man, wie Jansons zeigt, ganz ohne ihren programmatischen Charakter als Werk der absoluten Musik verstehen. Die Zehnte erscheint, wie in kaum einer anderen Interpretation, als wohl klassischste Schostakowitsch-Symphonie. Exemplarisch bewäh­ren sich Jansons Tugenden: Detailgenauigkeit, Klarheit, weite dyna­mische und agogische Spanne. Selbst da, wo die Phonstärken beachtlich sind, wird nie brutal oder vulgär musiziert. Schließlich fehlt diesen Interpretationen jedes Pathos und jede Larmoyanz.

Jansons hatte auch ein Faible für Richard Strauss – sicher wegen der überaus virtuosen Instrumentation und der Farben des Orchesters, der klanglichen Raffinesse, der Steigerungen und der Kontraste. Doch Jansons‘ Strauss ist anders, als wir ihn zumeist zu hören bekommen. Strauss lässt eben nicht nur die Muskeln spielen, neigt nicht nur sehr häufig zur Übertreibung, jagt die Musik nicht von einem Exzess zum nächsten. Gerade die Werke, die uns im Konzertsaal häufig zu überrollen drohen – die Alpensymphonie, Also sprach Zarathustra, Ein Heldenleben –, sind hier in ungewohnter klanglicher Beleuchtung zu hören. Man bewundert gleichermaßen Jansons Kunst der musikalischen Regie wie die atemberaubenden Fähigkeiten der Musiker/innen des Orchesters – auch bei der Herausarbeitung der Subtilitäten.

Russische Komponisten spielen eine, doch nicht entscheidende Rolle in der Edition: Tschaikowskys Symphonien Nr. 5 und Nr. 6 (frei von Klischee und falschem Gefühl), seine Oper Pique Dame, Strawinskys Ballettmusiken Petruschka, Feuervogel, Le Sacre du printemps und die spröde Psalmensymphonie. Die symphonischen Tänze von Rachmaninow erfahren eine Deutung als Spätwerk mit deutlich melancholischen Tönen.

Zu Jansons Repertoire gehörten einige klassische Werke geistlicher Musik. In dieser Edition wird der Bogen gespannt von Mozart und Haydn über Dvořák, Bruckner, Verdi bis zu Poulenc, Rihm und Pärt. Dabei machen die liturgisch geprägte Berliner Messe von Arvo Pärt, Wolfgang Rihms teils sehr expressive Requiem-Strophen (in denen die Verse zeitgenössischer Autoren zu den Texten der klassischen Totenmesse in Beziehung gesetzt werden), sowie Poulencs Stabat Mater (als starkes Zeugnis der Rückkehr des Komponisten zum katholischen Glauben) besonders gute Figur. In Verdis Messa da Requiem findet Jansons zwar die Balance zwischen Einfachheit und Erhabenheit, Ernst und Theatralik. Die Schönheit und der Affektgehalt dieser oft „weltlichen“ Totenmesse kommen gut zum Ausdruck – vokal wie instrumental. Leider entgehen die Solist*innen nicht der Gefahr opernhafter Darstellung. Das großdimensionierte, erzählende wie reflektierende War Requiem von Britten erfährt demgegenüber eine ideale Aufführung, auch dank der großartigen Solisten Mark Padmore und Christian Gerhaher.

Auf einer CD werden zwei Erneuerer der Musik aus zwei Epochen präsentiert: Berlioz mit der Symphonie fantastique, Varèse mit Ionisation; beide in klanglich ausgefeilter, raffinierter Inszenierung. Dvořáks Achte sowie die selten zu hörende Streicherserenade von Josef Súk sind der Tribut an die tschechische Musik. Witold Lutoslawskis Konzert für Orchester wird exemplarisch aufgeführt. Hier erfüllt sich der Begriff der Gattung dank des virtuosen, spielfreudigen Orchesters und seiner brillanten Solisten wie selten sonst.

Zu seinem 60-jährigen Bestehen spielte das BRSO Arnold Schönbergs Gurre-Lieder, eine wegen ihres großen Aufwands nur selten aufgeführte Komposition: episch, ganz im spätromantischen Ton, mit wunderbar aufrauschendem, opulenten Klang, schwelgerisch, aber nicht schwülstig. Wagner und Mahler wehen herüber. Jansons steuert die Aufführung klug disponiert und leidenschaftlich.

Die Edition enthält auch Rhapsodien von Chabrier, Gershwin, Enescu, Ravel, Liszt (eine Art klingender Musikethnologie), Szymanowskis orientalisch beeinflusste Symphonie Nr. 3, Entbehrliches aus russischer Feder (Alexander Tschaikowskys Symphonie für Orchester, Chor und Solobratsche und die populäre „Carmen“-Suite von Rodion Schtschedrin), Saint-Saens Orgelsymphonie und Poulencs eigenwilliges Konzert für Orgel, Streicher und Pauken, Mussorgsky/Ravels Bilder einer Ausstellung (mit viel Gespür für die klanglichen Besonderheiten), Respighis Pini di Roma sowie Werke von Sibelius (darunter die Zweite Symphonie). Von Haydns Symphonien, die Jansons sehr schätzte und bei Gastspielen oft aufs Programm setzte, sind die frühe Nr. 7 und die späte Nr. 88 vertreten. Mozartsche Symphonien fehlen dagegen völlig. Dafür gibt es Schumanns Erste (sehr animiert) und die Symphonien Nr. 3 und Nr. 8 C-Dur als Beispiele des ganz jungen und des reifen Schubert.

Insgesamt ist die Box ein Kompendium, für das man sich Zeit nehmen sollte, um es ganz genießen zu können. Die Konzertmitschnitte sind ein schönes und eindrucksvolles Vermächtnis. Mariss Jansons bleibt als bescheidener, uneitler, der Sache der Musik dienender Dirigent, als Menschenfreund und Partner derer mit denen er arbeitete, in Erinnerung –nicht als Star oder Pultvirtuose. Er war ein unermüdlich an seinen Interpretationen feilender Künstler, dem Routine fremd war. Wie sein Mentor und Förderer Herbert von Karajan war er ein Klangtüftler – und hatte auch darin im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks einen idealen Partner: ein Orchester mit großartigen Musikern, vielseitig, flexibel, mit einer breiten Klang- und Ausdruckspalette. Darauf kann sein Nachfolger Simon Rattle, der Jansons sehr schätzte, aufbauen  (Mariss Jansons – The Edition, Solisten; BRSO,  70 Discs (57 CDs, 11 SACDs und2 DVDs; umfangreiches Begleitheft; BR Klassik 900200; alle Fotos ©Peter Meisel/BR). Helge Grünewald