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Dinu Lipatti: Als Pianist ist er eine Legende. Als Komponisten muss man ihn erst kennen lernen. Für den Rumänen Dinu Lipatti waren indes beide Tätigkeiten von gleichrangiger Bedeutung und er hat gegenüber seiner Lehrerin Nadia Boulanger immer wieder betont, wie sehr es ihn schmerze, wegen seiner vielen Konzertauftritte nicht genügend Zeit fürs Komponieren zu haben. Gerade die Zeit war es aber, gegen die er ankämpfen musste, denn er war schon in jungen Jahren schwer krank und ist 1950 mit gerade einmal 33 Jahren an der seltenen Hodgkinschen Krankheit, einem bösartigen Tumor des Lymphsystems, gestorben.
Seine diskographische Hinterlassenschaft als Pianist ist trotz der kurzen Spanne seiner aktiven Jahre sehr respektabel – jeder Klavierfreund wird zumindest seine Aufnahme von Schumanns a-moll-Konzert unter Herbert von Karajan kennen -, dass er aber zahlreiche Orchester-, Klavier- und Kammermusikwerke, daneben auch zwei Liedzyklen komponiert hat, wusste zumindest ich bisher nicht. Und die letztgenannten Lieder, umgeben von Werken seiner Landsleute George Enescu und Violeta Dinescu, wurden jetzt beim Label dreyer gaido in einer exemplarischen Einspielung mit dem Tenor Markus Schäfer und dem Pianisten Mihai Ungureanu veröffentlicht.
Die Cinq Chansons, im Kriegsjahr 1941 in Rumänien entstanden, basieren auf Texten von Paul Verlaine, der schon zahlreiche Komponisten zuvor zu Vertonungen angeregt hat. Lipattis Adaptionen stehen in der – überwiegend impressionistischen – Tradition der Vorgänger, zeigen aber auch in der gelegentlich dramatischen Zuspitzung einen eigenen Charakter und lassen erkennen, dass sich der Komponist tief in die poetischen Vorlagen eingegraben hat. Es gibt dringliche Textwiederholungen, gesummte und deklamierte Passagen, Flüstern und Schreie brechen aus der Kantilene hervor, und das Klavier gibt dem Gesang, etwa in der Sérénade, einen geradezu stürmischen Widerpart. Der Sänger spricht überspitzt von „Klavierkompositionen mit zugefügtem Sologesang“, aber er meistert diese Herausforderung souverän mit tiefem Verständnis auch der textlichen Feinheiten. Und Mihai Ungureanu ist sein ebenso brillanter wie einfühlsamer Partner.
In den Quatre Mélodies von 1945 kann er sich wieder mehr aufs Begleiten zurückziehen und auch die Gesangslinie ist mehr auf Einfachheit ausgerichtet. Die Gedichte von Arthur Rimbaud, Paul Éluard und Paul Valéry sind aber nicht weniger anspruchsvoll als diejenigen Verlaines und teilweise sehr verrätselt. Sie entziehen sich einer stimmigen deutschen Übersetzung, können allenfalls nachgedichtet werden. Trotzdem wäre ein Abdruck der deutschen Texte notwendig gewesen, um die Lieder zu verstehen. Ich habe sie mir mühsam aus dem Internet zusammengesucht. Auch hier wird das Eindringen des Hörers in die Musik durch Markus Schäfers imaginativen und suggestiven Vortrag erleichtert.
Den Kompositionen Lipattis sind die Sept Chansons de Clément Marot op. 15 seines Patenonkels George Enescu vorangestellt, der auch sein erster Lehrer war, schon den 4jährigen auf der Geige unterrichtet hat. Marot war ein Dichter des frühen 16. Jahrhunderts und als Sekretär für Margarete von Navarra tätig. Die Gedichte sind Anne d’Alençon, einer Nichte von Margaretes erstem Gatten, gewidmet und handeln – was sonst? – von möglicherweise unerwiderter Liebe. Enescu hält den 1908 in Paris uraufgeführten Zyklus in einem an alte Lautenlieder gemahnenden höfisch-eleganten Tonfall, den Schäfer und Ungureanu überzeugend aufnehmen.
Den Abschluß des Albums bildet eine Komposition Violeta Dinescus, als Hommage an Lipatti zu dessen 100. Geburtstag geschrieben, andererseits von Enescus Carillon nocturne (1916) inspiriert: Mein Auge ist zu allen sieben Sphären zurückgekehrt. Die sechs vertonten Textzeilen stammen aus dem 3. Teil (Paradies) von Dantes Divina Commedia und werden von Dinescu nach mathematischen Strukturen bis zur Unkenntlichkeit dekonstruiert. Den Sinn dieser Auflösung habe ich beim Hören nicht verstanden, der Booklet-Kommentator Jörg Jewanski meint jedoch: „Die Obertöne, die sie (Dinescu) an Lipattis Klavierspiel und an Enescus nächtlichen Glocken faszinieren und die immer wie zartes entrücktes und wie aus der Ferne also quasi aus dem Himmel herüber wehendes Glockenspiel klingen, schaffen eine Beziehung zu den Klängen des himmlischen Paradieses aus der Göttlichen Komödie“. Markus Schäfer zeigt sich auch auf diesem Terrain sängerisch virtuos (Dreyer gaido CD 21132). Ekkehard Pluta