Warten bis Seite 205 …

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Vermessen klingt der Untertitel zu Eleonore Bünings Rihm-Biographie, wenn man mit DIE Biographie assoziiert, dass es vor und nach dieser keine andere gab und geben wird. Stark untertrieben allerdings ist der Begriff Biographie, denn Lebensdaten- und –ereignisse machen nur einen Bruchteil des Buches aus, hauptsächlich geht es um die Werke, denen eine so umfassende wie tiefschürfende Analyse zu Teil wird. Im Klappentext wird die Verfasserin als Old-School-Kritikerin bezeichnet, und nach der Lektüre des Buches kann man das nur als Lob begreifen, weniger die Aussage, ebenfalls auf dem Klappentext, allerdings dem vorderen, wenn von Rihm gesagt wird, er habe, obwohl noch lebendig, bereits mehr komponiert als Mozart, kein besonders überzeugendes Lob, wenn man bedenkt, in welch zartem Alter der Salzburger verstorben ist. Der Rihm-Nichtkenner muss immerhin bis zur Seite 205 und damit dem gleichnamigen Kapitel warten, ehe sich ihm der Buchtitel Über die Linie erschließt.

Im Vorwort weist die Autorin auf ihr freundschaftliches Vertrauensverhältnis zum Komponisten hin, den sie als einen Sonderfall unter den zeitgenössischen Musikern ansieht, da er ein Einzelgänger, old fashioned, weil mit Stift, Papier und Klavier arbeitend, sei, vom Publikum gemocht werde und seine Musik erkläre. Die Sprache der Verfasserin zeichnet sich durch Knappheit und Anschaulichkeit aus, detaillierter wird es stets, wenn es um die Musik geht, da kann sie sich auch einmal zu Wortschöpfungen wie „pausendurchweht“ versteigen oder zu mit einem „mit vier (Wald)-Hörnen gesegnet“.

Im Wesentlichen geht Büning chronologisch vor, allerdings, um in größeren Zusammenhängen darzustellen, auch ab und zu thematisch, so wenn gegen Ende lange Passagen ausschließlich den Liedkompositionen gewidmet sind. Der Leser verdankt ihr die Auflösung manches Rätsels, das die Namensgebung für viele Musikstücke für den Leser darstellt. Sie ist nicht nur Analytikerin und Kritikerin, sondern gibt auch reichlich die Meinungen von Kollegen ihres Metiers wieder. Auch das trägt dazu bei, dass man sehr viel mehr über das Werk Rihms als über ihn selbst erfährt, wenigstens direkt, indirekt natürlich umso mehr. Man kann mit gutem Grund vermuten, dass ihm das mehr als recht ist, schien er doch in seinem bisherigen Leben eher gegen als mit dem Strom zu schwimmen wie ein Zitat wie „Vorderste Avantgarde war nie Berufsziel“ wissen macht.

Der „Koloss aus Karlsruhe“ ist nicht nur Komponist, sondern auch Schriftsteller und Lehrender , entzieht sich jeder Kategorisierung außer der, die man mit „das Variable als Konstante“ umschreiben kann. Opern ( von  Faust und Yorick bis zu Proserpina) schreibt er zunächst auf Texte von Nietzsche, Heiner Müller, Artaud und andere, dann eigene, und kehrt nur noch einmal mit Proserpina mit dem Goethetext zur Literaturoper zurück. Oft denkt er an bestimmte Interpreten, wenn er komponiert, so an Anne-Sophie Mutter, Renate Behle, Gabriele Schnaut,  Mojca Erdmann, Richard Salter, Christian Gerhaher, Christoph Prégardien. Für die hohe Frauenstimme scheint der Komponist ein besonderes Faible zu haben.

Weder der gar nicht so selten sich äußernde Argwohn gegenüber dem Vielkomponierer wie dem Erfolgreichen beirren den Komponisten, die von der Verfasserin geäußerte, von Optimismus strotzende Aussage:“Noch wird er nicht weltweit gespielt, wie Wagner und Verdi“ allerdings dürfte, was das Noch betrifft, so heftig anzuzweifeln sein wie die Korrektheit des Kommas vor „wie“.

Der Leser wird mit Begriffen wie „inklusives Komponieren“ vertraut gemacht, erfährt viel darüber, wie sich Komponist (Rihm) und bildender Künstler (Kappa) gegenseitig beeinflussen können, dass sich eine Nike Wagner dazu verstieg, ihn den „Goethe der Neuen Musik“ zu nennen, dass man Freunde sein kann, auch wenn man komponierend Welten voneinander entfernt ist (Rihm-Lachenmann).

Interessant sind auch die Ausführungen zu den Kompositionen, die in irgendeiner Verbindung zu berühmten Komponisten wie Schubert oder Brahms haben, so zum Deutschen Requiem. Auch absurd Erscheinendes wie die Vertonung der Gedichte eines Kinderschänders oder einer Adlermörderin wird nicht gemieden, sondern verständlich gemacht. Mit dem Ausblick auf Kommendes schließt der erste Teil des Buches.

Es folgt ein aus mehreren Teilen zusammengesetztes Interview zu wichtigen Fragen, auf die der Komponist nüchterne, vielleicht auch ernüchternde Antworten gibt, sich eher als Gärtner denn als Architekten sehen will. Anmerkungen, Diskographie und Personen- und Werkregister beschließen den Band, der wohl beinahe ein Lebenswerk sein könnte, auf jeden Fall von außergewöhnlicher  Sachkenntnis und dazu noch Liebe zum Sujet zeugt (345 Seiten, Benevento Verlag 2022; ISBN 978 3 7109 0147 8). Ingrid Wanja